eJournals Forum Modernes Theater 32/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0002
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Publikumsumfragen im Theater zeigen, dass sich das Durchschnittsalter der Besucher längerfristig erhöht hat. Während in den 1970er Jahren die Jüngeren im Publikum überrepräsentiert waren, sind es heutzutage die Älteren. Die Altersbeziehung kultureller Partizipation hat sich grundlegend umgedreht. In dieser Hinsicht spiegelt sich ein Trend wider, welcher die kulturelle Partizipation in der Bevölkerung als Ganzes kennzeichnet. Der Strukturwandel des Publikums geht auf einen Besuchsrückgang auf Seiten der Jüngeren und auf einen Zuwachs auf Seiten der Älteren zurück. Durch die Corona-Pandemie erfährt der Theaterbetrieb eine zusätzliche Herausforderung, deren längerfristige Folgen offen sind. Der Theaterbetrieb wird auf Besucherforschung nicht verzichten können, um unter veränderten sozialen Realitäten bestehen zu können.
2021
321 Balme

Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation

2021
Karl-Heinz Reuband
Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation Karl-Heinz Reuband (Düsseldorf) Publikumsumfragen im Theater zeigen, dass sich das Durchschnittsalter der Besucher längerfristig erhöht hat. Während in den 1970er Jahren die Jüngeren im Publikum überrepräsentiert waren, sind es heutzutage die Älteren. Die Altersbeziehung kultureller Partizipation hat sich grundlegend umgedreht. In dieser Hinsicht spiegelt sich ein Trend wider, welcher die kulturelle Partizipation in der Bevölkerung als Ganzes kennzeichnet. Der Strukturwandel des Publikums geht auf einen Besuchsrückgang auf Seiten der Jüngeren und auf einen Zuwachs auf Seiten der Älteren zurück. Durch die Corona-Pandemie erfährt der Theaterbetrieb eine zusätzliche Herausforderung, deren längerfristige Folgen offen sind. Der Theaterbetrieb wird auf Besucherforschung nicht verzichten können, um unter veränderten sozialen Realitäten bestehen zu können. Dass in Deutschland das Opern- und Konzertpublikum im Laufe der letzten Jahrzehnte älter geworden ist, älter auch als es dem Alterungsprozess in der Bevölkerung entspricht, daran besteht kein Zweifel. 1 Wie aber verhält es sich mit dem Publikum öffentlicher Sprechtheater? Die Datenlage dazu ist spärlich, weil es an Besucherbefragungen mangelt. Eine der frühesten Untersuchungen (wenn nicht sogar die früheste) stammt von der Zeitschrift Theater heute. Diese schrieb im Oktober 1964 Theater in der Bundesrepublik, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz an mit der Bitte, eine Woche lang Fragebögen an ihr Publikum zu verteilen. Der auszufüllende Fragebogen war an die Zeitschrift zurückzusenden. Die Portokosten hatten die Befragten zu tragen. Rund 200.000 Fragebögen wurden an die Theater verschickt, rund 15.000 kamen ausgefüllt zurück. 2 Umgerechnet auf die Zahl der versandten Fragebögen wurden nicht mehr als 7,5 % ausgefüllt retourniert. Gemessen an den methodischen Standards der Sozialforschung ist dies ein wenig befriedigendes Ergebnis. Allerdings muss die niedrige Quote im vorliegenden Fall nicht zwangsläufig bedeuten, dass sich tatsächlich nur so wenige Besucher zur Beantwortung des Fragebogens bereitfanden. Denkbar ist ebenso, dass die Theater die Fragebögen gar nicht in dem Maße auslegten, wie es von den Autoren von Theater heute intendiert war. Mit anderen Worten: Würde man die Zahl der von den Besuchern in die Hand genommenen Fragebögen als Maßstab der Kalkulation wählen, wäre der Anteil zurückgesandter Fragebögen vermutlich höher. Niedrige Ausschöpfungsquoten erhöhen die Gefahr, dass es zu einer verzerrten Repräsentation der Personengruppen kommt, über die man Aussagen treffen will. Aber sie bedeuten nicht notwendigerweise, dass man den Befunden jegliche Aussagekraft absprechen muss. Denn ob es eine nennenswerte Verzerrung gibt, ist maßgeblich Funktion einer thematisch selektiven Teilnahme auf Seiten der kontaktierten Personen. Ob sich damals die engagierten Theaterbesucher überproportional an der Befragung beteiligten und sie sich altersmäßig überproportional aus bestimmten Gruppen rekrutierten und so das Gesamtbild verfälschten, ist eine Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 5 - 12. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0002 offene Frage. Denkbar ist, dass Ältere etwas stärker als Jüngere dazu neigten, den Fragebogen zu beantworten. Aber dass dies nachhaltig den Altersdurchschnitt beeinflusste, ist nach den Erfahrungen mit Besucher- und Bevölkerungsumfragen in anderen Kulturbereichen eher unwahrscheinlich. Berechnet man auf der Basis der gruppierten Altersangaben das Durchschnittsalter der Besucher (arithmetisches Mittel), kommt man in der Erhebung von Theater heute auf einen Durchschnittswert von 35 Jahren (eigene Berechnungen). Ob sich darin das Publikum der Theater in der Bundesrepublik von dem in Österreich oder der Schweiz unterschied, wird in der Veröffentlichung nicht mitgeteilt. Angesichts der Tatsache, dass es damals (ebenso wie heute) mehr Theater in der Bundesrepublik als in Österreich oder der Schweiz gab, kann man jedoch davon ausgehen, dass sich das Durchschnittsalter der deutschen Besucher von dem Gesamtbefund nicht allzu sehr unterschied. So sehr auch die Aussagekraft der Untersuchung von Theater heute unter methodischen Gesichtspunkten begrenzt sein mag (wir wissen nichts über das Vorgehen der einzelnen Theater), stellt sie doch eine bedeutende Pionierarbeit dar: Eine, die erstmals Informationen über die soziale Zusammensetzung des Publikums, deren Besuchsverhalten und deren Besuchsmotive auf der Basis von Besucherumfragen lieferte. Zu Studien, die sich methodisch professionellerer Vorgehensweisen bedienten (indem sie Fragebögen an eine Stichprobe von Besuchern verteilten und diese nach Ende der Vorstellung zurückgeben ließen), kam es erst mehrere Jahre später. Eine der frühesten Untersuchungen, die einer professionellen Erhebungspraxis folgt, stammt von Joachim Scharioth, der im Rahmen seiner Dissertation in den Jahren 1969/ 70 in der Stadthalle Mühlheim sowie in den Theatern Castrop-Rauxel und Bergkamen eine Befragung des Schauspielpublikums durchführte. Es handelt sich, gemessen am deutschen Theatersystem, um eher atypische Spielorte: um Spielstätten ohne ein festes Ensemble und teilweise auch um Mehrzweckhallen (in der Stadthalle Mühlheim z. B. handelte es sich überwiegend um Aufführungen des Schauspielhauses in Düsseldorf). Das Durchschnittsalter der Befragten lag in Bergkamen bei 30,9, in Castrop- Rauxel bei 31,5 und in der Stadthalle Mühlheim bei 37,2 Jahren. 3 Mittelt man die Altersangaben, kommt man auf einen Durchschnittswert von 33 Jahren - ein Wert, der sich nicht allzu sehr von dem Altersdurchschnitt der Theater heute-Untersuchung Mitte der 1960er Jahre unterscheidet. Aus den früheren 1970er Jahren stammt des Weiteren eine Publikumsbefragung im Schauspielhaus der Stadt Kiel. Es handelt sich dabei um ein Mehrspartenhaus, in dem neben dem Musiktheater das Schauspiel seinen Platz hat. Im Schauspiel führte der (inzwischen nicht mehr existente) lokale Klub „ Kritisches Theater e. V. “ in den Monaten März bis Mai 1973 an 31 Abenden eine Befragung durch. Verteilt wurden die Fragebögen von den Mitgliedern des Klubs jeweils vor Beginn der Vorstellung mit der Bitte, den Fragebogen in der Pause oder nach Ende der Vorstellung in bereitstehende Urnen zu werfen (Klub Kritisches Theater 1973). Von den insgesamt 7.319 verteilten Fragebögen kamen 4.313 ausgefüllt zurück (was mit 58 % einer Quote entspricht, wie sie auch heutzutage bei entsprechendem Vorgehen nur unter optimalen Bedingungen erreicht werden kann). Bemerkenswert an dieser Studie sind nicht nur die höchst umfangreiche Größe der Stichprobe und die hohe Zahl einbezogener Vorstellungen (was bis heute keine andere Studie jemals wieder getan hat). Bemerkenswert ist ebenfalls die breite thematische Ausrichtung: Erfragt wurden u. a. 6 Karl-Heinz Reuband nicht nur die Beweggründe für den Besuch des jeweiligen Stückes, sondern auch die Bewertung von Inszenierung, Schauspieler und Inhalt. Letztere Themen gelten allzu oft im Kulturbetrieb als höchst sensibel, die man besser in Besucherumfragen meidet. Aber sie sind letztlich für Erfolg oder Misserfolg beim Publikum höchst bedeutsam. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang vor allem das Alter der Besucher: Im Durchschnitt lag dieses bei 29,5 Jahren. Dass der Wert so niedrig liegt - niedriger auch als in den zuvor genannten Erhebungen - , ist zweifellos zum Teil der Tatsache geschuldet, dass rund 16 % der Besucher in organisierter Weise als Mitglied einer Schulklasse zur Aufführung kamen. Da in einem solchen Fall der Besuch weniger auf Freiwilligkeit als auf Zwang beruht, werden derartige Besucher üblicherweise nicht in Besucherbefragungen einbezogen (so auch nicht in der Untersuchung von Scharioth). Setzt man das Durchschnittsalter der Schüler, die als Mitglied einer Schulklasse die Aufführung besuchten, mit (ca.) 16 oder 17 Jahren an, kann man jedoch unter Ausklammerung der Schulklassen-Besucher das Durchschnittsalter der Kieler Besucher schätzen. Man kommt dann, eigenen Berechnungen zufolge, auf einen Durchschnittswert von rund 32 Jahren. Gleichgültig, welche der genannten Publikumsuntersuchungen man als Basis des Vergleichs wählt - es wird stets ein Altersdurchschnitt ausgewiesen, der deutlich unterhalb dem der Bevölkerung liegt. Dieser belief sich in der Bevölkerung auf bundesweitere Ebene (16 Jahre und älter) 4 Mitte der 1960er Jahre auf 45 Jahre und Mitte der 1970er Jahre auf 46 Jahre (in Kiel Mitte der 1970er Jahre ebenfalls auf 46 Jahre). Die Überrepräsentation der Jüngeren ist im Übrigen nicht nur für das Publikum im Schauspielhaus der damaligen Zeit typisch, es kennzeichnet auch die Besucher anderer Kultureinrichtungen und Veranstaltungen: von Opern und klassischen Konzerten ebenso wie von Museen. 5 Der Unterschied besteht allenfalls darin, dass sich das Durchschnittsalter im Einzelnen unterscheidet, das Theaterpublikum etwas jünger ist als das Opern- oder Konzertpublikum. Dass die Überrepräsentation der Jüngeren in den Besucherumfragen der 1960er und 1970er Jahre nicht die Folge eines überproportional starken Theaterengagements von Schülern ist (sei es selbstgewählt oder per schulischer Einbindung) - mithin kein Spezifikum schulbezogener Aktivierung oder spezifischer, schülerbezogener Angebote des Theaters zu der damaligen Zeit - , legt u. a. die Untersuchung von Theater heute nahe. Man kann ihr entnehmen, dass vor allem die Altersgruppe der 20 - 29jährigen mit 42 % (gegenüber einem Anteil von 20 % in der Bevölkerung) überproportional vertreten war. Die 15 - 19-Jährigen (die am ehesten der Schülerschaft zugerechnet werden können) stellten nur einen Anteil von 16 % (gegenüber 9 % in der Bevölkerung). Und wie verhält es sich heutzutage? Für die Spielstätten, die einst in die Befragungen eingingen, liegen keine Besucherbefragungen mit entsprechenden Informationen vor. 6 Aus einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung, die 2002 von uns in Kiel durchgeführt wurde, 7 lässt sich für die Befragten, die „ mehrmals im Jahr “ ins Theater gehen (sie entsprechen am ehesten den Befragten in Besucherbefragungen) ein Altersdurchschnitt von 47 Jahren errechnen. 8 Im Vergleich zur Erhebung von 1973 stellt dies eine beträchtliche Änderung in der Alterszusammensetzung dar und spiegelt im Vergleich zur Gesamtbevölkerung der Stadt Kiel einen überproportionalen Alterungsprozess wider, der eine Angleichung an das Durchschnittsalter der Bevölkerung (ebenfalls 47 Jahre) zur Folge hat. Kiel ist kein Einzelfall. Andere Bevölkerungsumfragen aus der gleichen Zeit 9 7 Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation durchgeführt in mehreren Landeshauptstädten der Bundesrepublik, weisen nahezu identische Werte auf Seiten des Publikums und der Bevölkerung auf. 10 Und sie zeigen zudem: Wenn man in einer vertiefenden Analyse berücksichtigt, dass die Jüngeren generationsbedingt über eine höhere Bildung verfügen und den Bildungseffekt rausrechnet, ist eine Altersdifferenz zur Gesamtbevölkerung sehr wohl erkennbar. Der Alterseffekt, der dann zutage tritt, besagt: Je höher das Alter, desto weiter verbreitet ist der Theaterbesuch. Sollte es sich um einen Generationseffekt und nicht um einen reinen Alterungseffekt handeln - die nachwachsenden Generationen also immer weniger zu den Theaterbesuchern zählen - , würde dies bedeuten, dass das Theaterpublikum (über den rein demographischen Rückgang hinaus) längerfristig erodiert, die Jüngeren wegbleiben und sich das Publikum immer mehr aus Älteren zusammensetzt. Und dafür gibt es in der Tat eine Reihe empirischer Hinweise. Mehrere Besucherbefragungen in Großstädten dokumentieren - von einzelnen Ausnahmen abgesehen - gegenüber den früheren Jahren einen weiteren Anstieg des Durchschnittsalters. So lag das Durchschnittsalter der Besucher im Düsseldorfer (2012) und im Kölner Schauspielhaus (2015) bei 52 bzw. 53 Jahren 11 und im (höchst renommierten) Schauspielhaus einer größeren Ruhrgebietsstadt (2012) bei 55 Jahren 12 . Im Vergleich zum Altersdurchschnitt der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen (der sich zu dieser Zeit auf 50 Jahren belief) spiegelt sich darin eine deutliche Überrepräsentation Älterer im Publikum wider. Dass es sich dabei nicht um regionale Besonderheiten handelt oder Idiosynkrasien der jeweiligen Häuser, belegen bundesweite Untersuchungen. In diesem Zusammenhang ist die Besucherstudie von Johanna Jobst aus dem Jahr 2010/ 11 von zentralem Interesse. Diese stützt sich auf die bislang größte und umfassendste Besucherbefragung in insgesamt 12 öffentlichen (Sprech-) Theatern unterschiedlicher Städte mit zusammen mehr als 2.000 Befragten. Der von Jobst ermittelte Altersdurchschnitt der Besucher beläuft sich auf 53,8 Jahre. 13 Auf durchschnittlich 53 Jahre beläuft sich ebenfalls das Alter derer, die in einer bundesweiten Bevölkerungsumfrage (durchgeführt von uns im Rahmen des Landeskulturberichts NRW) im Jahr 2016 angaben, mehrmals im Jahr in das „ Schauspielhaus, Theater “ zu gehen. 14 In letzterem Fall zählt zu den Besuchern allerdings nicht nur der Besucherkreis öffentlicher (Sprech-) Theater, sondern auch der Kreis derer, die freie und private Theater aufsuchten. Insofern ist diese Zahl im Hinblick auf Aussagen über die öffentlichen Theater mit Einschränkungen versehen (im Hinblick auf den Theaterbesuch als Ganzes jedoch ist sie aussagekräftiger). Bedeutsam an dieser Stelle ist hier vor allem, dass die Überrepräsentation Älterer im Publikum, wie sie sich auf der Städteebene in neueren Studien darstellt, ebenso auf Bundesebene besteht. So disparat auch die einzelnen Studien (gerade aus der Frühzeit) sein mögen, unterschiedlich im Design und Methodologie, so ist doch unverkennbar, dass sich im Lauf der Zeit eine grundlegende Umstrukturierung der Altersbeziehung vollzogen hat: von der Überrepräsentation der Jüngeren zur Überrepräsentation der Älteren. Und wie verhält es sich mit den Privattheatern? Zeigen sie, die in manchen Städten die Mehrheit der Theaterbesucher auf sich vereinen, ein anderes Bild? Die Datenlage ist in diesem Fall noch schlechter als für die öffentlichen Theater. Aber der Gesamteindruck eines grundlegenden Wandels wird auch hier bestätigt. Die früheste Untersuchung in einem Boulevardtheater, die 1979 in München durchgeführt wurde, ermittelte einen Altersdurchschnitt der Besucher von 41 Jahren 15 - ein Wert, der 8 Karl-Heinz Reuband seinerzeit deutlich unter dem der Münchner Bevölkerung lag. Besucherstudien in Boulevardtheatern aus jüngerer Zeit erbringen ein anderes Bild: Nicht nur, dass die Besucher im Durchschnitt etwas älter sind als die Besucher der öffentlichen Theater, die Älteren erweisen sich - ähnlich wie die Besucher öffentlicher Theater - im Vergleich zur Bevölkerung ebenfalls als überrepräsentiert, wie es Studien u. a. aus Düsseldorf und Köln belegen. 16 Wie es sich demgegenüber mit den Verhältnissen in den freien, eher avantgardistisch ausgerichteten Theatern verhält, ist unbekannt. Der einzige Vergleich, der bislang möglich ist, betrifft das Düsseldorfer „ Forum freies Theater “ (FFT). Danach ist das Publikum überproportional jung, und es hat sich im Zeitverlauf kein Wandel von nennenswerter Größe ereignet. Während 2004 das Durchschnittsalter bei 37 Jahren lag, 17 lag es 2018 bei 38 Jahren. 18 Es handelt sich freilich in diesem Fall um einen zeitlich eng begrenzten Beobachtungszeitraum, und er deckt auch nicht die Zeit des größten Wandels im Bereich der öffentlichen Theater ab. Insofern muss an dieser Stelle offen bleiben, inwieweit sich in der Stabilität der Verhältnisse Besonderheiten des FFT oder der freien Theater im Allgemeinen niederschlagen. Nur weitere Erhebungen werden dies klären können. Was aber bedeutet die Altersverschiebung? Welche Prozesse des Wandels verbergen sich dahinter? Nähere Analysen auf der Basis von Bevölkerungsbefragungen - die sich auf den Theaterbesuch per se, ohne Differenzierung in öffentliche oder privater Theater beziehen (andere Vergleiche sind nicht möglich) - legen nahe, dass die Umstrukturierung der Altersbeziehung auf zwei gegenläufige Prozesse zurückgeht: auf einen Rückgang des Theaterbesuchs in der nachwachsenden jüngeren Generation und auf einen Anstieg bei den Älteren. 19 Während früher galt: Je jünger jemand ist, desto eher findet ein Theaterbesuch statt, gilt heutzutage genau das Gegenteil. Je älter jemand ist, desto weiter verbreitet ist der Theaterbesuch. Gäbe es nicht den Anstieg in der kulturellen Partizipation auf Seiten der Älteren, wäre der Anstieg des Durchschnittsalters weniger ausgeprägt, aber es gäbe auch weniger Theaterbesucher. Der Rückgang seitens der Jüngeren wird durch den Anstieg seitens der Älteren gewissermaßen verdeckt, aber er ist nicht verschwunden und setzt sich fort. Welche Ursachen für die Veränderungen in der Partizipation auf Seiten der Jüngeren und der Älteren eine Bedeutung haben, darüber gibt es (mangels verfügbarer Daten) derzeit mehr Spekulationen als empirische Fakten. Manches spricht für ein sinkendes Interesse bei den Jüngeren und für eine veränderte, aktivere Altersrolle der Älteren. Bei den Jüngeren könnten es vor allem veränderte Optionen der Freizeitgestaltung sein, die andere Interessenlagen begründen, in Kombination mit Änderungen in der medialen Praxis (insbesondere was den Rückgang in der Nutzung der etablierten Medien betrifft). Und bei den Älteren könnte es neben Generationseffekten (die Älteren der heutigen Zeit waren einst die Jüngeren der früheren Jahre, die häufig ins Theater gingen) ein Wandel des Selbstbildes sein, der in Kombination mit verbesserten ökonomischen und sonstigen Ressourcen eine aktivere Lebensführung begünstigt. Der Wandel, der sich im Bereich des Theaters ereignet hat, ist nicht auf diesen beschränkt. Betroffen ist die (Hoch-) Kultur als Ganzes. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Alterungsprozess des Publikums in anderen Kultursparten - wie Oper und klassisches Konzert - zum Teil bereits weiter fortgeschritten ist. Doch über die einzelnen Prozesse der Veränderung, ihre Dynamiken und Ursachen, ist näheres bislang nicht bekannt. Es ist nicht einmal bekannt, wie sehr sich Besuchsfrequenzen un- 9 Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation abhängig von den Besucheranteilen entwickeln und wovon Verbreitung und Häufigkeit des Theaterbesuchs unter Theatergängern abhängen: von alternativen Freizeitoptionen, veränderten Angebots- und Vermittlungsstrukturen, anderen Inszenierungskonzepten oder einem allgemeinen kulturellen Wandel, der unabhängig vom Kulturbereich seine Dynamik entfaltet, aber auf diesen zurückwirkt. Und daran wird (einmal mehr) deutlich, wie bedeutsam es ist - auch auf der Ebene der einzelnen Theater - in systematischer und kontinuierlicher Weise Besucherforschung zu betreiben und diese in die Analyse des allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Wandels einzubetten. Offen ist schließlich auch, wie sich die Corona-Pandemie auf den Theaterbesuch auswirken wird. Angesichts der Tatsache, dass die Älteren überproportional das Publikum bilden und sie es auch sind, die überproportional durch Corona gefährdet sind, ist ein Einbruch in der Nachfrage denkbar. Wie lange dieser anhalten wird, über die Corona Krise hinaus, und wie sehr es längerfristig zu grundlegenden Änderungen in der Zusammensetzung des Publikums kommen wird, ist eine offene Frage. Ebenso ist es eine offene Frage, wie sehr alternative Formate der Vermittlung - etwa Online-Angebote - in der Zukunft eine zusätzliche, realistische Option für den Kulturbetrieb darstellen können, welches Publikum dadurch erreicht und längerfristig an den Theaterbetrieb gebunden wird. Anmerkungen 1 Karl-Heinz Reuband, „ Wie hat sich das Opernpublikum in den letzten Jahrzehnten in seiner sozialen Zusammensetzung verändert? Eine Analyse am Beispiel der Kölner Oper “ , in: Sociologia Internationalis, 51/ 2 (2013), S. 231 - 266. 2 „ Publikum in Deutschland. Die ersten Ergebnisse der Umfrage unter deutschen Theaterbesuchern “ , in: Theater heute 6/ 2 (1965), S. 4 - 8. 3 Joachim Scharioth, Kulturinstitutionen und ihre Besucher. Eine vergleichende Untersuchung bei ausgewählten Theatern, Museen und Konzerten im Ruhrgebiet. Dissertation, Ruhr-Universität Bochum 1974, S. 93. 4 Quelle eigene Auswertungen auf der Basis bundesweiter Statistiken des statistischen Bundesamtes bzw. Angaben des Statistikamtes Kiel. 16 (oder 18) Jahre als Untergrenze zu wählen, macht angesichts des Publikums, das sich in die Aufführungen begibt, Sinn. Das Durchschnittsalter auf die Gesamtbevölkerung ab 0 Jahren zu beziehen (wie in Untersuchungen des Öfteren der Fall, so auch in der Kieler Publikation), führt zu Fehleinschätzungen. 5 Karl-Heinz Reuband, Besucherstudien: Probleme, Perspektiven und Befunde. Eine Bestandsaufnahme für die Kulturpolitische Gesellschaft - Landeskulturbericht Nordrhein- Westfalen, Düsseldorf 2016; Landeskulturbericht Nordrhein-Westphalen 2017, https: / / www.mfkjks.nrw/ landeskulturbericht (Zugriff am 01. 10. 2020); Karl-Heinz Reuband, „ Das Kulturpublikum im städtischen Kontext. Wie sich das Opernpublikum von anderen Kulturpublika unterscheidet “ , in: Ders. (Hg.) Oper, Publikum und Gesellschaft, Wiesbaden 2018, S. 143 - 191; Karl-Heinz Reuband, „ Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation. Ein Langzeitvergleich bundesweiter Bevölkerungsumfragen “ , 1972 - 2016, in: Zeitschrift für Kulturmanagement 1 (2018), S. 23 - 54. 6 Es kam zwar in Kiel im Jahr 2002 zu einer Befragung, doch Angaben daraus zu den sozialen Merkmalen der Befragten (sofern diese überhaupt ermittelt wurden) liegen nicht vor. 7 Karl-Heinz Reuband, „ Kulturelle Partizipation als Lebensstil. Eine vergleichende Städteuntersuchung zur Nutzung der lokalen kulturellen Infrastruktur “ , in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2010, Essen 2010, S. 235 - 246. 10 Karl-Heinz Reuband 8 Die Theaterbesucher in der Umfrage dürften im Wesentlichen die Besucher des öffentlichen Theaters sein (in Kiel gibt es lediglich zwei kleinere Privattheater mit begrenzter Platzzahl). Die Zahl der Befragten, die in der Umfrage angaben, mehrmals im Jahr ins Kieler Theater zu gehen, liegt bei N=205. Unter Einschluss derer, die einmal im Jahr ins Kieler Theater gehen (zusammen N=375), liegt der Altersdurchschnitt bei 45,2. Bei denen, die von sich sagen, sie würden einmal im Jahr gehen, handelt es sich allerdings oft um Personen, bei denen der Besuch realiter mehr als ein Jahr zurückliegt. Insofern ist der Durchschnittswert für den mehrmaligen Besucherkreis aussagekräftiger. Dass durch Rückgriff auf eine Bevölkerungsumfrage der auswärtige Besucherkreis im Schauspielhaus nicht berücksichtigt wird, hat im Übrigen - wie andere Untersuchungen belegen - auf die soziale Zusammensetzung keinen oder allenfalls minimalen Effekt. 9 Reuband, „ Kulturelle Partizipation als Lebensstil “ . 10 Der Altersdurchschnitt der Befragten, die mehrmals im Jahr ins Theater gehen, lag in der Erhebung von 2002 in Hamburg bei 49,9 Jahren (Bevölkerung 49,0), Stuttgart bei 47,6 Jahren (Bevölkerung 47,3 Jahre), München bei Jahren 48,4 (Bevölkerung 47,8 Jahre) und Dresden bei 45,7 Jahren (Bevölkerung 47,4 Jahre) (Quelle: eigene Erhebungen, auf der Basis postalischer Befragungen, jeweils ungewichteter Datensatz). Mal liegen die Werte also etwas über dem Altersdurchschnitt der Bevölkerung, mal etwas niedriger, mal sind sie identisch. Alles in allem halten sich die Unterschiede in Grenzen, differieren gerundet allenfalls um ein Jahr. Dabei ist allerdings zu beachten, dass in der Bevölkerungsumfrage allgemein nach dem Theaterbesuch gefragt wurde. Je nach Stadt können dazu - wie in Hamburg besonders ausgeprägt - in größerem Umfang auch Privattheater dazugehören. 11 Reuband, Besucherstudien, S. 21; Tibor Kliment, „ Das Publikum von Theater und Oper. Soziale Zusammensetzung und die Wirksamkeit von Zugangshürden “ , https: / / www.kulturmanagement.net/ Themen/ Das- Publikum-von-Theater-und-Oper-Soziale- Zusammensetzung-und-die-Wirksamkeitvon-Zugangshuerden,2132; [Zugriff am 20. 03. 2019]. 12 Reuband, Besucherstudien, S. 21. 13 Johanna Jobst, Strategisches Management in Kulturorganisationen. Eine empirische Analyse der Bewertung eines Theaterbesuchs aus Zuschauerperspektive. Dissertation, Universität Konstanz 2012, S. 199. 14 Reuband, Besucherstudien, S. 42. 15 Gudrun Leisentritt, Das eindimensionale Theater. Beitrag zur Soziologie des Boulevardtheaters. München 1979, S. 309; eigene Berechnungen 16 Vgl. dazu: Karl-Heinz Reuband und Angelique Mishkis, „ Unterhaltung oder intellektuelles Erleben? Soziale und kulturelle Differenzierungen innerhalb des Theaterpublikums “ , in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 210 - 224; Karl-Heinz Reuband, „ Das Publikum der privaten und öffentlichen Theater. Soziale Merkmale, Interessenprofile und Formen kultureller Partizipation “ , in: Zeitschrift für Kulturmanagement, 2 (2019), S. 53 - 90. 17 Reuband und Mishkis; „ Unterhaltung oder intellektuelles Erleben? “ , S. 240. 18 2004 waren 28 % älter als 44 Jahre (Reuband, Mishkis, „ Unterhaltung oder intellektuelles Erleben? “ , S. 240), 2018 waren es 33 % (Marx-Zakowski, Wirksamkeit der Social Media Plattformen Instagram und Facebook für das Marketing in Kulturbetrieben. Am Beispiel FFT Düsseldorf. B. A. Arbeit. Hochschule Niederrhein 2018 (unveröffentlicht), S. 70), eigene Berechnungen: Zur Altersstruktur der Kulturpublika auf lokaler Ebene im Vergleich siehe Reuband, „ Das Kulturpublikum im städtischen Kontext. “ . 19 Dies ergibt eine (noch unveröffentlichte) Analyse, in der wir bundesweite Umfragen aus den Jahren 1968/ 69 mit einer bundesweiten Umfrage von 2016 in Beziehung setzten. Hinweise für eine Umkehr der Altersbeziehung finden sich ebenfalls in Umfragen auf kommunaler Ebene (Reuband, „ Die soziale Neustrukturierung des Opernpubli- 11 Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation kums “ , S. 235 f.) sowie in bundesweiten Erhebungen aus den 1970er Jahren im Vergleich zu heute (Reuband, „ Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation. “ ). 12 Karl-Heinz Reuband