eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 50/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2021-0017
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2021
502 Gnutzmann Küster Schramm

Englischunterricht an Berufsfachschulen: Die Balance zwischen Allgemeinbildung und Berufsorientierung

2021
Michael C. Prusse
Lukas Rosenberger
50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 M ICHAEL C. P RUSSE , L UKAS R OSENBERGER * Englischunterricht an Berufsfachschulen: Die Balance zwischen Allgemeinbildung und Berufsorientierung Abstract. The article reports on English language teaching in vocational schools in Switzerland. Based on a pilot study (section 1), the research project focuses on Swiss vocational education (section 2). It intends to validate a hypothesis raised in the pilot study (section 3) and to establish the competencies that vocational learners achieve. The research data (section 4) encompasses seventeen guided interviews with teachers and quantitative data obtained from a placement test and from leaving certificates. The results (section 5) show that the hypothesis must be modified and that many learners surpass the exigencies of the current vocational curricula. Vocational education has to pay continuous attention to linguistic skills (section 6) and curricula will need to be adapted to develop the learners’ competencies. This is significant to facilitate lifelong learning and future career changes (section 7). 1. Einleitung Wirksamer Englischunterricht auf jeglicher Stufe ist durch das Handeln der einzelnen Lehrkraft geprägt (vgl. L EGUTKE / S CHART 2016; M ALTRITZ 2016; P RUSSE -H ESS / P RUSSE 2018). In einem Kontext, in dem Lehrer*innen entweder Expertise im Fremdspracherwerb oder im Berufsfeld, aber nur in Ausnahmefällen in beidem vorweisen können, hängt der Englischunterricht wesentlich davon ab, inwiefern sich Lehrende in diesem Umfeld orientieren und wie sie den Balanceakt zwischen Allgemeinbildung und berufsspezifischen Anforderungen meistern. Die Ergebnisse einer Pilotstudie verdeutlichen, dass dem Englischunterricht an Schweizer Berufsfachschulen mit dem Fokus Technik bzw. Wirtschaft häufig ein unterschiedliches Verständnis des Lerngegenstands (learning domain) zugrunde liegt (vgl. P RUSSE / R OSENBERGER 2019). * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Michael C. P RUSSE , Pädagogische Hochschule Zürich, Abteilung Master Fachdidaktik, Lagerstraße 2, 8090 Z ÜRICH , Schweiz. E-Mail: michael.prusse@phzh.ch Arbeitsbereiche: Berufsbezogener Englischunterricht, Literatur im Englischunterricht, Didaktik des Englischunterrichts. Dr. Lukas R OSENBERGER , Pädagogische Hochschule Zürich, Abteilung Master Fachdidaktik, Lagerstraße 2, 8090 Z ÜRICH , Schweiz. E-Mail: lukas.rosenberger@phzh.ch Arbeitsbereiche: Berufsbezogener Englischunterricht, individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit, discourse analysis. 38 Michael C. Prusse, Lukas Rosenberger DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 50 (2021) • Heft 2 Diese Unterschiede beruhen mindestens zum Teil auf einer (oft unbewussten) unterschiedlichen Interpretation der Curricula durch die Anstellungsverantwortlichen, die dadurch bei der Rekrutierung von Lehrkräften unterschiedliche Kriterien zur Anwendung bringen. In der vorliegenden Untersuchung werden Englischlehrer*innen an Berufsfachschulen und Berufsmaturitätsschulen mittels strukturierter Leitfadeninterviews zur Rolle und Funktion ihres Englischunterrichts in der Ausbildung ihrer Lernenden befragt und diese Befunde werden mit den Erkenntnissen aus einer Umfrage bei Schulleitungsmitgliedern ergänzt, die für die Rekrutierung des Lehrpersonals zuständig sind. Neben dem Blick auf Lehrpläne, Inhalte von Abschlussprüfungen und den erwähnten Interviews, die primär die Sicht von Schulleitungen, Berufsverbänden und Lehrkräften wiedergeben, wird die Balance zwischen allgemeinbildendem und berufsspezifischem Englisch zusätzlich aus der Perspektive der Lernenden begutachtet, indem ihr Wahlverhalten bei verschiedenen Varianten der Abschlussprüfung analysiert wird. Das Forschungsprojekt ist noch nicht abgeschlossen; es werden hier als Folge auf die Pilotstudie erste Zwischenergebnisse präsentiert. 2. Englischunterricht im dualen Berufsbildungssystem der Schweiz Im Kontext des Schweizer Bildungssystems konzentriert sich das Forschungsprojekt auf die duale Ausbildung auf der Sekundarstufe II und berücksichtigt dort Ausbildungswege, die mit einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ) bzw. mit der Berufsmaturität (BM) abgeschlossen werden. Die BM, ein allgemeinbildender Abschluss, der den Zugang für ein Fachhochschulstudium eröffnet, wird entweder parallel zum EFZ oder konsekutiv im Anschluss an den Berufsabschluss erworben. Gemäß Bundesamt für Statistik (BFS 2020) verlassen mehr als 90% der Bevölkerung die Sekundarstufe II mit einem allgemeinbildenden oder berufsbefähigenden Abschluss. Das Schweizer Berufsbildungssystem ermöglicht nach dem Motto „kein Abschluss ohne Anschluss“ eine hohe Durchlässigkeit, insbesondere zwischen Sekundarstufe II und der nachfolgenden tertiären Stufe. Die berufliche Grundbildung in der Schweiz bedingt, dass die Lernenden drei bis vier Tage pro Woche im Ausbildungsbetrieb verbringen und, je nach gewähltem Beruf bzw. bei gleichzeitigem Absolvieren der Berufsmaturität, ein bis zwei Tage pro Woche in der Berufsfachschule. Komplettiert wird die Grundbildung durch den dritten Lernort, die überbetrieblichen Kurse, in denen Lernende verschiedener Ausbildungsbetriebe zusammengenommen werden, um bestimmte Berufskenntnisse im Verbund zu erwerben. Der Berufsschulunterricht unterteilt sich in allgemeinbildende (Gesellschaft, Sprache und Kommunikation) und berufskundliche Fächer (je nach Ausbildungsfeld z.B. Werkstofftechnik, Elektrotechnik oder Labormethodik). Gute Fremdsprachenkenntnisse sind in den meisten Berufen relevant, da die kleine, mehrsprachige Schweizer Volkswirtschaft in hohem Maß vom Export von Produkten und Dienstleistungen Englischunterricht an Berufsschulen 39 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 abhängig ist. Den Organisationen der Arbeitswelt (OdA) wird allerdings bei der Ausgestaltung ihrer Bildungsverordnungen eine hohe Autonomie zugestanden, was dazu führt, dass diese gerade mit Bezug auf Fremdsprachen unterschiedlich ausgestaltet sind. Die Bildungsverordnungen werden alle fünf Jahre auf ihre wirtschaftliche, technologische, ökologische und didaktische Aktualität überprüft und, falls notwendig, revidiert. Aufgrund der divergenten Interessen der verschiedenen OdA spiegelt sich die volkswirtschaftliche Relevanz des Fremdsprachenunterrichts lediglich beschränkt darin. Stattdessen ergibt eine Analyse der Bildungsverordnungen ein heterogenes Bild, teils mit und teils ohne Englischunterricht in der Grundbildung. Dort wo Englischunterricht vorgesehen ist, können die zahlreichen Varianten für Verwirrung sorgen. Der Englischunterricht kann allgemeinbildend oder berufsorientiert sein (z.B. technisches Englisch, Laborenglisch oder Wirtschaftsenglisch) und, je nach Beruf, besuchen die Lernenden sowohl allgemeinbildendes als auch berufsorientiertes Englisch oder nur eine Ausrichtung davon (vgl. P RUSSE / R OSENBERGER 2019: 144). 3. Fragestellungen Die laufende Erhebung zum Englischunterricht an Berufsfachschulen basiert auf einer Pilotstudie (P RUSSE / R OSENBERGER 2019), in der an zwei großen Berufsfachschulen im Kanton Zürich, eine für Wirtschaft und eine für Technik, je eine kleine Gruppe von Englischlehrkräften befragt wurde. Diese explorative Arbeit bezweckte primär, das Wissen und die Einstellungen der Lehrkräfte zum berufsorientierten Englisch präziser beschreiben zu können. Die in den Antworten formulierten Perspektiven regten die Autoren dazu an, für das Ausbildungsfeld Technik analog zur native speaker fallacy (P HILLIPSON 1992: 195) eine professional expert fallacy als Hypothese zu postulieren. Diese professional expert fallacy bezeichnet die falsche Vorstellung bestimmter Lehrer*innen und Schulleitungen, dass berufliche Fachexperten automatisch einen besseren berufsorientierten Englischunterricht erteilen als Englischlehrkräfte ohne derartige Berufserfahrung. Die Hypothese versuchte eine Erklärung für das Phänomen zu liefern, dass in der Berufsschule für Technik primär fachlich qualifizierte Expert*innen ohne Lehrqualifikation für den Englischunterricht für den Unterricht von technischem Englisch oder Laborenglisch zum Einsatz kommen. Die Evidenz in den Interviews der Pilotstudie deutete zudem darauf hin, dass Schulleitungen (und potentiell auch die entsprechenden Organisationen der Arbeitswelt) an Berufsfachschulen für Wirtschaft (genauer im ISCED-Ausbildungsfeld 34: Wirtschaft und Verwaltung) 1 und an Berufsfachschulen für Technik (ISCED- Ausbildungsfeld 52: Ingenieurwesen und technische Berufe) die Inhalte und die Form von Wirtschaftsenglisch beziehungsweise technischem Englisch oder Laborenglisch 1 Klassifikation gemäß https: / / ec.europa.eu/ eurostat/ ramon/ statmanuals/ files/ fields_of_training_1999_ DE. pdf (02.06.2021) 40 Michael C. Prusse, Lukas Rosenberger DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 50 (2021) • Heft 2 unterschiedlich interpretieren. Während im Ausbildungsfeld Wirtschaft das berufsorientierte Englisch als Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts erachtet wird, definieren die Verantwortlichen im Ausbildungsfeld Technik das Fachenglisch größtenteils als der Berufskunde zugehörig, in der berufliches Expertenwissen in englischer Sprache vermittelt wird. Die Pilotstudie formulierte somit die These, es handle sich möglicherweise um unterschiedliche Interpretationen des Zwecks des Englischunterrichts. Im Ausbildungsfeld Wirtschaft, für das es in der Schweiz lediglich einen Bildungsplan gibt, nämlich Kaufmann/ Kauffrau, wird die Unterrichtszeit für Englisch zwischen allgemeinbildendem und berufsorientiertem Englisch aufgeteilt. Im Ausbildungsfeld Technik ist die Ausgangslage bereits aufgrund der 49 verschiedenen darin angesiedelten Berufsausbildungen um einiges heterogener und resultiert in einem breit differenzierten Verständnis von technischem Englisch oder Laborenglisch, das je nach auszubildendem Beruf anders umgesetzt wird. Das zentrale Erkenntnisinteresse der erweiterten Untersuchung zielt demnach darauf ab, ob die Hypothese zur professional expert fallacy erhärtet werden kann. Da sich die Erkenntnisse aus der Pilotstudie auf lediglich zwei große Berufsfachschulen im Kanton Zürich stützten, interessiert insbesondere die Frage, inwiefern das Verständnis und die Funktion des Zusammenspiels zwischen allgemeinbildendem Englisch und berufsorientiertem Englisch (in erster Linie technisches Englisch und Wirtschaftsenglisch) auch in anderen Kontexten zu analogen Umsetzungen in den Berufsfachschulen geführt haben. Darüber hinaus soll die in der Pilotstudie kurz angeschnittene Frage zur Perspektive der Lernenden und den Trends bei ihrem Wahlverhalten bei den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für die Abschlussprüfungen im Fach Englisch präziser bestimmt werden (vgl. P RUSSE / R OSENBERGER 2019: 152). Als neues Element in unserer Untersuchung wurden die Englischkompetenzen der Lernenden erhoben, mit denen sie nach der Volksschule in die Berufsfachschule eintreten. Mit dieser Erhebung sollte die von Lehrkräften in den Befragungen des Pilotprojekts geäußerte Vermutung überprüft werden, dass die kontinuierliche Entwicklung der Englischkompetenzen über die Schulstufen hinweg durch überholte Vorgaben in den Bildungsplänen gestört werde. Zusätzlich werden von den Fachhochschulen verstärkt höhere Englischkompetenzen von den Berufsmaturanden gefordert, als dies vom entsprechenden Bildungsplan vorgesehen ist, und diese Komponente der Untersuchung ist gleichzeitig Teil eines von Fachhochschulen und Berufsmaturitätsschulen initiierten Dialogs mit dem Ziel, für diese Diskrepanz bei Übergängen zwischen den Schulstufen Lösungen zu finden (vgl. M EIER L EU 2019). Englischunterricht an Berufsschulen 41 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 4. Untersuchungsdesign Das Forschungsprojekt gliedert sich in vier Bestandteile (s. Abb. 1): • eine erweiterte Befragung von Lehrkräften an Berufsfachschulen, die allgemeinbildendes und bzw. oder berufsorientiertes Englisch unterrichten; • eine Befragung von Schulleitungen an Berufsfachschulen zu den Auswahlkriterien bei der Anstellung von Englischlehrkräften; • eine Auswertung von Bildungsverordnungen, Curricula und Lehrabschlussprüfungen (vgl. P RUSSE / R OSENBERGER 2019: 146, 149); • eine statistische Auswertung der Englischkompetenzen der Lernenden beim Eintritt in die Berufsfachschule (einmalige Erhebung im September 2020) und beim Austritt aus der Berufsfachschule (konsolidierte Auswertung der Abschlüsse von 2012-2019). Dieser letzte Teil des noch nicht abgeschlossenen Projekts stützt sich für den vorliegenden Beitrag ausschließlich auf die Daten der Berufsfachschule für Wirtschaft im Kanton Zürich, an der im Rahmen der Pilotstudie eine Gruppe von Englischlehrerinnen befragt wurde. Abb. 1: Untersuchungsdesign (eigene Darstellung) Aus der Pilotstudie von 2017 stehen je vier Interviews einer großen Berufsfachschule für das Ausbildungsfeld Wirtschaft und für das Ausbildungsfeld Technik im Kanton Zürich zur Verfügung. Zusätzlich wurde 2017 die Fachvorsteherin Englisch in der Abteilung Informatik an der technischen Berufsfachschule befragt, da diese ein alternatives Verständnis und Umsetzungskonzept des Englischunterrichts darlegte. Diese neun Interviews wurden für die vorliegende Studie gezielt durch acht weitere Befragungen ergänzt. Ein Interview wurde mit einer Lehrerin einer ländlichen Berufsfachschule im Ausbildungsfeld Technik geführt, um allfällige Gemeinsamkeiten und Differenzen zur großen städtischen Berufsfachschule zu eruieren; eine Befragung einer Englischlehrerin an einer ländlichen Berufsfachschule für Wirtschaft erfolgte mit der gleichen Absicht. Da diese Lehrerin gleichzeitig als Mitglied der Schulleitung fungiert, deckt sie eine weitere Dimension der Rahmenbedingungen, der Gestaltung und des Kontexts von Englischunterricht in diesem Ausbildungsfeld ab. 42 Michael C. Prusse, Lukas Rosenberger DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 50 (2021) • Heft 2 Der Englischunterricht in der Berufsmaturität ist generell allgemeinbildend (SBFI 2013), die Lehrkräfte sind jedoch mehrheitlich nicht nur in der BM, sondern auch in den EFZ-Ausbildungen im Einsatz. Fünf Interviews mit Lehrerinnen in der BM, aus vier verschiedenen Schulen, erlauben es, diese Kombination auszuloten. Das Korpus der Studie umfasst somit siebzehn Leitfadeninterviews mit Lehrkräften aus acht verschiedenen Berufsfachschulen (s. Tab. 1). Art der Berufsfachschule Kanton Anzahl Interviews Lehrperson(en) für Code(s) Große kaufmännische Berufsfachschule* Zürich 5 Allg. u. Wirtschaftsenglisch WB 1 - WB 5 Kleine kaufmännische Berufsfachschule* Zürich 1 Allg. u. Wirtschaftsenglisch WB 6 Große technische Berufsfachschule Zürich 5 Technisches Englisch TB 1 - TB 5 Kleine technische Berufsfachschule Glarus 1 Technisches Englisch TB 6 Große Berufsmaturitätsschule* Zürich 2 Englisch Berufsmaturität BM 1 - BM 2 Kleine Berufsmaturitätsschule 1 Zürich 1 Englisch Berufsmaturität BM 3 Kleine Berufsmaturitätsschule 2* Zürich 1 Englisch Berufsmaturität BM 4 Private Berufsmaturitätsschule Zürich 1 Englisch Berufsmaturität BM 5 Tab. 1: Übersicht über die Leitfadeninterviews An den mit einem Stern gekennzeichneten Schulen erfolgt zudem die Überprüfung der Englischkompetenzen der neuen Lernenden im Schuljahr 2020/ 2021 mittels des Oxford Online Placement Test (OOPT 2 ). Die große Berufsfachschule für Wirtschaft setzt diese Online-Prüfung schon seit mehreren Jahren zur Selektion der Lernenden ein, die einen der Vorbereitungskurse mit beschränkter Teilnehmerzahl für ein internationales Cambridge Diplom absolvieren. Aus Sicht der Fachschaft Englisch hat sich der Test als zuverlässig erwiesen. Der OOPT besteht aus zwei Komponenten, die direkt getestet werden, nämlich Hörverstehen und Use of English. Indirekt wird auch das Leseverstehen geprüft, weil die Testteilnehmenden jeweils die Fragen und die Auswahl auf dem Computer lesen und verstehen müssen, um die korrekte Antwort zu wählen. Es handelt sich beim OOPT um einen adaptiven Test, der jeweils mit einer 2 https: / / elt.oup.com/ feature/ global/ oxford-online-placement/ (02.06.2021) Englischunterricht an Berufsschulen 43 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 Frage auf einem mittleren Niveau anfängt und dann aus seiner Datenbank immer schwierigere oder leichtere Fragen stellt, bis er die Sprachkompetenz der Teilnehmenden präzise eingegrenzt hat. Damit können die Englischkenntnisse nach Abschluss der Volksschule annähernd bestimmt und mit den Anforderungen der Bildungsverordnungen verglichen werden. Die produktiven Kompetenzen (Sprechen, Schreiben) werden nicht getestet und die Ergebnisse sind deshalb in Bezug auf die berufssprachliche Kompetenz nur von eingeschränkter Aussagekraft. Ein weiterer Mosaikstein in dieser Untersuchung ist die Analyse der Englischkompetenzen der Lernenden zum Zeitpunkt des Lehrabschlusses. Die Berufsfachschule Wirtschaft aus der Pilotstudie ermöglichte den Autoren den Zugang zu den gesammelten Ergebnissen der Abschlussprüfungen der vergangenen acht Jahre. Diese mehr als 10.000 Datensätze wurden statistisch ausgewertet und geben einen Einblick in die Fortschritte bei den Englischkompetenzen, welche im Verlauf der Ausbildung an der Berufsfachschule und im Betrieb erreicht werden. Die Befragung der Schulleitungen erfolgte im direkten Gespräch bei den beiden großen Schulen, die bereits an der Pilotstudie beteiligt waren, und bei weiteren, mit denen die Autoren im Rahmen des Forschungsprojekts ins Gespräch kamen. Ergänzt wurden diese Aussagen durch die Interviewten, die neben der Tätigkeit als Englischlehrkraft zusätzlich eine Funktion in der Schulleitung bekleiden. Eine Online- Umfrage bei Schulleitungsmitgliedern in der Deutschschweiz bezweckte, die Befunde aus den Interviews und die Hypothese zur professional expert fallacy aus der Pilotstudie zu verifizieren. Als Ergänzung zu dieser Umfrage wurden Stelleninserate ausgewertet, in denen Berufsfachschulen Lehrkräfte für berufsbezogenes Englisch suchten. Aus den darin geforderten Qualifikationen können ebenfalls Erkenntnisse zur Einstellungspraxis gewonnen werden. 5. Ergebnisse 5.1 Befragung der Lehrpersonen und Schulleitungen Die Perspektive der Lehrkräfte ist, wie das nicht nur M ALTRITZ (2016: 74) treffend festhält, „das zentrale Bindeglied zwischen der Forschung und der Praxis“; dieser Befund wird auch durch H ATTIE (2009) und H ELMKE (2012) bestätigt. Diese Sicht nimmt darum eine zentrale Rolle in dieser Untersuchung ein. In den Interviews wurde zunächst der Ausbildungs- und Erfahrungshintergrund der Lehrkräfte festgehalten. Die Befragten zeichnen sich über beide Ausbildungsfelder hinweg durch differente Qualifikationen und Laufbahnen aus. An den Berufsfachschulen für Wirtschaft gibt es ein fast einheitliches Profil, weshalb nicht im Detail auf die individuell bemerkenswerten Laufbahnen eingegangen wird. Summarisch sei hier festgehalten, dass alle Englischlehrerinnen ein Anglistikstudium und anschließend entweder ein Lehrdiplom für Berufsfachschulen oder für Maturitätsschulen absolvierten. Bei den Lehrerinnen in der Berufsmaturität sind die Vorgaben des Bundes zur Anerkennung der Bildungsgänge so strikt, dass hier sämtliche Interviewte ein Anglis- 44 Michael C. Prusse, Lukas Rosenberger DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 50 (2021) • Heft 2 tikstudium vorweisen können und, darauf aufbauend, ein Lehrdiplom für Maturitätsschulen und/ oder Berufsmaturitätsschulen. Allerdings hat diese akademische Laufbahn auch einen Nachteil, indem diese Lehrkräfte nur einen beschränkten Einblick in den beruflichen Alltag ihrer Lernenden haben. Deshalb wird in der durch den Bund erlassenen Berufsbildungsverordnung (D ER S CHWEIZERISCHE B UNDESRAT 2003: BBV, Kapitel 6, Artikel 46, Absatz 1c) verlangt, dass alle Berufsbildungsverantwortliche mindestens sechs Monate betriebliche Erfahrungen vorweisen müssen. Zudem fordert dieselbe Verordnung in Artikel 48, dass die Qualifikation von Berufsbildungsverantwortlichen eine berufspädagogische Komponente enthält. Eine Lehrerin mit einem ausländischen Masterabschluss in Anglistik, die in der Schweiz das Lehrdiplom für Berufsmaturitätsschulen erwarb (BM 5), betont, dass die Kenntnis des Berufsbildungssystems sich als unabdingbar für ihre Tätigkeit erwiesen habe, weil sie nur so den Lernenden bei Fragen mit Rat und Tat zur Seite stehen könne. Allen Lehrkräften, die in der Berufsmaturität oder an einer Wirtschaftsschule tätig sind, ist gemeinsam, dass sie in den Interviews der Arbeitstätigkeit der Lernenden großen Respekt zollen, da sich diese neben ihrer Teilnahme am Unterricht in der Berufsfachschule auch in ihrem Betrieb beruflichen und sprachlichen Kompetenzanforderungen stellen müssen (z.B. WB 5). Im Englischunterricht thematisieren sie deshalb Gespräche mit Kunden (Smalltalk) oder trainieren die Fähigkeit, über den Betrieb und die Arbeit berichten zu können (z.B. BM 3; WB 5). Die divergentesten Profile finden sich bei den sechs Lehrkräften im technischen Englisch: Hier fließen heterogene Erfahrungen und Qualifikationen zusammen, die nachfolgend kurz zusammengefasst werden. • TB 1, eine Mikro- und Meeresbiologin mit Lehrdiplom für Biologie auf der Sekundarstufe II, unterrichtet vier Lektionen Englisch bei den Laborberufen, sowohl im allgemeinbildenden als auch im berufsbezogenen Bereich. Sie hat zwar den größten Teil ihrer Studien in englischer Sprache und ein Cambridge English Examen auf Niveau C2 Proficiency absolviert, besitzt aber keine Qualifikation für den Englischunterricht. • TB 2 absolvierte ein Studium als Elektroingenieur, arbeitete im Ausland, besuchte zahlreiche Englischkurse und unterrichtet gegenwärtig eine Doppellektion technisches Englisch pro Woche. Er hat keine Ausbildung als Englischlehrer und findet dies auch nicht notwendig: „Die Qualifikation kommt nicht über ein Papier, sondern über die praktische Anwendung“. • TB 3, Laborantin mit Fähigkeitszeugnis, arbeitete für achtzehn Monate an einer Universität in den USA, bevor sie in die Schweiz zurückkehrte, wo sie an einer Universitätsklinik tätig ist. Als Nebentätigkeit unterrichtet sie zehn Lektionen Englisch, sowohl im allgemeinbildenden Bereich als auch für Laborberufe. TB 3 hat eine Lehrbefähigung als Berufsfachschullehrerin im Nebenberuf (basierend auf Kursen mit insgesamt 10 ECTS-Punkten) und ein Cambridge English Examen auf Niveau C2 Proficiency; sie weist ebenfalls keine Qualifikation für den Englischunterricht aus. Englischunterricht an Berufsschulen 45 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 • TB 4 ist Primarlehrer, studierte anschließend Sport und erwarb berufsbegleitend das Lehrdiplom für allgemeinbildenden Unterricht auf der Sekundarstufe II. Er schätzt an seiner Tätigkeit insbesondere die Abwechslung zwischen allgemeinbildendem Unterricht, Sport und technischem Englisch. Aufgrund eines Sabbaticals in den Vereinigten Staaten sowie einer einjährigen Tätigkeit an einer amerikanischen High School und einem Cambridge English Examen auf Niveau C1 Advanced, wurde er für den Unterricht von technischem Englisch angefragt, obwohl er weder für das Fach noch für den Englischunterricht qualifiziert ist. Er hat sich in die Materie eingearbeitet, geht sehr pragmatisch mit den Inhalten um und möchte primär erreichen, dass sich die Lernenden im betrieblichen Umfeld in der Fremdsprache verständigen können. • TB 5, Fachverantwortliche für Englisch an der Informatikabteilung der großen Berufsfachschule für Technik, hat ein Anglistikstudium und ein Lehrdiplom für Maturitätsschulen absolviert. Nach Absprachen mit ihrem Team und der Schulleitung fiel der Beschluss, in den verfügbaren Lektionen der Informatiklernenden nur auf allgemeinbildenden Englischunterricht zu setzen. Der Hauptgrund lag darin, dass die berufsbezogenen Englischlehrmittel zum Zeitpunkt der Drucklegung jeweils bereits veraltet waren und die Lernenden aufgrund der täglichen Auseinandersetzung in ihren Betrieben keinerlei Schwierigkeiten mit den technischen Begriffen hatten: „Das Fachspezifische eignen sie sich im Beruf an“. • TB 6 arbeitet an einer ländlichen Berufsfachschule. Nach einer Erstausbildung als Sekundarlehrerin mit Englisch im Profil und nach mehrjähriger Tätigkeit auf dieser Stufe qualifizierte sie sich im berufsbegleitenden Studium als Lehrerin für Allgemeinbildung an Berufsfachschulen. Dort wird sie auch primär eingesetzt; daneben unterrichtet sie auch ein kleines Pensum an Sport und in technischem Englisch. Ihr Unterricht sei „explizit auf das berufliche Lernen ausgerichtet“ und sei gemäß Bildungsverordnung der MEM-Berufe (Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie) eindeutig als Berufskundeunterricht einzuordnen. Da sie selbst nicht aus diesem Ausbildungsfeld kommt, musste sie sich das notwendige Hintergrundwissen aneignen, um Begriffe wie z.B. „Pleuelstange“ nicht nur auf Englisch, sondern auch im beruflichen Kontext ihrer Lernenden zu verstehen. Im Gegensatz zum in der Pilotstudie gezogenen Schluss kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die Lehrkräfte im Bereich technisches Englisch oder Laborenglisch in drei Profile differenziert werden müssen. Einerseits gibt es berufliche Fachleute ohne Englischlehrdiplom, die sich aber keines Mankos bewusst sind und - das ist ohne Unterrichtsbeobachtung nicht zu überprüfen - mit den Lernenden vermutlich auch nicht wirklich an der Sprache arbeiten, sondern einfach ihr Fachwissen in englischer Sprache vermitteln (TB 1; TB 2; TB 3). Andererseits gibt es einen Lehrer (TB 4), der beruflich nicht aus dem Ausbildungsfeld kommt, pragmatisch damit umgeht und, analog zu den drei Fachpersonen, ebenfalls kein allfälliges Defizit in seinen Qua- 46 Michael C. Prusse, Lukas Rosenberger DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 50 (2021) • Heft 2 lifikationen feststellt. Im Gegensatz dazu steht die Lehrerin an der kleinen Schule, die den Unterricht aufgrund ihrer Vorbildung als Englischlehrerin für die Sekundarstufe I erteilen kann, die sich aber ihres fehlenden berufsbezogenen Fachwissens sehr bewusst ist (TB 6). Die professional expert fallacy erweist sich als nicht so ausgeprägt, wie aufgrund der Pilotstudie vermutet wurde. Die Rücklaufquote der Befragung von Schulleitungsmitgliedern zur Einstellungspraxis bei Lehrkräften für technisches Englisch bzw. Laborenglisch blieb bescheiden, was vermutlich auf deren große Belastung in der Pandemiesituation im Jahr 2020 zurückzuführen ist. Die Antworten können deshalb lediglich als Stichprobe gelten, die aber die in den Interviews gewonnenen Aussagen zur Qualifikation von Englischlehrkräften für technisches, Labor- oder Wirtschaftsenglisch größtenteils bestätigen. Die beigezogenen Stellenausschreibungen aus anderen Kantonen als dem Kanton Zürich suchten berufliche Fachexpert*innen mit einem Lehrdiplom für berufskundlichen Unterricht. Somit bestätigen beide in Ergänzung zugezogenen Datensätze die Erkenntnisse zu den Lehrkräften für technisches bzw. Laborenglisch: Fachenglisch wird auch in einem weiteren Umfeld an Berufsfachschulen in der deutschsprachigen Schweiz von den drei unterscheidbaren Profilen unterrichtet, die im kleinen Sample dieser Studie enthalten sind. Die im Rahmen der Pilotstudie postulierte Hypothese zur professional expert fallacy kann aufgrund dieser Erkenntnisse nicht als allgemeingültiges Konstrukt bestätigt werden; sie bewahrheitet sich nur teilweise in einem Umfeld, in dem mindestens zwei weitere Ausprägungen von berufsbezogenem Englischunterricht existieren. 5.2 Englischkompetenzen der Lernenden Die Sicht der Lernenden im Ausbildungsfeld Wirtschaft auf die Relevanz von allgemeinbildendem bzw. berufsorientiertem Englisch wurde zumindest der Tendenz nach in der Pilotstudie angedeutet (vgl. P RUSSE / R OSENBERGER 2019: 152), nämlich als allmähliche Bewegung weg von den berufsorientierten Sprachzertifikaten und hin zum vermehrten Absolvieren von allgemeinbildenden Diplomen. Aufgrund der nun verfügbaren Daten zu den Lehrabschlussprüfungen in Englisch über die letzten acht Jahre (2012-2019) kann dieser Trend bestätigt werden; nachfolgend wird zunächst die Entwicklung für die beiden Ausbildungsprofile Basis-Grundbildung (B-Profil) und Erweiterte Grundbildung (E-Profil) nachgezeichnet. Grundsätzlich haben die Lernenden der B- und E-Profile die Wahl, im Rahmen des Qualifikationsverfahrens entweder die vom kaufmännischen Verband erstellte nationale Abschlussprüfung im Fach Englisch zu absolvieren oder aber ein internationales Sprachdiplom der Universität Cambridge in allgemeinbildendem oder berufsbezogenem Englisch abzulegen. Im Zeitraum 2012-2019 haben sich im Durchschnitt knapp zwei Drittel der Lernenden im B-Profil für ein Sprachzertifikat entschieden, wobei dieser Anteil im Verlaufe der Jahre leicht zugenommen hat. Im E-Profil haben Englischunterricht an Berufsschulen 47 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 sich im gleichen Zeitraum jeweils durchschnittlich 84% der Lernenden für ein Sprachzertifikat anstelle der Lehrabschlussprüfung entschieden. Da die Lernenden bei den Sprachzertifikaten zusätzlich zwischen berufsorientierten und allgemeinbildenden Sprachzertifikaten wählen können, ist diese Wahl im Kontext der vorliegenden Studie von besonderem Interesse. 2012 absolvierten 96% der Lernenden im B-Profil, die mit einer internationalen Prüfung abschlossen, ein berufsorientiertes Zertifikat (Cambridge Business Preliminary), und nur 4% ein allgemeinbildendes Cambridge B2 First Certificate. 2019 hingegen wählten nur noch 80% den Abschluss in Business English, während bereits 20% ein allgemeinbildendes Sprachdiplom absolvierten, d.h. entweder ein B2 First Certificate oder sogar ein C1 Advanced. Bei den Lernenden im E-Profil ist der Trend analog, allerdings auf deutlich höherem Niveau: 2012 absolvierten 80% ein Business Preliminary und 20% entweder ein B2 First Certificate oder ein C1 Advanced; der Anteil des Business Preliminary schrumpfte bis 2019 auf 62%, während im Gegensatz dazu die allgemeinbildenden Abschlüsse bereits einen Anteil von 38% ausmachen. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Lernenden selbst erkennen, dass fachsprachliche Konstrukte von beschränkter Nützlichkeit sind und die berufssprachlichen Anforderungen mehr allgemein-kommunikativer Natur sind. Im M-Profil (Berufsmaturität) besteht die Wahl zwischen der kantonalen Berufsmaturitätsprüfung im Fach Englisch oder einem international anerkannten Sprachdiplom. Eine überwiegende Mehrheit von durchschnittlich 98% der Lernenden im M- Profil nutzte im Zeitraum 2012-2019 die Möglichkeit, ein internationales Sprachzertifikat zu erwerben. Einer der Gründe für diesen hohen Anteil an Sprachdiplomen liegt darin, dass Ausbildungsbetriebe dazu tendieren, diese u.a. mittels monetärer Anreize zu fördern. Die Englischkompetenzen bei Lehrabschluss liegen teilweise deutlich über dem in der Bildungsverordnung festgeschriebenen Austrittsniveau (B1). Die Überprüfung der Kompetenzen der neu eingetretenen Lernenden mittels des Einstufungstests an einer großen kaufmännischen Berufsfachschule im Kanton Zürich liefert ebenfalls bemerkenswerte Ergebnisse. 60% der Lernenden im B-Profil weisen bereits zu Beginn ihrer Berufslehre die Englischkompetenzen aus, die für den Austritt vorausgesetzt werden, nur 40% liegen noch darunter (s. Tab. 2). Bei den Lernenden im E- Profil sind sogar 77% zu Beginn der Lehre bereits auf dem für den Lehrabschluss verlangten Niveau oder darüber, während nur 23% dieses noch nicht erreicht haben. Im M-Profil, also bei den Lernenden, die im Rahmen ihrer Berufsausbildung integriert auch gleich die Berufsmaturität ablegen, muss mit dem Abschluss das Niveau B2 erreicht werden. Hier haben nur 37% der Neueintretenden das geforderte Austrittsniveau noch nicht erreicht, während 45% dieses bereits mitbringen und 18% dieses Sprachniveau beim Eintritt in die Berufslehre sogar übertreffen. 48 Michael C. Prusse, Lukas Rosenberger DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 50 (2021) • Heft 2 Tab. 2: Sprachniveau gemäß Oxford Online Placement Test in den KV-Profilen B, E und M zum Zeitpunkt des Eintritts in die Berufslehre 6. Diskussion der Ergebnisse 6.1 Sicht der Lehrkräfte Eine Reihe von Erkenntnissen der Pilotstudie kann aufgrund der erweiterten Untersuchungsanlage weitgehend bestätigt werden; im zentralen Punkt der postulierten professional expert fallacy trifft dies allerdings nicht zu. Die Englischlehrkräfte im Ausbildungsfeld Technik bilden nicht die prognostizierte einheitliche Gruppe, deren Zustandekommen, Hintergrund und Haltungen mit der professional expert fallacy elegant erklärt werden kann. Es eröffnet sich stattdessen, wie für den Englischunterricht in der Berufsbildungsszene der Schweiz insgesamt, ein Bild von unterschiedlichen Praktiken, die zumindest teilweise auf lokalen Traditionen gründen. Unterschiedliche Interpretationen der in den Bildungsverordnungen summarisch dargelegten Inhalte von Fachenglisch oder technischem Englisch führen zu den drei in den Ergebnissen aufgeführten Profilen, die sich zwischen einem generellen technischen Englisch und einem spezifischen beruflichen Wissen auf Englisch bewegen. Grundsätzlich wäre es die Funktion einer Berufsfachschule, die Lernenden, die in ihren Betrieben ohnehin jeweils in eine individuelle Arbeitsumgebung eingebunden sind, breit auf ihre Zukunft in der Arbeitswelt vorzubereiten. Die Frage der Spezifität in den verschiedenen Berufsausbildungen bleibt eine Herausforderung. Lehrkräfte, die in ihren Klassen mehrere Berufsausbildungen vereinen (z.B. TB 4), behandeln in ihrem Unterricht allgemeine Grundlagen des technischen Englisch und erfüllen damit die Vorgabe von W IDDOWSON , wonach für gute Kommunikationsfertigkeiten am Arbeitsplatz eine generelle Fähigkeit benötigt werde, sich spezifisch entwickeln zu können, „on being contextually specific“ (2003: 71). In anderen Worten, die generelle Basis muss ausreichend sein, damit sich die Lernenden die spezifisch benötigte Fachsprache innert nützlicher Frist aneignen können. Analysen des berufsbezogenen Englischunterrichts haben zur Erkenntnis geführt, dass eine solide sprachliche Grundlage zu übertragbaren Fertigkeiten führt, die es gestatten, sich in einem neuen beruflichen Kontext rasch zurecht zu finden und die Fachsprache zu lernen (H ALL 2013; W IDDOWSON 23% 44% 33% 0% 10% 20% 30% 40% 50% < B1 B1 > B1 E-Profil (n=664) 37% 45% 18% 0% 10% 20% 30% 40% 50% < B2 B2 > B2 M-Profil (n=285) 41% 42% 18% 0% 10% 20% 30% 40% 50% < B1 B1 > B1 B-Profil (n=108) Englischunterricht an Berufsschulen 49 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 2003). Analog zur Ausbildung von Berufslernenden sollte auch in der Ausbildung von Lehrkräften für Berufsfachschulen die Maxime gelten, dass diese Lehrkräfte „transferable knowledge and skills“ (M ALTRITZ 2016: 265) erwerben und somit in den unterschiedlichsten Berufsfeldern erfolgreich Englischunterricht gestalten können. In einer vernetzten Welt ist berechtigterweise die Frage zu stellen, welcher Grad an Spezifität überhaupt anzustreben ist (vgl. H ALL 2013: 5). Die Berufsfachschullehrkräfte, die ihr Fachwissen auf Englisch weitergeben, müssten sich die Frage stellen, was denn nun wirklich das Spezifische an dem Englisch ist, das sie unterrichten (vgl. H UHTA et al. 2013: 34). Wenn die Spezifität von gewissen Exponenten auf die Spitze getrieben wird, muss jedoch wie bereits in der Pilotstudie darauf hingewiesen werden, dass domänenspezifische Sprache, Terminologie, Akronyme und Neologismen mehr mit der Rolle zu tun haben, die am Arbeitsplatz eingenommen wird, als mit Grundlagen des berufsorientierten Englisch (vgl. ebd.: 35; K ANKAANRANTA / L OU - HIALA -S ALMINEN 2010: 207). Schließlich verlaufen Fachdiskurse zwar durchaus unterschiedlich, aber die Grundelemente einer Diskursfähigkeit bleiben, unabhängig vom spezifischen Fachgebiet, bestehen (vgl. H UCKIN 2003: 8). Entscheidend ist nicht das zufällige Lernen, in dem die Sprache z.B. am Arbeitsplatz erweitert wird, sondern die bewusste Arbeit an der Sprache (vgl. H ULSTIJN 2013: 4). Zur gleichen Schlussfolgerung kommt auch eine Studie an Berufsschulen in Deutschland: Es ist unklar, wie Fachlehrer*innen ohne Qualifikation für den Englischunterricht „die Schülerinnen und Schüler bei der Entwicklung fremdsprachlicher Kompetenzen unterstützen können“ (M ALTRITZ 2016: 105). Die Lehrkräfte an den kaufmännischen Berufsfachschulen erwähnten mehrfach, dass sie ihre fehlenden Kenntnisse im Berufsfeld ihrer Lernenden als Manko erachteten, während dies, interessanterweise, von den meisten im technischen Ausbildungsfeld (mit Ausnahme von TB 5 und TB 6) nicht erwähnt wurde, obwohl die Qualifikationen auch bei diesen Lehrkräften nicht immer auf das Berufsfeld zugeschnitten sind. Wenn der Fokus des Unterrichts aber auf der Arbeit an der Sprache liegt, dann sind diese Defizite kein Hindernis für eine erfolgreiche Lehrtätigkeit. Entscheidend ist vielmehr die Kompetenz der Lehrer*innen im Sprachunterricht, wenn sie gleichzeitig das Interesse für die sprachlichen Nuancen der Spezialgebiete entwickeln, welche die Lernenden in ihrem beruflichen Umfeld benötigen (vgl. T RANTER 2020: 28). Im Interview mit TB 6 wurde T RANTERS Einschätzung bestätigt: Diese Lehrkraft beschreibt, wie sie sich allmählich in die Materie eingearbeitet hat und den Lernenden Möglichkeiten gibt, ihre Fachexpertise in einen englischsprachigen Kontext zu überführen. Die häufige Vergabe eines Pensums im berufsbezogenen Englisch an fachliche Expert*innen ermöglicht diesen zwar, ihr Fachwissen auf Englisch weiterzugeben; die Arbeit an der Sprache wird mit diesem Entscheid jedoch vernachlässigt mit den entsprechenden Konsequenzen für die fremdsprachliche Kompetenzentwicklung. Ob nun bei den angestoßenen Reformen der Bildungsverordnungen, insbesondere wie gerade aktuell im Ausbildungsfeld Wirtschaft, der Fokus beim Englischunterricht eher auf berufliches Wissen, das durch Fachexpert*innen auf Englisch vermittelt wird, oder aber eher auf Allgemeinbildung gelegt wird, wodurch stärker an der 50 Michael C. Prusse, Lukas Rosenberger DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 50 (2021) • Heft 2 Sprachkompetenzentwicklung gearbeitet wird, hängt vermutlich stark von den Intentionen der Akteur*innen im schweizerischen Berufsbildungssystem ab. Diese Entscheide sollten jedoch im Bewusstsein darüber getroffen werden, was sie bei den längerfristigen beruflichen (Weiter-)Entwicklungsmöglichkeiten der Lernenden bewirken. 6.2 Perspektive der Lernenden Eine erste Auswertung der Daten der Abschlussprüfungen Englisch im Bereich Wirtschaft gestattet folgende Feststellungen: 1. Die Lernenden kommen nach der Volksschule mit besseren Englischkompetenzen in die Berufslehre, als dies aufgrund der in den Rahmenlehrplänen geforderten Bildungsziele erwartet werden könnte. Viele verfügen bereits beim Eintritt in die Berufslehre über das geforderte Austrittsniveau. Dieser Umstand birgt die Gefahr einer Rückbeschulung, da die Schulen nur eine beschränkte Autonomie im Hinblick auf die z.T. national bzw. kantonal geregelten Qualifikationsverfahren haben. 2. Bei den Abschlussprüfungen im Bereich Wirtschaft zeigt sich ein klarer Trend in Richtung allgemeinbildende Englischdiplome; im Gegensatz dazu drängen die Organisationen der Arbeitswelt in den laufenden Reformen der Bildungsverordnungen auf betriebsnahe Handlungskompetenzen, was für das Fach Englisch gleichbedeutend ist mit rein berufsorientiertem Englischunterricht, also einer Reduktion auf Fachverständnis und Fachvokabular. Der Englischunterricht an Berufsfachschulen müsste deshalb mit Blick auf die Entwicklung der Lernenden zwei Bedingungen erfüllen: Er muss einerseits die Kompetenzen der Lernenden nach Abschluss der Volksschule aufnehmen und weiterentwickeln. Andererseits ist eine permanente Arbeit an der Sprache zwingend, damit die Lernenden vor dem Hintergrund einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt in der Fremdsprache breit handlungsfähig werden und bleiben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es auch bei beruflichen Kommunikationssituationen nicht nur um sprachliche, sondern immer auch um interkulturelle Kompetenzen geht (vgl. M ALTRITZ 2016: 117). 7. Schlussgedanken Das Spannungsfeld des Englischunterrichts in der Berufsbildung zwischen Allgemeinbildung und Berufsorientierung wird sich in Zukunft noch akzentuieren. Grundsätzlich ist die intensive Diskussion über Inhalte und Kompetenzen eines jeglichen Ausbildungsformats zu begrüßen, da sich Bildung immer an den Werten und Erwartungen der sich wandelnden Gesellschaft auszurichten hat. Die beiden Pole müssten allerdings keine Gegensätze sein, wie das bereits in der Pilotstudie mittels der Begriff- Englischunterricht an Berufsschulen 51 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0017 lichkeiten der learning domain (Lerngegenstand) und der exemplifying domain (exemplifizierende Domäne bzw. inhaltliche Thematik) mit Verweis auf R ENKL et al. (2009) erläutert wurde (vgl. P RUSSE / R OSENBERGER 2019: 148). Entscheidend ist die Arbeit an der Sprache, um den Lernenden Fortschritte in diesem Bereich zu ermöglichen, wohingegen der Inhalt durchaus berufsbezogen sein darf - und im Kontext der Berufsbildung auch sein soll. Der Lerngegenstand sollte demnach die Fremdsprache an sich sein, während die berufskundlichen Inhalte als exemplifizierende Domäne dienen, in der die Fremdsprache angewendet und geübt wird, also im Sinne eines fachbezogenen Sprachunterrichts (vgl. L EISEN 2020: 91). Es gilt demnach diese verschiedenen Perspektiven zu berücksichtigen, wenn man ein lebenslanges Lernen der Berufslernenden im Blick hat. Die Notwendigkeit, kontinuierlich an der Sprache zu feilen, bedingt, dass der berufsbezogene Englischunterricht von ausgebildeten Sprachlehrkräften erteilt wird, die ihre Lernenden nicht nur auf die Lehrabschlussprüfung oder auf ihr erstes berufliches Einsatzfeld vorbereiten, sondern auf eine längerfristige Berufslaufbahn. Dieser weitere Horizont sollte auch in den entsprechenden Bildungsverordnungen aufgenommen werden, damit nicht bloß Berufskunde ohne Spracharbeit unterrichtet wird. Es darf zudem für die Lernenden keine Diskrepanz geben zwischen den fremdsprachlichen Kompetenzen, die sie bereits mitbringen, und denjenigen, die für die nächsthöhere Bildungsstufe vorgegeben sind. Der Übergang zwischen den verschiedenen Stufen, von der Volksschule über die Sekundarstufe II in die Tertiärbildung, muss kohärent gestaltet sein, so dass die Lernenden mit ihren Englischkompetenzen für die Zukunft in sich wandelnden Berufsfeldern hinreichend gewappnet sind. Literatur BFS B UNDESAMT FÜR S TATISTIK (2020): Sekundarstufe II: Abschlussquote. https: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ de/ home/ statistiken/ bildung-wissenschaft/ bildungsindikatoren/ themen/ bildungserfolg/ abschlussquote-sekii.html (01.05.2021). D ER S CHWEIZERISCHE B UNDESRAT (2003): BBV Berufsbildungsverordnung. https: / / www.admin.ch/ opc/ de/ classified-compilation/ 20031709/ index.html#a46 (01.05.2021). H ALL , David R. (2013): „Introduction“. 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