eJournals Forum Modernes Theater 32/2

Forum Modernes Theater
0930-5874
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Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0030
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Lore Knapp. Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke—Christoph Schlingensief. Paderborn: Wilhelm Fink, 2015. 379 Seiten

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Sarah Pogoda
der weiteren Debatte zum Thema “ verstanden wissen (S. 36). Dennoch wäre es notwendig gewesen, dass Fülle die eigenen Auswahlkriterien für sein Quellenmaterial transparent macht und auf die notwendigen Ausklammerungen verweist; stattdessen fehlt eine Reflexion der eigenen theaterhistoriographischen Methoden. So blendet Fülle alle jene Dokumente und Publikationen aus, die eine andere Erzählung als die der von ihm immer wieder aufgerufenen „ Teilung der Theaterlandschaft “ (S. 11, 13 etc.) aufzeigen könnten: etwa die einer engen, unter anderem durch geteilte politische Forderungen und kritische Theorien motivierten Wechselwirkung zwischen den theatralen Protest- und Kunstformen außerhalb der professionellen Theaterinstitutionen und denjenigen innerhalb derselben in den 1960er und 1970er Jahren. Dass Fülle die Geschichte der äußerst experimentier- und selbstkritikfreudigen Jahre um und ab 1968 somit lediglich knapp als gescheiterte erzählt - „ Impulse zu seiner Umwälzung münden rasch in heil- und fruchtlose Debatten um (gewerkschaftliche) Mitbestimmung an den Theatern “ (S. 268) - , führt ihn zur Diagnose „ der künstlerischen ‚ Rückständigkeit ‘ des westdeutschen Theaterwesens “ (S. 268). Er stellt ohne weitere Ausführungen lediglich fest: „ die Impulse struktureller und ästhetischer Modernisierung werden zunächst kaum umgesetzt “ (S. 268). Zunächst kaum? Und so schreibt Fülle die neuen, auf gemeinsamen Entscheidungen basierenden Arbeitsweisen und Dramaturgien, die Einbeziehung neuer Publikumsgruppen (wie „ kulturferne Schichten “ , Kinder- und Jugendliche, S. 270) oder die damalige „ oppositionelle Sehnsucht nach ‚ anders leben, anders arbeiten ‘“ (S. 271), die im Theaterbereich zu einer Reflexion der eigenen Produktionsweisen führte, ausschließlich dem Freien Theater zu. Die alleinige Fokussierung auf eine Geschichte Freien Theaters, das sich ab Mitte der 1970er in verschiedenen Stadien neu und alternativ konstituierte (S. 271), wäre nicht zu kritisieren - die gleichzeitige Ableitung weitgehender Schlussfolgerungen aus dem Nichtbeachten jener anderen, ebenfalls wechselhaften Stadttheatergeschichte(n) aber ist es schon. Berlin A NNA V OLKLAND Lore Knapp. Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke — Christoph Schlingensief. Paderborn: Wilhelm Fink, 2015. 379 Seiten. Mit ihrer Monographie Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke - Christoph Schlingensief (2015) leistet Lore Knapp einen wertvollen literatur- und theaterwissenschaftlichen Beitrag zur Frage des Kunstreligiösen. Nicht die Kunstreligion - wie in Bayreuth um Wagner - interessiert Knapp, sondern das Kunstreligiöse oder, wie sie präzisiert, die „ affektive Transzendenzerfahrungen “ , die sich „ in der Form von Texten oder der Struktur von Kunstereignissen “ manifestieren (S. 19). In der „ Überschreitungsmetaphorik “ (S. 333) weist Knapp dabei ästhetischen und theologischen Konzepten des Transzendenten eine Strukturanalogie nach. Diese finde sich gegenüber Objekten (Aura, Präsens) sowie im Erleben von Subjekten (Schwellenerfahrung mit potentieller Transformation). Ob eine Transzendenzerfahrung nun ästhetisch oder religiös ist, sei letztlich eine subjektive Zuschreibung, drei Kriterien seien dabei aber ausschlaggebend: ein nachweisbarer Bezug zu einer bestehenden Religion, eine nachweisliche Anlehnung der ästhetischen Form an eben diese und eine selbstreflexive Tendenz, so dass das Religiöse nicht für sich steht, sondern der ästhetischen Wirkung zuträgt. Da diese Phänomene ebenso in anderen Kontexten sowie transnational und -kulturell zu beobachten sind, wünscht man Knapps Studie ehrgeizige Anschlussforschung, so z. B. in einer Erweiterung der Ritualforschung Turners oder van Genneps oder zu vermeintlich totalsäkularisierten Kulturphänomenen wie der Popkultur. Das Kunstreligiöse dürfte sich auch hier als ein kritisches Zugriffsinstrument auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse einer säkularisierten Moderne erweisen. Knapps Studie ist in drei umfassende Kapitel geteilt. Sie zeigt in den ersten beiden Teilen anhand der Schreib-, Inszenierungs- und Kompositionsstrategien von Handke und Schlingensief sowie im dritten Teil über ausgewählte ästhetische Theorien die Bandbreite kunstreligiöser Erscheinungsformen auf. Damit sind zwei Künstler gewählt, die bei allen Unterschieden doch die einschlägige katholische Prägung gemeinsam Forum Modernes Theater, 32/ 2 (2021), 308 - 310. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0030 308 Rezensionen haben. Knapp umbettet diese mit diskursgeschichtlichen Kontextualisierungen (Aufklärung, Romantik, Kritische Theorie u. a.) und künstlerischen Vorläufern (Novalis, Wagner, Beuys u. a.) ähnlicher Glaubensausrichtung. Das bedeutet allerdings keine Verengung der Perspektive, hat doch Handkes „ ästhetische Phänomenologie “ (S. 77) einen existentialistischen Einschlag und kulminiert in eine pantheistische Weltsicht. Und evoziert doch Schlingensiefs Beschäftigung mit dem Kunstreligiösen einen privatmythologischen Synkretismus, der sich aus Christentum, Voodoo, Buddhismus, heidnischen Mythologien u. a. speist und - so zitiert Knapp Schlingensiefs Dramaturgen Carl Hegemann - auf eine Versinnlichung und „ Globalisierung der Transzendenz “ (S. 208) zielt. Teil I erarbeitet Privatmythologie, Mystik und Mytheme Handkes und führt diese mit der performativen Schreibsituation der Erzählerfiguren zusammen. Diese ist auf Evokation von diesseitigen Transzendenzerfahrungen im körperlichen Vollzug des Schreibens und im Erscheinen der Schrift ausgerichtet. Die empfundene Einheit mit der Schrift ist, so Knapp, strukturanalog zur religiösen Empfindung der Einheit mit Gott. Diese Zustände, so hebt Knapp hervor, sind die eines aufgeklärten Bewusstseinsstandes, das die eigene Tätigkeit dadurch nobilitiert, dass es das Höhere, das einst das religiös Heilige bot, auf sein eigenes Tun projiziert und somit Schreiben zu einer beinahe unangreifbaren Ethik stilisiert. Diese Verabsolutierung eines literarischen Schreibens - wie das Handkes - , das eben reale Zeitgeschichte und Wirklichkeitsbezug negiert, wird fragwürdig, wenn „ subjektive ästhetische Werte über allgemeine Grundwerte wie den Schutz des Lebens oder die Geschichte der Menschen gestellt werden “ und Äußerungen „ basierend auf privatmythologischen Bedeutungsbehauptungen politisch Position “ beziehen (S. 152 f.). Angesichts der jüngsten Handke- Debatte wäre eine Ausführung dieser Kritik wünschenswert gewesen. Analytische Brillanz zeigt Knapp in dem unbedingt lesenswerten Schlingensief-Kapitel. Denn Schlingensiefs prozessuale Ästhetik, der das Werden ein Inszenierungsprinzip des vorgängigen Selbstwiderspruchs ist, überfordert mit seiner Fülle an Paradoxien, Zufällen und dem Unverständlichen von synkretistisch verbastelten religiösen Bilderwelten, Symbolen, Requisiten, Ritualen und Räumen nicht selten neben Ensemble und Zuschauer*innen auch Wissenschaftler*innen. Als zentral erweist sich dabei, dass Schlingensief alle Anleihen an Religionen der selbstreferentiellen Brechung aussetzt, so dass sich sowohl das zitierte religiöse Element als auch die Inszenierung selbst als Inszenierung zeigen. Durch diese gegenseitige Überlappung eröffnet sich für ihn ein Spielraum, in dem er über weite Strecken seines Schaffens, Möglichkeiten des Kunstreligiösen austestet. Für Knapp kommt es Schlingensief dabei vor allem auf eine Emanzipation der Zuschauer*innen gegenüber dem Religiösen oder Mystischen an. Jede Aufladung des Erlebten soll von den Zuschauer*innen als Inszenierungseffekt reflektiert werden. Einheitserfahrungen wie bei Handkes meditativer und daher passiver Haltung des Schreibenden, aber auch des Lesenden, verweigert Schlingensief. Stattdessen verlangt er die Emanzipation zum handelnden Hinterfragen von kunstreligiöser Inszenierung in der Aufführung auch von den Zuschauer*innen, die im Überangebot des Bühnengeschehens passiv verloren gingen. Stattdessen fühle sich das Publikum aufgerufen, kritisch dem suggerierten „ Mehr an Bedeutung, das nicht greifbar ist “ (S. 194) nachzugehen. Das verlangt freilich eine äußerst präzise Inszenierung, denn das Religiöse oder Mystische muss ja zunächst einmal tatsächlich evoziert und von den Zuschauer*innen als solches wahrgenommen und emotional zugelassen werden, bevor es gebrochen und somit der Reflexion geöffnet werden kann. Aber eben genau damit ermögliche Schlingensief nicht nur eine Kritik des Religiösen, sondern auch des Kunstreligiösen (S. 179). Neben den Studien zu Handke und Schlingensief rekonstruiert Knapp in einem dritten Teil, wie sich kunstreligiöse Argumentationsweisen in die ästhetische Theorie seit Kant eingeschlichen haben und bis heute besonders prominent von Gumbrecht, Mersch oder Seel als Aura, Erhabenheit oder Präsens variiert werden. Dem sei, so Knapp, einzig Erika Fischer-Lichte entgegenzusetzen, in deren Ästhetik des Performativen erstmals ein begriffliches Instrumentarium bereitgestellt werde, um kunstreligiöse Implika- 309 Rezensionen tionen aufzuzeigen. Das von Fischer-Lichte als autopoietische Feedbackschleife versachlichte Spiel zwischen intentionaler und nichtintentionaler Wahrnehmung der Zuschauer*innen während einer Performance, die eine an das Wahrnehmungssubjekt gebundene und damit diesseitige ästhetische Bedeutungsemergenz generiere, vermeide ein Ausweichen in numinose Kunstbegriffe, so Knapp. Dass diese Auseinandersetzung nicht vorangestellt wurde, mag vielleicht der Überlegung geschuldet sein, dass es sich in Teil III um ein kritisches Nachweisen handelt, nicht um eine Sichtung der Forschungsliteratur. Die behandelten Theoretiker*innen werden somit auch als Praktiker*innen des Kunstreligiösen betrachtet. Leider kommt Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen somit auch erst am Ende der Monographie zur Geltung, ihre Konzepte haben jedoch ganz offenbar die vorangegangenen Analysen bestimmt. Das gilt zwar nur eingeschränkt für das Handke-Kapitel, das daher auch als das schwächere erscheint, doch maßgeblich für das Schlingensief-Kapitel und die komplexen rezeptionsästhetischen Mechanismen, die dort zum Tragen kommen. Dieses Kapitel wurde wohl auch deshalb bereits schon häufig zitiert, jüngst u. a. in Nina-Tessa Zahners (2019) und Ella Plaschkas (2020) Arbeiten zu Schlingensief sowie in Koku G. Nonoas Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater (2020). Bangor S ARAH P OGODA 310 Rezensionen