eJournals Forum Modernes Theater 32/2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0028
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2021
322 Balme

Katarina Kleinschmidt. Artistic Research als Wissensgefüge. Eine Praxeologie des Probens im zeitgenössischen Tanz. München: epodium Verlag 2018, 305 Seiten

2021
Katja Schneider
Zur vielschichtigen Einbettung des Untersuchungsgegenstandes gehört zudem, dass neben der theaterwissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung und institutionellen Rahmung der Massenspiele, ihrer Sprech- und Bewegungschöre und - besonders eindrücklich - ihrer jeweiligen (Theater-)Architekturen auch eine dezidiert mediengeschichtliche Perspektive verfolgt wird. Denn der Versuch, nationalsozialistische Festspiele zu schaffen, lässt sich ohne die Entwicklung des Radios und seiner Techniken der Lautverstärkung nicht verstehen. In dem in der Regimephase dominant werdenden Unterhaltungsspektakel schließlich gewann das Visuelle gegenüber dem Akustischen die Oberhand; ohne transmediale Formzitate und den Mediendispositivwechsel vom Radio zum Film mit seiner Mobilisierung einer kollektiv eingenommenen Vogelperspektive ist der Wandel der NS-Massenspiele vom Thingzum Stadionspiel nicht zu erklären. Stand beim Thingspiel noch die gemeinsame (notwendig theatrale) Volkwerdung im Mittelpunkt, zu der auch die performative Exklusion ‚ der Anderen ‘ und die Ausschlussdrohung gegenüber unentschiedenen „ Volksgenossen “ gehören konnte, verschob sich mit der Etablierung des Regimes der Fokus auf die „ formierte Volksfigur “ (S. 58), die nun als Spektakel der Reichsparteitage in Erscheinung trat. Als spezifisch nationalsozialistisches Formproblem macht Annuß dabei durchgängig die Notwendigkeit aus, Gefolgschaft als Einheit von Volk und Führer inszenieren zu müssen. Sie veranschaulicht diese Problematik insbesondere am spannungsreichen Verhältnis von Chor und Einzelfigur, das immer wieder zu missglückten Inszenierungen führte - etwa wenn die Einzelfigur in der Weite des Raumes unterging oder ‚ der Führer ‘ evoziert werden musste, aber nicht selbst anwesend sein konnte und es somit zu einem wiederkehrenden „ Widerstreit von Präsenzbehauptung und exponierter Nichtidentität “ (S. 164) kam. Keineswegs also war die NS-Propaganda durchgängig erfolgreich: Langeweile beim Publikum war eines der Probleme, mit denen die Theaterleute zu kämpfen hatten und die zu disziplinierenden Maßnahmen führten. Das vom Oberammergauer Passionsspiel übernommene Klatschverbot wäre als Beispiel für eine versuchte Rezeptionssteuerung zu nennen - oder aber der von Ordnern vereitelte Aufbruch der Besucher*innen eines Thingspiels in Heidelberg im Jahre 1935, die vor einem nahenden Unwetter flüchten wollten. Mit Beispielen wie diesen gelingt es der Autorin, eigensinniges Agieren und damit auch Momente des Scheiterns der (frühen) Massenspiele in den Blick zu nehmen. Darüber hätte man gerne noch mehr gelesen; dasselbe gilt für die geschlechterhistorischen Aspekte des Themas, die zwar aufscheinen, wenn etwa die geringe Zahl von Frauen im Hauptchor des Thingspiels Der Weg ins Reich von 1935 erwähnt und damit erklärt wird, dass diesem „ eine männliche Stimme und Erscheinungsform “ verliehen werden sollte (S. 272). Systematisch aber wird die geschlechtertheoretische Dimension nicht erschlossen. Annuß ‘ Studie bietet eine genaue, (teils zu) detaillierte Analyse, welche die kleinen und großen Veränderungen in der Figurierung der Masse im Laufe der 1930er Jahre theater- und medienwissenschaftlich reflektiert darlegt und damit die bisherige Forschung überzeugend differenziert. Erst mit der „ geordneten Arenamasse “ (S. 409) ging laut Annuß eine neue Art der (form)politischen Regulierung einher, die nun auf Überwältigungsästhetik setzte. Hinsichtlich des Immersionscharakters der Massenspiele kann Annuß vielfältige Kontinuitätslinien über 1945 hinaus verdeutlichen - hin zu Reenactments in der heutigen Eventkultur oder aktuellen Werbeästhetiken mit ihrem Erlebnisversprechen. Auch derartigen postdisziplinären Subjektivierungsangeboten, die Annuß genealogisch bis in die NS- Zeit zurückverfolgt, kritisch zu begegnen, ist ein zentrales Anliegen der Studie, die darüber aber keineswegs die thanatopolitische Dimension der NS-Regierungskünste vergisst. Leipzig M AREN M ÖHRING Katarina Kleinschmidt. Artistic Research als Wissensgefüge. Eine Praxeologie des Probens im zeitgenössischen Tanz. München: epodium Verlag 2018, 305 Seiten. Für ihre Promotionsschrift zu „ generativen Routinen und Partizipanden des Probens im zeitge- Forum Modernes Theater, 32/ 2 (2021), 304 - 306. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0028 304 Rezensionen nössischen Tanz “ erhielt Katarina Kleinschmidt 2016 den Tanzwissenschaftspreis NRW. Damit stellte sie Annemarie Matzkes vier Jahre zuvor erschienenem Standardwerk zur Geschichte und Theorie der Probe als spezifische Arbeit im und an Theater eine eingehende Untersuchung choreographischer Arbeitsweisen an die Seite. „ Eine Praxeologie des Probens im zeitgenössischen Tanz “ , wie Kleinschmidts Publikation ihrer Dissertation im Untertitel heißt, konzentriert sich im Wesentlichen auf die eingehende Erforschung und systematische Aufarbeitung der Entstehungsprozesse zweier Produktionen - womit bereits ein Forschungsdesiderat erfüllt wäre, liegen doch zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Probenarbeit und deren Dokumentation im Tanz nach wie vor nur wenige Titel vor. Indem Kleinschmidt ihre Forschung im Feld von Artistic Research situiert und mit dieser Verortung in ihrem Forschungsüberblick zugleich eine kritische Aufarbeitung gängiger Paradigmata künstlerischer Forschung verbindet, leistet sie darüber hinaus einen kreativen und überzeugenden Beitrag, wie Wissen im zeitgenössischen Tanz produziert wird. Leitend ist dabei die Fragestellung nach eingeübten und verinnerlichten Handlungsabläufen in künstlerischen Prozessen, jenen „ immer schon geteilten Selbstverständlichkeiten “ (S. 19), mit denen in kollektiven und komplexen Arbeitszusammenhängen Bewegungs- und szenisches Material generiert, ausgehandelt, evaluiert, dokumentiert, internalisiert und weiterbearbeitet wird. Mit der positiven Bestimmung von ‚ Routinen ‘ platziert Kleinschmidt einen Gegenentwurf zu Konzeptionen, die Artistic Research vorrangig als wissenschaftskritische, Gewohnheiten durchkreuzende und Routinen störende und deswegen als innovativ geltende Praxis fassen. Hingegen sollen Kleinschmidt zufolge „ Proben als spezifische Wissensmuster bzw. als Teile größerer Wissensgefüge verdeutlicht werden, in denen Routinen dem hoch reflexiven choreographischen Arbeiten nicht im Weg stehen, sondern es erst ermöglichen “ . (S. 37) Dies zeigt die Autorin im Wesentlichen an den Produktionen wallen von Sebastian Matthias (2012) und You Are Here von Antje Velsinger (2013), die sie beide auch als Dramaturgin begleitete. In den ersten beiden Kapiteln ihrer Arbeit basiert Kleinschmidt ihren Zugriff auf Praxistheorien (wie Alkemeyer, Bourdieu, Hirschauer, Knorr Cetina, Schatzki, Reckwitz) und projektiert eine „ Logik der Praxis “ (S. 103, nach Bourdieu) für den zeitgenössischen Tanz. Diese Logik identifiziert sie im Folgenden am Beispiel von selbstverständlichen Handlungsabläufen, mit denen in Proben Wissen generiert werden kann. Dazu unterzieht sie ihre bei den Proben zu den genannten Stücken gemachten Erfahrungen und Beobachtungen einer eingehenden Analyse, die methodisch qualitative empirische Forschung, empirisch begründete Theoriebildung und theoretische Fragestellungen miteinander verschränkt. Fünf ‚ generative Routinen des Probens ‘ arbeitet Katarina Kleinschmidt heraus: erstens das Bilden von Begriffen als spezifische Praktik, mit der „ Material im Wechselverhältnis von Sagen und Zeigen “ (S. 161) hervorgebracht wird; zweitens das praxisimmanente Ziehen von Grenzen zwischen der Generierung von Material und dessen Diskussion, was den Probentag auch zeitlich strukturieren kann und nebenbei Auskunft darüber gibt, wer über diesen Ablauf zu bestimmen legitimiert ist; drittens die Kombination unterschiedlicher Forschungsweisen (naturwissenschaftliche Methodik und Dekonstruktion) und Übernahme unhinterfragter Gewissheiten (zum Beispiel universalisierte Konzepte Rudolf von Labans); viertens Gespräche beispielsweise über den Wert des eigenen künstlerischen Tuns ( ‚ Beglaubigungen ‘ ) und die Wirkweisen der entstehenden choreographischen Arbeit sowie fünftens verabredete Formate von ‚ Reflektieren ‘ , wobei zu beachten sei, „ dass Reflexion und (selbst-)referenzielle Bezüge im Feld bereits hochgradig etabliert sind “ . (S. 205) Diese ‚ fünf Routinen ‘ bieten sich als praktikables und kluges Raster an, um choreographische und theatrale Prozesse zu dokumentieren und zu analysieren. Im letzten Kapitel widmet sich Katarina Kleinschmidt ‚ Partizipanden des Probens ‘ , womit Gegenstände wie Laptop, Kamera, Papier, Post-its etc. gemeint sind, deren Gebrauch im Studio Handlungsroutinen folgt, kollektives Handeln kanalisiert und die selbst auch Material hervorbringen. Bemerkenswert ist nicht nur die Fülle an Material, das Kleinschmidt generiert und in einer Weise aufbereitet, dass trotz der starken Ver- 305 Rezensionen dichtung einerseits und der detailreichen Darstellung andererseits die zugrundeliegenden Prozesse in ihrem Ablauf (wenn auch nicht immer leicht) erkennbar bleiben. Auch die hochkomplexen Vernetzungsleistungen, Systematisierungen sowie die Diskussion der Ergebnisse sind hervorzuheben. Zugleich kann die Autorin überzeugend nachweisen, dass Artistic Research im Tanz notwendig weder als sprachlos zu konzeptionieren noch jenseits gewohnter Handlungsabläufe zu situieren ist. Wenn es gelänge, diesen Befund zurück ins Feld zu spielen und produktiv zu machen, dann könnten davon einerseits die fachliche Auseinandersetzung und andererseits die Ausgestaltung konkreter Probenprozesse und deren Metareflexion profitieren, die, wie Kleinschmidt herausarbeitet, oft automatisiert und implizit ablaufe. Was dieser reichen Arbeit noch fehlt, das ist meines Erachtens die Rückbindung ihrer Ergebnisse an künstlerische und kulturelle Kontexte. Zwar bringt Katarina Kleinschmidt punktuell Bezüge zu künstlerischen Manövern, z. B. dem ‚ neutral doer ‘ und der Bewältigung von Aufgaben im Umfeld der Judson Dance Theater-Bewegung, und zu kulturellen Praktiken wie der westlich zentrierten Vogelperspektive, mit der auf räumliche Relationen gesehen wird, doch fehlen grundsätzliche Überlegungen zur kulturellen Prägung und Valenz gängiger Routinen. Woher rührt beispielsweise die konstatierte Vorliebe für das Führen von Listen, das als weniger hierarchisch als andere Organisationsprinzipien gilt, und warum gilt es als das? Auf welche künstlerischen Praktiken außerhalb des choreographischen Feldes gehen die verwendeten Formate zurück? Gab es Verschiebungen bei der Übernahme auf und in der Übersetzung in den zeitgenössischen Tanz? Und wenn ja, welche? Wie etablierte sich der ‚ Sitzkreis ‘ als Diskussions- und Reflexionskonvention? Indem Kleinschmidt zu solchen Fragen anregt, ergibt sich ein weiteres Desiderat im Bereich von Konfektionierung und Bestimmung der Probe im zeitgenössischen Tanz. Zu letzterer leistet Kleinschmidts Buch einen substantiellen Beitrag. Frankfurt am Main K ATJA S CHNEIDER Henning Fülle. Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 - 2010). Theater der Zeit Recherchen 125. Berlin: Theater der Zeit 2016, 500 Seiten. Henning Fülles Monographie zur Entwicklungsgeschichte des Freien Theaters in (West-) Deutschland ab 1960 wurde 2015 als Dissertation am Hildesheimer Institut für Kulturpolitik bei Prof. Dr. Wolfgang Schneider verteidigt. Diese sieht sich der Darstellung eines „ Innovationspotenzials “ Freien Theaters verpflichtet, „ das auch im deutschen Theater die Überwindung der Traditionspflege bürgerlicher Hochkultur ermöglicht “ , so der Buchrückentext. Der Autor spricht bewusst vom „ Freien Theater “ im Singular und er setzt sich damit explizit kritisch ab von theaterwissenschaftlichen Ansätzen, wie sie etwa Annemarie Matzke (vgl. S. 19 - 22) oder Nikolaus Müller-Schöll (S. 26) hinsichtlich einer Begriffsdifferenzierung vorgeschlagen hatten, um der Vielfalt der Erscheinungs- und Produktionsformen ‚ freien ‘ Theaters gerecht zu werden. Fülle argumentiert hingegen kulturpolitisch: Um die zu lange übersehene Bedeutung eben jener Formen des Theaterschaffens aufzeigen zu können, welche seit Jahrzehnten ganz besonders unter der Theaterfinanzierungskrise litten, brauche es einen festen Begriff (S. 21). Für die Einordnung der Publikation ist es wichtig, die in der 30seitigen Einleitung deutlich formulierte Absicht zur Kenntnis zu nehmen, in erster Linie bisherige Kulturförderdebatten neu perspektivieren zu wollen. Das Freie Theater möchte Fülle nicht in Bezug auf dessen Ästhetik analysieren; ihn interessieren vielmehr die spezifischen „ Konzeptionen, Strukturen und Institutionen des Freien Theaters “ , die er auf Grundlage von „ konzeptionelle[n] Selbstbeschreibungen und programmatische[n] Texte[n] und ähnliche[n] Materialien “ (S. 36) vorstellen und würdigen möchte. Hierfür spannt der Autor einen Bogen von den frühen 1960er Jahren in der BRD bis in die gesamtdeutsche Gegenwart, etwa im Jahr 2010, um in sieben chronologisch angeordneten Kapiteln seinen Gegenstand als in verschiedene historische Phasen zu unterscheidendes und stets - Forum Modernes Theater, 32/ 2 (2021), 306 - 308. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0029 306 Rezensionen