eJournals Forum Modernes Theater 32/1

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0012
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2021
321 Balme

Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie, Bielefeld: transcript 2019, 276 Seiten.

2021
Lutz Ellrich
Rezension Leon Gabriel und Nikolaus Müller- Schöll (Hg.), Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie, Bielefeld: transcript 2019, 276 Seiten. Der gegenwärtigen akademischen Philosophie ist jüngst - mit vergleichendem Blick auf vier große Denker des frühen 20. Jahrhunderts, nämlich Wittgenstein, Benjamin, Cassirer und Heidegger - bescheinigt worden, dass sie nicht mehr den Mut und die Kraft habe, „ einen relevanten Verständnisbeitrag zu ihrem eigenen, sich in seinen Grundfesten wandelnden Zeitalter zu liefern. “ (W. Ellenberger) Wer diese Diagnose teilt, verlangt folgerichtig nach einem anderen, neuen Denken, das in der Lage wäre, die Probleme der Zeit adäquat zu erfassen und Modelle für deren Lösung zu entwerfen. Zu den radikalsten, auf genau diese Situation zugeschnittenen Angeboten, welche heute auf dem Markt der Ideen gehandelt werden, gehört ein KI-inspiriertes „ Denken jenseits des Menschen “ (Dotzler) und die damit verknüpfte „ (Wieder)Entdeckung von nicht-menschlicher agency “ (Hörl). Auch die avanciertesten Theoretiker und Praktiker des Theaters experimentieren in den letzten Jahren mit Konzepten, deren Ziel es ist, den konkreten Menschen zu dienen, indem sie den Menschen qua Subjekt de-zentrieren. Es geht bei solchen Experimenten nicht allein um den „ Abbau “ eines in die Krise geratenen „ Theaters des Menschen “ zugunsten eines denkenden, d. h. über den Menschen hinaus-denkenden Theaters, sondern gleichzeitig auch um die Ablösung des vorherrschenden Philosophierens, das immer noch an den neuzeitlichen Differenzen (Subjekt-Objekt, Geist-Körper etc.) orientiert ist, durch ein szenisches Denken. Der vorliegende Band, der - angereichert mit zusätzlichen Beiträgen - ein Symposion von Theaterwissenschaftler*innen aus Frankfurt und Tel Aviv dokumentiert, macht einerseits deutlich, dass und wie Theater eine eminente Form der philosophischen Reflexion betreiben kann, und greift andererseits die schon vorhandenen philosophischen Versuche auf, Sichtweisen zu erproben, die sich nicht mehr nach den gängigen Mustern des Vorstellens und Repräsentierens richten und deshalb dem Theater der Zukunft geeignete Orientierungsmarken liefern können. Für alle beteiligten ‚ Einrichtungen ‘ - Theater, Theaterwissenschaft und Philosophie - soll folglich eine ‚ Win-Win-Situation ‘ geschaffen werden. Im ersten Teil des Buches steht Derridas „ Einladung zu einem anderen Denken “ (S. 31) im Zentrum. Anhand seiner Überlegungen zu Shakespeares Theater entfaltet der als „ Dekonstruktivist “ allzu simpel verbuchte Philosoph die Frage „ nach einer dem Menschlichen selbst inhärenten Entgrenzung des Menschlichen “ (31), wie der Mit-Herausgeber Müller-Schöll treffend bemerkt. Derrida begreift Shakespeares Werk - im speziellen Fall die Gerichtsszene im Kaufmann von Venedig - „ als Schauplatz “ eines Denkens, das ständig in Bewegung bleibt und jede sprachlich fixierte Bestimmung einem Übersetzungsprozess unterwirft, unkonventionelle und unerwartete Bedeutungsfacetten sichtbar macht, wieder verschwinden lässt und durch weitere kurzfristige Sinneffekte ablöst. Diese Shakespeare-Lektüre leistet einen wichtigen Beitrag zum Entwurf eines Theaters, das sich aus guten Gründen vom abendländischen Denken der Repräsentation zu befreien versucht. Denn in der Repräsentation kehrt (wie es Derrida bereits 1980 in seinem berühmten Text „ Sendung “ formulierte) das Präsente „ als Double, Bildnis, Imago, Kopie [oder] Idee “ wieder und liefert so die abwesende Sache der Verfügungsgewalt des Subjekts aus. Diese Herrschaft des Subjekts, gegen die sich auch Adornos Kritik des ‚ identifizierenden Begriffs ‘ richtet, soll gebrochen, der „ Raum des Vorstellens und des Berechenbaren “ verlassen werden. Derrida hatte freilich nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Gefahren des Projekts, das leicht zur bloßen Mode verkommen kann, betont: „ Jede Dekonstruktion der Repräsentation [bliebe] vergeblich [. . .], wenn sie zu irgendeiner Rehabilitierung der Unmittelbarkeit führen würde. “ Es bedarf demnach äußerster Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 129 - 130. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0012 Sorgfalt, um ein Theater zu schaffen, das raumzeitliche „ Ereignisse “ ermöglicht, ungewohnte Praktiken des Vernehmens, der Resonanz, der Gelassenheit erprobt und die Grenzen der Repräsentation in Richtung auf das Unberechenbare überschreitet. Wie eine solche Sorgfalt geübt, der Rückfall in Figuren der Unmittelbarkeit vermieden und szenisches Gestalten als Form eines anderen Denkens zur Erscheinung gebracht werden kann, zeigen die weiteren Texte des Bandes. Im zweiten Teil des Buches werden Brechts Vorschläge für ein Theater im wissenschaftlichen Zeitalter (primär anhand des Messingkauf-Konvoluts) und Benjamins Kommentare zu diesen als „ Versuche “ deklarierten Projekten diskutiert. Leitend ist hier Benjamins Konzept einer (Adornos Negative Dialektik vorwegnehmenden) „ Dialektik im Stillstand “ , welche die Widersprüche zwischen Phänomenen oder Begriffen zu entfalten und auszuhalten vermag, ohne der Dynamik des Geschehens eine bestimmte Richtung (z. B. Versöhnung oder Einheitsbildung) zu geben. Im dritten Teil „ Szenische Konstellationen “ wird u. a. der zunächst von Benjamin eingeführte und sodann von Adorno weiterentwickelte Begriff der „ Konstellation “ expliziert (U. Haß), mit und gegen Heidegger die besondere Seinsweise der „ Szene “ erschlossen (M. Weise) und in einem äußerst erhellenden Text von J. Etzold über die Theater-Auffassung in Hölderlins Empedokles- Fragment die Verwandlung der Bühne in eine „ Gegend “ , d. h. einen „ choratischen Raum des Möglichen, des Künftigen und des Abschieds “ (154), vorgeführt. Ebenso wie Etzold greift S. Weber in seinem das Buch beschließenden Beitrag auf Platons schwierigen Chõra-Begriff zurück, um die Doppelfunktion der anvisierten Bühne des neuen Denkens zu charakterisieren: Ähnlich jener „ Chõra “ , von der Platon im Timaios spricht, soll die „ choratische Bühne “ nicht nur „ erzeugen “ und „ organisieren “ , sondern „ gleichzeitig durch[. . .]schütteln, [. . .] und wiederum von den Elementen, die [sie] ‚ empfängt ‘ , aufgeschüttelt [. . .] werden. “ (270) Weber rekurriert hier offensichtlich auf die Verwendung des Chõra-Begriffs bei Heidegger, Kristeva und Derrida. Heidegger verstand unter Chõra „ das sich Absondernde von jedem Besonderen, das Ausweichende, das auf solche Weise gerade anderes zuläßt und ihm ‚ Platz macht ‘“ , Kristeva „ eine ausdruckslose Totalität, die durch die Triebe und deren Stasen in einer ebenso flüssigen wie geordneten Beweglichkeit geschaffen wird “ , und Derrida, der sich sehr eng an Platons Text hält, etwas, das weder „ sinnlich noch intelligibel ist “ , das gleichsam einem dritten Geschlecht angehört und ein „ Gefühl des Schwindels “ erregt. Weil sich dieses merkwürdige ‚ Zwischen-Phänomen ‘ , das die genannten Autor- Innen mit dem griechischen Begriff Chõra umkreisen, vielleicht angemessener zeigen als sagen lässt, erhält das Theater mit all seinen Möglichkeiten, unsere vorurteilsreichen Auffassungen von Raum und Zeit, Körper und Ding, Pflanze und Tier, Bewegung und Ruhe, Ton und Stille, Natur und Technik etc. zu verstören und in ungeahnte Richtungen zu lenken, eine geradezu philosophische Aufgabe: Es soll mit seinen eigentümlichen ‚ Materialien ‘ das Denken aus den gespurten Bahnen herauslocken. Im vierten Teil des Bandes wird der Beweis angetreten, dass die Rede von einem ‚ anderen Theater ‘ , das der Philosophie als gleichwertiger Dialogpartner gegenübertritt, sich auf praktische Experimente, die in diese Richtung weisen, berufen kann. Die Analysen einer installativen Arbeit von William Kentridge (J. Schade), einer Tanzperformance von Rémy Héritier und Joris Camelin (L. Otto) und schließlich einer Arbeit von Walid Raad (L. Gabriel) machen u. a. deutlich, wie „ die Widerständigkeit der Zeit “ sich ins Denken einnistet (S. 207 ff.), wie mit dem auf der Bühne agierenden Körper gedacht wird (S. 224 ff.) und wie „ das Denken angesichts eines Undenkbaren “ (S. 244) möglich ist. Wenn man als LeserIn den Parcours dieser drei gelungenen ‚ Fallstudien ‘ absolviert hat, empfiehlt es sich, noch einmal im Buch zurückzublättern und die zu Beginn des zweiten Teils (S. 74 ff.) platzierte Interpretation einer Performance von Xavier Le Roy (N. Müller-Schöll) der erneuten Lektüre zu unterziehen. Man wird dann eine Formulierung für das finden, was in allen Beispielen für das andere Theater vollzogen wurde: nämlich die szenische Reflexion eines „ der körperlichen Erfahrung inhärente[n] Denken[s] “ (S. 77). Köln L UTZ E LLRICH 130 Rezension