eJournals Forum Modernes Theater 32/1

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0004
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2021
321 Balme

Gender und Kritik

2021
Rosemarie Brucher
Jenny Schrödl
Editorial - Gender und Kritik Rosemarie Brucher (Wien) und Jenny Schrödl (Berlin) Verschiedene Auseinandersetzungen mit der Kategorie ‚ Geschlecht ‘ in den szenischen Künsten in Gegenwart und Geschichte verstehen sich selbst als kritisch oder werden mit dem Anspruch verbunden, hegemoniale Normen von Geschlechtlichkeit zu durchbrechen oder zu unterminieren. Die Strategien und Formen der Kritik sind äußerst heterogen und reichen von sogenannten Genderperformances - etwa in Form von Geschlechter-Parodie, Maskerade oder Cross-Dressing - über inhaltliche Auseinandersetzungen, sprachliche oder ästhetische Prozesse der Dekonstruktion, bis hin zu Figuren des Dritten, wie etwa Cyborgs oder Monster. Ebenso vielfältig sind die Gegenstände der Kritik, die bestimmte dominierende Bilder von Weiblichkeit, Männlichkeit oder Geschlechtlichkeit ebenso einschließen wie Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität bzw. Heteronormativität, Ungleichheiten oder Diskriminierungen bzw. Privilegierungen. Häufig betreffen sie neben Gender auch andere Identitätskategorien (race, class, age, dis/ ability etc.). Zudem werden im Zuge dieser kritischen Auseinandersetzungen alternative Formen geschlechtlich-sexuellen Seins präsentiert, die hegemoniale Perspektiven konsequent überschreiten. In den darstellenden Künsten sind auf diese Weise diverse Möglichkeiten der Kritik an normativen Setzungen entstanden wie auch Utopien zur Überschreitung von Geschlechtergrenzen oder zu anderen Formen geschlechtlicher Existenz. Derartige geschlechtliche Inszenierungen verweisen stets auf eine konstitutive Brüchigkeit und Ambivalenz von Kritik selbst. In diesem Sinne stellt beispielsweise Judith Butler bereits in Gender Trouble fest, dass Genderperformances im Sinne von Parodie, Travestie oder Drag nicht per se als subversiv gewertet werden dürfen. „ Die Parodie an sich ist nicht subversiv. “ 1 Zudem scheint sich Kritik immer in einem Verhältnis zur Norm bewegen zu müssen, die sie auch noch im kritischen Gestus der Verwerfung perpetuiert und so letztlich erhält. Aus diesem Grund wird vielfach von einer Krise der Kritik gesprochen. Die Modelle einer möglichen kritischen Praxis vervielfältigen sich. 2 Blieb lange unhinterfragt, dass Kritik Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit und nach den Grundlagen für die Gestaltung und Veränderung von Wirklichkeit stellt und damit eine intellektuelle Distanzierungstechnik ist, so schlägt beispielsweise Bruno Latour einen anderen Kritikbegriff vor. „ Der Kritiker [sic! ] ist nicht derjenige, der entlarvt, sondern der, der versammelt. “ 3 In den Arenen der Versammlung können und sollen sich dann alle Betroffenen mit Dingen von Belang ( „ matters of concern “ ) auseinandersetzen. In der Queer Theory wiederum wird kritisches Denken mehr und mehr als ein „ fabulierendes Neuerfinden “ 4 oder Erschaffen konträrer Epistemologien 5 verstanden, wobei mit der Kategorie Gender ein vielfältiges Ensemble an lebendigen, hybriden und minoritären Subjektivitäten bezeichnet wird. Kritik als imaginative Kraft ist hier nicht mehr allein theoretische Analyse, sondern ist als wirksame Praxis längst auch in den Bereich der Affekte und Emotionen vorgedrungen, der im Sinne der „ Public Feelings “ 6 durchaus als öffentlicher Raum verstanden wird. 7 Für das Theater sind all diese Dimensionen - die rationale Distanznahme, die Versammlung der Betroffenen, das minori- Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 29 - 30. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0004 täre Fabulieren sowie die kritische Kraft des Affektiven - konstitutiv, weshalb der theatrale Raum (und nicht erst die Performance) geradezu prädestiniert scheint für verschiedene Formen der Kritik. Das Theater selbst lässt sich aber auch als ambivalenter Ort zwischen dem Streben nach ästhetischer Freiheit und sozialen Begrenzungen bzw. Zwängen verstehen: Auf der einen Seite werden auf der Bühne gesellschaftliche Verhältnisse einer Kritik unterzogen, auf der anderen Seite werden auf institutioneller oder produktionsästhetischer Ebene nicht selten geschlechtsspezifische Ungleichheiten, Diskriminierungen oder Privilegierungen reproduziert. Vor diesem Hintergrund situiert sich das Themenheft Gender und Kritik, welches im Kontext von Diskussionen der Arbeitsgruppe Gender der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V. entstanden ist und ausgewählte Aufsätze aus dieser AG versammelt. 8 Anlass der Auseinandersetzung war der Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V. „ Theater als Kritik “ in Frankfurt a. M./ Gießen (03. - 06. 11. 2016), 9 bei der die AG ein Panel zu „ Gender als kritische Kategorie in der Theaterwissenschaft “ gestaltete. Die Beiträge argumentieren entsprechend vor allem aus theaterwissenschaftlicher, tanz- und kulturwissenschaftlicher sowie gender- und queertheoretischer Perspektive. Im Fokus stehen verschiedene Schwerpunkte: ein Verständnis von künstlerischtheatraler Kritik als Praxis der „ Entunterwerfung “ (Gerald Siegmund); das Verhältnis von Subversion und Affirmation bei Genderinszenierungen im zeitgenössischen (Stadt- )Theater (Miriam Dreysse) sowie in sozialkünstlerischen Theaterprojekten (Melanie Hinz); die Verbindung von Kritik und Utopie in der Queer Theory (Annette Bühler-Dietrich) sowie in der aktuellen feministischen Performancekunst bei Henrike Iglesias (Neslihan Arol); das Widerstandspotential von Schönheit in Choreographien der Gegenwart (Julia Ostwald). Darüber hinaus wird ausgelotet, inwiefern durch ästhetische Erfahrungen in Performance und Tanz ein „ postsouveräner Körper “ erlebt und so Kritik an Konzepten des „ souveränen Subjekts “ geübt werden kann (Bettina Wuttig). Schlussendlich ist uns ein kritischer Blick auf eindimensionale Vorstellungen von Kritik ebenso wichtig wie das Erheben eines kritischen Anspruchs von Theater sowie von (Theater-)Wissenschaft. In Zeiten, in denen kritische Wissenschaft im Allgemeinen, ‚ Genderthemen ‘ im Besonderen (rechts-)populistischen Anfeindungen ausgesetzt sind, ist es besonders wichtig, sich reflektiert und nuanciert mit Fragen von Kritik ebenso wie mit Fragen von Gender auseinanderzusetzen. Anmerkungen 1 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991, S. 204. 2 Rahel Jaeggi, Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? , Frankfurt a. M. 2009, S. 9. 3 Bruno Latour, Elend der Kritik: Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Berlin 2007, S. 55. 4 Vgl. Donna Haraway: „ SF: Science Fiction, Speculative Fabulation, String Figures, So Far. ” https: / / people.ucsc.edu/ ~haraway/ Files/ PilgrimAcceptanceHaraway.pdf [Zugriff am 08. 06. 2020]. 5 Vgl. Jack Halberstam, The Queer Art of Failure, Durham 2011. 6 Vgl. Ann Cvetkovich, Depression: A Public Feelings Project, Durham 2012. 7 Vgl. Sarah Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh 2014; Lauren Berlant, Cruel Optimism, Durham 2011. 8 https: / / www.theater-wissenschaft.de/ forschung/ arbeitsgruppen/ [Zugriff am 08. 06. 2020]. 9 https: / / www.theater-wissenschaft.de/ kongresse/ kongress-2016/ [Zugriff am 08. 06. 2020]. 30 Rosemarie Brucher/ Jenny Schrödl