eJournals Forum Modernes Theater 32/2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0015
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Angesichts der immer größeren Bedeutung digitaler Verfahren für die kulturwissenschaftliche Forschung diskutiert der Aufsatz die Potenziale für die Theaterhistoriographie. Dabei geht es nicht allein um die innovativen, digital gestützten Methoden, sondern vielmehr um die spezifische Logik theaterhistorischer Forschung. Ausgehend von einer kritischen Diskussion des fachinternen Diskurses über die Entwicklung neuer Forschungsfragen und -paradigmen, formuliert der Aufsatz schließlich die Perspektive einer umfassenden Medienökologie, in der auch Forderungen nach einer substanziellen Dekolonialisierung des historischen Diskurses aufgezeigt werden können. Medienökologie ist gekennzeichnet als: polyglott, polyzentrisch, polyphon und polymorph sowie in einem umfassenden Sinne als durchlässig und vernetzt. Ein Beispiel einer solchen Perspektive bildet schließlich der Modellversuch Kölner Chrono-Atlas, der Ereignis- und Personendaten zusammenträgt und in einem übergreifenden Modell zu vernetzen erlaubt. Obgleich das Projekt noch am Anfang steht, wird schon deutlich, dass das hier gewählte Verfahren abgeschattete Aspekte der Theatergeschichte, wie etwa das Unternehmertum weiblicher Prinzipial*innen nicht mehr als anekdotische Einzelfälle, sondern als Konstante des Feldes, aufzeigt.
2021
322 Balme

„Turtles all the way down“. Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie

2021
Peter W. Marx
„ Turtles all the way down “ . Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie Peter W. Marx (Köln) Angesichts der immer größeren Bedeutung digitaler Verfahren für die kulturwissenschaftliche Forschung diskutiert der Aufsatz die Potenziale für die Theaterhistoriographie. Dabei geht es nicht allein um die innovativen, digital gestützten Methoden, sondern vielmehr um die spezifische Logik theaterhistorischer Forschung. Ausgehend von einer kritischen Diskussion des fachinternen Diskurses über die Entwicklung neuer Forschungsfragen und -paradigmen, formuliert der Aufsatz schließlich die Perspektive einer umfassenden Medienökologie, in der auch Forderungen nach einer substanziellen Dekolonialisierung des historischen Diskurses aufgezeigt werden können. Medienökologie ist gekennzeichnet als: polyglott, polyzentrisch, polyphon und polymorph sowie in einem umfassenden Sinne als durchlässig und vernetzt. Ein Beispiel einer solchen Perspektive bildet schließlich der Modellversuch Kölner Chrono-Atlas, der Ereignis- und Personendaten zusammenträgt und in einem übergreifenden Modell zu vernetzen erlaubt. Obgleich das Projekt noch am Anfang steht, wird schon deutlich, dass das hier gewählte Verfahren abgeschattete Aspekte der Theatergeschichte, wie etwa das Unternehmertum weiblicher Prinzipial*innen nicht mehr als anekdotische Einzelfälle, sondern als Konstante des Feldes, aufzeigt. There is an Indian story [. . .] about an Englishman who, having been told that the world rested on a platform which rested on the back of an elephant which rested in turn on the back of a turtle, asked (perhaps he was an ethnographer; it is the way they behave), what did the turtle rest on? Another turtle. And that turtle? ‚ Ah, Sahib, after that it is turtles all the way down. ‘ 1 Wissenschaften entwickeln sich - entgegen ihrer eigenen Legitimationsrhetorik - keineswegs entlang von Sachfragen, ‚ Problemen ‘ oder ‚ Lücken ‘ , sondern oftmals mit Bezug auf und in Auseinandersetzung mit Faktoren, die sich teilweise aus einer ihnen eingeschriebenen Grundkonstellation ergeben, oder in dem sie dem Diskurs des historischen Augenblicks folgen. Die Frage nach adäquaten Methoden und Evidenzen ist immer auch ein Echo auf solche Verschiebungsprozesse. Der Theaterwissenschaft ist ein solcher Prozess gewissermaßen schon seit ihrer akademisch-institutionellen ‚ Geburt ‘ in die DNA eingeschrieben worden: Die vielbeschworene Flüchtigkeit des Gegenstands - die zunächst als ein Malus gegenüber vergleichbaren Disziplinen erschien - wurde zum Leitstern ihrer Entwicklung, die in Wellen unterschiedliche Aggregatszustände anstrebte: Sei es die ‚ Verfestigung ‘ zur Textähnlichkeit, sei es das nahezu völlige Verschwinden im Zeichen dekonstruktivistischer Theoriebildung. Man mag Hermann Reichs Warnung, die er seinem ebenso enzyklopädisch anmutenden, wie daran scheiterndem Werk Der Mimus (1903) voranstellte, es drohe ein Streit „ um leere Schatten “ 2 , als eine Urszene dieses methodischen Dilemmas begreifen. In Abgrenzung zunächst gegen die Literarisierung (und Verbürgerlichung) des Theaters, später gegen eine einseitige Ausrichtung auf be- Forum Modernes Theater, 32/ 2 (2021), 141 - 158. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0015 stimmte Ästhetiken, entwickelte die Theatergeschichtsschreibung ein Entwicklungsprofil, das sich in der Spannung von Flüchtigkeit und Beharrlichkeit entfaltete. Einer solchen Binnenlogik, bei der wie in der Geertz ’ schen Anekdote Schildkröte auf Schildkröte in unabschließbarer Kette folgt, stehen im gegenwärtigen Diskurs der Kulturwissenschaften zwei sehr deutliche Anrufungen gegenüber: Auf der einen Seite stehen die Konsequenzen der Digitalisierung, denen man sich konzeptionell widersetzen zu können glauben mag, deren Ubiquität und kulturelle Legitimität jedoch nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie eine substanzielle Steigerung erfahren haben. Auf der anderen Seite hat der Ruf nach einer Dekolonisierung neue Bedeutung gewonnen und ist zu einer Forderung nach einer kritischen Revision der etablierten Kategorien und Begriffsapparate geworden. Mit Blick auf konkrete Forschungsprojekte und -fragen will dieser Aufsatz mögliche Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten diskutieren. Chancen und Beschränkung: Glanz und Elend digitaler Kulturwissenschaften Digital Humanities ist das Zauberwort der Stunde und die Verheißungen dieses neuen methodischen Apparats lassen nicht nur in zahlreichen Förderinstitutionen die Herzen höher schlagen, sondern haben auch innerhalb der Kulturwissenschaften zu einem neuen Selbstbewusstsein geführt. Projekte, die früher Über-Lebenswerke waren, die mehrere Generationen von Wissenschaftler*innen nährten, aber auch verzehrten, scheinen plötzlich in die Sphäre des Machbaren gerückt. Dies betrifft sowohl Editionsprojekte als auch die Durchsuchung und Bearbeitung großer Textcorpora, die früher hunderte von Karteikarten mit Dutzenden von Schlagworten füllten und die heute auf Knopfdruck durchsucht, geordnet und bearbeitet werden können. Auch gänzlich neue Forschungsmethoden treten ins Rampenlicht und versprechen traditionell-hermeneutischer Schwergängigkeit eine bislang ungekannte Leichtfüßigkeit beizubringen: Schlagworte wie „ distant reading “ oder „ Netzwerkanalysen “ tragen den Klang jener Futurismen, mit denen die Kulturwissenschaften sich selbst in die Zukunft zu katapultieren versprachen. Der Gestus weltfremder Enthaltsamkeit hilft allerdings auch nicht, denn es ist ein schaler Trost, der sich alleweil einstellenden Ernüchterung mit der Selbst-Zufriedenheit begegnen zu wollen, dass auch die hochstrebenden digitalen Bäume nicht bis in den Himmel reichen, dass oftmals im digitalen Gewand ziemlich kleine Erkenntnisse daherkommen und dass die rein quantitative Steigerung von Datenmengen nicht automatisch in einen Zuwachs an Erkenntnis umschlägt. Bisweilen im Gegenteil. So wirken manche digitalen Projekte ziemlich fußgängerisch und traditionell. Aber bedeutet dies, dass man die Anrufung des Digitalen gleich ganz in Bausch und Bogen verwerfen kann? Aus der Perspektive von bestands- oder sammlungshaltenden Institutionen stellt sich die Frage in noch ganz anderer Weise: Hier lässt sich zum einen nach der technischen Archivierung von digitalen Daten und Digitalisaten fragen: Wer weiß schon wirklich, wie Datenträger und Dateien altern? Zum anderen, wie mit der neuen Qualität der Objekte umzugehen ist. Damit ist keineswegs nur die materielle Beschaffenheit gemeint, sondern auch die sich verändernde Bedeutung, die ihnen zukommt. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln (TWS) hält in ihrem Bestand ca. 300.000 analoge Photographien, deren älteste bis in die Mitte des 19. Jahr- 142 Peter W. Marx hunderts zurückreichen, also in die Frühphase professioneller, kommerzieller Photographie. Schon in dieser Frühphase des Mediums etabliert sich jene Wahlverwandtschaft mit dem Theater, dank derer man eine umfassende Photographiegeschichte im Prisma der Theaterphotographie schreiben könnte. Die Verschiebung von der analogen zur digitalen Photographie hat nicht nur die Praxis der Bilderzeugung, sondern auch die Praxis der Bildzirkulation verändert: Wurde früher durch die Pressestellen der Theater in der Regel eine kleine Auswahl von Bildern zur Verfügung gestellt, bieten heute digitale Datenträger, online zugängliche Bilddatenbanken oder Download-Plattformen eine Fülle von Bildern. Als die Theaterwissenschaftliche Sammlung 2013 den Nachlass des Kölner Photographen Klaus Weimer als Dauerleihgabe übernahm, befanden sich auf den Datenträgern in seinem Nachlass rund 2 Millionen Photos - und dies ist kein Einzelfall. Die Flut digitaler Bilder, Ton- und Bildaufnahmen, die Flut digitaler Daten wird die Archive vor Herausforderungen stellen, denen man nicht mit den Mitteln der klassischen Kategorisierung und Katalogisierung begegnen können wird. Einschneidender sind aber vermutlich die Veränderungen, die sich aus der inneren Logik digitaler Verfahren heraus entfalten wird: So irritiert die immer wieder zu vernehmende Diskussion um die Entwicklung von ‚ Ontologien ‘ nicht allein wegen des begriffsgeschichtlich ungenauen Sprachgebrauchs, sondern auch und vor allem wegen der dahinterliegenden Vorstellung einer enzyklopädischen Erfassung und Festschreibung. Diese Entwicklung ist für die Kulturwissenschaften nicht ohne wissenschaftshistorische Ironie, denn schließlich hat sich der lange Zeit dominante Diskurs der Dekonstruktion genau gegen solche Fixierungen verwahrt. Ein poststrukturalistisch lässiges Am-Rande-Stehen wird aber nicht dauerhaft möglich sein, denn die Langzeitwirkung solcher kategorialen Auswirkungen wird auch jene Bereiche erfassen, die bislang noch in vermeintlich prädigitaler Unschuld zu ruhen scheinen. Es geht um nicht mehr und weniger als ein Wissensregime, dessen umfassendem Anspruch sich nicht zu entziehen sein wird. So stellt sich umgekehrt die Frage, wo und wie sich aus der Spannung unterschiedlicher Wissenssysteme produktive Einsichten entfalten lassen - dabei ist die Widerständigkeit archivarischer Ordnung nicht als zu überkommendes Hindernis zu betrachten, sondern als Teil eines dialogischen Wechselspiels. Das Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin und die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln sowie das Cologne Center for eHumanities haben gemeinsam im Rahmen eines BMBF-geförderten Projekts den Versuch eines solchen produktiven Wechselverhältnisses zu entspinnen versucht: Unter dem Titel „ Re-Collecting Theatre History “ haben Projektgruppen an beiden Standorten ein komplexes Datenbanksystem entwickelt, das die Widerständigkeit archivarischer Objekte auf der einen Seite und historiographische Ordnungskategorien der Theaterwissenschaft auf der anderen Seite in einen fruchtbaren Dialog zu bringen verspricht. 3 Ausgangspunkt des Projekts war dabei der Umstand, dass die Ordnung archivarischer Bestände oftmals ‚ quer ‘ zu historischen Ordnungskategorien liegt und dass dieser Widerspruch oftmals im Prozess historischer Analyse aufgelöst werden muss: Spiegeln Archivbestände unter dem Rubrum des Nachlasses biographische Zusammenhänge, so besteht die historische Analyse oftmals darin, die Objekte in neue (Ordnungs-)Kontexte zu überführen und der Kontingenz des individuellen Lebens eine höhere Ordnung im Sinne eines historischen Narrativs gegenüberzustellen. Was aber pas- 143 „ Turtles all the way down “ . Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie siert, wenn man die ‚ Zufälligkeit ‘ der individuellen Lebensspanne ernst nimmt, indem man sie - durchaus in Spannung zu anderen Ordnungskategorien - als Orientierungsrahmen historischer Forschung nutzt? In der dreijährigen Projektlaufzeit wurden insgesamt 4.583 Akteur*innen erfasst und 2.816 Objekte (Photographien, Briefe, Dokumente) digitalisiert, deren Zusammenhang sich in 635 Inszenierungen niederschlug. Drei Datenbanken verwinden sich ineinander, wobei die Inszenierungen als Knotenpunkte fungieren, von denen ausgehend sich weitere Akteur*innen und Objekte erschließen lassen. So leistet das Projekt zunächst einmal auf einer sehr pragmatischen Ebene eine Zusammenführung von Objekten und Forschungsdaten im Digitalen, die ansonsten in verschiedenen Sammlungen lagern und deren Bezogenheit bzw. Verfügbarkeit zu erforschen üblicherweise mit großer Mühe verbunden ist. Diese Bezogenheit wird vor allem dann aussagekräftig, wenn es etwa um die Mitwirkung von Akteur*innen geht, die ansonsten nicht unbedingt in der ersten Reihe der Aufmerksamkeit stehen - Darsteller*innen etwa, die zu Beginn ihrer Laufbahn in kleineren Partien auftraten. Hier eröffnet die Datenbank die Möglichkeit, Lebens- und Berufswege nachzuvollziehen, nicht nur im Sinne biographischer Erzählungen, sondern über Wechselwirkungen und Beziehungen. Dass die Inszenierung hier als Ordnungseinheit so prominent figuriert, ist zum einen dem historischen Rahmen geschuldet, denn die Daten entstammen alle einem Zeitraum zwischen ca. 1890 und 1960, d. h. einer theaterhistorischen Epoche, in der sowohl aus produktionspraktischer Perspektive als auch in konzeptioneller Hinsicht die Inszenierung als übergeordnete Einheit an Bedeutung gewann. Zum anderen aber ist es der kollektiv-arbeitsteilige Produktionscharakter dieser Theaterepoche, der diese Entscheidung aus heuristischen Gründen begünstigte. Inszenierungen sind per definitionem vom Zusammenspiel einer Fülle von Akteur*innen auf unterschiedlichen Ebenen bestimmt und bilden damit Knotenpunkte unterschiedlichster Netzwerke. Dass sich dies im Verlauf des Projekts in unterschiedliche Richtungen akzentuieren ließ, zeigt etwa der Fall Carl Hagemann (1871 - 1945), der als Intendant in Mannheim (1906 - 1910; 1915 - 1920), Hamburg (1910 - 1913) und Wiesbaden (1920 - 1927) wirkte. Seine Schriften, wie etwa Spiele der Völker (1919) und Die Kunst der Bühne (1921) waren seinerzeit einflussreiche und viel gelesene Beiträge zum Diskurs über das Theater. Auch wenn Hagemann heute nur noch wenigen bekannt ist, lässt ein Blick auf das mit ihm verbundene Netzwerk schnell erkennen, dass seine Bedeutung nicht nur durch seine eigene Tätigkeit zu messen ist, sondern auch durch die mittelbaren Wirkungen, etwa auf den Frankfurter Expressionismus, dessen Hauptvertreter Richard Weichert (1880 - 1961; als Regisseur) und Ludwig Sievert (1887 - 1966; als Bühnenbildner) in seiner zweiten Mannheimer Intendanz eine wichtige Rolle spielten. Auch wenn keine direkte Spur von Mannheim nach Frankfurt führt und die Bühnenästhetiken sich an beiden Orten deutlich unterscheiden, gibt es beispielsweise signifikante Ähnlichkeiten im Repertoire. Die Aussagekraft dieser Datenbanken wird sich zukünftig mit der Ergänzung um weitere Bestände systematisch steigern lassen, denn die Möglichkeit jenseits bekannter Kategorien zu suchen, wächst unmittelbar mit der Menge der verfügbaren Daten. Dabei kann es keineswegs um enzyklopädische Vollständigkeit gehen, wohl aber um eine Verdichtung des historischen Bezugsrahmens. Vor allem bietet das dreigeteilte Datenbankmodell die Chance, die Entwicklung von Theater, vor allem im 144 Peter W. Marx Brennglas seiner Ästhetik, auch über historische Brüche und Paradigmen hinweg zu untersuchen. Eine der Hoffnungen, die mit der Hinwendung an die Zufälligkeit biographischer Daten verbunden war, war die Vorstellung, dass das individuelle Leben auch einen Blick über historische und kunsthistorische Zäsuren hinaus ermöglichen würde. Dort, wo politische Geschichte Zäsuren beschreibt, lassen sich anhand der Theaterpraxis Spuren der Transformation, aber auch der Kontinuität und des Anachronismus beschreiben. Dieses Panorama kollektiver Vorstellungswelten, die natürlich auch gesellschaftliche wie kulturelle Handlungsräume prägen, wird umso dichter, je mehr Facetten, und eben nicht nur der ‚ Höhenkamm ‘ , berücksichtigt werden. Aus methodischer und historiographischer Sicht besteht die zentrale Leistung des Projekts in der Entwicklung eines Datenmodells, das es erlaubt, Inszenierungen in komplexer Weise zu erfassen und als Datengefüge abzubilden. Diese Errungenschaft beinhaltet jedoch gleichzeitig auch eine der möglichen Gefahren- oder Kritikpunkte: Die vermeintliche ‚ Selbstevidenz ‘ der Inszenierung als idealer Untersuchungseinheit lässt leicht über das historische Gewordensein (und damit die innere Begrenztheit) des Begriffs hinwegsehen. Historiographisch wird somit nicht allein die Fixierung auf das Ästhetische als Zentrum der Theatergeschichte festgeschrieben, sondern auch ein bestimmter Typus der Theaterarbeit zentral gesetzt. So wichtig und produktiv die Analogie von Text/ Inszenierung und Autor*in/ Regisseur*in für die Begriffsbildung für die Theaterwissenschaft war, sie bleibt begrenzt auf ein westliches Theatermodell, das sich im 19. Jahrhundert herausbildet. So stellt sich die Frage nach der inneren Dynamik von Forschungsentwicklung, die Suche nach der nächsten ‚ Lücke ‘ als Gravitationszentrum eines neuen Forschungsparadigmas, mit Blick auf die Frühe Neuzeit etwas anders dar. Es ist sicherlich kein Zufall, dass in den zurückliegenden 40 Jahren vor allem die Auseinandersetzung mit dieser Übergangs- und Formierungsphase westlicher Kultur aus verschiedenen Perspektiven und mit Akzent auf unterschiedliche Regionen und Nationaltraditionen immer wieder neu ausgerichtet wurde. Wichtige Paradigmen der Kulturwissenschaft haben sich in diesem Zeitraum gebildet: So wie die Forschung zur commedia dell ’ arte Legion ist, so sehr hat die Auseinandersetzung mit dem Elisabethanischen Theater seit dem New Historicism und dem Cultural Materialism 4 zu einer Neufassung des Theaterbegriffs geführt. Für den deutschsprachigen Raum waren besonders die Diskussionen um das ‚ Leipziger Theatralitätsmodell ‘ produktiv: Rudolf Münz hat mit seinen Arbeiten - vom ‚ anderen ‘ Theater zum ‚ Harlekinsprinzip ‘ - Überlegungen zu einer historischen Anthropologie des Theaters vorgelegt, 5 die u. a. in Gerda Baumbachs umfassender Historischen Anthropologie des Akteurs (2012/ 2018) einen eindrücklichen Höhepunkt findet. Baumbach entfaltet in den bislang zwei erschienenen Bänden ein historisches Panorama, das vor allem die Verdrängungs- und Disziplinierungsaspekte des bürgerlichen Theaterdiskurses als Leitlinien verfolgt. Fluchtpunkt dieses Ansatzes ist der Körper der Darsteller*innen, dessen Einhegung Baumbach u. a. mit Bezug auf Norbert Elias als Prozess der Körperdisziplinierung begreift. So beschreibt sie die „ Auseinandersetzung um Schauspieler [. . .] als ein europäisches Langzeitthema “ 6 , das paradigmatisch für anthropologische Grundfragen steht. Die dekonstruierende Lektüre konventioneller grands récits ist eindrücklich und einsichtsvoll. Allerdings konstruiert sie, gegen das eigene Bekunden, einen abstrakten 145 „ Turtles all the way down “ . Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie Raum von Begriffen und Praktiken, dessen historische Verwurzelung und Kontingenz nicht immer deutlich wird. Auch lebt das Argument von Abgrenzungen, so deutet Baumbach die Definition der theatrica bei Hugo von St. Victor (ca. 1127) als Ausgangspunkt einer Engführung des Theater-Begriffs, dessen Wirkung sie bis in unsere Gegenwart sieht: „ Theater sei an erster Stelle ein Ort, ein Gebäude und an zweiter Stelle die Aufführung von Texten. “ 7 In dieser Verschiebung manifestiert sich, so Baumbach, die programmatische Verdrängung der Darsteller*in aus dem begrifflichen Zentrum. Diese Gegenüberstellung von Spiel vs. Raum - eine Opposition, die sich noch an anderer Stelle findet, - bringt aber eigene Probleme: So verweist der Begriff theatrum bis ins 18. Jahrhundert keineswegs auf ein Gebäude, sondern auf einen Standpunkt zum Schauen, wie man eindrücklich am Frontispiz des Straßburger Drucks der Terenz-Komödien sehen kann. 8 Da Baumbach aber ihren historiographischen Blickwinkel durch die Dekonstruktion der verengten Bestimmung des/ der bürgerlichen „ Menschendarsteller*s/ in “ entwickelt, 9 öffnet sie die enge Definition von Schauspieler*innen, verwirft gleichzeitig aber weitere Elemente der szenischen Darstellung wie Raum und Szenerie. Das von ihr entworfene „ Theater des souveränen Schauspielers “ 10 , der die Grenzziehung von ‚ Realität ‘ und ‚ Fiktion ‘ nicht anerkennt, 11 ist allein akteur*innenzentriert. Diese Fokussierung auf den/ die ‚ autonome*n Schauspieler*in ‘ führt aber zu einer weiteren Ausklammerung all jener szenischen Formen, die keinen Menschenkörper oder gar keinen Körper in ihrem Zentrum haben. Dies betrifft sowohl alle Formen des Puppen- und Objekttheaters als auch mediale, para-theatrale Formen wie Perspektivtheater oder Guckkästen. So entsteht - quasi gegen die Intention - eine ‚ Substanzialisierung ‘ , so dass eine vermeintlich feste Grenze zwischen Theater- und Mediengeschichte entsteht. Die Forderung nach einer Dekonstruktion konventioneller historiographischer Modelle bzw. die Entwicklung neuer Perspektiven wurde auch von anderer Seite erhoben und verfolgt: Die internationale Forschungsgruppe „ Theatre without Borders “ bemüht sich seit mehr als einem Jahrzehnt um historische Perspektiven, die nationale Rahmungen hinter sich lassen. Diese Forschung hat einen ganzen Kosmos des Ausgeschlossenen zu Tage gefördert und damit jegliche teleologisch-national orientierte Geschichtsschreibung durch umfangreiche Studien in Frage gestellt. Gleichzeitig lässt sich in der Arbeit dieses losen Forschungsverbands eine bemerkenswerte Verschiebung beobachten: Während in der ersten Phase vor allem Fragen der Zirkulation, Übersetzung und des kulturellen Austauschs im Zentrum standen, 12 ist die neuere Forschung stärker an gegenwärtigen Diskursen zum Thema ‚ Dekolonialisierung ‘ orientiert bzw. hat diese mitkonstituiert. Dies betrifft nicht nur Fragen von Rassismus und außereuropäischen Beziehungen, 13 sondern auch die Bedeutung der Arbeit von Frauen bzw. der Gender-Politik 14 sowie die Mitwirkung von minoritären Gruppen an öffentlichen Festen und theatralen Ereignissen. 15 Dass vor dem Hintergrund der politischen Situation in den USA im Frühjahr 2020 unter dem Schlagwort #RaceB4Race auch die Kulturwissenschaften und insbesondere die (Theater-)Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit einen umfassenden Aufbruch erlebte, darf nicht als bloße Reverenzgeste gegenüber dem Zeitgeist abgetan werden. Die Geschichtswissenschaft weist eine ähnliche Entwicklung auf: Olivette Otele hat ihrer Studie African Europeans (2020) einen Untertitel mit Signalcharakter gegeben: An Untold Story verweist darauf, dass 146 Peter W. Marx die Geschichten von Afro-Europäer*innen schlichtweg nicht erzählt wurden, sie also ‚ unhörbar ‘ sind, weil sie verbzw. totgeschwiegen werden. Das Schweigen aber ist strategischer Natur: Es erzeugt Unsichtbarkeit, um der Fiktion von Homogenität und der Geschlossenheit des ‚ Westens ‘ historischen Vorschub zu leisten. Um dies zu ändern ist es nicht hinreichend, anekdotische oder episodische Ergänzungen zu suchen, sondern ein neuer Blick ist gefordert: Oftmals verbergen sich die Spuren dieser Geschichte nur in kleinen Hinweisen und Bruchstücken. Imtiaz Habib hat in seiner bahnbrechenden Studie Black Lives in the English Archives, 1500 - 1677 16 auf die Mühen eines solchen Unterfangens hingewiesen. Denn die „ Imprints of the Invisible “ , so der Untertitel seiner Studie, bedürfen nicht nur einer sorgfältigen Recherche in den Archiven, sondern auch einer neuen theoretischen Ausrichtung, weil die poststrukturalistische Fokussierung auf die Konstruiertheit von Identitätskategorien durchaus Anteil an der fortgesetzten Unsichtbarkeit minoritärer Gruppen hat: Indeed, the triumph of theory in a poststructuralist age might seem to be the prohibition of the real. The threatening specter of essentialism translates factuality into the unknowable, renders ambivalent if not disallows the value of the archive. [. . .] The resultant scenario can be described thus: what is little looked for, and what is therefore non-existent, is also what is/ should be unkown because it cannot be known. 17 Zu Recht ist dies für Habib keineswegs die Steilvorlage für die empörte Abwendung von der Theorie und die Flucht in die Arme eines kleinteiligen Positivismus, sondern die Aufforderung Archiv- und Theoriearbeit in einen neuen Dialog zu bringen. Zu welchen Perspektiven eine solche Verschränkung führen kann, lässt sich teilweise in den Arbeiten von Boaventura de Sousa Santos erkennen, dessen Beiträge zu den Subaltern Studies in den deutsch- und englischsprachigen Kulturwissenschaften bislang leider nur begrenzt rezipiert wurden. Santos spricht im Zusammenhang mit dem westlichen Kolonialismus auch von einem „ Epistemizid “ , der nicht nur ein Seiteneffekt des Kolonialismus und der von ihm etablierten hegemonialen Strukturen ist, sondern ein integraler Bestandteil. 18 Zentral für Santos ’ Beschreibung epistemischer Systeme des Westens ist die „ abyssal line “ , die Trennlinie zwischen dem ‚ richtigen ‘ und dem ‚ legitimen ‘ Wissen und jenen Formen des Wissens, die ausgegrenzt und marginalisiert werden. Der Gegenentwurf für diese hegemonialen Formen ist für Santos eine „ ecology of knowledges “ , in der die Fülle unterschiedlicher Wissensmodelle sicht- und beschreibbar werden und in ihrer Eigenständigkeit auch als legitim betrachtet werden. It is an ecology because it is based on the recognition of the plurality of heterogeneous knowledges (one of them being modern science) and on the sustained and dynamic interconnections between them without compromising their autonomy. The ecology of knowledges is founded on the idea that knowledge is interknowledge. 19 Zwei Aspekte dieser Überlegungen scheinen mir besonders wegweisend für die Theaterhistoriographie: Santos ’ Konzept des „ postabyssal thinking “ 20 eröffnet auch die Perspektive einer westlichen Introspektion und Überlegungen zur Suche nach Denktraditionen, die innerhalb des westlichen Denkens ausgeschlossen und marginalisiert wurden. Santos selbst spricht hier von der Tradition eines „ non-occidentalist West “ 21 . In The End of the Cognitive Empire (2018) fügt er dieser Überlegung noch eine zweite Ebene hinzu, wenn er davon spricht, dass die „ abyssal line “ auch Randzonen kreiert, von denen er eine Form als „ liberated zones “ beschreibt. Diese seien „ consensual commu- 147 „ Turtles all the way down “ . Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie nities, based on participation of all their members. They are of a performative, prefigurative, and educational nature. “ 22 Mit diesem Begriff der „ liberated zone “ lässt sich mit Blick auf die theatralen Verhältnisse der Frühen Neuzeit genau jenes Spannungsverhältnis zwischen dem Status rechtlicher Marginalisierung als ‚ Fahrende ‘ oder ‚ Unehrliche ‘ auf der einen Seite und der ihnen eigenen Formen von Wissen und Praktiken deuten, die auch eine gewisse Autonomie bedeutete. Ein Versuch: Der Kölner Chrono-Atlas Nimmt man die Forderung nach einer grundlegenden Dekolonisierung der Kulturwissenschaften ernst und wischt diese nicht als eine modische Forderung beiseite oder begreift die Anrufung lediglich als eine episodische Erweiterung des Blicks, so stellt sich die Frage nach jenen methodischen Konsequenzen mit denen eine Annäherung an die Abschattungen der „ abyssal line “ gezeigt werden können. Dabei ist Habibs Forderung nach einer intrinsischen Bezugsetzung zwischen der Arbeit im/ am Archiv und der Theoriebildung eine hilfreiche und instruktive Wegweisung. Ein Modellversuch an der Theaterwissenschaftlichen Sammlung zielt auf ebendiese Fragestellung: Wie lassen sich - auch mithilfe digitaler Verfahren - Phänomene und Strukturen beschreiben, die ansonsten schon durch das Raster theater- oder medienwissenschaftlicher Begriffsbildung abgeschattet wurden. Einen äußerlichen Anstoß bot hier die Übernahme der Sammlung Werner Nekes, die gemeinsam mit dem Deutschen Filminstitut Frankfurt/ Main (DFF) und der Filmuniversität Potsdam übernommen wurde. Diese Sammlung, die mit 25.000 Objekten eine der weltweit größten Sammlungen optischer Apparate, Bilddokumente und Schriften zu Geschichte des Sehens seit der Frühen Neuzeit darstellt, enthält die materiellen Spuren einer vielgestaltigen und reichen Praxis, die bislang aber vornehmlich im abstrakten Raum technologischer oder ästhetischer Entwicklung beschrieben wird. Der ‚ Sitz im Leben ‘ , die Verbreitung etwa durch die fahrenden Savoyard*innen, die Präsentation auf den Jahrmärkten und Messen, die vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen bildenden Künstler*innen, Druckereien und Verlagen liegen bislang weitgehend im Dunkeln. Abb. 1: Nicolo Cantabella: Savoyardischer Wurmschneider. Kupferstich Augsburg 1720. © Sammlung Nekes/ Miteigentümer UzK/ DFF/ FMP. Sucht man nach Zeugnissen und Spuren von Präsentations- und Aufführungspraxis, stößt man rasch auf eine kaum zu überblickende Fülle theaterhistorischer Arbeiten, die aufgrund ihrer strikt positivistischen 148 Peter W. Marx Perspektive heute kaum noch zur Kenntnis genommen werden bzw. tatsächlich in einem sehr fundamentalen Sinne als ‚ unlesbar ‘ gelten müssen. Vor der Formierung eines akademischen Diskurses zur Theatergeschichte und vor auch nur den zaghaftesten Ansätzen einer universitären Institutionalisierung entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine ausgedehnte Forschungsliteratur zu einzelnen Orten oder Regionen. Eingebunden in den Historismus des Hohenzollern ‘ schen Kaiserreichs wurde Theatergeschichte als Teil einer grundlegenden historischen Selbstverortung betrieben. Akribisch Aktenbestände auswertend und diese wiederum in Listen überführend, die kaum eine sinnvoll auswertbare innere Ordnung aufweisen, sondern Datum an Datum reihen, sind diese Aufsätze im Sinne einer argumentierenden oder thesenbildenden Kulturgeschichte kaum noch verständlich. Autor*innen wie Johannes Bolte, Karl Theodor Gaedertz, Hermann Tardel oder Karl Trautmann sind heute nahezu vergessen oder tauchen maximal noch im Bereich der Fußnoten auf. (In Klammern sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich Ausläufer dieser Tradition bis ins 20. Jahrhundert finden lassen, namentlich in den in Köln von Carl Niessen betreuten historischen Dissertationen.) Es ist nicht ohne Ironie, dass die Vielstimmigkeit unterschiedlicher künstlerischer Praktiken ausgerechnet in diesen Darstellungen zu finden ist, wenngleich zumeist nur am Rande. Gleichzeitig ist es folgerichtig, denn das Bestreben dieser Autor*innen, die Geschichtlichkeit von Theater und theatralen Praktiken nachzuweisen, führt zu ebenjenen Quellen, an denen diese verschiedenen Praktiken aufblitzen: Rechnungsbücher, Magistratsakten und Stadtchroniken. Neben der Einsicht in die ‚ Unlesbarkeit ‘ vieler dieser Schriften treten zwei Beobachtungen besonders hervor: Zum einen scheinen in dieser älteren Literatur Orte und Regionen auf, die in der späteren Geschichtsschreibung kaum noch eine Rolle spielen. So stehen sich hier bisweilen Lokalpatriotismus und spätere, national gesinnte Traditionsstiftung gegenüber. Wurde in der ersten Generation akademischer Theatergeschichte etwa Nürnberg zum Schlüsselmodell frühneuzeitlicher Theatergeschichte - hier amalgamieren historisches Interesse und Nobilitierungsbedürfnis des jungen Fachs, indem es versucht, am Renommee dieses nationalen Erinnerungsortes Anteil zu haben - , so lassen die vielen kleinen Schriften auch alternative Orte aufscheinen. Dies betrifft sowohl Städte und Regionen, die den Kategorien nationaler Identitätsstiftung nicht hinreichend genügten - etwa weil sie katholisch geprägt waren oder Grenzregionen bildeten. Hierzu zählen etwa Köln und das Rheinland insgesamt, aber auch Städte wie Straßburg, Mainz oder Kiel. Darüber hinaus findet sich eine Vielzahl von Städten, deren Theatergeschichte vollends aus dem Blick geraten ist, wie etwa Biberach (Ofterdinger 1883), Kaufbeuren (Trautmann 1886) oder Odense (Hansen 1963). In der Fülle der unterschiedlichen Ortspunkte, die sich eben nicht zu einem übergeordneten Narrativ fügen, findet sich ein Echo auf die „ Frühneuzeitliche Polyzentralität “ 23 , die eben im theaterhistorischen grand récit akademischer Prägung zugunsten weniger Entwicklungslinien zurückgedrängt wird. Die zweite Beobachtung lässt sich nur anstellen, wenn man ‚ einen Schritt zurücktritt ‘ und die einzelnen Beiträge nicht als in sich geschlossene, sondern ‚ quer ‘ liest: Dann werden Akteur*innen und Gruppen erkennbar, die ansonsten allenfalls episodischen Charakter haben. Die vermeintliche quantité negliable von theatralen Formen wie Puppen- oder Schattenspiel scheint hier ebenso auf wie mediale Praktiken. Folgt man hier einer Perspektive, die Theatergeschichte als Teil einer ‚ Kritischen Medien- 149 „ Turtles all the way down “ . Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie geschichte ‘ 24 versteht, so rückt nicht die Geschlossenheit der einzelnen Form, sondern vielmehr die ‚ Medienökologie ‘ der Frühen Neuzeit, verstanden als ein Geflecht und Bezogensein unterschiedlicher Formen, in den Blick. 25 Das Konzept der Medienökologie impliziert vor allem eine Verortung in spezifischen Kontexten und keine abstrakte Historie von ‚ Erfindungen ‘ oder ‚ Entdeckungen ‘ . Mit diesem Begriff lassen sich einige Kernmerkmale dieses historischen Raumes bestimmen: 1. Polyglott. Mehrsprachigkeit ist ein Grundmerkmal der Kultur der Frühen Neuzeit. Es berührt sowohl Fahrende Truppen und Künstler*innen als auch die gebildete (Latein) oder höfische Kultur (französisch), die neben und in Austausch mit der ‚ Volkskultur ‘ bestand, sowie die Ordnung der Sprachräume als solche. Aus einer Perspektive nationalstaatlich geprägter Raumverständnisse, in der in der Regel Sprache und Territorialität gleichgesetzt werden, sind die tatsächlichen Sprachregionen und Grenzen der Verständlichkeit, die bis ins späte 18. Jahrhundert bestanden, oftmals nicht mehr erkennbar. 2. Polyzentrisch. Der grundsätzlich heterogene Raum der Frühen Neuzeit war nicht auf einzelne Zentren ausgerichtet, so wie dies die kolonial-hegemoniale Metaphorik von Zentrum und Peripherie nahelegt. Vielmehr ist die konstitutive Vielfalt von Zentren als Ausgangspunkt zu nehmen, auch um deren unterschiedliche Charakterisierung zu begreifen. So stehen - in funktionaler und symbolischer Differenzierung - politische Zentren (Residenzstädte) neben ökonomischen (Messe-, Handels- und Hansestädte), verkehrstechnischen (etwa Hafenstädte), technologischen (bspw. Druckorte), Bildungs- (Universitätsstädte) und religiösen Zentren (Wallfahrtsorte, geistliche Zentren). 3. Polyphonie von Formen. Künste und Medien stehen in der frühneuzeitlichen Medienökologie in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingung und Überlagerung. Die kategoriale Trennung und Ausdifferenzierung, wie sie vor allem der Diskurs des 18. Jahrhunderts formuliert, verstellt den Blick auf diese Gleichzeitigkeiten und Überlagerungen. 4. Polymorph. Gerade in der Mediengeschichtsschreibung finden sich immer wieder Ansätze zu einer Perspektive teleologischer Entwicklungen. Befeuert werden diese besonders durch technikorientierte Modelle. So haben etwa Bolter/ Grusin (1999) mit ihrem Konzept der ‚ Remediation ‘ zwar einen Ansatz mediengeschichtlicher Entwicklung beschrieben, der nicht von der Verdrängung vorgängiger Techniken ausgeht, gleichzeitig aber das Prinzip eines immer zu perfektionierenden Illusionismus festschreibt. Phänomene und Praktiken, die diesem Grundsatz nicht genügen, werden marginalisiert oder ausgeklammert. 26 Dies verkennt aber, dass das Ideal des Realismus eine kulturell kontingente Setzung ist - ihr stehen eine Fülle von Praktiken und Techniken gegenüber, die gerade die Künstlichkeit und Phantastik in ihr Zentrum stellen. Georg Minissale hat etwa mit Blick auf die indische Malerei der Mogul-Zeit zeigen können, dass eine solche Perspektive von einem unhinterfragten Okzidentalismus geprägt ist. 27 5. Durchlässigkeit und Vernetztheit. Die kulturellen Handlungs- und Interaktionsräume der Frühen Neuzeit waren weitergezogen und vernetzter als dies sich einer auf Europa fixierten Perspektive erschloss. Während sich mit dem 19. Jahrhundert eine Historiographie der westlichen Vorherrschaft durchsetzt, 28 die ‚ Kontakte ‘ oftmals im Bild der Aggression bzw. komplementär des 150 Peter W. Marx Abwehrkampfes begriff, rücken in der jüngeren Forschung alternative politische Konzepte sowie die Vernetztheit mit dem außer-europäischen Raum stärker in den Vordergrund. Sanjay Subrahmanyam hat in diesem Kontext - auch in Abkehr von einem Begriff der Globalisierung, der die technologischen, ökonomischen und politischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts zur Voraussetzung nimmt, - das Konzept der ‚ connected histories ‘ vorgeschlagen. 29 Gerade in mediengeschichtlicher Hinsicht ermöglicht ein solcher Ansatz neue Perspektiven. So sei hier beispielhaft auf eine signifikante Gleichzeitigkeit verwiesen: 1671 veröffentliche Athanasius Kircher SJ (1602 - 1680) die viel referenzierte zweite Auflage seiner Ars Magna Lucis et Umbræ, die eine der ersten Abbildungen der laterna magica enthielt. Wenige Jahre später präsentierte der Jesuit Filippo Claudio Grimaldi (1638 - 1712) mit der laterna und der camera obscura zwei Apparate am Kaiserhof in Peking, die Kircher prominent diskutiert und präsentiert hatte. 30 Gleichzeitig sind seit den 1670er Jahren die ersten Zeugnisse des Schattenspiels im deutschsprachigen Raum belegt - der historische Terminus ‚ italienische Schatten ‘ aber verweist weniger auf eine klare Herkunftsregion als auf das factum des Importiertseins. 31 Frühneuzeitliche Mediengeschichte ist also immer auch als eine Zirkulationsgeschichte zu denken. Das Konzept der Medienökologie, so lässt sich zusammenfassen, erfordert a priori ein Abb. 2: Aus der Werkstatt Pieter de Bloots: Ausschnitt aus dem Gemälde Marktszene mit Guckkasten, um 1640. © Sammlung Nekes/ Miteigentümer UzK/ DFF/ FMP. Abb. 3: Cochin filius: Foire de Campagne, Frankreich um 1750. © Sammlung Nekes/ Miteigentümer UzK/ DFF/ FMP. 151 „ Turtles all the way down “ . Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie Denken in vielstimmigen und heterogenen Kontexten, indem sie nicht von der Technologie als Letztbegründung ausgeht, sondern von deren unterschiedlichen Aneignungen und Einbindungen. Dieses offene Konzept der Medienökologie historiographisch zu fassen, erfordert ein Vorgehen, das auf der einen Seite Objekte in ihrer Materialität und den ihnen eingeschriebenen Praktiken bedenkt, gleichzeitig aber danach sucht, die konkrete kulturellen Orte, den ‚ Sitz im Leben ‘ dieser Objekte und Praktiken zu beschreiben. Hier kann, wie erwähnt, die ältere Form der Geschichtsschreibung in ihrer positivistischen Listenmacherei nachgerade hilfreich sein. Voraussetzung aber ist ein Zugang, der nicht an der engen Form klebt, sondern diese Information in Daten übersetzt und diese Daten wiederum in Beziehungen zueinander zu setzen erlaubt. Digitale Methoden beinhalten hier zwei Schritte: Zum einen die Loslösung der einzelnen Datenpunkte aus ihrem engen Kontext und die Möglichkeit, sie zueinander in Beziehung zu setzen. (In der historischen Literatur passiert dies - etwa bei Trautmann - durchaus vereinzelt, führt aber vor allem zu einem Anwachsen des Anmerkungsapparats, der auch im wörtlichen Sinne den Rahmen von Text sprengt.) Zum anderen lassen sich die Datenpunkte mithilfe entsprechender Datenbanken ‚ dynamisieren ‘ und aus dem schleppenden Trott eines kurzsichtigen Positivismus zu mobiler Bezüglichkeit überführen. Die Voraussetzung ist eine konzeptionelle Vorarbeit, die im Kölner Modellversuch auch als eine kritische Auswertung der Ergebnisse des „ Re-Collecting “ -Projekts entstanden ist: Während bei jenem Projekt die Inszenierung als zentrale Einheit der Datenorganisation fungierte, würde eine Übertragung dieses Modells die Dynamik der frühneuzeitlichen Medienökologie unterlaufen. Kritische Mediengeschichte heißt hier, nicht von den Begriffen auszugehen, sondern diese als terminus ad quem, als Zielpunkt historischer Entwicklungslinien zu begreifen. Eine Mobilisierung der einzelnen Datenpunkte kann folglich nur gelingen, wenn ein Datenmodell entwickelt wird, das möglichst offen und dynamisch ist und Vorfestlegungen so weit wie möglich vermeidet. Unter dem weiteren Blickwinkel einer Medienökologie ist es auch sinnvoll und notwendig, auf externe Datenquellen zum weiteren historischen Kontext zurückzugreifen, die ebenfalls alternative Formen aufscheinen lassen. Während hierzu in einigen Bereichen gut aufbereitete Daten vorliegen - vor allem zur Entwicklung des Druckhandwerks und der Druck- und Verlagsorte - , ist dies in anderen Fällen, wie den optischen Künsten, sehr viel schwieriger. Die bisherige Forschungslage etwa zu den Guckkästner*innen oder Laternist*innen 32 kommt kaum über das Anekdotische hinaus, Daten zu Handelswegen, technologischen Zentren und Wissensnetzwerke (wie die Jesuiten in dem oben genannten Beispiel) sind historiographisch noch kaum ausgeschöpft. Fluchtpunkt des Kölner Modellversuchs ist die Entwicklung eines digital gestützten Chrono-Atlas, d. h. einer Vernetzung mehrerer Datenbanksysteme, die sowohl die zeitliche als auch die räumliche Dimension abbilden. Während relationale Datenbanken auf eher statischen Datenmodellierungen basieren, operiert der Kölner Chrono- Atlas mit einer flexiblen Graphdatenbank. 33 In einem ersten Schritt galt es, die Chronologie-Listen der Forschungstexte in eine Datenliste zu überführen, die die Daten vereinheitlichte und in ordnenden Kategorien zusammenführte. So gelang es rund 4.400 Ereignisdaten und rund 1.000 Personendaten aus 25 Quellen zu ermitteln. Das Reservoir möglicher Quellen ist dabei weitaus größer, die immer noch im Aufbau befindliche Bibliographie möglicher Quellen umfasst derzeit über 400 Aufsätze und 152 Peter W. Marx Monographien. Zeit- und geographischer Raum sind dabei weitgespannt: Der Kernzeitraum beginnt um ca. 1460 - als Marke wird hier die Entwicklung des kommerziellen Buchdrucks mit beweglichen Lettern angesetzt - und reicht bis ca. 1800 bzw. 1803, als mit dem Reichsdeputationshauptschluss die Alte Ordnung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation aufgelöst wird. Dieser Fokus überspannt programmatisch konventionelle Epochengrenzen zwischen Renaissance, Aufklärung, Klassik und geht stattdessen von der Formierungsphase der Frühen Neuzeit aus, die mit dem Ende des Ancien Régimes abgeschlossen wird. Der geographische Raum bildet seine Koordinaten ebenfalls erst durch die Sammlung der Datenpunkte aus. Dabei ist auffällig, dass viele Kategorien, die oftmals stillschweigend vorausgesetzt werden, sich als unzureichend oder sogar irreführend erweisen. So lässt sich der Chrono-Atlas nur als ein pan-europäisches Projekt denken, das sowohl Handelsrouten, Netzwerke - wie die Hanse - , die Verbreitung religiöser Orden sowie politische Allianzen mit in den Blick nimmt. Modellskizze (1): Unerhörte Geschichten: Weibliche Prinzipalinnen Die in der Testphase ausgewertete Stichprobe lässt an einigen Stellen erkennen, welche Potenziale eine Mobilisierung der Daten und ihre Neukontextualisierung in sich birgt. Dies gilt besonders für jene Phänomene, die bislang systematisch marginalisiert wurden. So ist sowohl quantitativ der Anteil, mehr aber noch qualitativ die Bedeutung von Theaterkünstlerinnen zu den ausgeblendeten Kapiteln der Theatergeschichte. Zwar sind Einzelfälle wie die ‚ Neuberin ‘ bekannt und werden immer wieder ins Licht gestellt, aber ihre Bedeutung verbleibt aufgrund mangelnder Ergänzungsbeispiele immer noch im Bereich des Anekdotisch-Episodischen. Auch die Forschungslage ist immer noch vergleichsweise dünn: Während für das englische Theater entsprechende Arbeiten durchaus vorliegen, gibt es für den deutschsprachigen Raum kaum Studien. 34 Aufhorchen lässt hier eine Bemerkung, die sich bei Philipp Leibrecht in Zeugnisse und Nachweise zur Geschichte des Puppenspiels in Deutschland (1919) finden lässt: Leibrecht, der kursorisch, aber doch mit Akribie Belege für Puppen- - oder besser würde man heute wohl von Objekttheater sprechen - sammelte, schreibt: Ungewöhnlich oft trifft man in den Basler Ratsprotokollen Bittgesuche von Marionettenspielerinnen. Meist sind es Frauen, Töchter oder Witwen von Puppendirektoren, die aus Not oder Liebe diesem Berufe huldigen. Nähere Aufschlüsse darüber konnten bisher noch nicht ermöglicht werden. 35 Die bislang etwa 4.400 Datenpunkte des Chrono-Atlas weisen mit rund 100 Einträgen, die auf Akteurinnen hinweisen, leider ebenfalls im Augenblick nicht viel mehr als eine zarte Spur in diese Richtung. Allerdings wird schon jetzt deutlich, dass Leibrechts (bürgerlich gebundene) Lesart, nach der eine Frau nur aus ‚ Not oder Liebe ‘ sich dem Gewerbe der schaustellenden Künste zugewandt haben kann, eine programmatische Verknappung ist. Ab 1594 - dem Datum an dem die Nürnberger Ratsprotokolle verzeichnen, dass Margareta Waltherin von Mühlhausen, die ein „ künstlich Werk von Bildern, so sie das irdische Paradies nennet “ 36 präsentieren möchte, die Spielerlaubnis verwehrt wird, - lassen sich kontinuierlich Theaterunternehmerinnen feststellen, die nicht nur als Darstellerinnen firmieren, sondern eigenständig Geschäfte führen. Die Art der Schaustellung - über die Bedeutung von ‚ Himmelreich ‘ wird noch zu sprechen sein - lässt sich durchaus auch in 153 „ Turtles all the way down “ . Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie anderen Beispielen finden: Natasha Korda etwa diskutiert ausgehend von einem Nürnberger Flugblatt aus dem Jahr 1631 das Beispiel der Anna Köferlin, die dort die Ausstellung ihres „ Kinder-hauss “ angekündigt. 37 Man wird sich dies als eine Mischung aus der Präsentation der miniaturisierten häuslichen Welt und einer erklärenden Performance der Köferlin vorstellen können. Die (noch schmale) Spur von Akteurinnen innerhalb des Chrono-Atlas lässt zwei mögliche Linien ‚ ungehörter ‘ Geschichten erkennen: Zum einen die Tatsache weiblicher Agency, die keineswegs durch ‚ Not oder Liebe ‘ in den sozialen Randzonen erzwungen war, sondern vielmehr im Sinne von Santos ‘ Konzept der ‚ liberated zones ‘ verstanden werden kann: Their purpose is to bring about, here and now, a different kind of society, a society liberated from the forms of domination prevailing today. [. . .] Such alternatives may be experienced according to a logic of either confrontation or parallel existence. Seen from the outside, liberated zones seem to combine social experience with social experimentation. 38 Dass Santos ’ Konzept der ‚ liberated zones ‘ keineswegs Raum für sozialromantische Aussteigerphantasien darstellt, lässt sich ein zweiter Grundzug dieser Geschichte erkennen: Die spezifische Misogynie, die sich in konstanter Aus- und Zurückweisung niederschlägt, teilweise unter unwürdigen Umständen, wie etwa 1675, als Catharina Elisabeth Velten aus Lübeck verwiesen wird, weil sie im Kindbett liegt. (Ähnliches ist 1701 von Claude de Conte aus Basel überliefert.) Weibliche ‚ agency ‘ und ihre gesellschaftliche Zurückweisung erscheinen als zwei Seiten derselben Medaille - auch dies ein Merkmal der ‚ liberated zones ‘ im Sinne Santos ‘ . Spuren dieser Diskriminierung und Anfeindung von Frauen ziehen sich als rote Linie durch Zeit- und geographischen Raum - sie bieten aber nur ein Zerrbild der Unternehmerinnen und Akteurinnen, die offenkundig gerade in der rechtsfreien Zone der „ Unehrlichen “ 39 Freiräume fanden, welche die bürgerliche Gesellschaft ihnen verweigerte. Doch während die bürgerlich geprägte Geschichtsschreibung den Magister Velten als einen der ersten Protagonisten eines literarischen deutschsprachigen Theaters feierte, war es seine Frau Catharina Elisabeth, deren Lebensdaten noch nicht einmal genau überliefert sind, die als Tochter des Prinzipals Carl Andreas Paulsen von Kindesbeinen das Geschäft erlernte. Sie bildet insofern eine Ausnahme als von ihr eine kleine Verteidigungsschrift überliefert ist. Allerdings bedient sie sich einer männlich-gelehrten Stimme, um sich gegen die Anfeindungen zur Wehr zu setzen. 40 So bleibt die Hoffnung, dass aus einer weiteren Akkumulation von Datenpunkten sich Muster und Schemen weiblichen Theaterunternehmerinnentums abzeichnen werden. Modellskizze (2): Medienökologie statt Monokultur Löst man sich von der Vorstellung eines Theaters, in dessen Zentrum konstitutiv entweder ein*e Akteur*in oder die performative Präsentation einer Erzählung steht, sondern stellt man den Akt der Schaustellung, die scena 41 , in den Fokus, so verschieben sich sowohl die Zeiträume als auch die Vernetzungsachsen. Während die akteur*innenszentrierte Theatergeschichtsschreibung eine programmatische Sensibilität für jene ‚ Nebenformen ‘ entwickelt hat, die alle Phänomene von Spiel und Performance einschließen, sind Formen wie das Objekttheater, Automata, Guckkästen oder Projektionsapparate nur selten in den Blick geraten. Dass diese wiederum unter dem Schlagwort des ‚ Prä-Kinematographischen ‘ als ‚ Vor-Geschichte ‘ des Filmischen herhal- 154 Peter W. Marx ten müssen, ist eine Verkürzung, die sich aus der Rückprojektion gegenwärtiger Medien- und Kunstordnungen in den historischen Raum ergibt. Abb. 4.1 - 4.2: Horizontales Perspektivtheater für sechs Bildebenen; Holland. © Photo Hermann und Clärchen Baus, Sammlung Nekes/ Miteigentümer UzK/ DFF/ FMP. Diese Differenzierung aber ist nicht nur unhistorisch - sie unterschlägt auch die komplexen Ausdifferenzierungsprozesse, die gerade aus der Nähe und Vermischung der unterschiedlichen Formen und Praktiken entstehen. So bezeichnet etwa der Ausdruck ‚ Himmelreich ‘ vom 15. bis zum 18. Jahrhundert eine Form des Puppenkastens, der wohl teilweise durch eine versteckte Mechanik bewegt wurde - daher auch die Bezeichnung ‚ Werk ‘ . 42 Die Grenzen zwischen Automata und Puppenspielen sind hier ebenso fließend wie die Unterscheidung von sakral vs. profan. Carl Niessen weist mit Blick auf das Kölner Hänneschen-Theater darauf hin, dass mechanische Krippen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Rheinland so üblich waren, dass der Ausdruck später auch auf das Puppentheater übertragen wurde. 43 In ähnlicher Weise lassen sich Überschneidungen zwischen optischen Apparaten, Schattenspielen und Menschentheater feststellen. So berichtet etwa ein Ratsprotokoll für Köln aus dem Jahr 1604 von verschiedenen Schaustellungen, u. a. Johann Gademann aus Amsterdam, der einen Spiegel präsentiert. 1670 lässt sich Johann Franciscus Griendel in Nürnberg nieder, bei dem man u. a. auch laternæ magicæ erwerben konnte. 44 Die Präsentation von Guckkästen, Zauberlaternen und anderen optischen Geräten wurde zu einem eigenständigen Zweig der Schaustellerei, der von den ‚ Savoyard*innen ‘ betrieben wurde. Dass tatsächlich bei weitem nicht alle Performer*innen aus dem Grenzgebiet zwischen Frankreich, Italien und der Schweiz kamen, spielt dabei nur eine nachgeordnete Rolle. Bedeutsamer ist vielmehr, dass die Praktiken sich in einem paneuropäischen Kreislauf zwischen Italien, Frankreich, England und Deutschland entwickelten, wobei sowohl die Apparate als auch die Bilder frei zirkulierten. 45 Im 18. Jahrhundert stand mit den Perspektivtheatern 46 eine Technologie zur Verfügung, mit deren Hilfe Bühnenbilder etwa von Giuseppe Galli Bibiena oder Pietro Righini von bekannten Augsburger Verlagen als Blätter gedruckt und verbreitet wurden. Theater, Druckgraphikkunst und Schaustellerei treten hier in ein enges Wechselverhältnis. Genau an diesem Wechselverhältnis aber setzt der Begriff der Medienökologie ein: To take the step from media anthropology to media ecology is to acknowledge the increas- 155 „ Turtles all the way down “ . Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie ing relevance of spatial networks, locations and patterns of mobility in media and cultural studies, as well as the importance of the network concept with its origin in cybernetics and its implications of multi-level interconnectedness. [. . .] [A]n ecology of media can study media formations as interrelations between human beings and their media environments in changing processes of medialisation or ‘ the history of mediation ’ . 47 Ohne der Theatergeschichte ihr Proprium nehmen zu wollen, eröffnet eine derart erweiterte Perspektive doch einen gänzlich neuen Blick auf die Formierungsphasen von Medien und Künsten, der jedoch darauf verzichtet, diese dynamischen Prozesse in die Zwangslogik einer evolutionären Entwicklung pressen zu wollen. Ausblick Eine wie oben skizzierte Öffnung der Theatergeschichte der Frühen Neuzeit als Teil einer Kritischen Mediengeschichte, für die Formierungs- und Transformationsprozesse im Zentrum stehen, wäre ein Beitrag zu einer Kulturgeschichte, die sowohl den Spuren hegemonialer Verknappungs- und Disziplinierungsdiskurse nachspürte, als auch die ‚ Gegenwelt ‘ und ihre alternativen Wissens- und Wahrnehmungspotenziale deutlich machte. Für ein solches Unterfangen sind Verfahren der Digital Humanities hilfreich, wenn nicht gar notwendig, um die versprengten Spuren in einem dichten Panorama zusammenzufügen - denn die Kette der Schildkröten kennt kein Ende . . . Notes 1 Clifford Geertz, „ Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture “ , in: Clifford Geertz (Hg.), The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973, S. 3 - 30, hier: S. 28 f. 2 Hermann Reich, Der Mimus. Ein litterarentwicklungsgeschichtlicher Versuch, Berlin 1903, S. 5. 3 Beteiligte Personen waren: Verbundleitung: Prof. Dr. Peter W. Marx, Verbundkoordination: Dr. Nora Probst. Koordination am Cologne Center for eHumanities: Prof. Dr. Patrick Sahle, Jonathan Blumtritt; Programmierung und technische Umsetzung: Andreas Mertgens, Enes Türkoglu. Projektleitung FU Berlin: Prof. Dr. Doris Kolesch, Prof. Dr. Matthias Warstat; Koordination: Dr. Vito Pinto, Kustos: Dr. Peter Jammerthal. Kooperationspartner: Theatermuseum Düsseldorf und Deutsches Theatermuseum München. Das Projekt und die Daten sind unter www.recollectingtheatre.com einsehbar. 4 Henry S. Turner, „ Toward a New Theatricality “ , in: Renaissance Drama 40 (2012), S. 29 - 35. 5 Vgl. Rudolf Münz, Das „ andere “ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell'arte der Lessingzeit, Berlin 1979. 6 Gerda Baumbach, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 2: Historien. Leipzig 2018, S. 97. 7 Ebd., S. 195. 8 Peter W. Marx, „ Between Metaphor and Cultural Practices: Theatrum and Scena in the German-speaking Sphere before 1648 “ , in: Elena Penskaya und Joachim Küpper (Hg.), Theater as Metaphor, Berlin 2019, S. 11 - 29. 9 Hierzu besonders auch Gerda Baumbach, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1: Schauspielstile, Leipzig 2012, S. 31 - 62. 10 Ebd., S. 235. 11 Ebd., S. 235 - 240. 12 Robert Henke und Eric Nicholson, Transnational Exchange in Early Modern Theater. Studies in Performance and Early Modern Drama, Aldershot 2008; Robert Henke und Eric Nicholson, Transnational Mobilities in Early Modern Theater, Farnham 2014. 13 Noémie Ndiaye, „ Aaron ’ s Roots: Spaniards, Englishmen, and Blackamoors in Titus An- 156 Peter W. Marx dronicus “ , in: Early Theatre 19/ 2 (2016), S. 59 - 80; Noémie Ndiaye, „ Staging Habla de Negros: Radical Performances of the African Diaspora in Early Modern Spain “ , in: Journal of Spanish Cultural Studies 21/ 1 (2020), S. 135 - 137; Noémie Ndiaye, „ The African Ambassador ’ s Travels: Plying Black in Late Seventeenth France and Spain “ , in: M. A. Katritzky and Pavel Drábek (Hg.), Transnational Connections in Early Modern Theatre, Manchester 2020, S. 73 - 85. 14 Natasha Korda, Labors Lost: Women ’ s Work and the Early Modern English Stage, Philadelphia 2011; Natasha Korda, Shakespeare ’ s Domestic Economies. Gender and Property in Early Modern England, Philadelphia 2012; Natasha Korda, „ Gyno Ludens: Small Work and Play in Everyday Archives “ , in: Early Modern Women 12/ 1 (2018), S. 173 - 182. 15 Etwa Erith Jaffe-Berg, „ Performance as Exchange: Taxation and Jewish Theatre in Early Modern Italy “ , in: Theatre Survey 54/ 4 (2013), S. 389 - 417; Erith Jaffe-Berg, Commedia dell' Arte and the Mediterranean.Charting Journeys and Mapping ‚ Others ‘ , Transculturalisms, 1400 - 1700, London 2015; Erith Jaffe-Berg, „ Ebrei and Turchi Performing in Early Modern Venice and Mantua “ , in: M. A. Katritzky und Pavel Drábek (Hg.), Transnational Connections in Early Modern Theatre., Manchester 2020, S. 222 - 241. 16 Imtiaz Habib, Black Lives in the English Archives, 1500 - 1677. Imprints of the Invisible, London/ New York 2008. 17 Ebd., S. 9. 18 Boaventura de Sousa Santos, The End of the Cognitive Empire. The Coming of Age of Epistemologies of the South, Durham/ London 2018, S. 8. 19 Boaventura de Sousa Santos, „ Beyond Abyssal Thinking: From Global Lines to Ecologies of Knowledges “ , in: Reviews XXX/ 1 (2007), S. 45 - 89, hier: S. 66. 20 Ebd. S. 66 ff. 21 Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South. Justice against Epistemicide, London/ New York 2014, S. 99 - 115. 22 Boaventura de Sousa Santos, The End of the Cognitive Empire. The Coming of Age of Epistemologies of the South, Durham/ London 2018, S. 31. 23 Claudius Sittig, „ Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit. Perspektiven der interdisziplinären Forschung “ , in: Wolfgang Adam and Siegrid Westphal (Hg.), Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Berlin/ Boston 2012, S. xxxiii-xxxv. 24 Zur ‚ Critical Media History ‘ vgl. Tracy C. Davis und Peter W. Marx, „ On Critical Media History “ , in: Tracy C. Davis and Peter W. Marx (Hg.), The Routledge Companion to Theatre and Performance Historiography, London/ New York 2021, S. 1 - 39, hier: S. 1 - 39. 25 Zum Begriff der Medienökologie vgl. Ingo Berensmeyer, „ From Media Anthropology to Media Ecology “ , in: Birgit Neumann und Ansgar Nünning (Hg.), Travelling Concepts for the Study of Culture, Berlin/ Boston 2016. 26 Davis und Marx, „ On Critical Media History “ , S. 5. 27 Vgl. Gregory Minissale, „ A Short History of Anti-Illusionism “ , in: Gregory Minissale und Celina Jeffery (Hg.), Global and Local Art Histories, Newcastle 2007, S. 117 - 144; Kavita Singh, Real Birds in Imagined Gardens. Mughal Painting between Persia and Europe, Getty Research Institute Council Lecture, Los Angeles 2017. 28 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 2013, Originalausgabe 1998. 29 Vgl. z. B. Sanjay Subrahmanyam, Empires between Islam & Christianity, 1500 - 1800, Albany 2019. 30 Vgl. Laurent Manoni, The Great Art of Light and Shadow. Archaeology of the Cinema, Exeter 2000, Originalausgabe 1995, S. 71 - 73 sowie Deac Rossell, Laterna Magica. Magic Lantern, Bd./ Vol. 1, Stuttgart 2008, S. 49 f. 31 Vgl. Georg Jacob, Geschichte des Schattentheaters, Hannover 1925, S. 161 - 165. 32 Georg Füsslin et al., Der Guckkasten. Einblick - Durchblick - Ausblick, Stuttgart 1996, S. 36 - 45; Rossell, Laterna Magica, S. 28 - 49. 157 „ Turtles all the way down “ . Zu methodischen Fragen der Theaterhistoriographie 33 Ein Einblick in diesen Modellversuch ist unter https: / / tws.uni-koeln.de/ projekt/ emmecology möglich. 34 Vgl. etwa Korda, Labors Lost; Natasha Korda, Shakespeare's Domestic Economies. Gender and Property in Early Modern England, Philadelphia 2012; Natasha Korda, „ Gyno Ludens: Small Work and Play in Everyday Archives “ , in: Early Modern Women 12/ 1 (2017), S. 173 - 182. Von den wenigen Arbeiten zum deutschsprachigen Theater sind besonders hervorzuheben: M. A. Katritzky, Women, Medicine, and Theatre 1500 - 1750. Literary Mountebanks and Performing Quacks, Aldershot 2007; M. A. Katritzky, „ English Troupes in Early Modern Germany: The Women. “ , in: Robert Henke and Eric Nicholson (Hg.), Transnational Exchange in Early Modern Theater, Aldershot et al. 2008, S. 35 - 46. Exemplarisch immer wieder die Diskussion zur Neuberin: Ruedi Graf, „ Der Professor und die Komödiantin. Zum Spannungsverhältnis von Gottscheds Theaterreform und Schaubühne “ , in: Bärbel Rudin und Marion Schulz (Hg.), In Vernunft und Sinnlichkeit. Beiträge zur Theaterepoche der Neuberin, Reichenbach i. V. 1999, S. 125 - 144; Laure Gauthier und Bärbel Rudin, „ Die Neuberin in Hamburg. Der alte und der neue Geschmack “ , in: Bärbel Rudin und Marion Schulz (Hg.), in: Vernunft und Sinnlichkeit. Beiträge zur Theaterepoche der Neuberin, Reichenbach i. V. 1999, S. 164 - 199. 35 Philipp Leibrecht, Zeugnisse und Nachweise zur Geschichte des Puppenspiels in Deutschland. Diss. Masch. Albert-Ludwig-Universität, Freiburg i.Br. 1919, S. 42. 36 Zit. nach Hans Richard Purschke, „ Puppenspiel und verwandte Künste in der Reichsstadt Nürnberg. “ , in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, MVGN 68, 1981 S. 221 - 259, hier: S. 225. 37 Natasha Korda, „ Gyno Ludens: Small Work and Play in Everyday Archives “ , in: Early Modern Women 12/ 1 (2017), S. 173 - 182. 38 Santos, The End of the Cognitive Empire, S. 31. 39 Otto Beneke, Von unehrlichen Leuten. Culturhistorische Studien und Geschichten, Hamburg 1863. 40 Carl Niessen, Frau Magister Velten verteidigt die Schaubühne, [Schriften aus der Kampfzeit des deutschen Nationaltheaters]. Erneuert zum 50. Geburtstage des Präsidenten der Reichstheaterkammer Ludwig Körner, Köln 1940. 41 Peter W. Marx, „ Scena: Die Potenziale von Performanz und Narrativität “ , in: Christine Göttler et al. (Hg.), Reading Room. Re-Lektüren des Innenraums, Berlin/ Boston 2019, S. 219 - 226; Peter W. Marx, „ Between metaphor and cultural practices: theatrum and scena in the German-speaking sphere before 1648 “ , in: Elena Penskaya und Joachim Küpper (Hg.), Theater as Metaphor, Berlin 2019, S. 11 - 29. 42 Vgl. Philipp Leibrecht, „ Zeugnisse und Nachweise zur Geschichte des Puppenspiels in Deutschland “ , S. 11 - 16; Hans Richard Purschke, Die Anfänge der Puppenspielformen und ihre vermutlichen Ursprünge. Bochum 1979, S. 27 - 34 43 Carl Niessen, Das rheinische Puppenspiel. Ein theatergeschichtlicher Beitrag zur Volkskunde., Rheinische Neujahrsblätter. VII. Bonn 1928, S. 3 - 7. 44 Johann Gabriel Doppelmayr, Historische Nachricht von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern, Nürnberg 1730, S. 111 f. 45 Georg Füsslin et al., Der Guckkasten, S. 36 - 39. 46 Alberto Milano, Martin Engelbrecht: Perspektivtheater - Dioramen, Stuttgart 2016. 47 Berensmeyer, „ From Media Anthropology to Media Ecology “ , S. 330. 158 Peter W. Marx