eJournals Forum Modernes Theater 32/1

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0007
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Ausgehend von Judith Butlers Kritik-Begriff im Rekurs auf Michel Foucaults Vortrag Was ist Kritik? wird Kritik als eine widerständige Praktik der Ent-Unterwerfung verstanden, in der das Subjekt sich in einem Akt der Selbstbildung und reflektierter Unfügsamkeit Gender-Normen und Zwängen widersetzt. Im Beitrag wird hierbei die Frage gestellt, inwiefern Alltagsexpert*innen im Theater eine solche Kritikposition einnehmen können? Diese stellen eine paradoxale Figuration der Kritik dar: Durch die Differenz zu professionellen Schauspieler*innen sind sie einerseits häufiger der Kritik ausgesetzt und können anderseits durch ihren Habitus, ihre Biografie und ein Gender-Sonderwissen normative Körperbilder und Genderdiskurse kritisieren. Wie letzteres möglich wird, wird anhand der Theaterproduktionen Dicke Frauen von heißes medium: polylux und Adam, Eva und ich. Biografien intersexueller Menschen von der Frl. Wunder AG untersucht.
2021
321 Balme

Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse

2021
Melanie Hinz
Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse Melanie Hinz (Berlin) Ausgehend von Judith Butlers Kritik-Begriff im Rekurs auf Michel Foucaults Vortrag Was ist Kritik? wird Kritik als eine widerständige Praktik der Ent-Unterwerfung verstanden, in der das Subjekt sich in einem Akt der Selbstbildung und reflektierter Unfügsamkeit Gender-Normen und Zwängen widersetzt. Im Beitrag wird hierbei die Frage gestellt, inwiefern Alltagsexpert*innen im Theater eine solche Kritikposition einnehmen können? Diese stellen eine paradoxale Figuration der Kritik dar: Durch die Differenz zu professionellen Schauspieler*innen sind sie einerseits häufiger der Kritik ausgesetzt und können anderseits durch ihren Habitus, ihre Biografie und ein Gender-Sonderwissen normative Körperbilder und Genderdiskurse kritisieren. Wie letzteres möglich wird, wird anhand der Theaterproduktionen Dicke Frauen von heißes medium: polylux und Adam, Eva und ich. Biografien intersexueller Menschen von der Frl. Wunder AG untersucht. Nicht-professionelle Darsteller*innen auf deutschsprachigen Bühnen, egal ob im Kontext des professionellen Theaters, an den Bürgerbühnen, der Theaterpädagogik oder des Amateurtheaters, sind historisch seit den Anfängen der Institutionalisierung des bürgerlichen Theaters und der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert mit der Position des/ der ‚ Anderen ‘ bzw. der Differenz verbunden. Historisch bezieht sich diese Differenz darauf, dass sie keine Schauspielausbildung haben bzw. Theaterarbeit nicht ihre Erwerbsarbeit darstellt - was durch Begriffe wie Laie*Laiin, Amateur*in oder Nicht-Profi markiert wird. 1 Aktuell bezieht sich Differenz vor allem auf die Repräsentation der Diversität von Körperbildern und Identitäten durch Nicht-Profis auf der Bühne, die die Schauspielensembles, auch die der Freien Szene, nur beschränkt selbst vertreten. Diese Positionierung als nicht-normativer Schauspieler*innenstatus und -körper birgt ein Potenzial der Kritik: an der Institution und Kunstform des Theaters als auch an der Frage geschlechtlicher Repräsentation. Im Fokus meiner Betrachtung steht die professionelle Arbeit von Theatermacher*innen mit Alltagsexpert*innen im Kontext des Dokumentartheaters oder Bürger*innenprojekte in der Freien Szene und an Staatstheatern. Der Begriff der Alltagsexpert*in, den Rimini Protokoll für ihre Arbeit mit nicht-professionellen Darsteller*innen entwickelt haben, 2 verschiebt die Perspektive einer Schauspiel-Professionalität hin zu einer spezifischen Berufs-, Alltags- oder Biografie-Expertise, die die Darsteller*innen auf der Bühne zu Protokoll geben und mit dem Publikum teilen. Wissen und Erfahrungen werden versprachlicht und sichtbar gemacht, die häufig weder in wissenschaftlichen Diskursen noch in Theatertexten eine Rolle spielen. Die Reflexion von Geschlechterthemen mit Alltagsexpert*innen hat dabei Tradition, wenn beispielsweise Gudrun Herrbold in La Grande Vie (1998) inhaftierte Frauen zu weiblicher Aggressivität befragt, Sexarbeiterinnen in Volker Löschs Lulu. Die Nuttenrepublik (2010) als Chor auftreten, Miriam Tscholl die Midlifecrisis der Faust-Figur anhand Dresdner Männerbiografien in Ich armer Tor (2015) Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 53 - 68. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0007 vergegenwärtigt, Lola Arias in Atlas des Kommunismus (2016) Ostfrauen nach ihrer Perspektive auf den Kommunismus befragt oder das Theaterkollektiv Chicks* in Chicks* United (2017) mit Mädchen und Frauen die weibliche Scham untersucht. Dennoch ist eine Typologie von Genderinszenierungen mit Alltagexpert*innen in der Theaterwissenschaft bisher nicht aufgearbeitet. Hinsichtlich des Verhältnisses von Theater, Kritik und Gender spielen Alltagsexpert*innen eine paradoxe Rolle: Insbesondere ihre Körperlichkeit gibt einerseits Anlass zur Kritik und kann anderseits selbst wiederum Kritik an normierten Körperbildern leisten. Dies macht sie zu einer interessanten Figuration von Kritik, um die es in diesem Aufsatz, bezogen auf die Kategorie Geschlechtskörper und Geschlechtswissen, gehen soll. Beispielsweise in der Bürger*innenbühnen-Inszenierung FKK. Eine Frauenkörperkomödie am Staatsschauspiel Dresden bitten Sinje Kuhn und ich als Regieteam 2010 ein diverses Frauenensemble auf die Bühne. Die 17 ausgewählten Dresdner Frauen unterscheiden sich in ihren Körperbildern, in ihrem Alter, ihrer Sozialisationserfahrung in Ost- und Westdeutschland, in ihren sexuellen Orientierungen und ihren Erfahrungen von Mutterschaft. In der Theaterkritik der Sächsischen Zeitung werden die „ Runzeln und Altersflecken “ , „ schlaffen Brüste, Speck und Cellulite “ der Darstellerinnen beschrieben. 3 Und an anderer Stelle heißt es: „ Eine junge Transsexuelle wirkt angespannt und weckt Verwirrung, vielleicht auch Abscheu. “ 4 Dabei hat die Darstellerin niemals von sich als Transsexuelle gesprochen, sondern sich in einer Drag-Performance als Elvis Presley inszeniert. Was als eine Hinterfragung des normativen Blickdispositivs weiblicher Körper inszeniert war, sorgte im Blick der Kritikerin für „ Gender Trouble “ . Die untrainierten, schauspielerisch unausgebildeten, dicken, dünnen, androgynen Frauenkörper wurden mit einem kritischen Blick beäugt. So führte auch die Thematisierung des Dickseins der Darstellerin Nora Graupner immer wieder zu Diskussionen mit Zuschauenden, die ich als positive Diskriminierung bezeichnen würde. Wie eine dicke Frau den Mut haben könnte, auf eine Bühne zu gehen und zugleich aber die psychische Gesundheit und Zurechnungsfähigkeit der Darstellerin in Frage gestellt wurde. 5 In der Kritik steht damit aber nicht die Theateraufführung, die vielleicht sogar voyeuristisch von Theaterkritiker*innen und Zuschauer*innen genossen wurde, sondern die Darstellerin als Subjekt. Im Rekurs auf eine biografische Geschichte und der Sichtbarkeit eines Habitus 6 ist das dokumentarische oder biographische Theater eine Theaterform, die Vulnerabilität in den Mittelpunkt stellt und damit Subjektivation prägt und reflektiert. Judith Butler versteht unter Subjektivation „ den Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung “ . 7 Durch einen Sprechakt erhält ein Individuum eine spezifische Identität und eine sozial anerkannte Subjektposition, die wiederum mit einem spezifischen Normierungsprozess einhergeht. 8 Der Begriff der Kritik bei Butler zielt wiederum auf das Verhältnis von Wissen und Macht, was mit der Kategorisierung von Subjektwerdung einhergeht und den Möglichkeiten des Ungehorsams des Subjekts gegen den Normierungsprozess. 9 Inwiefern kann durch die Praxis und im Raum des Theaters eine solche Kritik in performativer Weise geleistet werden? Hierbei bewegen sich Alltagsexpert*innen als Objekt und Subjekt von Kritik in einem Spannungsverhältnis: zwischen ihrer Exotisierung als ‚ Andere ‘ und ihrer eigenen Kritik, gesellschaftlich zu diesen ‚ Anderen ‘ gemacht zu werden. Mich interessiert hierbei Kritik als Selbstermächtigung: Inwiefern können Alltags- 54 Melanie Hinz expert*innen auf der Bühne als Geschlechterexpert*innen erscheinen, die selbst souverän das Problem ihrer Objektivierung reflektieren und Kritik üben können? Beispielhaft möchte ich diesen Fragen an den beiden Produktionen Dicke Frauen von heißes medium: polylux und Adam, Eva und ich. Biografien intersexueller Menschen von der Frl. Wunder AG analysieren, in denen Diskriminierungserfahrungen geschlechtlicher Identität Gegenstand einer partizipativen Stückentwicklung waren. An beiden Projekten war ich als dramaturgische Beratung bzw. befreundete Zuschauerin beteiligt. Wie Matthias Warstat, Julius Heinicke, Joy Kristin Kalu, Janina Möbius und Natascha Siouzouli formulieren, lassen sich sozialkünstlerische Projekte nicht allein als ‚ Kunstprodukt ‘ betrachten, sondern erst im Zusammenspiel mit der Reflexion sozialer Kontexte und Probenprozesse 10 wird erkennbar, was auch politisch und persönlich für die Darsteller*innen auf dem Spiel steht. Damit kann der Kritik-Begriff nicht allein auf den Kunstdiskurs zielen, sondern auf den Macht- und Subjektdiskurs. Zum Begriff der Kritik in der Theaterwissenschaft Einführend möchte ich einen kritischen Blick auf den Kritik-Begriff in der aktuellen Theaterwissenschaft werfen und ausgehend von einer Geschichte der ‚ Anderen ‘ der Frage nachgehen, ob Alltagsexpert*innen überhaupt das Theater als Raum der Kritik zugesprochen wird? Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung 11 - der Titel dieses aktuellen theaterwissenschaftlichen Sammelbands, der auf einen Kongress der theaterwissenschaftlichen Gesellschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Goethe-Universität Frankfurt 2016 zurückgeht, macht bereits die Perspektive deutlich, wie der Kritik-Begriff derzeit diskursiv akzentuiert wird. Theater als Kritik meint hierbei, dass Kritik in Bezug zum Theater nicht von den zu kritisierenden Inhalten oder Gegenständen abhänge, „ sondern sie liegt in den Existenzweisen des Theaters selbst “ . 12 Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert und Gerald Siegmund formulieren so ihre Zweifel an einer „ idealisierten Theatervorstellung “ 13 wie auch eines „ allzu einfachen Begriffs von Kritik “ 14 . Theater werde häufig per se als kritische Praktik gesetzt, ohne dabei die ökonomischen oder individuellen Zwecke von Unterhaltung oder persönlicher narzisstischer Befriedigung mitzubedenken. Zudem hinterfragen sie, ob Theater im Sinne eines politischen Theaters überhaupt kritisch wirken könne, wenn es doch häufig Normen reproduziert oder die Kritik eher einem „ preaching to the converted “ gleicht. 15 Geforscht wird also nach den Formen und Praktiken der Kritik, die das Theater aufgrund seiner spezifischen Medialität hervorbringen kann. Dies erinnert an Hans-Thies Lehmanns Definition vom politischen Theater, der es als „ Unterbrechung des Politischen “ 16 definiert. Es gehe nicht darum, politische Regeln, Diskurse und moralische Botschaften zu wiederholen, sondern eine „ Praxis der Ausnahme “ 17 zu initiieren, die durch das Aufsuchen von Leer- und Bruchstellen eine Reflexion politischer Verfasstheiten für die Zuschauenden ermöglicht. In dieser Weise geht es Ebert, Holling, Müller-Schöll, Schulte, Siebert und Siegmund eben auch um die kritische Verfasstheit des Theaters selbst. In Anschluss an Michel Foucaults Vortrag Was ist Kritik? und Butlers Kritik-Aufsatz beziehen sie den Begriff der Ent-Unterwerfung nicht auf soziale Subjektivierungsprozesse, sondern auch auf das Theater als eine ästhetische Praxis der Ent-Unterwerfung. Ein so formulierter Kritik-Begriff, der sich auf der Autonomie der Kunst gründet, 55 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse schließt das Kritik-Potenzial aus, was möglicherweise nicht-professionelle Darsteller*innen als Geschlechter-Expert*innen mitbringen können. Bezieht sich dieses doch in erster Linie auf die Repräsentation von Körper und Wissen, also auf Inhalte und nicht auf die Form. Ich werde im Fortlauf des Textes noch darauf zu sprechen kommen, warum ein autonomer Umgang mit künstlerischen Darstellungsmitteln nicht in gleicher Weise ‚ frei ‘ ist, wenn eine soziale Gruppe mit aktivistischen Interessen daran beteiligt ist. Denn die Bezugnahme der Kritik ist nicht allein auf das Theater als Medium fokussiert, sondern vielmehr auf Praxen und Normen, die ein persönliches und gesellschaftliches Leben betreffen. Das Soziale ist für die Kunst ein produktiver Störfaktor, selbst ein Agens der Kritik, präsentiert aber nicht unbedingt „ Kunst als eine kritische, weil entsetzende Praxis “ . 18 So ist wenig erstaunlich, dass eben jene Theaterformen, die an der Schnittstelle zu Aktivismus, Pädagogik oder Politik stehen, in dem Sammelband kaum besprochen werden. Müller-Schöll formuliert dies auch ganz direkt: Selten ist deshalb heute jenes Theater kritisch, das in der Tagespolitik oder das Soziale einwirken möchte, das sich als Fortsetzung politischer Interventionen geriert, sich Empowerment und Emanzipation auf die Fahnen schreibt, Minderheiten integrieren und Randgruppen zur Anerkennung verhelfen möchte. Mögen seine Absichten integer und sein Anliegen legitim und wichtig sein, so endet es in aller Regel über schnell Begriffenem, Wohlbekanntem nicht nur in schlechter Kunst, sondern auch in schlechter Politik. 19 Alltagsexpert*innen gehen in der Regel auf die Bühne, um das Theater als öffentliches Forum aufzusuchen - und erleben diese Form des Sich-Zeigens als eine Form des Empowerment oder der Emanzipation. Hier wird aber nun das direkte Benennen politischer Anliegen als „ schlechtes Theater “ kritisiert - und damit im Kontext der Theaterkunst eben jene Stimme marginalisierter Gruppen unhörbar gemacht. „ Kann die Alltagsexpert*in im Theater sprechen? Kann ihre Kritik gehört werden? “ 20 In dieser dargelegten Diskurstradition wäre die Antwort: nein. Der Aufsatz wäre hier also bereits an ein Ende gekommen: ‚ Kein Ort nirgends ‘ im Theater für das Kritikpotenzial von Alltagsexpert*innen. Es wirft uns darauf zurück, dass jede Kritik bereits abhängig ist von dem Werturteil der Kritiker*innen. So fragen Rahel Jaggi und Tilo Wesche in ihrer Einführung „ Was ist Kritik? “ : Wie sind die Maßstäbe auszuweisen, die es dem Kritiker erlauben, eine gegebene Situation als falsch, schlecht, unangemessen oder defizitär zu kritisieren - und gibt es solche Maßstäbe in einem Sinn, der über das Partikulare, partiell oder lokal Gültige hinausgeht? Infrage steht damit, ob Kritik sich auf universal gültige (den bestehenden Praktiken und Institutionen gegenüber ‚ externe ‘ ) Wertmaßstäbe beziehen kann oder ob sie angewiesen bleibt auf die schon existierenden Normen einer Gemeinschaft, die dann vom Kritiker gewissermaßen ‚ beim Wort ‘ genommen werden. 21 Dass hier in männlicher Form vom Kritiker gesprochen wird, scheint mir nicht nur einer geschlechterunsensiblen Sprache geschuldet zu sein, sondern ist als eine historische Figuration männlich konnotiert - ebenso der Glaube daran, eine objektiv allgemeingültige Kritik äußern zu können. Wie Jaeggi und Wesche deutlich machen, steht Kritik immer in einem Verhältnis zu normativen Vorstellungen einer Gesellschaft, nach denen kritisiert wird oder die gerade hin zu neuen Regeln transformiert werden sollen. Gleiches gilt für (die Gesellschaft) des Theaters. Der Theaterhistoriker Stefan Hulfeld hat herausgestellt, dass die Theatergeschichts- 56 Melanie Hinz schreibung als eine Fortschrittserzählung sich stets am innovativen Kunsttheater orientiert habe, aber all jene Formen des Theaters, die als das „ Gestrige “ gelten, was sich auf das Laientheater und Volkstheater übertragen lässt, nicht in diese Erzählung integriert werden, oft gar nicht erzählt werden. 22 Was gesagt oder kritisiert wird, wer überhaupt kritisieren darf, ist somit immer selbst schon Teil eines Machtdispositivs. In besonderer Weise werden somit Alltagsexpert*innen und ihre Themen nach normativen Wertmaßstäben (scheinbar) innovativer Theaterkunst beurteilt. Damit Kritik überhaupt gehört werden kann, ist sie auf die Teilhabe beispielsweise der Zuschauenden angewiesen. In letzter Konsequenz ist das nie kontrollierbar, aber etwas an der Existenzweise des Theaters rückt damit in den Fokus: als eine Kunstform der Begegnung und als ein Wahrnehmungsdispositiv ermöglicht das Theater einen Prozess der Ent-Unterwerfung des Subjekts und die gegenseitige Anerkennung im Blick der Anderen. Kritik als Ent-Unterwerfung des Subjekts Während also in Theater als Kritik von Ebert, Holling, Müller-Schöll, Schulte, Siebert und Siegmund der Begriff der Ent- Unterwerfung auf die Existenzweise des Theaters übertragen wird, scheint es mir für die Akzentuierung von Gender und Kritik lohnenswert, Foucaults 23 und Butlers Kritik-Begriffe 24 im Hinblick auf die Repräsentation des Subjekts zu betrachten, wie es auch Andrea Maria Zimmermann in ihrem Buch Kritik der Geschlechterordnung (2017) 25 vorschlägt, das den aktuellsten Forschungsbeitrag zum Thema Gender und Kritik im Theater darstellt. Butler nimmt in ihrem bereits vieldiskutierten Aufsatz „ Was ist Kritik? “ eine Re- Lektüre von Foucaults Was ist Kritik? 26 von 1978 vor. Sie macht deutlich, dass Foucault Kritik nicht als Beurteilung gesellschaftlicher Gegenstände - wie Praktiken, Wissensformen und Diskurse - versteht, sondern „ vielmehr soll die Kritik das System der Bewertung selbst herausarbeiten “ . 27 Zu hinterfragen ist damit laut Butler, wie Wissen und Macht geordnet werden und „ warum alternative Möglichkeiten des Ordnens verworfen werden “ . 28 Diese Ordnungssysteme von Wissen und Macht führen zu jener Kategorisierung und Normierung, die aus Individuen intelligible Subjekte macht. Dabei zielt der Kritik-Begriff bei Foucault und Butler auf eine Transformation der Ordnung. Zimmermann fasst hierbei zusammen, dass es bei den beiden aber immer um „ ein von Machtverhältnissen durchdrungenes Subjekt “ 29 geht, was Kritik als Spielraum sich nur innerhalb der Machtverhältnisse zu erschließen vermag. 30 Ziel von Kritik ist somit nicht das Zerbrechen aller Machtmechanismen, da die Flucht an einen machtfreien Ort in dieser theoretischen Rahmung nicht möglich ist, sondern die Infragestellung, Verschiebung und Umgestaltung dieser Kräfte, um die Möglichkeiten des Existierens zu verändern und zu vervielfachen. Ihre Funktion ist die Entunterwerfung. 31 Jener Begriff der Entunterwerfung markiert damit eine widerständige, kritische Praxis, die das Individuum auf sich selbst beziehen muss. Butler stellt heraus, dass Foucaults Kritik als eine Praxis der Tugend und damit als eine ethische Praxis definiert und damit das Individuum vor folgende Aufgabe stelle: „ Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird - dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen regiert wird? “ 32 . Und an anderer Stelle definiert Foucault: „ Als erste Definition von Kritik schlage ich also 57 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden. “ 33 Butler deutet diese Signatursätze des Foucaultschen Vortrags als eine Aufforderung an das Individuum, stets tugendhaft den Gehorsam gegenüber Autoritäten zu prüfen, was als wahr befunden werden kann. 34 Und mit Foucault gesprochen bedeutet dies, im Zustand „ reflektierte(r) Unfügsamkeit “ 35 zu handeln. Butler verknüpft ihre Lesart mit einem weiteren Text von Foucault, Der Gebrauch der Lüste, 36 und stellt heraus, dass eben jenes widerständige Potenzial im Akt der Selbstbildung des Subjektes liegt. Das Subjekt ist zwar immer schon in seiner Subjektwerdung auf das engste mit Unterwerfung und einer Politik der Normen verknüpft, aber es kann sein Leben stets als „ Spieleinsatz der Freiheit “ 37 verstehen. Butlers Ausführungen über Kritik als eine zu übende widerständige Praxis, die die Selbstbildungsprozesse des Subjekts prägen kann, ist für die Theaterarbeit mit Nicht- Profis eine interessante Bildungs-Perspektive. Theater als körperliche Kunstform im Hier und Jetzt kann seinen Spieler*innen einen Raum bieten, normative Repräsentationen gerade auch bezogen auf Identitätspolitik zu hinterfragen und zu durchbrechen. Denn die Besonderheit der darstellenden Kunst ist, dass sich die Umsetzung sprechend und handelnd am eigenen Leib ereignet. Zugleich besitzt dieses Handeln erstmal nur Vorläufigkeit, ist ein Test, ein Spiel, während im Alltag alles als Ernst ausgelegt werden kann. Zugleich bedarf es aber auch genügend Zeit zur Reflexion, deren Fragen Butler wie folgt formuliert: Vollzieht sich diese Selbstbildung jedoch im Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist, wird Tugend jene Praxis, durch welche das Selbst sich in der Entunterwerfung bildet, was bedeutet, dass es seine Deformation als Subjekt riskiert und jene ontologisch unsichere Position einnimmt, die von Neuem die Frage aufwirft: Wer wird hier Subjekt sein? Und welches Leben wird zählen? Ein Moment des ethischen Fragens, welcher erfordert, dass wir mit den Gewohnheiten des Urteilens zugunsten einer riskanteren Praxis brechen, die versucht den Zwängen eine künstlerische Leistung abzuringen? 38 Letzteres erlaubt auch das Theater als jenen Ort der Selbstbildung zu begreifen, in denen die Normen und Zwänge künstlerisch umgedeutet werden können und riskiert wird, die Deformationen des Subjekts auszustellen in der Hoffnung, dass auch außerhalb des Theaterraums neue Subjektentwürfe möglich werden können. Hierfür braucht es, so Butler, „ die Kunst des langsamen Wiederkäuens zu erlernen “ 39 - denn nur die Wiederholung der Kritik ermöglicht langfristig eine Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse. Zugleich darf aber für die Theaterarbeit nicht vergessen werden, dass diese ebenso Teil von Machtverhältnissen und Normierungsprozessen ist. Wenn sich insbesondere durch die Probenarbeit das spielende Subjekt eine kritische Praxis selbst erschließen kann, deren Handeln sich in der Aufführungssituation abbildet, so stellt sich damit die Frage, wie Proben gestaltet sein müssen, damit sich Prozesse der Entunterwerfung für die beteiligten Spieler*innen entfalten können. Dicke Frauen - Kritik am Blickdispositiv von Körpernormen „ Was bedeutet es für ein Individuum, in einer körperfettfeindlich eingestellten Gesellschaft dick zu sein? Wie verändert sich dies im Lebenslauf? “ 40 Und was bedeutet dies insbesondere für Frauen, welche geschlechtsspezifischen Erfahrungen haben sie aufgrund ihres (hohen) Körpergewichts gemacht? 58 Melanie Hinz Ausgehend von den Reaktionen, die Nora Graupner als Performerin bei FKK. Eine Frauenkörperkomödie 41 an der Bürgerbühne Dresden bezogen auf ihr Körpergewicht bekommen hat, entwickelten wir die Idee, eine Stückentwicklung zu den genannten Fragen mit einer Gruppe nichtprofessioneller Darstellerinnen zu machen, die sich alle als dick bezeichnen oder Erfahrungen mit Dicksein in ihrem Leben gemacht haben. Nora Graupner erarbeitete 2014 die Produktion als Regisseurin unter ihrem Label heißes medium: polylux 42 mit acht Hildesheimer Frauen, ich war als Dramaturgin mitbeteiligt. Mit der Stückentwicklung Dicke Frauen wollten wir in den Fokus rücken, dass die Reflexion über das eigene Körpergewicht, Diäten, die Vorurteile und Konflikte mit Ärzt*innen, Arbeitgeber*innen, Familie und Partner*innen kollektiv von vielen Frauen geteilt werden - und damit gerade die intersektionale Verknüpfung von Weiblichkeit und (hohen) Körpergewicht spezifische Diskriminierungserfahrungen hervorbringt. Die Anerkennung bzw. Abwertung von Weiblichkeit ist kulturgeschichtlich bis heute an Aussehen und Körperlichkeit gebunden. So weisen Lotte Rose und Friedrich Schorb darauf hin, dass dicke Frauen stärker von Diskriminierungen, beispielweise auf dem Arbeitsmarkt, betroffen sind, weil Frauen häufiger in Serviceberufen wie Bürokraft oder Kellnerin tätig sind, die vom Aussehen abhängig gemacht werden. 43 Frauen stehen in Partnerschaften mit Männern unter stärkerem Druck, heterosexuelle Schönheitsnormen erfüllen zu müssen. 44 Ebenso sind heterosexuelle Frauen stärker von Abwertungen ihrer Partner betroffen. Zwar appelliert der Slogan ‚ Body Positivity ‘ - wie er nun auch zunehmend in den populären Medien, wie zum Beispiel Frauenzeitschriften verhandelt wird - daran, dass jeder Körper schön sei, wie er ist; soziologisch betrachtet, stellt dies aber eine Chimäre dar. Mögen sich Frauen mit Konfektionsgröße 40 von ‚ Body Positivity ‘ angesprochen fühlen und ein stärkeres ‚ Normalitätsempfinden ‘ gegenüber ihrem Körper verspüren, fühlen sich Frauen mit Konfektionsgrößen 52 eher nicht gemeint. Denn in Deutschland stellt hohes Körpergewicht ein Tabu-Thema 45 dar oder „ ein drängendes Thema, gegen das etwas getan werden muss “ . 46 Rose und Schorb weisen in ihrer Einführung in die Fat Studies daraufhin, dass „ hohes Körpergewicht mit Nachdruck als problematische Abweichung “ 47 diskutiert wird. Es wird konzeptualisiert als mangelnde Selbstdisziplin und Triebkontrolle im Essen, daraus werde Sucht und damit eine psychische Krankheit konstruiert, die Essensimpulse nicht steuern könne. Seit zwei Jahrzehnten kursiere das Wort der ‚ Adipositas-Epidemie ‘ , die wie eine um sich greifende Ansteckungsgefahr für der Menschheit gefährlicher gewertet werde als der Welthunger oder der Klimawandel. 48 Die hier beschriebenen soziologischen Diskurse stellen für die davon betroffenen Individuen eine Belastung dar, da sie „ persönlich verantwortlich für ihr Körpergewicht gemacht und fortwährend bedrängt [werden], an ihrem Körper zu arbeiten und ihn den idealisierten Gewichtsnormen anzupassen. “ 49 Rose und Schorb führen auch eine Statistik der Krankenkasse DAK an, durchgeführt von Forsa 2016, die bezeugt, dass 71 % der Befragten dicke Menschen unästhetisch finden würden. 50 Vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, warum bisher dicke Menschen, insbesondere dicke Frauen, auch als professionelle Schauspieler*innen, kaum auf deutschen Bühnen vertreten sind. So argumentiert Nora Graupner in einem Aufsatz: Denn bei der Frage von Schönheitsbild und Vorbildfiguren erlauben sich die Bühnen nur selten einen Ausflug in unkonventionelle 59 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse Gefilde: Dicke Schauspielerinnen (so es sie denn an einem Haus/ in einem Ensemble überhaupt gibt) sind zumeist die lustigen Tanten, fürsorglichen Ammen oder Hausmädchen; nicht aber eine Shakespeare`sche Julia, eine Emilia Galotti oder ein Käthchen von Heilbronn - diese werden klassischerweise von jungen, schlanken bis dünnen Frauen besetzt. Eine wesentliche Ausnahme in den darstellenden Künsten stellt nur die Oper dar. Insgesamt knüpfen die Bühnen an die gesamtgesellschaftlichen Schönheitsvorstellungen und Menschenbilder an und stellen diese wenig bis gar nicht infrage. 51 Ausgehend von der Frage, welche Körper im Theater überhaupt zu sehen sind und repräsentiert werden und von wem, stellt der Akt der Besetzung mit dicken Frauen bereits eine Kritik an normierten Körperbildern dar. Im Zusammenspiel mit einem derart negativen gesellschaftlichen Diskurs über hohes Körpergewicht, wie ihn Rose und Schorb verifizieren, war es nicht verwunderlich, dass auch eine Förderung des Theaterprojekts im ersten Anlauf scheiterte, angeblich mit der Begründung, „ man wolle diesem Thema kein positives und empowerndes Forum bieten “ . 52 Das in Erscheinung treten dicker Frauen verstört somit bereits die Sehgewohnheiten der Zuschauenden und reflektiert, dass das Theater nicht per se ein politischer Raum ist, sondern selbst normative Schönheitsbilder produziert. 53 So geht bereits die Anfangsszene von Dicke Frauen offensiv mit diesem Blickdispositiv um. Zu dem Song Ich bin froh, kein Dicker zu sein von Marius Müller- Westernhagen werfen die Darstellerinnen ihren Blick frontal ins Publikum und zeigen ihren Körper dann von allen Seiten. Bereits das Intro reflektiert damit offensiv den Blick, mit dem das Publikum möglicherweise dicke Darstellerinnen betrachtet. Das Lied von Müller-Westernhagen versammelt dabei Klischeebilder von Dicksein, „ Dicke schwitzen wie die Schweine/ stopfen, fressen in sich rein “ , die sogleich alle zu Beginn ausgesprochen werden und damit zeigen, mit welcher Anrufung von Körpernormen die Subjektwerdung der Spielerinnen konfrontiert ist. Zu Beginn werden auf sprachlich-musikalischer Ebene mit dem Westernhagen-Song die Abwertungen hohen Körpergewichts als nicht normgerecht zum Ausdruck gebracht. Die Spielerinnen machen aber auf der performativen Ebene ihren Körper zum ‚ Spieleinsatz ‘ . Mit dem offensiv zurückgeworfenen Blick ins Publikum wird damit das Interaktionsgefüge thematisiert, dass eben Zuschauende mit daran beteiligt sind, mit welchen Projektionen und Werturteilen die gezeigten Körper betrachtet werden. Im Foucaultschen Sinne geht es den Spielerinnen auch darum, so nicht weiter, nicht dermaßen regiert werden zu wollen. Als der Song endet, sprechen sie das Publikum direkt an: Corina: Na, was hast Du Dir gedacht, als ich eben auf die Bühne gekommen bin? Heike: Dachtest du: Die sind ganz schön dick, Mann? Marina: Und, denkst Du, dass ich langsam bin? Kristin: Na, schätzt du gerade wie schwer ich bin? Stefanie: Glaubst du, dass ich keinen Sex habe? Gertrud: Hast du etwa Angst vor so viel Körpermasse? Tanja: Glaubst Du wirklich, ich schwitze wie ein Schwein? Steffi: Findest Du, dass ich scheiß Klamotten anhabe? Damit stellen die Spielerinnen ihr Wissen aus, dass sie möglicherweise mit ihrer spezifischen Körperlichkeit im Raum des Theaters als ‚ Andere ‘ exotisiert werden könnten und machen mögliche Projektionen explizit. Diese Art der Publikumsbeschimpfung verschiebt ästhetisch das Blickdispositiv, sodass vermeintliche Vorurteile eben nicht heimlich im Dunkel des Zuschauerraums gedacht werden können, sondern sich die Zuschauenden möglicherweise ertappt fühlen. Denn die Bewertung von hohem Körpergewicht ist eine kulturelle und sich historisch durch- 60 Melanie Hinz aus wandelnde Konstruktion, die sozial eingeübt wird. Das Aussprechen von Sätzen, deren künstlerische Qualität häufig von Kritiker*innen angezweifelt wird mit einem schnellen „ wissen wir doch längst “ , hat sozial einen Effekt: die Wiederholung und das laute Aussprechen von Vorurteilen macht die Konstruktion und Absurdität von normativen Werturteilen sichtbar. Zwar mag man verleitet sein, zu glauben, dass es eben diese wirklichkeitskonstituierend nur ein weiteres Mal hervorbringt, doch je nach Sprechhaltung und Inszenierung liegt hierin auch ein kritisches Potenzial, das Gesagte zu überdenken und sich davon zu distanzieren. Es stellt die Bewertungsmuster aus, nach deren Kategorien Identität geordnet wird. Es ist vielleicht der erste Schritt der Tugend der Kritik, sie zur Überprüfung freizugeben. Einige der von den Darstellerinnen ausgesprochenen Fragen verweisen dabei explizit auf Geschlechterdiskurse, wie die Frage nach Sexualität. Im Verlauf des Stücks geht es immer wieder darum, wie gerade im Kontext von Heteronormativität Frauen entweder das Gefühl bekommen, einem männlichen Blick nicht zu genügen, oder die Erfahrung machen, aufgrund des Körpergewichts als unattraktiv und damit als Objekt männlichen Begehrens ausgeschlossen zu werden. Esther D. Rothblum hat untersucht, dass von gewichtsbedingten Sorgen und Diskriminierungen vor allem Menschen betroffen sind, die sexuelle Beziehungen zu Männern haben, da diese erzogen werden, auf das äußere Erscheinungsbild ihrer Sexualpartner*innen zu achten. 54 Aufgrund der normativen Anforderungen an Frauen, ihren Körper und ihre Schönheit zu pflegen und sich darüber zu definieren, sind Frauen stärker aufgefordert, Rechenschaft über ihren Körper abzulegen. 55 Während Männer ihr Dicksein durchaus als positive und „ eigenständige Lebensform-Entscheidung konstruieren “ , 56 betrachten Frauen in biografischen Erzählungen ihren Körper als negativ und stigmatisierend, 57 wie Eva Tolasch anhand einer empirischen Studie nachweist. Wie Dicksein die eigene weibliche Betrachtungsweise des Körpers beeinflusst, wie sich dies auch je nach Alter und Lebensphase verändert, und wie unterschiedlich dies als negativ oder stigmatisierend erlebt wird/ wurde, davon erzählen die biografischen Solos der Darstellerinnen in Dicke Frauen. Was Butler als Möglichkeit der Deformation normierter Subjektzuschreibung als kritische Praxis der Entunterwerfung benennt, liegt in der Produktion Dicke Frauen meiner Meinung nicht allein auf inhaltlich-sprachlicher Ebene, dass die Frauen bestimmte Diskriminierungserfahrungen, sei es beim Bewerbungsgespräch, in der Kur oder in heterosexuellen Beziehungen dem Publikum mitteilen. Sondern die Entunterwerfung zeigt sich auch auf der Darstellungsebene der Repräsentation: Die Heterogenität der Erfahrungen und Haltungen der Spielerinnen, mit Körpernormen umzugehen, hinterfragt die Identität einer Zielgruppe „ Dicke Frauen “ , die der Titel eigentlich manifestiert. Beispielsweise können und wollen sich gar nicht alle Darstellerinnen von den Weiblichkeitsbildern und Schönheitsnormen freimachen. Für Nora Graupner liegt genau hierin der politische Aspekt der Produktion: Es geht darum ein Forum zu stellen, in dem Frauen sich trauen zu sagen, dass sie diese Spannung aushalten (müssen), indem sie einfordern, als Individuen akzeptiert zu werden, auch wenn sie nicht nur nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen, sondern auch den eigenen nicht entsprechen. 58 Die unsichere Position, die sie zeigen, ist eben jene, dass Frauen bezogen auf ihr Körpergewicht immer wieder in Legitimierungszwänge geraten, vor anderen, aber auch vor sich selbst. Vor ein Publikum zu 61 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse treten, geht damit mit der Unsicherheit vor dem Blick der Anderen einher - dieser kann nicht kontrolliert werden, wohl kann um Anerkennung geworben werden. Zu einer permanenten Störung dieses Blicks führt dabei auch, dass die Kategorie ‚ dick ‘ eine Zuschreibung ist, die die beteiligten Darstellerinnen selbst auf sich beziehen, obwohl unter medizinischen Kriterien nicht alle Spielerinnen als übergewichtig eingestuft worden wären. Hierbei findet ebenfalls eine positive Aneignung des Wortes ‚ dick ‘ statt. Besonders für diese Produktion ist, dass die Regisseurin mit den Spielerinnen Diskriminierungserfahrungen teilt und selbst ein Bewusstsein für das visuelle Dispositiv hat, mit dem dicke Frauenkörper bewertet werden. Und dies führt u. a. zu einer aktiveren, mutigeren Teilnahme der Darstellerinnen. Damit liegt das kritische Potenzial dieser Produktion nicht nur in der offensiven Darstellung dicker Frauenkörper auf der Bühne, sondern auch in den Produktionsgemeinschaften, die gegründet werden. Eine solche Besetzung des Produktionsteams greift damit nicht das Wissen einer marginalisierten Gruppe ab, sondern hat selbst ein Sonderwissen über die ästhetischen Diskurse dicker Frauenkörper im Theater. Adam, Eva und ich - Expert*innen des Geschlechts und ihr Sonderwissen als Akt der Kritik „ Wenn mein Körper mit mir reden könnte, würde er mir von Sachen erzählen, von denen ich heute absolut keine Ahnung mehr habe “ , sagt eine der Darsteller*innen in der ersten Szene der Produktion Adam, Eva und ich. Biografien intersexueller Menschen (2015) der Frl. Wunder AG. 59 Die Produktion entstand aus der Initiative eines Mitglieds der Frl. Wunder AG, das die eigenen Erfahrungen von Intersexualität mit anderen intersexuellen Menschen des Vereins für Intersexuelle Menschen e. V. zum Ausgangspunkt einer Stückentwicklung machen wollte. Anhand des Zitats wird bereits die Perspektive der Inszenierung deutlich, von der eine Kritik an den machtvollen sozialen und medizinischen Umgangsweisen geübt wird, die intersexuelle Menschen in ihrer Biografie erleben. Anja Gregor bezeichnet den intersexuellen Körper als einen durch medizinische Eingriffe „ enteigneten Körper “ . 60 Über viele operative Eingriffe und Medikamente, die dem eigenen Körper vor allem in der Kindheit verordnet wurden, wissen viele intersexuelle Menschen gar nichts, da Eltern und Ärzt*innen sie nicht darüber informiert haben. Im Kontext einer vor allem in Deutschland noch tabuisierten Medizingeschichte der Intersexualität stellt das biografische Erzählen der im Laufe der eigenen Biografie erlebten Versehrtheiten eine Kritik an der Tabuisierung von Intersexualität sowie an der sozialen und medizinischen Normangleichung an die binäre Geschlechterdifferenz dar. Insofern kann die Theaterarbeit, der Austausch mit anderen intersexuellen Personen im kollektiven Prozess des Theatermachens, und den eigenen Körper in der Sichtbarkeit der theatralen Rahmung zu zeigen, eine Wiederaneignung des eigenen Körpers leisten. Insbesondere das biografische Erzählen kann hierbei auch eine Selbstermächtigung sein. Trotz Wiederaneignung - sei es im Akt des Erzählens, in der Souveränität im Umgang mit der eigenen Einschätzung der Gesunderhaltung oder auch der identitären Einordnung jenseits von zwei Geschlechtern - bleibt der Körper aber insofern enteignet, als dass die irreversiblen Eingriffe ihn zu einem versehrten intergeschlechtlichen Körper machen. Eine Rückkehr zum ‚ ursprünglichen ‘ Körper ist nicht möglich - der einmal enteignete Kör- 62 Melanie Hinz per kann nie wieder ganz angeeignet werden. 61 Mit Butlers Forderung, dass das Individuum jene unsichere Position aufsuchen soll, von wo aus es die Normen seiner Subjektwerdung kritisieren kann, lässt sich für intersexuelle Personen festhalten, dass sie sich aufgrund ihrer Intersexualität bereits per se in einer Kritik-Position an einer biologistischen Idee von zwei Geschlechtern befinden. Dass der intersexuelle Körper bereits als widerständiger Körper signifiziert wird, führt auch zu einer spezifischen Geschlechterarbeit, die Intersexuelle in ihrem Alltag leisten müssen und dadurch in eine Position der Anderen gesetzt werden. Die Produktion Adam, Eva und ich kann diese Alterität nicht auflösen. Wie der Titel schon deutlich macht, geht es um die Besetzung einer dritten Position: für eine Anerkennung des intersexuellen Geschlechts. Dafür treten auf der Bühne sechs Performer*innen ein, von denen nicht alle eine medizinische Diagnose als intersexuell haben. Während der Probenzeit gab es noch kein Gesetz, das die Bezeichnung ‚ divers ‘ im Pass möglich machen würde, wie es mittlerweile auf juristischem Weg ist. Verhüllen und Enthüllen des (intersexuellen) Körpers, das Wissen über Intersexualität als Konzeption der Andersheit in einer binären Geschlechterordnung und der Wunsch nach Normalisierung stellen das Spannungsgefüge der Inszenierung dar. Bereits in der ersten Szene sind alle Darsteller*innen hinter einer Umkleidekabine und ziehen sich um. Die Zuschauenden sehen nur Füße und Klamottenteile und hören verschiedene Stimmen, die über ihre Geschlechtsidentität berichten. In einer anderen Szene sieht man alle Darsteller*innen auf der Bühne, wie sie vermeintlich einen Blick in ihre Hose auf ihr Genital werfen und dieses beschreiben. Am Ende wird aus der Hose ein Apfel hervorgezogen und gegessen. Das Publikum kann nicht mehr rekonstruieren, ob wirklich das eigene Genital beschrieben wurde oder eigentlich der Apfel. Damit wird mit der Schaulust des Publikums gespielt. So wird fürsorglich und reflektiert mit dem Blickdispositiv umgegangen, mit dem intersexuelle Menschen im Theater, aber auch im Alltag konfrontiert sind. Die Inszenierung setzt immer wieder solche ästhetischen Strategien der Veruneindeutigung des Körpers ein. Die besondere Kritik bei Adam, Eva und ich liegt im Akt des biografischen Erzählens selbst und in dem Sonderwissen, das Expert*innen des Geschlechts mit auf die Bühne bringen. Letztlich sind wir alle Expert*innen geschlechtlicher Erfahrungen. In einer Vielzahl von Projekten werden Darsteller*innen aufgefordert, diese auf einer Bühne zu reflektieren. Den Anstoß zur Reflexion bietet häufig erst das Theaterprojekt, d. h. die geschlechtlichen Erfahrungen sind eher der eigenen Identitätserzählung implizit und werden erst durch biografische Theaterarbeit künstlerisch explizit gemacht. 62 Es gibt aber auch jene Alltagsexpert*innen wie bei Adam, Eva und ich, bei denen eine Auseinandersetzung mit geschlechtlichen (Diskriminierungs-)Erfahrungen und deren Reflexion zum alltäglichen Leben gehört und die sich so ein Sonderwissen angeeignet haben. Kim Scheunemann bezieht sich in ihrer empirischen Untersuchung Expert*innen des Geschlechts (2017) auf jene Expert*innen von Inter- und Trans-Themen, denen eine professionelle Deutungsmacht zugeschrieben wird, weil sie Veranstaltungen organisieren, Gutachten schreiben oder publizieren, die also öffentlich darüber sprechen und gehört werden. 63 Ich plädiere in diesem Aufsatz für eine Erweiterung von Scheunemanns Expert*innen-Begriff auf ebenjene, die im Kontext des Theaters ihr Geschlechterwissen öffentlich machen. Im Sinne von Sibylle Peters Forschen aller 64 kann durch den kollektiven Prozess 63 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse des Theatermachens gemeinsam Wissen erforscht und geteilt werden, eben auch solches, was als implizites Wissen 65 gar nicht oder nur schwer Eingang in die Scientific Community findet. Das Theater stellt dafür ein öffentliches Forum dar, wie in der Antike eine Polis, ein Versammlungsraum für „ eine demokratische Idee von Öffentlichkeit “ 66 und eben jenes Wissen, was sonst nur in den eigenen Communities, Körpern und Biografien kursiert und eben nicht interdisziplinär mit unterschiedlichen Menschen und ihren Erfahrungen geteilt wird. Damit Alltagsexpert*innen im Theater eine Kritik- Position einnehmen können, müssen sie sich selbst im Sinne Foucaults und Butlers über die Normierung ihrer Subjektwerdung bewusst sein und ihr Wissen nutzen, um eine Entunterwerfung zu thematisieren. Dieses Wissen kann beispielsweise in den Bereichen von Medizin, Lebensführung, Kulturgeschichte der eigenen geschlechtlichen Identität, Vorbilder und Identifikationsfiguren aus Medien und Künsten, Netzwerke, Möglichkeiten zum Aktivismus, eigene biografische Erlebnisse etc. liegen. In diesem Sinne handelt es sich bei den Beteiligten von Adam, Eva und ich um Expert*innen des Geschlechts. Für die Teilnahme am Projekt war ihr politisches Interesse ausschlaggebend, den eigenen Erfahrungen mit Intersexualität eine individuelle Stimme zu geben, welche z. B. darin bestehen, binär wahrgenommen zu werden, sei es von Ärzt*innen durch Operationen oder durch soziale Zuschreibungen. In diesem Sinne ist Adam, Eva und ich im besten Sinne Aufklärungstheater über die Stigmatisierungen und konkreten psychischen und physischen Schmerzen, die intersexuellen Menschen, die sich mittlerweile in ihren 20er- und 30er-Jahren befinden, angetan wurden. Der Spieleinsatz, den die Darsteller*innen von Adam, Eva und ich leisten, ist, das Schweigen zu brechen und ihre biografischen Geschichten dem Publikum mitzuteilen. Besonders ist für diese Generation von intersexuellen Menschen, dass sie häufig erst im Alter von 18 Jahren überhaupt von ihrer Intersexualität erfahren haben. Die Performer*innen erzählen auf der Bühne, dass sie lange Zeit die Operationen und das Unwohlsein mit ihrer im Pass dargelegten Gendereinordnung gar nicht einzuordnen wussten, weil die Eltern ihnen ihre Intersexualität verheimlichten. Insofern betreiben die Darsteller*innen eine Erinnerungsarbeit, wie aus ihnen wurde, was sie sind. Dabei sind sehr individuelle Geschlechtsidentitäten entstanden - vom Wunsch, ein ‚ drittes Geschlecht ‘ auch rechtlich leben zu können, bis hin zu einer positiven Annahme der ver-eindeutigten Geschlechtsidentität. Von der Norm einer Geschlechterdifferenz, wie sie in den Körper geschrieben wird, obwohl der biologische Körper sich dieser Eindeutigkeit verweigert, erzählen auch die direkt ausgesprochenen Sätze, die in den Arztpraxen zu hören waren: „ Warum wurde ich zu einer Frau operiert? Es ist leichter ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu bauen. “ 67 In einer Szene wird anhand einer Melone eine erlebte Operation nachgestellt. Die Inszenierung stellt ein spezifisches Geschlechterwissen aus, was von eben jenen artikuliert wird, die davon ‚ betroffen ‘ sind. Die Kritik liegt hier eindeutig im Eingriff in den Diskurs, die Geschichte intersexueller Menschen nicht mehr als eine pathologische Geschichte erzählen zu wollen, sondern als Geschichte von Menschen, die ein Recht darauf haben, ihr Geschlecht bzw. ihre Geschlechtsidentität selbst zu wählen. Zugleich ist ein entscheidendes Merkmal der Inszenierung, dass unklar bleibt, zu wem genau welche biografische Geschichte gehört - damit die Körper gerade nicht vereindeutigt werden können. Es geht darum, einer dritten Position Raum zu geben, in dem in einem identitätspolitischen Sinne keine Rückführungen auf das biologische und soziale Ge- 64 Melanie Hinz schlecht der Beteiligten gemacht werden können. In einem so stark biologistisch aufgeladenen Diskurs wie dem der Intersexualität muss umso stärker die Performativität von Geschlecht aufgezeigt werden. Zugleich wird in produktiver Weise der Angst der Beteiligten vor einer kompletten Entblößung ihrer Identität begegnet, der sie selbst erst auf die Spur kommen. Der Tausch von biografischen Erzählungen und das Herausarbeiten kollektiver Erfahrungen stellt im theaterpädagogischen Kontext laut Norma Köhler eine Form des Biografierens dar, die besonders für politische Themen eingesetzt wird. Naheliegend ist, dass sich der Akteur in der Aufführung der Inszenierungen, die mit kollektiver Spurensuche ihr Stück entwickeln, verstärkt als politischer Akteur erlebt. Durch die Verständigungs- und Vermittlungsprozesse innerhalb der biografischen Gruppenarbeit appelliert er gemeinsam mit anderen Darstellern bei der Premiere mehr oder weniger implizit an die Verantwortung der Zuschauer für Aufgaben und Problemfelder. 68 Von der Dramaturgie entspricht die Inszenierung einer klassischen Form biografischen Theaters: einer Montage solistischer Szenen folgen Gruppenszenen und Lecture Performances. Eine stärkere Theatralisierung und Fiktionalisierung der erarbeiteten Szenen war, so stellte sich in den dramaturgischen Gesprächen heraus, für die beteiligten nicht-professionellen Darsteller*innen nicht möglich. Immer wieder gab es die Sorge, dass sonst die politische Botschaft vom künstlerischen Zugriff überdeckt werden könnte. Meine These ist, wenn Gruppen sich noch im Modus einer politischen Anerkennung befinden und überhaupt ihre eigene Geschichte, als eine biografische und kulturelle Geschichte der Unterdrückung aufarbeiten müssen, fungiert Theaterarbeit im Modus des Empowerments und der Aufklärung. Das heißt: Gegenüber dem Kunstprodukt rückt der Austausch und Vermittlungsprozess über Diskriminierungserfahrungen innerhalb der Gruppe in den Vordergrund. In der ästhetischen Suchbewegung geht es dann darum, in angemessener Weise dafür eine Form zu finden. Das Visionäre und Imaginative von Theater kann erst dann stärker in den Vordergrund treten, wenn ein sozialer Status erreicht ist, in dem das Wiedererzählen zu einer Transformation der Verhältnisse geführt hat, von dem aus eine neue Zukunft visioniert werden könnte. Mit der Änderung des Personenstandgesetzes, in dem künftig auch ein drittes Geschlecht wählbar ist, ist dies vielleicht in greifbarere Nähe gerückt, die eigene Geschichte stärker dem Spiel freigeben zu können. Fazit Gerade im Kontext professioneller Inszenierungen mit Alltagsexpert*innen erzeugen nicht-normative Körper Schauwert, nicht immer sind Theatermacher*innen mit den jeweils spezifischen Körperdiskursen vertraut und stellen Nicht-Profis als Andere zur Schau oder bezahlen diese nicht für ihren Expert*innenstatus. Die beiden hier besprochenen Produktionen zeigen, dass bereits in der Gründung von Produktionsgemeinschaften ein Raum der Fürsorge liegt, die Teilhabe und das Sonderwissen von Geschlechtsexpert*innen nicht einfach im Kontext der Kunst zu verwerten. Die Theatermacher*innen bringen sich mit ihrer eigenen biografischen Erfahrung ein und entwickeln ein gemeinsames genderpolitisches Anliegen für die Teilnahme von Alltagsexpert*innen am Projekt. Die Theatermacher*innen bewahren so auch einen Fremdblick auf die Expert*innen als andere, weil sie sich selbst im Feld identitär verorten. Ein zweites wichtiges Kriterium, um einer 65 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse Exotisierung von nichtprofessionellen Darsteller*innen als andere zu entgehen, ist, auf das sie jeweils betreffende Blickdispositiv des Theaters bezogen, Körperbilder und Geschlechterdiskurse auch innerhalb der Theateraufführung zu reflektieren. Nichtprofessionelle Darsteller*innen fungieren in den besprochenen professionellen Theaterinszenierungen aufgrund ihrer Biografie, ihres Sonderwissens und ihrer Körper als Expert*innen des Geschlechts und als Kritiker*innen von normativen Körperbildern und Geschlechterdiskursen. Damit Kritik von Expert*innen des Geschlechts gehört werden kann, braucht es zudem für die Zuschauenden eine Sensibilisierung für die jeweiligen sozialen Kontexte und Diskurse, die diese nicht-professionellen Darsteller*innen mit in die Theaterarbeit und mit auf die Bühne bringen. Insofern gilt es, eine professionelle Arbeit mit Expert*innen des Geschlechts stärker als eine kontext- und diskurs-spezifische Arbeit von Zuschauenden zu rezipieren. Damit den innovativen Theater-Kritik-Begriffen in der Bewertung nicht einfach anheimgefallen wird, ist es wichtig, dass die Normen befragt werden, nach denen bestimmten Theaterinszenierungen Kritik- und Innovationspotenzial zugesprochen wird, und anderen nicht. Das Theater hat auch die Funktion einer Polis, widerständige Körperbilder und Geschlechterwissen jenseits von Geschlechtsbinarität, normativen Schönheitshandeln und Heteronormativität in einem Raum geteilter Aufmerksamkeit zu vermitteln, der sich durch die Kritik von nicht-professionellen Darsteller*innen im besten Fall zu einem Raum geteilter Anerkennung verwandeln kann - wenn noch nicht für die Zukunft der Gesellschaft, so doch für den kurzen Moment des Zusammenseins im Theater. Anmerkungen 1 Vgl. einen Kurzabriss zur Geschichte der Begrifflichkeiten: Melanie Hinz, „ Nicht nach den Profis schielen! Ein Essay über zeitgenössisches Amateurtheater “ , in: die bühne - das Theater der TUD/ Matthias Spaniel (Hg.), 60 Jahre Die Bühne, Dresden 2016, S. 22 - 35. 2 Vgl. Florian Malzacher, „ Dramaturgien der Fürsorge und Verunsicherung. Die Geschichte von Rimini Protokoll “ , in: Ders. und Miriam Dreysse (Hg.), Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 14 - 43, hier S. 23. 3 Ines Eifler, „ Schauspieler nehmen Schaumbad “ , in: Sächsische Zeitung, 23. 04. 2010, S. 23. 4 Ebd. 5 Vgl. Nora Graupner, „‚ Dicke Frauen ‘ - eine Theaterproduktion über Körperbilder “ , in: Lotte Rose und Friedrich Schorb (Hg.), Fat Studies in Deutschland. Hohes Körpergewicht zwischen Diskriminierung und Anerkennung, Weinheim 2017, S. 160 - 169, hier S. 161. 6 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, S. 277 ff. 7 Judith Butler, Psyche der Macht, Frankfurt a. M. 2001, S. 8. 8 Vgl. hierzu auch: Andrea Maria Zimmermann, Kritik der Geschlechterordnung. Selbst-, Liebes- und Familienverhältnisse im Theater der Gegenwart, Bielefeld 2017, S. 116 f. 9 Judith Butler, „ Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend “ , in: Rahel Jaeggi und Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik, Frankfurt a. M. 2009, S. 221 - 246, hier S. 225. 10 Vgl. Matthias Warstat et. al., „ Interventionen “ , in: Dies. (Hg.), Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis, Berlin 2015, S. 28 - 50, hier S. 45. 11 Vgl. Olivia Ebert et al. (Hg.), Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung, Bielefeld 2018. 12 Olivia Ebert et. al., „ Vorwort “ , in: Dies. (Hg.), Theater als Kritik, S. 11 - 17, hier S. 14. 66 Melanie Hinz 13 Ebd., S. 11. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 12, Hervorhebung im Original. 16 Hans-Thies Lehmann, „ Wie politisch ist das Postdramatische Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann “ , in: Theater der Zeit 10 (2001), S. 10 - 14, hier S. 13. 17 Ebd., S. 13. 18 Ebert et. al., „ Vorwort “ , S. 14. 19 Nikolaus Müller-Schöll, „ Die Fiktion der Kritik. Foucault, Butler und das Theater der Ent-Unterwerfung “ , in: Ebert et. al. (Hg.), Theater als Kritik, S. 49 - 56, hier S. 55. 20 Im Rekurs auf Spivak. 21 Rahel Jaeggi und Tilo Wesche, „ Einführung: Was ist Kritik? “ , in: Dies. (Hg.), Was ist Kritik, S. 7 - 20, hier S. 8 f. 22 Stefan Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht, Zürich 2007, S. 342. 23 Michel Foucault, Was ist Kritik? , Berlin 1992. 24 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 225. 25 Zimmermann, Kritik der Geschlechterordnung. 26 Foucault, Was ist Kritik? . 27 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 225. 28 Ebd., S. 225. 29 Zimmermann, Kritik der Geschlechterordnung, S. 40. 30 Vgl. ebd., S. 41. 31 Ebd., S. 42. 32 Foucault, Was ist Kritik. S. 11 f. 33 Ebd., S. 12. 34 Vgl. Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 234. 35 Foucault, Was ist Kritik, S. 15. 36 Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit II, Frankfurt a. M. 1989. 37 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 237. 38 Ebd., S. 246. 39 Ebd., S. 226. 40 Lotte Rose und Friedrich Schorb, „ Fat Studies in Deutschland. Eine Einführung “ , in: Dies. (Hg.), Fat Studies in Deutschland, S. 7 - 15, hier S. 9. 41 FKK. Eine Frauenkörperkomödie entstand in der Regie von Melanie Hinz und Sinje Kuhn in der Spielzeit 2009/ 2010 an der Bürgerbühne Dresden des Staatsschauspieles Dresden. Ausstattung/ Kostüm: Tatjana Kautsch. Video: Philip Steimel. Dramaturgie: Miriam Tscholl. 42 Vgl. https: / / heissesmediumpolylux.wordpress .com [Zugriff am 23. 02. 2019]. An der Produktion waren beteiligt: Von und mit: Tanja Charman, Kristin Dickhoff, Corina Kumm, Marina Musema, Stefanie Rohr, Heike Sager, Gertrud Schlote-Henschke. Künstlerische Leitung: Nora Graupner; Dramaturgie: Melanie Hinz; Musikalische Betreuung: Stephanie Krah; Assistenz & Technik: Maria Gebhardt; Produktionsleitung: Maike Tödter. 43 Vgl. Rose, Schorb, „ Fat Studies in Deutschland “ , S. 12. 44 Vgl. ebd., S. 14. 45 Vgl. Graupner, „‚ Dicke Frauen ‘“ , S. 169. 46 Rose, Schorb, „ Fat Studies in Deutschland “ , S. 7. 47 Ebd. 48 Vgl. ebd. 49 Ebd., S. 7 f. 50 Vgl. ebd., S. 8. 51 Graupner, „‚ Dicke Frauen ’“ , S. 161. 52 Ebd., S. 162. 53 Es ist zugleich nicht verwunderlich, dass hierzu bisher keine soziologischen Statistiken vorliegen, nach welchen ästhetischen Kriterien bezogen auf die Körperlichkeit beispielsweise Schauspielerschüler*innen an Schauspielschulen aufgenommen werden. Allein Schößler und Haunschild können in einer Studie über geschlechtsspezifische Arbeitsbedingungen für Schauspielerinnen am Theater nachweisen, dass Schauspielerinnen bereits ab Mitte 30 Probleme haben, attraktive Rollenangebote zu bekommen. Vgl. Axel Haunschild und Franziska Schößler, „ Genderspezifische Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater - eine empirische Studie “ , in: Gaby Pailer und Franziska Schößler (Hg.), Geschlechter Spiel Räume: Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam/ New York 2011, S. 255 - 269. 54 Esther D. Rothblum, „ Fat Studies “ , in: Rose und Schorb (Hg.), Fat Studies in Deutschland, S. 16 - 30, hier S. 23. 55 Eva Tolasch, „‚ What ’ s wrong with being fat? ’ - Erzählungen zum Dicksein von Menschen 67 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse mit hohen Körpergewicht “ , in: Rose und Schorb (Hg.), Fat Studies in Deutschland, S. 97 - 122, hier S. 121. 56 Ebd., S. 112. 57 Ebd. 58 Graupner, „‚ Dicke Frauen ’“ , S. 168. 59 Vgl. http: / / fraeuleinwunderag.net/ [Zugriff am 23. 02. 2019]. An der Produktion waren beteiligt: von und mit: Frl. Wunder AG. Julia Gerasch, Vanja Kadow, Verena Lobert, Vanessa Lutz, Sandrao Mendig, Jessika-Katharina Möller-Langmaack, Malte Pfeiffer, Carmen Grünwald-Waack, Kostüm & Bühne: Swana Gutke, Produktionsleitung: Zwei Eulen (Maike Tödter), Produktionsassistenz: Karu Grunwald. 60 Anja Gregor, „ Das ist mein Körper. Intergeschlechtliche Körper zwischen Krise und Emanzipation “ , vgl. https: / / www.academia. edu/ 20404233/ Das_ist_mein_Körper_Intergeschlechtliche_Körper_zwischen_Krise_ und_Emanzipation [Zugriff am 26. 02. 2019], S. 9. 61 Ebd. 62 So war es beispielsweise in dem eingangs beschriebenen Projekt FKK. Eine Frauenkörperkomödie. Die beteiligten Frauen hatten vor allem Interesse, Theater zu spielen und die Auseinandersetzung mit der Weiblichkeits- und Gender-Thematik stellte für viele ein Tabu dar. Vgl. zum Probenprozess von FKK und den Herausforderung von Scham, Tabu und heterogenen Genderverständnissen: Melanie Hinz, „ Situative Regie. Am Beispiel von FKK. Eine Frauenkörperkomödie und Cash. Das Geldstück “ , in: Hajo Kurzenberger, Miriam Tscholl (Hg.), Die Bürgerbühne. Das Dresdner Modell, Berlin 2014, S. 99 - 111. 63 Kim Scheunemann, Expert_innen des Geschlechts. Zum Wissen über Inter*- und Trans*-Themen, Bielefeld 2017, S. 18. 64 Vgl. Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013. 65 Vgl. zum Begriff des schweigenden Wissens: Anja Kraus et al. (Hg.), Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen, Weinheim 2017; Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt a. M. 1985; Melanie Hinz, „ Forschendes Theater als Transfer impliziten Wissens. Von der Recherche zur Performance “ , in: Dies. et al (Hg.), Forschendes Theater in Sozialen Feldern. Theater als Soziale Kunst III, München 2018, S. 81 - 102. 66 Benjamin Wihstutz, Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Zürich 2012, S. 16. 67 Der in der Aufführung verwendete Ausspruch ist tradiert im medizinischen Diskurs zu Intersexualität, vgl. Verena Averkamp, Jenseits der zwei Geschlechter. Was nicht sein kann, was nicht sein darf. Vom Umgang mit Intersexualität, Hamburg 2012, S. 44. 68 Norma Köhler, Biografische Theaterarbeit zwischen kollektiver und individueller Darstellung. Ein theaterpädagogisches Modell, München 2009, S. 110. 68 Melanie Hinz