eJournals Forum Modernes Theater 32/2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0027
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2021
322 Balme

Evelyn Annuß. Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele. Paderborn: Fink 2019, 569 Seiten

2021
Maren Möhring
Rezensionen Evelyn Annuß. Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele. Paderborn: Fink 2019, 569 Seiten. Formen und Formwandel der nationalsozialistischen Massenspiele stehen im Zentrum der materialreichen und anschaulich illustrierten Studie der Theaterwissenschaftlerin Evelyn Annuß. Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive fragt die Autorin nach den mit der Machteinsetzung Hitlers sich entwickelnden und mit der Konsolidierung des nationalsozialistischen Regimes verändernden Regierungstechniken, die im Theater (mit)gestaltet und erprobt wurden. Dem viel diskutierten Zusammenhang von Ästhetik und Politik im Nationalsozialismus widmet sie sich, indem sie den Foucaultschen Begriff der Regierungskunst ernst nimmt und die ästhetischen „ Angebote [. . .] und Techniken der Selbstlenkung, die von Theaterleuten entwickelt “ wurden (S. 2), einer eingehenden Untersuchung unterzieht. Es geht der Autorin damit nicht um eine Ideologie- oder Repräsentationskritik, sondern um das performative Moment der Vergemeinschaftung und affektive Formen der Subjektivierung, mithin um die NS-Regierungskünste als körpergebundene Techniken. Die Rolle der sich etablierenden Theaterwissenschaften als „ anwendungsorientierte szenische Forschung “ (S. 59) auf diesem Feld präzise auszuloten, ist dabei das fachhistorisch spezifizierte Ziel der Studie. In gut nachvollziehbaren Analysen einzelner paradigmatischer Inszenierungen skizziert Annuß den Weg vom bereits 1933 erprobten Stadionspiel über das 1934 mit dem Bau von Freilufttheatern forcierte Thingspiel bis hin zum Unterhaltungsspektakel mit Massenornament, das seit den Olympischen Spielen von 1936 das Gesicht der NS-Massenspiele prägen sollte, bevor der Krieg derartige Großevents verunmöglichte. Auf einer breiten Quellenbasis, die Material aus zahlreichen privaten, städtischen und staatlichen Archiven und Nachlässen sowie eine beeindruckende Bandbreite an zeitgenössischen Periodika und Zeitungen, aber auch Partituren, Fotografien und Filmen umfasst, werden die ästhetischen Eigenlogiken der verschiedenen Massenspiele minutiös herausgearbeitet. Dabei geraten sowohl der experimentelle Charakter des Theaterschaffens als auch die konfliktträchtigen Konkurrenzverhältnisse zwischen den maßgeblichen Protagonist*innen in den Blick, denn auch auf dem Feld der Propaganda lässt sich die vielfach konstatierte Polyzentrik der NS-Herrschaft beobachten. Dies macht nicht zuletzt die Rede von der NS-Ästhetik obsolet, wie die Verfasserin zu Recht betont. In ihren Analysen bleibt Annuß jedoch nicht beim einzelnen Fallbeispiel stehen. Es gelingt der Autorin vielmehr sehr gut, einerseits die historischen Vorläufer der untersuchten Formelemente - von Turnvater Jahns Vergemeinschaftungsversuchen über das Volkstheater und proletarische Weihespiele bis hin zum wagnerischen Jubelchor - herauszuarbeiten und dabei stets auch die Struktur- und Formdifferenzen aufzuzeigen. Im frühen NS-Massenspiel zeigte sich beispielsweise noch die prägende Kraft des Ausdruckstanzes und mithin der künstlerischen Avantgarde, die sich teils mit dem NS-Regime arrangierte und, wie die Autorin argumentiert, nun auf etwas Neues, i. e. eine „ nationalsozialistische [. . .] andere [. . .] Moderne “ (S. 25) abzielte. Der Rückgriff auf die christliche Liturgie mit ihren etablierten Ritualen wiederum half, qua Zitation und Resignifizierung, neue Führungstechniken durchzusetzen. Andererseits gelingt es Annuß, durch Vergleiche mit Formexperimenten in anderen Ländern - etwa Mussolinis Theater der Zwanzigtausend oder den russischen Revolutionsspielen der 1920er Jahre - die nationalsozialistischen Massenspiele auch international zu kontextualisieren. Der italienische Faschismus, der auf antike Spielorte zurückgreifen konnte, sollte performativ und durch eigens errichtete Theaterstätten überboten werden; anders als das bolschewistische Revolutionsspiel war das NS-Massenspiel nicht an Partizipation und einer Kritik am Verhältnis von oben und unten, sondern an Gefolgschaft und, räumlich betrachtet, der (hierarchischen) Vertikalen interessiert. Forum Modernes Theater, 32/ 2 (2021), 303 - 304. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0027 Zur vielschichtigen Einbettung des Untersuchungsgegenstandes gehört zudem, dass neben der theaterwissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung und institutionellen Rahmung der Massenspiele, ihrer Sprech- und Bewegungschöre und - besonders eindrücklich - ihrer jeweiligen (Theater-)Architekturen auch eine dezidiert mediengeschichtliche Perspektive verfolgt wird. Denn der Versuch, nationalsozialistische Festspiele zu schaffen, lässt sich ohne die Entwicklung des Radios und seiner Techniken der Lautverstärkung nicht verstehen. In dem in der Regimephase dominant werdenden Unterhaltungsspektakel schließlich gewann das Visuelle gegenüber dem Akustischen die Oberhand; ohne transmediale Formzitate und den Mediendispositivwechsel vom Radio zum Film mit seiner Mobilisierung einer kollektiv eingenommenen Vogelperspektive ist der Wandel der NS-Massenspiele vom Thingzum Stadionspiel nicht zu erklären. Stand beim Thingspiel noch die gemeinsame (notwendig theatrale) Volkwerdung im Mittelpunkt, zu der auch die performative Exklusion ‚ der Anderen ‘ und die Ausschlussdrohung gegenüber unentschiedenen „ Volksgenossen “ gehören konnte, verschob sich mit der Etablierung des Regimes der Fokus auf die „ formierte Volksfigur “ (S. 58), die nun als Spektakel der Reichsparteitage in Erscheinung trat. Als spezifisch nationalsozialistisches Formproblem macht Annuß dabei durchgängig die Notwendigkeit aus, Gefolgschaft als Einheit von Volk und Führer inszenieren zu müssen. Sie veranschaulicht diese Problematik insbesondere am spannungsreichen Verhältnis von Chor und Einzelfigur, das immer wieder zu missglückten Inszenierungen führte - etwa wenn die Einzelfigur in der Weite des Raumes unterging oder ‚ der Führer ‘ evoziert werden musste, aber nicht selbst anwesend sein konnte und es somit zu einem wiederkehrenden „ Widerstreit von Präsenzbehauptung und exponierter Nichtidentität “ (S. 164) kam. Keineswegs also war die NS-Propaganda durchgängig erfolgreich: Langeweile beim Publikum war eines der Probleme, mit denen die Theaterleute zu kämpfen hatten und die zu disziplinierenden Maßnahmen führten. Das vom Oberammergauer Passionsspiel übernommene Klatschverbot wäre als Beispiel für eine versuchte Rezeptionssteuerung zu nennen - oder aber der von Ordnern vereitelte Aufbruch der Besucher*innen eines Thingspiels in Heidelberg im Jahre 1935, die vor einem nahenden Unwetter flüchten wollten. Mit Beispielen wie diesen gelingt es der Autorin, eigensinniges Agieren und damit auch Momente des Scheiterns der (frühen) Massenspiele in den Blick zu nehmen. Darüber hätte man gerne noch mehr gelesen; dasselbe gilt für die geschlechterhistorischen Aspekte des Themas, die zwar aufscheinen, wenn etwa die geringe Zahl von Frauen im Hauptchor des Thingspiels Der Weg ins Reich von 1935 erwähnt und damit erklärt wird, dass diesem „ eine männliche Stimme und Erscheinungsform “ verliehen werden sollte (S. 272). Systematisch aber wird die geschlechtertheoretische Dimension nicht erschlossen. Annuß ‘ Studie bietet eine genaue, (teils zu) detaillierte Analyse, welche die kleinen und großen Veränderungen in der Figurierung der Masse im Laufe der 1930er Jahre theater- und medienwissenschaftlich reflektiert darlegt und damit die bisherige Forschung überzeugend differenziert. Erst mit der „ geordneten Arenamasse “ (S. 409) ging laut Annuß eine neue Art der (form)politischen Regulierung einher, die nun auf Überwältigungsästhetik setzte. Hinsichtlich des Immersionscharakters der Massenspiele kann Annuß vielfältige Kontinuitätslinien über 1945 hinaus verdeutlichen - hin zu Reenactments in der heutigen Eventkultur oder aktuellen Werbeästhetiken mit ihrem Erlebnisversprechen. Auch derartigen postdisziplinären Subjektivierungsangeboten, die Annuß genealogisch bis in die NS- Zeit zurückverfolgt, kritisch zu begegnen, ist ein zentrales Anliegen der Studie, die darüber aber keineswegs die thanatopolitische Dimension der NS-Regierungskünste vergisst. Leipzig M AREN M ÖHRING Katarina Kleinschmidt. Artistic Research als Wissensgefüge. Eine Praxeologie des Probens im zeitgenössischen Tanz. München: epodium Verlag 2018, 305 Seiten. Für ihre Promotionsschrift zu „ generativen Routinen und Partizipanden des Probens im zeitge- Forum Modernes Theater, 32/ 2 (2021), 304 - 306. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0028 304 Rezensionen