eJournals Forum Modernes Theater 32/1

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0005
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Der Text entwirft unter Rekurs auf Michel Foucault und Judith Butler ein Verständnis von Kritik als einer Praxis der ‚Entunterwerfung‘ und damit der Desubjektivierung, was andere Formen von Subjektivität erprobt, die sich ihrerseits als ästhetische Praktiken selbst wieder aufs Spiel setzen. Sofern sich Kritik in ihrem Widerstand gegen bestimmte Regierungsformen des Subjekts wendet, sind derartige Einsprüche und Verschiebungen auch zu verstehen als kritische Wendungen gegen hegemoniale Ordnungen und damit also auch gegen heteronormative und patriarchale Gender-Ordnungen.
2021
321 Balme

Gender-Spielräume: Entunterwerfung als kritische Praxis

2021
Gerald Siegmund
Gender-Spielräume: Entunterwerfung als kritische Praxis Gerald Siegmund (Gießen) Der Text entwirft unter Rekurs auf Michel Foucault und Judith Butler ein Verständnis von Kritik als einer Praxis der ‚ Entunterwerfung ‘ und damit der Desubjektivierung, was andere Formen von Subjektivität erprobt, die sich ihrerseits als ästhetische Praktiken selbst wieder aufs Spiel setzen. Sofern sich Kritik in ihrem Widerstand gegen bestimmte Regierungsformen des Subjekts wendet, sind derartige Einsprüche und Verschiebungen auch zu verstehen als kritische Wendungen gegen hegemoniale Ordnungen und damit also auch gegen heteronormative und patriarchale Gender-Ordnungen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht die Frage, wie sich Kunst, Kritik und Gender zusammendenken lassen. Dabei spielt die Figur der ‚ Entunterwerfung ‘ des Subjekts, wie sie Judith Butler im Anschluss an Michel Foucaults Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Philosophie der Aufklärung herausgearbeitet hat, eine wichtige Rolle. Kritik erscheint zunächst als eng verbunden mit der Aufklärung. In Anlehnung an Kant definiert Michel Foucault Kritik als „ die Kunst, nicht regiert zu werden “ 1 . Unter Verwendung seines eigenen Verstandes sich die Frage zu stellen, wie man nicht regiert werden möchte oder genauer: „ nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert “ 2 werden möchte, heißt, seinen Verstand im Sinne einer Kritik der Verhältnisse zu gebrauchen. Damit versteht Foucault Kritik als Einspruch gegen kirchliche, staatliche und elterliche Gesetze, mithin als ein Ausloten der Grenzen der Regierbarkeit. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung. 3 Die Frage, die Judith Butler anknüpfend an Foucaults Definition von Kritik stellt, ist die Frage nach der Möglichkeit der ‚ Entunterwerfung ‘ und damit der Transformation der Verhältnisse. Wie kann durch Kritik eine ‚ Entunterwerfung ‘ und damit eine ‚ Entsubjektivierung ‘ , insofern Subjektivität ohne Unterwerfung nicht möglich ist, in Gang gesetzt werden? 4 Foucaults Überlegungen zur Kritik stehen in seinem Werk an der Schnittstelle von machtheoretischen Fragen auf der einen und seinen späteren Überlegungen zu einer Ästhetik der Existenz auf der anderen Seite. Er versteht Macht als unpersönliche ‚ Kraft ‘ , die bestimmte Dinge möglich, andere unmöglich macht und die zugleich einhergeht mit der Möglichkeit von Freiheit und Widerstand, welche wiederum den Subjekten eine Haltung abverlangen und ihnen eine Eigenmächtigkeit zur Veränderung zusprechen. Sofern sich Kritik in ihrem Widerstand gegen „ jedwede Regierung “ und deren Arten und Weisen des Regierens auf „ universale und unverjährbare Rechte “ 5 stützen zu können glaubt, sind derartige Einsprüche und Verschiebungen auch zu verstehen als kritische Wendungen gegen hegemoniale Ordnungen und damit also auch gegen heteronormative und patriarchale Gender- Ordnungen. Obwohl Butlers Lektüre mit Foucault anknüpft an Kants Philosophie der Aufklärung, mithin also viel grundsätzlicher argumentiert, als es partikulare Frei- Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 31 - 34. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0005 heitsansprüche erlauben, trägt sie dennoch unmissverständlich Spuren ihrer in Gender Trouble (1990) und Bodies That Matter (1993) erarbeiteten Gender-Theorie. Aus den Spannungsfeldern der Kritik zwischen Norm, die sich performativ verkörpert, und deren Entsetzung durch Differenzen, zwischen Allgemeinem und Besonderem, Utopie und Gegebenem, lassen sich sowohl im Hinblick auf künstlerische Praktiken als auch im Hinblick auf die Gender-Problematik zentrale Beobachtungen ableiten. Letztere erscheint vor diesem Hintergrund als künstlerische Praxis, die Einspruch erhebt gegen hegemoniale Vorstellungen von Gender. Butlers Gender-Projekt erweist sich aus dieser Perspektive auch als Projekt der Aufklärung, weil es ein kritisches Projekt sein möchte, das die Freiheit des Subjekts, selbst zu denken und das Unaussprechliche aussprechen zu wollen, ins Spiel bringt. Für Butler ist der Grund entunterwerfender Praktiken der zunehmende Rationalisierungszwang innerhalb einer von biopolitischen Strategien durchdrungenen gesellschaftlichen Ordnung, die trotz umfassender Durchdringung von Macht und Leben das Leben der Einzelnen nicht mehr fassen kann. Die Rationalisierungskapazität erreicht ihren ‚ Furor ‘ und ihre Grenzen, wo sie das Subjekt, das sie unterwirft, erfasst und durchdringt. Die Macht umgrenzt, was ein ‚ Subjekt ‘ sein kann, sie zieht die Grenzen, jenseits derer es nicht länger ‚ ist ‘ oder jenseits welcher es in einen Bereich suspendierter Ontologie gerät. 6 Entunterwerfung als kritische Praxis zeige dann „ die Zerbrechlichkeit und Transformationsfähigkeit der Episteme der Macht “ 7 . Das Subjekt stößt innerhalb seines Lebensbereichs, innerhalb seines ‚ epistemologischen Feldes ‘ des Seins, des Wissens und des Handelns, an die Grenzen ebendieses Feldes. „ Die Kategorien “ , so Butler, „ mit denen das soziale Leben geregelt ist, bringen eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor. “ 8 Die Praxis der Kritik als Entunterwerfung resultiert daher „ vom Riss im Gewebe “ 9 der Ordnung. Foucault setzt an die Stelle dieses rätselhaften Agens, das sich im Riss hegemonialer Ordnungen plötzlich auftut, die „ ursprüngliche Freiheit “ des Menschen. Diese Freiheit kann er nicht begründen, sie dient ihm aber, so Butler, als Denknotwendigkeit, um im Inneren des Diskurses ein „ Nichtwissen “ 10 platzieren zu können, das die Verhältnisse und das Subjekt selbst in Bewegung versetzt. Die Freiheit ist eine rein strategische oder gar, wie Foucault sagt, fiktionale Annahme, die dem Subjekt aber reale Freiräume erspielt. Foucaults Bezeichnung von Kritik als ‚ Kunst ‘ ist vor dem Hintergrund dieses Gedankengangs mehr als nur eine rhetorische Floskel. Sie zielt vielmehr auf den Kern der Sache: Kritik, die die „ Selbstformierung des Subjekts aufs Spiel “ setzt, 11 ist eine ästhetische Praxis. Als ästhetische Praxis bringt sie hervor, was sie aufs Spiel setzt und setzt aufs Spiel, was sie hervorbringt. Die „ natürliche Freiheit “ des Menschen ist, wie es Christoph Menke formuliert, „ die Intervention ästhetischer Freiheit “ als „ spielerische Selbstüberschreitung “ . 12 Die Überlegungen Foucaults und Butlers führen zu einer Vorstellung von Existenz als Lebensform, der eine gewisse ästhetische Qualität eigen ist. Darunter [den Künsten der Existenz] sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht. 13 Foucault beschreibt damit auch subkulturelle Praxen sexueller (schwuler) Minderhei- 32 Gerald Siegmund ten, wie er sie seit den späten 1970er Jahren während seiner Aufenthalte in Kalifornien kennengelernt hatte. Insofern lässt sich Foucaults Ansatz, Kritik zu denken, von Anfang an als eng verwoben mit Gender- und Sexualiäts-Politiken verstehen. Dass Lebensformen gewisse „ ästhetische Werte “ tragen, macht sie jedoch noch nicht zu Kunst. Vielmehr markieren diese Praktiken eine Schnittstelle zwischen Kunst und Leben, die aber nicht nur der Lebenspraxis, sondern auch der Kunst eine andere Funktion im Spiel zwischen Setzung und Entsetzung zuschreibt. Ästhetische Praktiken bringen Subjekte performativ hervor, sie setzen, wie Butler vermerkt, eine „ Poiesis “ 14 des Subjekts in Gang. Im Gegensatz zur normstabilisierenden Performativität erscheint die „ gewusste “ Performance aber als Freiheit, weil sie aus freien Stücken entworfen wird und dabei frei ist, eine „ Irrealitätsthese “ 15 zu setzen - nicht so, aber so - , wie es Jean-Paul Sartre im Hinblick auf die menschliche Fähigkeit der Imagination beschreibt: als Freiheit, sich und die Welt zu imaginieren und in der künstlerischen Praxis zu befragen und anders hervorzubringen. Zwischen unbewusst sich vollziehenden performativen Akten, die soziale Praktiken normieren, und bewusster Performance, die freisetzt, liegen Akte der Entunterwerfung und der Desubjektivierung, die andere Formen von Subjektivität erproben und diese im Bereich des Möglichen halten. Nicht so, aber vielleicht so. Theater hat nicht nur die Möglichkeit, die Dinge zu zeigen, sondern auch das Zeigen des Zeigens zu kommunizieren. Dadurch vermag es Geschlechterrollen nicht nur zu exponieren, sondern sie auch in ihrer Konstruktion einsehbar und beobachtbar zu machen. Basiert Theater immer auf Wiederholungen, vermag es in der Wiederholung von Geschlechternormen Differenzen zu erzeugen und Verschiebungen vorzunehmen und diese öffentlich zur Diskussion zu stellen. Die Freiheit der Performance bedeutet demnach nicht, dass performativ gefestigte Normen einfach außer Kraft gesetzt werden könnten. Ruft doch jede Verschiebung unweigerlich die Norm erneut auf. Es kann im Theater also nur darum gehen, im bewussten Umgang mit Geschlechternormen Abstände und Entgegensetzungen zu erspielen, um dadurch Haltungen zu gewinnen, diese miteinander zu konfrontieren und zu reflektieren. Dies kann auf vielfältige Arten und Weisen geschehen. Wie etwa geht das Theater mit Fragen der Repräsentation von Geschlechterrollen um: Wer wird wie repräsentiert und zu welchem Zweck? Wie sind die Darstellungen der Geschlechterverhältnisse in den Aufführungen gerahmt und welche Auswirkungen haben Rahmenverschiebungen und -überlagerungen oder Perspektivwechsel für die Wahrnehmung von Gender und dessen Bedeutung? Will Theater seinen ästhetischen Anspruch nicht verlieren, kann es dabei jedoch nicht allein um identitätspolitisch korrekte oder wünschenswerte Darstellungen von Geschlechterverhältnissen gehen. Da das Subjekt ohnehin nie genau wissen kann, was durch seine realisierte Darstellung „ opak, unbewußt, nicht ausführbar bleibt “ 16 , käme dies einer Setzung von Identität gleich, die es doch im Horizont der Kritik gerade zu ent-setzen gilt. Foucaults und Butlers Vorstellung der Entsetzung normierter Identitäten zielen dagegen auf zu erprobende Subjektivitätsentwürfe, von denen das Subjekt selbst noch nicht wissen kann, ob diese gelingen. Die durch Freiheit gewonnenen Entwürfe anderer Formen von Subjektivität führen ins Offene. Sie müssen daher notgedrungen prekär und unabgeschlossen bleiben und sich im ästhetischen Vollzug stets erneut aufs Spiel setzen. Butler spricht daher von einer „ Praxis der Kritik “ 17 , die sich durch ständiges Üben und Überschreiten erproben muss. Neben Fragen der Repräsentation sind im Wechselspiel von Performativität und Performance zu- 33 Gender-Spielräume: Entunterwerfung als kritische Praxis dem produktionsästhetische Fragen angesprochen. Wie üben Theaterkünstler*innen auf den Proben Haltungen ein und auf welche Weise kommunizieren sie diese ihrem Publikum? In der ästhetischen Praxis verschränken sich Kunst und Leben, die sich gegenseitig in ihrer jeweiligen Form der Existenz - normierend/ entsetzend - aufs Spiel setzen. Anmerkungen 1 Michel Foucault, Was ist Kritik? , Berlin 1992, S. 12. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 15. 4 Judith Butler, „ Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend “ , in: Rahel Jaeggi und Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? , Frankfurt a. M. 2009, S. 221 - 246. 5 Ebd., S. 233. 6 Ebd., S. 238. 7 Ebd., S. 239. 8 Ebd., S. 226. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 243. 11 Ebd., S. 244. 12 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 157. 13 Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a. M. 1986, S. 18. 14 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 224. 15 Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 284. 16 Judith Butler, Körper von Gewicht, Frankfurt a. M. 1997, S. 321. 17 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 222. 34 Gerald Siegmund