eJournals lendemains 44/173

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2019-0005
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2019
44173

Rapprochement, Documents, Sciences diagonales

2019
Sara Bangert
ldm441730049
DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 49 Dossier Sara Bangert Rapprochement, Documents, Sciences diagonales Transversale Ähnlichkeitskonzepte im Milieu des Surrealismus Moderne Ähnlichkeit? Seit der Antike verbindet eine historisch diskontinuierliche, aus heterogenen Quellen gespeiste Ähnlichkeitsreflexion, die philosophische, ontologische, mimetische, bildtheoretische, sprachphilosophische und metaphorologische Überlegungen umfasst, ästhetische und epistemologische Aspekte. 1 Als epistemologisches Ordnungsprinzip, so die These Michel Foucaults, prägt Ähnlichkeit noch Mittelalter und Renaissance, Mensch und Kosmos in einen ontologischen Zusammenhang und ein ternäres Zeichenkonzept einbindend, um im Zeitalter der Repräsentation in ein Denken in Identitäten und Differenzen überführt zu werden: Mit der Aufklärung verliere sie ihre epistemologische Valenz und werde, verbunden mit der Imagination, an den Rand des Wissens gedrängt (cf. Foucault 1966). Dort wirkt sie weiter in der Ästhetik - so erscheint die Dichtung in Les mots et les choses als Residuum des Ähnlichen - und in wissenschaftlichen Konzepten, sofern sie sich heuristisch verwerten, mittels der Bestimmung relevanter Vergleichsaspekte rationalisieren und in Klassifikation und Begriffsbildung ordnen lässt. Foucaults Periodisierung deckt sich mit der nahezu konsensuellen Einschätzung, dass Ähnlichkeit epistemologisch als vormodernes Paradigma einzuschätzen ist und, gerade auch in ihrer Verbindung mit Mimesis, in der Moderne an Bedeutung verliert. Diese Perspektive verdeckt eine moderne Ähnlichkeitsreflexion und -produktion, die doch bereits die Romantik formuliert: Scheint es zunächst, als habe die Moderne Ähnlichkeit - als vage, schlüpfrig oder für die wissenschaftliche Methodik untauglich einerseits, 2 imitativ und affirmativ repräsentierend andererseits - abgelegt, so zeigt sich, dass sie, gerade im Kontext eines Denkens der Relationalität und einer ‚Positivierung des Unbestimmten‘ in der Moderne, als spezifisch modernes Paradigma firmiert (cf. Gamm 1994, Bhatti et al. 2011: 233-247, Bhatti/ Kimmich 2015). Dies gilt nicht nur für theoretische Ähnlichkeitskonzepte des frühen 20. Jahrhunderts - wie etwa Walter Benjamins Konzeption der „unsinnlichen Ähnlichkeit“ und Aby Warburgs Vergleichspraxis 3 -, sondern gerade auch für die Ästhetik des Ähnlichen (cf. Funk/ Mattenklott/ Pauen 2001a), die maßgeblich auch die Avantgarden entwickeln: Die avantgardistische Rekonzeptualisierung der Ähnlichkeit lässt sich besonders im Milieu des Surrealismus verorten. 4 Nach einem kursorischen Blick auf die ‚unähnliche Ähnlichkeit‘ des Surrealismus sollen hier konzeptuelle Entwürfe in den Blick genommen werden, die, über den Bereich der Ästhetik hinausweisend, transversale Ordnungen etablieren: Als Paradigma der Relationierung instituiert Ähnlichkeit, statt homogenitätsstiftend Identitäten, Differenzen, Grenzen und Dichotomien zu konstruieren, Konzepte der Analogie, Kontinuität, Wahlverwandtschaft und Verflechtung, die der ‚Reinigungsarbeit‘ der Moderne (cf. Ghanbari/ Hahn 2013) entgegenstehen - 50 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 Dossier nicht zuletzt im Dienste dessen, was Bruno Latour als ‚symmetrische Anthropologie‘ (cf. Latour 2008) bezeichnet. Surrealismus und Ähnlichkeit Vor dem Hintergrund des modernen „Ostrazismus der Mimesis“, der, wie Luis Costas Lima konstatiert, „mehr von historischen Gründen abhing“ als von ihrer „inneren Auszehrung“ (Lima 1990: 81), und der postmodernen Repräsentationskritik mag es zunächst wenig intuitiv erscheinen, Ähnlichkeit als Kernkonzept des Surrealismus zu betrachten. 5 Scheint zunächst - nicht zuletzt aufgrund der folgenreichen Engführung von Ähnlichkeit, als Imitation gedachter Mimesis und Repräsentation - mit Mimesis und Realismus auch das Prinzip, dem zufolge Kunst der Wirklichkeit ähnelt, aus der modernen Ästhetik ausgetrieben, so geht doch Ähnlichkeit weder in der Nachahmungsrelation noch in einem simplen Realismuskonzept auf: Mit Jacques Rancière hat „die anti-mimetische Revolution […] noch nie das Ende der Ähnlichkeit bedeutet, denn die Mimesis war nicht das Prinzip der Ähnlichkeit, sondern das Prinzip einer bestimmten Kodifizierung und Verteilung der Ähnlichkeiten“ (Rancière 2005: 121). Vielmehr erlaubt gerade der Rückgriff auf die ästhetisch-epistemologische Tradition vormoderner und moderner Ähnlichkeitskonzepte, statt imitativer, realistischer oder repräsentativer Dimensionen von Ähnlichkeit 6 ‚antimimetische‘, kreative, relationale, ambige und multiperspektivische Ähnlichkeitsmodelle zu entwickeln: Die Herausgeber des Bandes Ästhetik des Ähnlichen formulieren als modern aktualisierbare Charakteristika des Ähnlichkeitsdenkens u. a. die Nähe von Subjekt und Objekt (cf. Funk/ Mattenklott/ Pauen 2001b: 11) und den „Perspektivismus des Ähnlichkeitsdenkens“ (ibid.: 21). Ihm seien „die unterschiedlichen Qualitäten des Wirklichen zugänglich“ (ibid.: 29), da es seine Gegenstände nicht auf das reduziere, was rational vorordnende Maßstäbe und Kategorien einschließe, sondern die „Phänomene selbst zum Maßstab“ nehme, um „die Gegenstände in ihrer komplexen Vielfalt wahrzunehmen und zueinander in Beziehung zu setzen“; „entscheidend ist […], daß der Perspektivismus des Ähnlichen gegen das Nachahmungsprinzip ins Spiel gebracht werden kann“ (ibid.: 30). Diese Aspekte sind auch für die surrealistische Rekonzeptualisierung der Ähnlichkeit zentral. Die surrealistische Reflexion und Produktion von Ähnlichkeit, die vornehmlich im Kontext der „Frage von Identität und Darstellung“ (Bauer 2001: 112) entwickelt wird, dient nicht nur einer kritischen Arbeit an Form und Realismus, Mimesis und Repräsentation, sondern erlaubt auch eine alternative ästhetische Modellierung des Wirklichen und eine Kritik der ‚objektivistischen‘ Wirklichkeitskonzeption des positivistischen Rationalismus: Eine wichtige Funktion gewann hierbei ein Konzept der Ähnlichkeit, das unausgesprochen sowohl den umfassenden Anspruch einer die „Geheimnisse des Lebens“ ergründenden Methode erhob als auch das Movens abgab, das alle surrealistische Kunstproduktion in einem permanenten Austausch der Gattungen erhielt (ibid.: 112sq.). 7 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 51 Dossier Die transversale - transmediale, transgenerische und transdisziplinäre - Produktivität von Ähnlichkeitsoperationen auslotend, erforschen die Surrealisten intensiv Ähnlichkeit erzeugende Praktiken und Verfahren wie Metapher und Analogie, Mimikry und Simulation. Dass die in surrealistischen Konzeptionen wirkende „antimimetische Ähnlichkeit“ (ibid.: 113) den Übertragungsleistungen der Imagination verbunden ist, formuliert für die surrealistische Poetik grundlegend André Bretons Neubestimmung der Metapher. Das Manifeste du surréalisme formuliert den Anspruch, „le fonctionnement réel de la pensée“ und „la réalité supérieure de certaines formes d’associations négligées“ (Breton 1988 [1924]: 328) zum Ausdruck kommen zu lassen: „L’imagination est peut-être sur le point de reprendre ses droits“ (ibid.: 316), nicht zuletzt aufgrund der Entdeckung des Unbewussten: „Il s’agissait de remonter aux sources de l’imagination poétique“ (ibid.: 322sq.). Geprägt von einer „activité métaphorique de l’esprit“ (Hölz 1980: 81), entdeckt die Imagination Ähnliches im Unähnlichen, indem sie Wörter und Dinge in analogische Bezüge setzt. Bretons Bestimmung des ‚Sprachbildes‘, die Pierre Reverdys Definition des Bildes übernimmt, scheint dabei zunächst auf Ähnlichkeit zu verzichten: L’image est une création pure de l’esprit. Elle ne peut naître d’une comparaison mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte - plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique (Breton 1988 [1924]: 324). Die Betonung dieses Aktes des rapprochement von Entferntem zeigt, dass die surrealistische Metapher „nicht als Beschreibung einer bloßen Ähnlichkeitsrelation“ (Strub 1991: 453) zu verstehen ist. Ihre Kombinatorik verwehrt sich - wie bereits die der ‚kühnen‘ manieristischen und romantischen Metaphern - der traditionellen rhetorischen Funktionsbestimmung metaphorischer Ähnlichkeit, 8 um die „unsinnliche Ähnlichkeit der Wörter untereinander und ihre Korrespondenzen“ zu aktivieren (Bauer 2001: 114). 9 Bretons Konzept des Bildes (image) verbindet so die „Maxime der extremen Spannung zwischen den Bildelementen mit der Behauptung, dadurch sich der Ursprungspoesie des Denkens und der Wahrnehmung zu vergewissern“ (ibid.: 131sq). Die surrealistische Metapher schafft neue, zu enträtselnde Verbindungen, die gerade nicht in einen Vergleich im Hinblick auf eine unmittelbar bestimmbare Ähnlichkeit aufzulösen sind, und zeigt damit, „‚dass die in der Metapher situierte Ähnlichkeit aus der Unähnlichkeit entsteht und sich gegen sie behaupten muß‘“ (Ricœur, zit. nach Strub 1991: 454). 10 Die Konstellation von Unähnlichem, in dessen prozessualer Annäherung allererst unvorhergesehen Relationen aufblitzen, entautomatisiert konventionelle Assoziationen und aktiviert der Sprache inhärente, unkonventionelle Assoziationsbezüge, die es Bretons Programmatik zufolge ohne vorordnenden Eingriff zu registrieren gilt. Da so die scheinbar beliebige Herstellung unähnlicher, entfernter Ähnlichkeiten ästhetisch relevant wird, kann Breton den Zufall der kombinatorischen Verfahren als Befreiungspotential qualifizieren. Im Zuge 52 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 Dossier der Reflexion verweist er auf das - auch von Friedrich Nietzsche formulierte - erkenntnistheoretische Problem der sprachlichen Konstruktion von Identitäten über konventionalisierte Ähnlichkeitsassoziationen, die begrifflich fixiert werden (cf. Breton 1988 [1924]: 315). 11 Die Bedeutung der Ähnlichkeit in der Metapher wird so über die Funktion der Substitution ebenso wie der Kategorien- und Begriffsbildung hinausgeführt: Metapher und Analogie konkurrieren mit der Ordnungsleistung des Begriffs, indem sie „Ähnlichkeiten zwischen eigentlich unähnlichen Dingen [stiften] und […] so eine hypothetische Gattungsbeziehung, die weder biologischer noch kategorialer Natur ist“, auch und gerade „gegen logische und kategoriale Zugehörigkeiten“ setzen (Endreß 2012: 45). Diese Konstruktion „gattungsanaloge[r] Beziehungen quer zu den Kategorien“ (ibid.: 42) fügt nicht nur reorganisiertes Sprach- und Bildmaterial (in der Montage und Collage), sondern auch aus Kontextbezügen extrapolierte Dinge wie objets trouvés und ethnologische Sammlungsobjekte in neue Bedeutungsbezüge ein. Dabei scheint die den transversalen Prozessen des Unbewussten und der Natur folgende surrealistische Imagination der „synthetisierende[n] Einheitskraft“ wahlverwandt, die in der analogischen und ‚combinatorischen‘ Epistemologie der Romantik wirkt, indem sie „als verbindendes Glied zwischen Anschauung und Vorstellung, zwischen empirischer Welt und geistiger Sphäre“ vermittelt (Daiber 2000: 17, Anm. 68). 12 Dem Surrealismus bietet sich damit ein alternatives Rationalitätsmodell, das die Dinge nicht nach rationalen und utilitaristischen Maßgaben ordnet, sondern sich ihrer komplexen Korrelation nähert, und dem eine besondere Wahrnehmungsnähe und Konkretheit eignen. Zugleich korrespondiert die Reflexion über die konstruktiv-relationale Verfasstheit und die nicht nur ästhetischen, sondern auch ethischen und politischen Implikationen von Ver(un)ähnlichungsoperationen mit der metarealistischen Perspektive auf eine veränderliche, revolutionär umzugestaltende Wirklichkeit. Rapprochement: Die Familienähnlichkeit mit dem ‚Anderen‘ Besonders bedeutsam werden diese Implikationen des methodischen Einsatzes des rapprochement im Kontext des diskursiven Schnittpunkts von Ethnologie und Surrealismus in den 20er und 30er Jahren und dessen Wahlverwandtschaft zur ‚primitiven‘ Kunst: Einer „zweiten Generation des Primitivismus“ (Leclercq 2014: 22) innerhalb der Avantgarde angehörend, die die „Negermode“ (Gerstner 2007: 67) hinter sich lässt, sammeln Surrealisten wie Breton und Paul Éluard vor allem ozeanische und indianische Objekte, die sie in Zeitschriften wie Variétés (Ausgabe „Le surréalisme en 1929“) und La révolution surréaliste (März 1936) vorstellen und in Ausstellungen wie „Yves Tanguy et objets d’Amérique“ 1927 oder die „Exposition surréaliste des objets“ 1936 integrieren, wobei durch „subtile visuelle Assoziation […] ein Miteinander von Surrealismus und primitiven Formen“ inszeniert wird (Leclercq 2014: 27; cf. ibid.: 27sq.). 13 In einem Katalogtext zur Ausstellung „Yves Tanguy et objets d’Amérique“ betont Éluard die Nähe der indianischen Objekte zu „surrealistischen Anliegen wie Traum und Imagination“ (ibid.: 30). Die „Exposition surréaliste des DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 53 Dossier objets“ stellt objets trouvés, ethnologische Objekte und Readymades gemeinsam mit surrealistischen Objekten aus und macht so die „‚Methode des Nebeneinanders‘ zur Ausstellungsstrategie‘“ (ibid.). Dass auch hier weniger ein Vergleich der Objekte im Blick auf eine je bestimmbare formale Ähnlichkeit inszeniert wird als deren „‚Familienähnlichkeit‘“ (ibid.: 31), betont der Pressebericht Guy Crozets. Dieser Effekt beruht nicht zuletzt auf der verfremdenden Dekontextualisierung, die heterogene Dinge dem Gebrauch entzieht - einer „Änderung ihrer Rolle“ („mutation du rôle“, Breton 2013 [1928]: 360): Les poètes, les artistes se rencontrent avec les savants au sein de ces ‚champs de force‘ créés dans l’imagination par le rapprochement des deux images différentes. Cette faculté de rapprochement des deux images leur permet de s’élever au-dessus de la considération de la vie manifeste de l’objet, qui constitue généralement une borne (ibid.: 359). 14 Mittels des rapprochement knüpft die Ausstellung „Analogien zwischen surrealistischen Objekten und ‚wilden‘ Objekten und verändert dadurch den Sinn der ethnografischen Gegenstände, […] denen eine für surrealistisch befundene Poesie zuwächst“ (Leclercq 2014: 31). Im Ensemble mit den explizit nicht ethnografisch, sondern ästhetisch geordneten bzw. gleichgeordneten Objekten stellen sie in einer das Projekt des avantgardistischen Primitivismus fortführenden „anthropologischen Prägung von Sehgewohnheiten des Ähnlichen“ (Küster 2003: 178) 15 ästhetische Maßstäbe des ‚Eigenen‘ infrage, um nicht nur die künstlerische Wertigkeit der Objekte herauszustellen, sondern auch die kulturpolitische „Anerkennung“ des ‚Anderen‘ einzufordern; im Zuge dieser antikolonialistischen Parteinahme wird der Begriff des ‚Primitiven‘ abgelegt (Leclercq 2014: 33). Bei aller exotistischen Aneignung außereuropäischer Kunst und Kultur im avantgardistischen Interesse einer Revitalisierung des ‚Eigenen‘ durch deren „revolutionäres Potential“ (ibid.: 33; cf. Eidelpes 2015: 26) zielt dies nicht auf die hermeneutische Domestizierung des ‚Anderen‘, sondern auf eine Verfremdung des ‚Eigenen‘, die der Ähnlichkeit mit dem ‚Anderen‘ Raum gibt (cf. Eidelpes 2018). 16 Gemäß einem kulturkritischen und kulturrelativistischen Relationismus wird ein horizontales Relationsgefüge etabliert (cf. Leclercq 2014: 29, 31, 33), das der vertikalen und hierarchischen Implikation einer sozialdarwinistisch begründeten zivilisatorischen Weiterentwicklung zur überlegenen westlichen Kultur entgegensteht, wie sie dem Diskurs des Primitivismus inhärent ist. Dabei schließt die surrealistische Rekonzeptualisierung der Ähnlichkeit nicht nur an eine ‚eigene‘ Tradition des Ähnlichkeitsdenkens an, sondern findet ein auf Ähnlichkeit beruhendes alternatives Rationalitätsmodell gerade auch in einem ‚anderen‘ Denken (cf. Eidelpes 2018: 11sq.). 17 So lässt sich diese Wendung des avantgardistischen Primitivismus als Implikatur eines spezifisch modernen Ähnlichkeitsdenkens beschreiben, an dem partizipierend der Surrealismus nicht nur ein „Netz von Ähnlichkeiten und inhaltlichen Bezügen“ (Küster 2003: 178) spinnt, sondern zugleich Akte der Relationierung in ihrer ästhetischen, aber auch ethischen und politischen Dimension reflektiert. 18 54 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 Dossier Eine solche transversale Methodik, die Ähnlichkeit nicht nur als im engeren Sinne poetisches und ästhetisches, sondern übergreifendes (Meta-)Konzept der Ordnung der Dinge einsetzt, wird keineswegs nur im Umkreis des ‚orthodoxen‘ Surrealismus um Breton eingesetzt. Vielmehr wird sie - teils explizit und auch dort, wo sich ihre Vertreter von Bretons Konzeptualisierung der Imagination abgrenzen - auch in Konzepten des ‚dissidenten‘ Surrealismus um Georges Bataille und allgemeiner in einem durch den Surrealismus angeregten Milieu entwickelt. 19 Documents: Die ‚formlose Ähnlichkeit‘ des Realen Die Radikalisierung eines solchen ‚relativistischen Relationismus‘ durch die Konfrontation der Bezugsrahmen avantgardistischer Kunst und Ethnologie zeigt die von Bataille (mit-)herausgegebene, von Georges Wildenstein finanzierte Zeitschrift Documents, die 1929 und 1930 in fünfzehn Ausgaben erscheint. Als Titel, dem ein programmatischer Anspruch eignet (cf. Hollier 1991: VII ), setzt Bataille den Begriff ‚documents‘ ein. 20 Im Ensemble mit dem Untertitel, der Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts und Ethnographie (ab der vierten Ausgabe Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie und Variétés) konfrontiert, verknüpft er programmatisch transdisziplinäre Wissensbereiche und spiegelt den inhomogenen Charakter einer Zeitschrift, die Beiträge von Kunsthistorikern wie Carl Einstein, Ethnologen des Trocadéro wie Marcel Griaule, Paul Rivet, Georges-Henri Rivière, André Schaeffner und Marcel Mauss und Schriftstellern wie Robert Desnos, die den Kreis um Breton verlassen haben, vereint und mit Abbildungen unterschiedlichster Art in Dialog bringt: „Mixture proprement ‚impossible‘“ (Leiris 1992 [1963]: 293). 21 Gerade auch die ästhetische Wertmaßstäbe geografisch und historisch relativierende Wahl des Begriffspaars Ethnographie und Archéologie hat aus Sicht von Dennis Hollier den Charakter eines Manifests, nicht nur indem sie anzeigt, dass es sich um keine reine ‚Kunstzeitschrift‘ handelt, sondern auch insofern sie den Begriff des ‚Primitiven‘ meidet (cf. Hollier 1991: VIII ). 22 Der impliziten Parteinahme für das ‚Andere‘ entspricht eine Integration des Marginalisierten: Aucun objet, si informe apparaisse-t-il, ne sera exclu. Tout ce qui est mérite d’être documenté. Il y a […] un mouvement de charité épistémologique, dans ce parti pris de petites choses. La science console les humbles réalités de mépris que leur oppose l’élitisme des esthètes (Hollier 1991: XVII). 23 Mit dieser antiästhetischen Zielrichtung verweist der Begriff des ‚Dokuments‘, der zunächst Objekte ohne einen ästhetischen Wert bezeichnet (cf. ibid.), nicht nur auf ethnologische Dokumente, sondern auch auf von Bataille und den Surrealisten aufgenommene Zeugnisse eines „niederen Materialismus“ (bas matérialisme, cf. Bataille 1930), die sich ästhetischen Wertmaßstäben entziehen, wie etwa Jacques- André Boiffards Fotografien mit dem Titel Gros orteil (Bataille 1929a: 298, 301) oder Michel Leiris’ und Marcel Griaules Artikel zur „Spucke“ (cf. Griaule/ Leiris 1929: 381sq.). Inkommensurabel und irreduzibel (cf. Lala 1992: 55), sollen diese Dokumente DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 55 Dossier als ‚Symptome‘ weder ästhetisch transformiert noch wissenschaftlich systematisiert werden (cf. Didi-Huberman 1995: 63) 24 - Ausdruck einer antiästhetischen und antiidealistischen, zugleich aber auch anti-substanzialistischen epistemologischen Reflexion (cf. ibid.: 15). 25 So verweist der Begriff des ‚Dokuments‘ in den Worten Holliers auf das Partikulare 26 und dessen profanen und sakralen ‚Gebrauchswert‘: Ersteren richten die Ethnologen gegen die ästhetizistisch-formalistische Dekontextualisierung von Objekten, letzteren setzen die Surrealisten als beunruhigenden oder schockierenden, heterogenen Aspekt des ‚Realen‘ und ‚niederen‘ Materiellen - dessen Gebrauchswert etwa auch den (hier nicht von Ethnologen, sondern von Surrealisten thematisierten) Fetischcharakter einschließt. Über die ethnologische Integration des Marginalen hinaus geht es dabei um eine Reintegration des ‚Verbotenen‘ in die Wissenschaft (cf. Hollier 1991: XIX ). Im Dienste des ‚niederen Materialismus‘ und der antiidealistischen „ästhetische[n] Rehabilitierung des Materiellen“ (Eidelpes 2015: 26) konstelliert Batailles Text- und Bildregie avantgardistische Kunst mit ethnografischen Objekten, Abjektem, Monströsem und teratologischen Abweichungen: Anders als die Ethnologen, die auf die wissenschaftliche Kontextualisierung des Dokuments setzen, zielt Bataille auf einen ‚Bruch‘ („rupture“), indem er das Dokument mit der Ausstellung der „incongruité radicale du concret“ belegt: „tout d’un coup, les êtres les plus ordinaires ressemblent à rien, cessent d’être à leur place“ (Hollier 1991: XIX sq.). Dass dabei Ähnlichkeit in ihrer ideengeschichtlichen Verbindung mit dem Formbegriff und der (menschlichen) Figur („l’anthropozentrisme de la ressemblance“, Didi-Huberman 1995: 38) auf die Zerreißprobe gestellt wird, thematisiert Batailles Artikel lnforme (cf. Bataille 1929: 382): Die ‚deklassierende Verrichtung‘ des Begriffs des Formlosen (informe) 27 ist die mit der philosophischen Forderung „que l’univers prenne forme“ verbundene Marginalisierung dessen, was als formlos, unähnlich und hässlich qualifiziert wird: „affirmer que l’univers ne ressemble à rien et n’est qu’informe revient à dire que l’univers est quelque chose comme une araignée ou un crachat“ (ibid.). Diese Kritik der Form durch ihr ‚Anderes‘ bezieht Hollier auf die von Carl Einstein betonte Abkehr der künstlerischen Formgebung von der ‚biologischen‘ Wirklichkeit: L’art moderne […] déjoue la reproduction du semblable, l’engendrement du même par le même, la loi de l’homogénéité biologico-esthétique. En d’autres termes, le beau est toujours le résultat d’une ressemblance. Alors que la laideur (comme l’informe) ne ressemble à rien. C’est sa définition. Son espace est celui de l’avortement. Elle arrive jamais à s’élever jusqu’au stade du double, de l’image, de la reproduction (du typique et du caractéristique). Elle reste un cas. Mais l’esthétique de Documents inverse les jugements de valeur à ces définitions (Hollier 1991: XX). Die von Batailles ‚Ästhetik des Hässlichen‘ lancierte Attacke auf die Integrität der schönen und ähnlichen Form durch die ‚deklassierenden Verrichtungen‘ der Worte und Bilder setzt - anders als Hollier zu suggerieren scheint - weniger ein antimimetisches Dementi der repräsentativen Dimension der modernen Kunst als eine 56 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 Dossier transgressive Arbeit an der figurativ wie epistemologisch anthropomorphen Ähnlichkeit der Form ins Werk. Dies sucht Georges Didi-Huberman im dialektischen Begriff der ‚formlosen Ähnlichkeit‘ („‚ressemblance informe‘“, Didi-Huberman 1995: 28) zu fassen. 28 Quand l’art est généralement pensé à travers sa fonction représentationnelle et sa capacité à offrir les „bonnes“ ressemblances du monde, Bataille aura fait de la ressemblance un processus cruellement „dialectique“. La ressemblance informe: elle donne certes forme et crée des liens dans la connaissance; mais elle sait aussi faire du contact une déchirure, rompre les liens et se construire dans la décomposition même des éléments qu’elle utilise; moyennant quoi elle devient cette paradoxale ressemblance informe que Bataille n’a cessé de convoquer et de produire, dans le jeu infernal - dans l’essentielle dialectique - du semblable et du dissemblable (ibid.: 381sqq., Kursiv. im Orig.). Die in Documents vorgenommene Präsentation und Relationierung der Zeugnisse einer Ästhetik der Abweichung zeigt sich so als antimetaphorischer Gegenentwurf und antithetische Radikalisierung des surrealistischen rapprochement (cf. Feyel 2010: s.p.; cf. Lala 58sq.). So ist Documents, wie Hollier konstatiert, keine surrealistische, sondern eine ‚aggressiv realistische‘ Zeitschrift (cf. Hollier 1991: XX sq.), mit deren Programm - einer „anti-esthétique de l’intransposable“ (ibid.: XX) - sich Bataille gegen Bretons Möglichkeitswelt der Imagination und den Ästhetizismus und Idealismus des Surrealismus richtet (cf. Lala 1992: 51). 29 Documents ne veut ni l’imagination ni le possible. La photographie y prend la place du rêve. Et si la métaphore est la figure la plus active de la transposition surréaliste, le document en constitue la figure antagoniste, agressivement anti-métaphorique. Avec lui, l’impossible, c’est-à-dire le réel, chasse le possible (Hollier 1991: XXI). Dass Documents zugleich eine Ästhetik der ‚transgressiven Ähnlichkeiten‘ („ressemblances transgressives“, Didi-Huberman 1995: 21), einen konzeptuellen Ansatz des Denkens in Relationen und eine Heuristik visueller Beziehungen (cf. ibid.: 39) operationalisiert, zeigt, dass die Zeitschrift nicht schlicht ‚dokumentiert‘, sondern „stupéfiants passages, ou rapports, entre des objets différents par leur statut, des objets ‚hauts‘ et des objets ‚bas‘“ herstellt: Documents doit être pensée comme une authentique revue d’art, mais dans le sens précis, dans le sens actif et non thématique où un certain art des ressemblances - un certain art des rapprochements, des montages, des frottements, des attractions d’images, bref un certain style de pensée figurale doublé d’un certain style de penser les figures - présidait véritablement à la composition, à la forme de cette revue (ibid.: 18). So wird deutlich, dass das Denken des Heterogenen und die dadurch inaugurierten ‚Ähnlichkeiten des Anderen‘ („ressemblances de l’autre“, ibid.: 37) nicht zuletzt in der kritischen Auseinandersetzung mit der surrealistischen Programmatik fundiert sind. Mit ihr teilen sie den „‚ethnologischen Primitivismus‘“ (Schüttpelz, zit. nach Eidelpes 2015: 27) und die zeitgleich entwickelte horizontale Relationierung des Unähnlich- Ähnlichen, die „Kontinuitäten und Familienähnlichkeiten zwischen der Moderne und DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 57 Dossier dem scheinbar Primitiven“ betont; zugleich bezeugen Batailles ‚Dokumente‘ auf radikal antiästhetische Weise, dass die sublimen künstlerischen Formen des abendländischen Idealismus in ihrem Reinheitsanspruch immer schon an der materiellen Realität eines zwar latenten, aber sich doch immer wieder Bahn brechenden ‚niederen Materialismus‘ scheitern mussten (Eidelpes 2015: 27). Darin sieht Rosa Eidelpes eine „sowohl ästhetisch als auch kulturtheoretisch produktive Dimension“: „Documents zielte letztlich auf die Auflösung der Grenzen zwischen dem Modernen und dem Vormodernen, Schönen und Hässlichen, Hochkulturellen und Alltäglichen“ (Eidelpes 2015: 26). Sciences diagonales: Das transdisziplinäre Wissen des Ähnlichen Eine surrealistische Epistemologie, die eine Praxis des Vergleichens von Entlegenem implementiert, entwirft der Grenzgänger zwischen Natur- und Kulturwissenschaft, Literatur- und Kulturtheoretiker, Soziologe, Mythologe, Spiel- und Imaginationstheoretiker Roger Caillois. Zeitweise der surrealistischen Gruppe angehörend, distanziert er sich nach dem Bruch mit Breton von ihr und gründet 1937 mit Bataille und Michel Leiris das College de sociologie. Insofern er die „Kontinuität des Materiellen und der Einbildungskraft postuliert“ (Albers 2013: 42) und so die Pole des Realen und der Imagination verbindet, erscheint er auch als Grenzgänger zwischen den beschriebenen Positionen. Dass Ähnlichkeit dafür ein zentrales Werkzeug bereitstellt, zeigen besonders Caillois’ Schriften zur Mimikry, in denen er das natürliche Ähnlichkeitsphänomen mit menschlichen Praktiken analog setzt und in eine Kontinuität mit Mimesis, dem Imaginären und der Mythologie stellt. Comparant les modèles les plus achevés des deux évolutions divergentes du règne animal, évolutions aboutissant respectivement à l’homme et aux insectes, il ne devra pas paraître périlleux de chercher des correspondances entre les uns et les autres et plus spécialement entre le comportement des uns et la mythologie des autres (Caillois 1938: 24). In seinem 1935 in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure veröffentlichten Text „Mimétisme et psychasthénie légendaire“ bildet „la question générale de la ressemblance“ (ibid.: 107) das Schlüsselkonzept, das entomologische, mimetische, ästhetische, magische, mythische, metamorphotische, imaginäre und psychologische Aspekte verknüpft (cf. u. a. Cheng 2009; Eidelpes 2018). Dieser ‚hybride‘ Text ‚zwischen Fiktion und Wissenschaft‘ (cf. Eidelpes 2014: s. p.) führt in surrealistischem Furor des rapprochement vor, was spätere Schriften als transversale Epistemologie weiterentwickeln werden. Im Verlauf der Argumentation vergleicht Caillois Mimetismus mit medientechnischen Konstellationen, mimetisch-magischen Praktiken ‚primitiver‘ Gesellschaften und deren Kontinuität im modernen Denken in Ähnlichkeiten 58 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 Dossier und der in der Schizophrenie wirkenden Depersonalisierung. Der Text schließt mit einem auf die Erforschung der Imagination ausgerichteten Argument: Il peut même paraître condamnable de rapprocher des réalités aussi diverses que, avec l’homomorphie, la morphologie externe de certains insectes, avec la magie mimétique, le comportement concret d’hommes d’un certain type de pensée, avec la psychasthénie, enfin, les postulations psychologiques d’hommes relevant, à ces points de vue, des types opposés. Cependant de telles confrontations me semblent non seulement légitimes (il est tout de même impossible de condamner la biologie comparée), mais presque indispensables dès qu’on aborde le domaine obscur des déterminations inconscientes (Caillois 1938: 120sq.). Die Legitimation der Herstellung entfernter Ähnlichkeiten greift 1960 Caillois’ Studie Meduse & C ie in einem seriöseren Register auf: „[W]eniger ein Neueinsatz seiner Theorie als eine systematische Wiederaufnahme der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Natur“, zieht sie ein Resümee der „Fragen der Ästhetik und der Poetik, die Caillois seit dem Surrealismus beschäftigten“, und stellt eine Neudeutung früherer Thesen zum Mimetismus vor (Albers 2013: 44). Die Erforschung von Ähnlichkeitsphänomenen mit Mitteln der Ähnlichkeit fordert das programmatische Vorwort unter dem Titel „Sciences diagonales“, das als Plädoyer für eine vergleichende ‚Wissenschaft der Ähnlichkeit‘ Transdisziplinarität einfordert. Sein Auftakt wendet sich, scheinbar im Einklang mit den Bestrebungen der wissenschaftlichen Klassifikation, gegen die naive Gleichsetzung von Ungleichem: „Le progrès de la connaissance consiste pour une part à écarter les analogies superficielles et à découvrir des parentés profondes, moins visibles peut-être, mais plus importantes et significatives“ (Caillois 1960: 9). Doch zugleich wendet sich Caillois gegen die Unterstellung, jede Feststellung von Analogien, Korrespondenzen und Korrelationen sei unwissenschaftlich: „Sur le clavier entier de la nature apparaissent ainsi de multiples analogies dont il serait téméraire d’affirmer qu’elles ne signifient rien et qu’elles sont seulement capables de flatter la rêverie sans pouvoir inspirer la recherche rigoureuse“ (ibid.: 13sq.). Die offen spekulative Aufdeckung solcher Beziehungen - „les démarches transversales de la nature, dont on constate l’empire dans les domaines les plus éloignés et dont je viens de donner quelques pauvres exemples“ (ibid.: 14) - führen die in Meduse & C ie zusammengestellten Texte mittels der expliziten Herstellung von Ähnlichkeiten vor: „Les données à rapprocher ne sont pas apparentes“ (ibid.: 15). Die Grenzen nicht nur zwischen den Disziplinen, sondern auch zwischen Wissenschaft und Kunst bzw. ebenfalls analogisch ‚forschender‘ Literatur aufhebend - was ihm in der Forschung die Kritik einer „poetischen“ Wissenschaft einträgt (cf. Albers 2013: 45sq.) -, verknüpft Caillois biologische Forschung, literarische Beispiele, Mythen und ethnografische Berichte als gleichwertige „Manifestationen des Imaginären“ (ibid.: 43). Dabei zeigen die Studien über die Gottesanbeterin, Bildersteine, Schmetterlingsflügel und Mimese eine antiutilitaristische Analogisierung von Natur und Kunst, die Ähnlichkeitsphänomene einer ‚künstlerisch wirkenden Natur‘ untersucht und, den Menschen in die Natur einbindend, im Dienst eines ontologischen Monismus steht. DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 59 Dossier In einer auf das Vorwort folgenden Notiz argumentiert Caillois gegen den Vorwurf des Anthropomorphismus: Toutes les chances sont plutôt pour la continuité. Il me paraît que, si ce n’est anthropomorphisme, c’est encore anthropocentrisme que d’exclure l’homme de l’univers et que de le soustraire à la législation commune. Anthropocentrisme négatif, mais tout aussi pernicieux que l’autre, celui qui le plaçait au foyer du monde et qui rapportait tout à lui (Caillois 1960: 20). Dem Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit begegnet er mittels des Einwandes, seine Methode folge solchen Phänomenen, die die Wissenschaft meiden musste, um „distinctions utiles“ zu definieren - „celles qui délimitent le champ de chaque discipline“ (ibid.: 10). Obwohl bereits die Feststellung analoger und homologer biologischer Formen die „légitimité, la nécessité même“ des Vergleichs bedinge, werde es in den ausdifferenzierten, auf die Einhaltung disziplinärer Grenzen bedachten Wissenschaften als „sacrilège“ gesehen, „phénomènes appartenant à des règnes différents“ (ibid.: 11) einander anzunähern, selbst wenn es sich nicht um eine „analogie trompeuse“ oder eine „métaphore pure et simple“ handle (ibid.: 12). 30 Doch wissenschaftliche Klassifikationen seien nicht nur im Wandel, auch erfassten sie in ihrer Selektion relevanter Merkmale nicht „les diverses combinaisons possibles“ und „les démarches transversales de la nature“, die quer dazu verliefen: De telles démarches chevauchent les classifications en vigueur. La science pouvait d’autant moins les retenir qu’elles sont par définition interdisciplinaires. Elles exigent d’ailleurs, pour apparaître, le rapprochement de données lointaines dont l’étude est menée par des spécialistes vivant nécessairement dans l’ignorance mutuelle de leurs travaux. Toutefois, on ne saurait exclure que ces coupes transversales remplissent un rôle indispensable pour éclairer des phénomènes qui, isolés, paraissent chaque fois aberrants, mais dont la signification serait mieux perçue si l’on osait aligner ces exceptions et si l’on tentait de superposer leurs mécanismes peut-être fraternels (ibid.: 14). Caillois plädiert für transdisziplinären Austausch, um die ‚transversalen Vorgehensweisen‘ der Natur mittels des Vergleichs des Entlegenen zu erforschen: Dabei warnt er vor einem Rückschritt zu „analogies superficielles et qualitatives“ (ibid.: 15) und bezeichnet einen bestimmten Typ vormoderner Analogieschlüsse als ‚Falle‘ für ein durch trügerische sichtbare Erscheinungen verführbares Denken: 31 [L]a vraie tâche consiste au contraire à déterminer des correspondances souterraines, invisibles, inimaginables pour le profane. Ce sont très rarement celles qui semblent évidentes, logiques ou vraisemblables. Ces rapports inédits articulent, au contraire, des phénomènes qui paraissent d’abord n’avoir rien de commun. Ils unissent les aspects inattendus que prennent, dans des ordres de choses peu compatibles entre eux, les effets d’une même loi, les conséquences d’un même principe, les réponses à un même défi (ibid.: 17). Solche Relationen könne nur ein ‚polyvalentes Wissen‘ („savoir polyvalent“, ibid.) erfassen, das sich durch den Zufall und eine gewisse ‚imaginative Kühnheit‘ („témérité d’imagination“, ibid.: 17sq.) leiten ließe: Als transdisziplinäre Forschergemeinde 60 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 Dossier imaginiert Caillois die ‚diagonalen Wissenschaften‘ („sciences diagonales“, ibid.: 18), die die transversalen Vorgänge der Natur zu ‚entziffern‘ in der Lage seien, um die „corrélations négligées, mais propres à compléter le réseau des rapports établis“ (ibid.) zu erforschen. 32 Diese entgrenzte Epistemologie, die im Aufweis einer Kontinuität des Natürlichen den Menschen dezentriert und in eine ‚symmetrische Anthropologie‘ einfügt, sucht das Andere nicht nur im ‚Primitiven‘, um „vormoderne und außereuropäische Praktiken“ (Albers 2013: 46) in der Perspektive einer „radikal anti-anthropozentrischen Ästhetik“ (ibid.: 45) zu integrieren und dem ‚Eigenen‘ anzunähern. Vielmehr dementiert die Relationierung der entferntesten Pole (des Menschen und des Insekts) die dichotome Konzeptualisierung von Natur und Kultur, Tier und Mensch, Moderne und Vormoderne - eine „Provokation der Grenzen des modernen Denkens, der ‚Reinigungsarbeit‘“ der Moderne - mit dem Ziel nicht nur eines ethnologisch relativierten Perspektivismus, sondern der Kritik des „impliziten Anthropozentrismus“ der Ästhetik und der Wissenschaft (ibid.: 39). Zur transversalen Epistemologie des Ähnlichen Kulturtheorie, Kunstwissenschaft und surrealistische Avantgarde arbeiten in der ‚anders modernen‘ Moderne des frühen 20. Jahrhunderts gemeinsam 33 an einer transversalen Epistemologie, die im Zeichen des Ähnlichen die Grenzen zwischen Gattungen und Disziplinen, Vormoderne und Moderne, ‚Eigenem‘ und ‚Anderem‘ und Natur und Kultur überschreitet. Als zentraler Operator dient dabei ein aktives Ähnlichkeitsmodell, das Ähnlichkeit nicht als einsinnige Relation der Abbildung oder Repräsentation fasst, sondern als Paradigma der Relationierung und „Figur des Dritten, die statt Oppositionen und Dichotomien das Übergängliche repräsentiert“ (Kimmich 2017: 140) und komplexe und transgressive Beziehungsgefüge herstellt. Die vorgestellten Konzepte zeigen unterschiedliche Aspekte seiner Anwendung: die aus der Annäherung von Unähnlichem prozessual neu zu erschließenden Bezüge; die fruchtbare Konfrontation von ‚Dokumenten‘, die ästhetische Ansprüche des Eigenen im Zeichen der unähnlichen Ähnlichkeit des Anderen demontiert; die methodische Herstellung von Vergleichen und Analogien über verschiedene Wissensbereiche hinweg, um die Opposition von Natur und Kultur zu überwinden, wobei Ähnlichkeit als veritables travelling concept hervortritt. Die Relationalität und Perspektivität des Ähnlichen erlaubt dabei nicht nur dessen poetische und ästhetische Rekonzeptualisierung, sondern etabliert auch eine antiessenzialistische, relationale Epistemologie, die zugleich den Kontakt zum Realen und Materiellen nicht verliert, dessen konstruktive Umgestaltung sie fordert, dessen radikale Inkommensurabilität sie betont oder dessen transversalen Prozessen sie, eingebunden in ein ontologisches Kontinuum und in eine im eigentlichen Sinne mimetischen Dimension, analog zu folgen bereit ist. Die Aufmerksamkeit für die Implikationen solcher Ähnlichkeitsoperationen ist nicht nur grundsätzlich produktiv für die kulturwissenschaftliche und komparative Theoriebildung, sondern mag - ohne dass hier einer unreflektierten DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 61 Dossier Übernahme ästhetischer Konzepte in die wissenschaftliche Methodik das Wort geredet werden soll - auch ein metareflexives Werkzeug zur Analyse der methodischen Vorannahmen ihrer eigenen transversalen Verfahren bieten. Damit verbunden ist die erkenntniskritische Reflexion auf die Vorannahmen der Ordnung der Welt, die deren Korrelativität ebenso aufdeckt wie einen Anthropomorphismus der Erkenntnis, der in der jüngeren kulturwissenschaftlichen Forschung wiederentdeckt wird - nicht zuletzt als Gegenstand eines transversalen, transdisziplinären Wissens. Albers, Irene, „Reine und unreine Literatur(-wissenschaft) nach Roger Caillois“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaft, 7, 1, 2013: „Reinigungsarbeit“, ed. Nacim Ghanbari / Marcus Hahn, 37- 52. Bataille, Georges, „Le gros orteil“, in: Documents, 1, 6, 1929a [Paris, Jean-Michel Place, 1991], 297-302, online: https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ bpt6k32951f/ f1.image.r=Documents%20Bataille (letzter Aufruf am 27.07.2019). —, „Informe“, in: Documents, 1, 7, 1929b [Paris, Jean-Michel Place, 1991], 382, online: https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ bpt6k32951f/ f1.image.r=Documents%20Bataille (letzter Aufruf am 27.07.2019). —, „Le bas matérialisme et la gnose“, in: Documents, 2, 1, 1930 [Paris, Jean-Michel Place, 1991], 1-8, online: https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ bpt6k32951f/ f1.image.r=Documents%20Bataille (letzter Aufruf am 27.07.2019). Bauer, Marcus, „Ähnlichkeit als Provokation. Zur Funktion der Bildwelten im Surrealismus“, in: Funk/ Mattenklott/ Pauen 2001, 111-135. Benjamin, Walter, „Über das mimetische Vermögen“, in: id., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, ed. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1980 [1933], 210- 213. —, „Der Sürrealismus“, in: id., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, ed. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2 1989 [1933], 295-310. Bhatti, Anil / Kimmich, Dorothee (ed.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, unter Mitarbeit von Sara Bangert, Konstanz, Konstanz University Press, 2015. Bhatti, Anil et al., „Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 36, 1, 2011, 233-247. Breton, André, „Manifeste du surréalisme“, in: id., Œuvres complètes, Bd. 1, ed. Marguerite Bonnet, Paris, Gallimard, 1988 [1924], 309-346. —, „Crise de l’objet“, in: id., Le surréalisme et la peinture, Paris, Gallimard, 2013 [1928], 353- 361. Caillois, Roger, Le mythe et l’homme, Paris, Gallimard, 1938. —, Méduse et C ie , Paris, Gallimard, 1960. Cheng, Joyce, „Mask, Mimicry, Metamorphosis: Roger Caillois, Walter Benjamin and Surrealism in the 1930s“, in: Modernism/ modernity, 16, 1, 2009, 61-86. Daiber, Jürgen, „Die Suche nach der Urformel: Zur Verbindung von romantischer Naturforschung und Dichtung“, in: Aurora, 60, 2000, 75-103, online: www.goethezeitportal.de/ fileadmin/ PDF/ db/ wiss/ epoche/ daiber_urformel.pdf (letzter Aufruf am 27.07.2019). Didi-Hubermann, Georges, La ressemblance informe ou le Gai savoir visuel selon Georges Bataille, Paris, Macula, 1995 (dt.: Formlose Ähnlichkeit oder die fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille, München, Fink, 2010). 62 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 Dossier Eidelpes, Rosa, „Roger Caillois’ Biology of Myth and the Myth of Biology“, in: Anthropology & Materialism. A Journal of Social Research, 2, 2014: „The Persistence of Myth“, https: / / journals. openedition.org/ am/ 84 (letzter Aufruf am 10.03.2018). —, „Batailles Primitivismus. Stationen einer transgressiven Reintegration“, in: lendemains, 40, 157, 2015, 25-39. —, Entgrenzung der Mimesis. Georges Bataille - Roger Caillois - Michel Leiris, Berlin, Kadmos, 2018. Einstein, Carl, Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Leipzig, Reclam, 1988. Endreß, Johannes, „Unähnliche Ähnlichkeit. Zu Analogie, Metapher und Verwandtschaft“, in: Martin Gaier / Jeanette Kohl / Alberto Saviello (ed.), Similitudo. Konzepte der Ähnlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, München, Fink, 2012, 29-58. Feyel, Juliette, „La résurgence du sacré: Georges Bataille et Documents (1929-1930)“, www. revue-silene.com/ images/ 30/ article_18.pdf (publiziert im Dezember 2010, letzter Aufruf am 02.08.2019). Foucault, Michel, Les mots et les choses, Paris, Gallimard, 1966 (dt. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, trad. Ulrich Köppen, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1971). Funk, Gerald / Mattenklott, Gert / Pauen, Michael (ed.), Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne, Frankfurt/ Main, Fischer, 2001a. —, „Symbole und Signaturen. Charakteristik und Geschichte des Ähnlichkeitsdenkens (Einleitung)“, in: Funk/ Mattenklott/ Pauen 2001b, 7-34. Gamm, Gerhard, Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1994. Ghanbari, Nacim / Hahn, Marcus (ed.), Reinigungsarbeit (Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1, 2013), Bielefeld, transcript, 2013. Gerstner, Jan, „die absolute Negerei“. Kolonialdiskurse und Rassismus in der Avantgarde, Marburg, Tectum, 2007. Griaule, Marcel / Leiris, Michel, „Crachat“, in: Documents, 1, 6, 1929 [Paris, Jean-Michel Place, 1991], 381sq., online: https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ bpt6k32951f/ f509.image (letzter Aufruf am 11.03.2019). Hölz, Karl, Destruktion und Konstruktion. Studien zum Sinnverstehen in der modernen französischen Literatur, Frankfurt/ Main, Klostermann, 1980. Hollier, Denis, „La Valeur d’usage de l’impossible“, préface à la réimpression de Documents, Paris, Jean-Michel Place, 1991. Hollier, Denis (ed.), Das Collège de Sociologie 1937-1939, ed. Irene Albers / Stephan Moebius, Berlin, Suhrkamp, 2012 (frz. Le Collège de sociologie 1937-1939, Paris, Gallimard, 1995). Kiefer, Klaus H., „Die Ethnologisierung des kunstkritischen Diskurses - Carl Einsteins Beitrag zu Documents“, in: Hubertus Gaßner (ed.), Élan vital oder Das Auge des Eros. Kandinsky, Klee, Arp, Miró und Calder [Ausstellungskatalog], München/ Bonn, Benteli, 1994, 90-103. Kimmich, Dorothee, Ins Ungefähre. Ähnlichkeit und Moderne, Paderborn, Konstanz University Press, 2017. Küster, Bärbel, Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900, Berlin, Akademie Verlag, 2003. Lala, Marie-Christine, „Bataille et Breton: Le malentendu considérable“, in: Christian Descamps (ed.), Surréalisme et philosophie, Paris, Éditions du Centre Geroges Pompidou, 1992, 49-61. Latour, Bruno, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, trad. Gustav Roßler, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2008 (frz. Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symétrique, Paris, La Découverte, 1991). DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 63 Dossier Leclercq, Sophie, „Schön wie die zufällige Begegnung einer aphrodisischen Jacke mit einer Yupuk-Maske: der Primitivismus der Surrealsiten qua Analogie“, in: Fondation Pierre Arnaud (ed.), Surrealismus und primitive Kunst. Eine Wahlverwandtschaft, Ostfildern, Hatje Cantz, 2014, 20-41. Leiris, Michel, „De Bataille l’Impossible à l’impossible ‚Documents‘“, in: id., Brisées, Paris, Gallimard, 1992 [1963], 288-299. Lima, Luiz Costas, Die Kontrolle des Imaginären. Vernunft und Imagination in der Moderne, trad. Armin Bierman, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1990. Lübcke, Sebastian / Thun, Johann (ed.), Romantik und Surrealismus. Eine Wahlverwandtschaft? , Berlin et al., Peter Lang, 2018. Mettler, Michel / Rogger, Basil / Weber, Peter / Widmer, Ruedi / Zweifel, Stefan, „Die Fabrikation der Fiktionen. Geschichte keiner Ausstellung“, in: id., Holy Shit. Katalog einer verschollenen Ausstellung, Zürich, Diaphanes, 2016, 16-27 (cf. www.diaphanes.de/ titel/ die-fabrikation-derfiktionen-4029#sdendnote6sym, s. a., letzter Aufruf am 10.3.2018). Novalis, „Das Allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik 1798/ 99“, in: id., Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs [HKA], ed. Paul Kluckhohn / Richard Samuel, Bd. 3, Darmstadt, WBG, 1968, 201-478. Nietzsche, Friedrich, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: id., Werke. Nachgelassene Schriften 1870-1873 (Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3, 2), ed. Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Berlin / New York, 1973, 367-384. Rancière, Jacques, Politik der Bilder, trad. Maria Muhle, Zürich, 2005 (frz. Le destin des images, Paris, La Fabrique, 2003). Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Häßlichen, Königsberg, Bornträger, 1853. Strub, Christian, Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie, Freiburg i. Br. / München, Alber, 1991. Warburg, Aby M., Schlangenritual. Ein Reisebericht, mit einem Nachwort von Ulrich Raulff, Berlin, Wagenbach, 1988. Willer, Stefan, „Metapher/ metaphorisch“, in: Karlheinz Barck / Martin Fontius / Dieter Schlenstedt (ed.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 7, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 2005, 89-148. 1 Diese Verbindung formuliert prominent Aristoteles, der in Rhetorik 1412a das Erkennen des Ähnlichen als wichtigstes Werkzeug der Poetik und der Philosophie bestimmt. 2 Zur Schlüpfrigkeit der Ähnlichkeit äußert sich schon Platon in Sophistes 231a 6-8. Modern formulieren solche Kritik Willard van Orman Quine und Nelson Goodman (cf. Kimmich 2017: 23sq.). 3 In Benjamins „Lehre vom Ähnlichen“ und „Über das mimetische Vermögen“ steht Ähnlichkeit nicht nur im Kontext seiner Sprachphilosophie, derzufolge die Sprache mimetische Bezüge als Archiv der „unsinnlichen Ähnlichkeit“ (Benjamin 1980a, 211) bewahrt, sondern auch einer Rekonzeptualisierung der Mimesis, die die Bedeutungsfülle des Begriffs zugunsten einer Wiedererlangung von Erfahrungsfülle zu restituieren sucht. Eine komparative Methode entwirft Warburg mit seinem Mnemosyne-Atlas, dessen Bildtafeln nicht nur formale Ähnlichkeiten quer zu den Bereichen der ‚hohen‘ Kunst und ‚niederen‘ Populärkultur kartieren, sondern auch affektive Wirkungen und die ‚Magie‘ der Bilder, die es apotropäisch zu bannen gilt, erforschen. Auch sein unter dem Titel „Schlangenritual“ publizierter Vortrag ist im vorliegenden Kontext von Interesse, insofern er die Ähnlichkeit von ‚primitiver‘ und 64 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 Dossier ‚moderner‘ Magie betont. Cf. Warburg 1988; cf. dazu Kimmich 2017: 50 sqq., 102 sqq. und den Text im vorliegenden Band. 4 Cf. zur ‚Tradition‘ einer ‚Ästhetik des Ähnlichen‘ im Surrealismus bereits Bauer 2001. 5 Cf. stellvertretend Willer (2005: 127sq.), demzufolge die surrealistische Metapher als „Vergleich ohne Ähnlichkeit“ ohne Bezugnahme auf Ähnlichkeit beschreibbar sei. 6 Die Abkehr von der Imitation, mit der der Surrealismus an die romantische Bevorzugung des kreativen Schöpfungsakts vor der Nachahmung anschließt, formuliert neben Bretons Polemik gegen den Realismus als bloße Kopie im Manifeste du surréalisme (cf. Breton 1988: 313) etwa Carl Einstein: Mit der modernen Erschütterung der „Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit und ihr[es] gegenseitige[n] Gleichgewicht[s]“ sei „die nachahmende Tendenz der Kunst erledigt“ (Einstein 1988: 163). 7 Dass dies meist nicht explizit thematisiert wurde, liegt zum einen an der von den Avantgarden aufgekündigten Verbindung von Ähnlichkeit, Mimesis und Realismus, zum anderen an einer durch die postmoderne Identitäts- und Repräsentationskritik geprägten Rezeption, die den Ähnlichkeitsbegriff vorschnell verwirft (wie etwa die Auseinandersetzung Michel Foucaults mit René Magritte zeigt) - nicht zuletzt aber auch daran, dass der unscharfe Ähnlichkeitsbegriff bislang keine „einflussreiche Lobby“ (Kimmich 2017: 15) hat. 8 Wie die ‚kühnen‘ manieristischen Metaphern der Concettisten und metaphysical poets oder die Metaphern etwa Jean Pauls konterkariert die surrealistische Metapher die rhetorische Forderung, ratione translata, durch Umformulierung in einen Vergleich in eine Wahrheitsaussage aufzulösen zu sein (cf. Strub 1991: 480). Damit dementiert sie zugleich ihre Konzeptualisierung als Substitution qua Ähnlichkeit. 9 Benjamin betont, Bretons Introduction sur le peu de réalité lege dar, „wie der philosophische Realismus des Mittelalters der poetischen Erfahrung zugrunde liegt. Dieser Realismus aber […] hat immer sehr schnell den Übergang aus dem logischen Begriffsreich ins magische Wortreich gefunden“ (Benjamin 2 1989: 302). 10 An Ricœur anschließend, der in La métaphore vive ausgehend von Aristoteles’ Bestimmung der Metapher eine Umformulierung der Bedeutung der Ähnlichkeit von der Substitution zur Prädikation vorführt, nimmt Christian Stub die surrealistische Metapher zum Vorbild einer Rekonzeptualisierung der Ähnlichkeit in einer Spannungstheorie: „Indem Metaphern Beliebiges zusammenzwingen, zerstören sie die in unserem sprachlich verfassten Weltbild festgelegten Ähnlichkeitsrelationen. Die moderne Metapher steht also dem Paradox viel näher als dem Vergleich: Sie ist ein Verunähnlichungs-, nicht ein Verähnlichungsinstrument“ (Strub 1991: 123). So lässt sich die metaphorische De- und Resemantisierung „als Zerstören alter Ähnlichkeiten durch das Provisorium neuer Verähnlichung“ (ibid.) beschreiben. 11 „Si une grappe n’a pas deux grains pareils, pourquoi voulez-vous que je vous décrive ce grain par l’autre, par tous les autres, que j’en fasse un grain à bon manger? L’intraitable manie qui consiste à ramener l’inconnu au connu, au classable, berce les cerveaux“ (ibid.). Breton zitiert hier einen Gedanken Pascals: „en a-t-elle jamais produit deux grappes pareilles? et une grappe a-t-elle deux grains pareils? “ (ibid.: 1347). Auch Nietzsches Kritik assimilatorischer Effekte der Begriffsbildung (cf. Nietzsche 1973) setzt auf metaphorische De- und Resemantisierung. 12 Cf. Daibers Verweis auf Manfred Franks Studie zur Einbildungskraft (Das Problem „Zeit“ in der deutschen Romantik) und Novalis (ibid.): „Aus d[er] produk[tiven] Einb[ildungs]Kr[aft] müssen alle innern Ver[mögen] und Kräfte - und alle äußern Verm[ögen] und Kr[äfte] deducirt werden“ (Novalis 1968, 413 [746]). Zur Einbildungskraft als „Gedächtniß“ und DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 65 Dossier „Verstand“ einende „Fantasie“ und „Denkkraft“ (ibid.: 298 [327]), die das Ideal ‚combinatorischer‘ Wissenschaft bestimmt, cf. ibid.: 299 [311], 275 [196]. Zur ‚Wahlverwandtschaft‘ zwischen Romantik und Surrealismus cf. Lübcke/ Thun 2018, zum vorliegenden Zusammenhang darin den Aufsatz der Verf.: „‚Unähnliche Ähnlichkeit‘ in Romantik und Surrealismus“ (185-206). 13 Ein von Leclercq beschriebenes Beispiel aus Variétés stellt unter dem Titel „Fétiches“ einen Totempfahl und eine Maschine aus dem Musée des arts et métiers einander gegenüber (Leclercq 2014: 29). 14 Cf. Leclercq 2014: 31, die mittels eines knapperen Zitats auf die Textstelle verweist. 15 Cf. ibid.: „In den Gegenüber- und Zusammenstellungen, die ein dichtes Netz von Ähnlichkeiten und inhaltlichen Bezügen spinnen, wird offensichtlich, weshalb die Bildsprache der klassischen Moderne nicht nur mit der Revolution von Form, Malstil und Kunstauffassung beschäftigt ist. In der anthropologischen Prägung von Sehgewohnheiten des Ähnlichen zeigt sich vielmehr die inhaltliche Rückseite der neuen Formen. Greifbar wird, daß die Verallgemeinerung von Formen keineswegs nur eine Frage von Stil und der formalen Entwicklungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts ist, sondern von den Künstlern aktiv als Arbeit an jenem Band zwischen Menschen verschiedener Zeiten und Kulturen verstanden wird, das ihre Zeitgenossen mit dem irritierenden Begriff Primitivismus belegen“. 16 So erkennt etwa Pablo Picasso „sich als der (imaginierten) ‚fremden Kultur‘ ähnlich und sein eigenes Kunstschaffen als mit den religiösen Praktiken der sogenannten ‚Primitiven‘ verwandt“ (ibid.: 9, Kursiv. im Orig.). 17 Bemerkenswerterweise kann sich die hier konturierte Ähnlichkeitsreflexion nicht nur auf eine eigene ‚Tradition‘ der ‚Ästhetik des Ähnlichen‘ (cf. Funk/ Mattenklott/ Pauen 2001b) berufen, sondern auch auf den zeitgenössisch von europäischen Ethnologen wie Lucien Lévy- Bruhl beschriebenen „mimetischen Charakter der ‚primitiven‘ modes of thought“ (ibid.: 12), die „die Welt nicht als Ensemble von distinkten Subjekten und Objekten, sondern als Gewebe von Ähnlichkeits-, Ansteckungs- und Verwandtschaftsbezügen fassen“ (ibid.: 13). 18 Küster sieht dem Relationsdenken des primitivistischen Diskurses und den anthropologisch begründeten „Vergleichsstrategien“, in denen die Methodik des Strukturalismus angelegt sei, ein „Ganzheitsideal“ (ibid.: 125) und ein „Bedürfnis nach einem übergeordneten Zusammenhang der Vielfalt menschlicher Kulturen“ (ibid.: 176) eingeschrieben, das um 1900 unter geänderten Bedingungen durch neue Bildmedien und anthropologische Forschung älteren ähnlichkeitstheoretischen Entwürfen aufruhe: „Hierin mag der Primitivismus und seine anthropologische Fundierung eine neue Etappe in einer ideengeschichtlichen Entwicklung darstellen, die schon in der Weltanalogie der Romantik oder auch in Charles Baudelaires Fleurs du Mal 1861 als ‚Correspondances‘ zu erkennen ist“ (ibid.). 19 Cf. zum Titel der ‚dissidenten‘ Surrealisten u. a. Hollier (1991: IX) und Eidelpes (2015: 26). Zum Zerwürfnis der frères ennemis Breton und Bataille cf. Lala (1992: 52, passim). Ein hier nicht ausgeführtes Beispiel für ein aus einem „certain état d’esprit qui s’éloigne du surréalisme“ (ibid.: 51) entwickeltes Relationskonzept stellt Friedrich Kieslers Konzept des Correalismus dar, das nicht explizit mit dem Ähnlichkeitsbegriff operiert, jedoch ein kontinuierliches Relationsgefüge konzipiert, das Mensch und Umwelt in ein nichtdichotomes Verhältnis der Wechselwirkungen einbindet. 20 Hollier zufolge schlägt Bataille den Begriff Documents als Titel vor (cf. Hollier 1991: VII). Er verweist auf dessen Bemerkung in der Zeitschrift Aréthuse 1926: „Des documents, écrit 66 DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 Dossier Bataille, souvent aussi intéressants du point de vue archéologique qu’au point de vue artistique mettent en relief l’effort accompli autrefois pour organiser un magnifique réseau de circulation“ (ibid.: VIII, Anm. 2). 21 Leiris betont das Heteroklite dieser Mischung: „Mixture proprement ‚impossible‘, en raison moins encore de la diversité des disciplines et des indisciplines que du disparate des hommes eux-mêmes, les uns d’esprit franchement conservateur […], alors que les autres […], s’ingéniaient à utiliser la revue comme une machine de guerre contre les idées reçues“ (Leiris 1992 [1963]: 293). 22 Dass nicht nur Bataille und Leiris, sondern auch Ethnologen den Primitivismusbegriff ablegen, zeigt Rivières in Documents erschienener Text über das Trocadéro, der die primitivistische Mode der Avantgarden kritisiert (cf. Hollier 1991: XV). Mit der auch hier impliziten horizontalen Relationierung verbindet sich die auch von Ethnologen geforderte Dezentrierung des ‚Eigenen‘: „A un axe vertical, l’anthropologie substituait un axe horizontal. La notion de ‚primitif‘ était remise en question, ‚l’autre‘ remplaçait ‚l’inférieur‘“ (Feyel 2010: s. p.). 23 Hollier bezieht sich zu Beginn dieser Passage auf den Ethnologen Schaeffner. „Le droit de choquer“ haben nach James Clifford Surrealisten wie Ethnologen: „Clifford en conclut que l’ethnographie ‚a en commun avec le surréalisme l’abandon de la distinction entre le haut et le bas de la culture.‘ Et de l’abandon de cette distinction découlerait que le bas ne choque plus“ (Hollier 1991: XVII). Dem setzt Hollier den unterschiedlichen Gebrauch des Begriffes informe entgegen (cf. Anm. 26). 24 Lala (1992: 55) spricht von einem „parti pris pour une ‚bassesse‘ qui ne ferait réductible en aucune façon“, Didi-Huberman von einem „symptôme capables [sic] de briser l’écran […] de la représentation“ (Didi-Huberman 1995: 63). 25 Didi-Huberman fasst dies mit Benjamin als „réflexion ‚épistémo-critique‘“, die den „anthropomorphisme de la connaissance“ ‚zerreißen‘ soll - „en autant de morceaux qu’il pourrait y avoir de ‚documents‘. Les ‚documents‘ n’illustrent pas une connaissance: ils en critiquent au contraire toute valeur axiomatique, […] parce que chacun d’eux oppose sa singularité, son exception, à la règle dont une connaissance serait tentée de poser l’exigence substantielle avant même de reconnaître l’‚insubordination matérielle‘ de ses propres objets. Déchirer un tel substantialisme revient […] à privilégier les relations sur les termes“ (ibid.: 38). 26 „Le ‚particulaire‘ en effet renvoie ici à l’hétérogénéité inéchangeable d’un réel, à un irréductible noyau de résistance contre la transposition, la substitution, un réel intraitable par la métaphore“ (Hollier 1991: XIII). 27 Die Betonung der „besognes des mots“ (ibid.) zeigt, inwiefern sich Batailles Einsatz des Formlosen von dem der Ethnologen unterscheidet: „Ce que Schaeffner veut, c’est classer même l’informe; alors que l’informe, pour Bataille, ‚déclasse‘. D’un côté la loi du sans exception, de l’autre celle d’une exception absolue, d’un unique sans propriétés“ (Hollier 1991, XVIII). 28 Cf. Didi-Huberman 1995. Cf. Eidelpes (2015: 37): „Rosalind Krauss (1985) und Georges Didi-Huberman (1995) haben das informe als relationale Kategorie analysiert, die nicht auf die absolute Negation oder Abwesenheit von Form ziele, sondern auf ihre Dynamisierung und das Spiel mit einer neuen Art von Ähnlichkeit, die Didi-Huberman als ‚transgressive Ähnlichkeit‘ bezeichnet.“ Eine solche dialektische Formulierung der „travail des formes“ als „[u]ne cruauté dans les ressemblances“ (Didi-Huberman 1995: 21, Kursiv. im Orig.) lässt sich an die Ästhetik des Hässlichen anschließen, wie sie Rosenkranz (1853) formuliert. Sie scheint jedoch nicht zuletzt auch in Auseinandersetzung mit Einsteins Kunsttheorie DOI 10.2357/ ldm-2019-0005 67 Dossier entwickelt worden zu sein, von deren Polarität von Tektonik und Metamorphose Bataille sich absetzt (cf. u. a. Kiefer 1994). 29 Bataille wirft den Surrealisten einen „‚idéalisme gâteux‘“ und eine „analyse idéologique élaborée sous le signe de rapports religieux“ vor (ibid.: 51). Das surrealistische Bild sei geprägt von einem naiven Hegelianismus als „biais de l’identité des contraires“ (ibid.: 59); sein „jeu des transpositions“, das „au-dessus“ des Surrealismus, gefährde seine Subversion (cf. ibid.: 56). Batailles Überbietung des rapprochement durch Kontradiktion und Dekomposition sei insofern „contraire au surréalisme“, als es auf „la rupture des fixations identitaires“ ziele (ibid.). In „Le langage des fleurs“ entwickelt er die Opposition haut/ noble - bas/ ignoble und stellt der surrealistischen „vision idéale d’une réalité sublime“ das ‚unmögliche‘ Reale, „la vie animale“ und ein „bestiaire burlesque“ gegenüber (ibid.: 53). ‚Dokument‘ meint insofern auch „une façon, pour l’image et le rapport imaginaire, d’atteindre leurs propres limites“ im Realen (Didi-Huberman 1995: 62). 30 Caillois verweist auf die Narbenbildung bei Gewebe und Kristallen: Trotz des „abîme qui sépare la matière inerte de la matière vivante“ (ibid.: 12) unterlägen sie gleichen Gesetzen. 31 Caillois führt hier Leonardos „science analogique, essentiellement visuelle“ an: Seine Maschinen funktionierten nicht, weil er sich, statt funktionelle „corrélations“ (ibid.: 16) zu suchen, nach dem Sichtbaren richtete, wenn er etwa den Vogelflügeln das Flugzeug nachempfand - wie später Goethe, der „les archétypes des phénomènes“ im Visuellen suche: „C'était faire œuvre de peintre, de poète, non de savant“ (ibid.: 17). 32 Das Collège de sociologie mag diesem Anspruch in gewissem Sinn entsprechen, ohne allerdings die methodischen Vorgehensweisen Caillois’ und ihre Motivation zu teilen: 1937 stellt er im Rahmen des Collège in einem Vortrag über Tiergesellschaften seine Thesen über die Unmöglichkeit einer strengen Abgrenzung zwischen Tier und Mensch vor, nicht ohne Widerspruch Batailles, der an einem Dualismus festhält (cf. Hollier 1995: 83-93). 33 Die Verbindung zwischen den angeführten kultur- und kunstwissenschaftlichen und ästhetischen Konzepten zeigt nicht nur Benjamins Interesse am Surrealismus (cf. Benjamin 2 1989), sondern auch die Nähe von Warburg und Batailles Documents, die Didi-Huberman (1995: 380sq.) betont. Einstein schreibt am 30.1.1929 an den Mitarbeiter der Bibliothek Warburg Fritz Saxl: „Es wäre mir lieb, wenn zwischen Ihnen, Ihrem Institut und unserer Zeitschrift eine Verbindung hergestellt werden könnte“ (Mettler et al. 2016: o. S.). Cf. ibid. zur fiktiven Rekonstruktion einer gemeinsamen Ausstellung von Documents und der Warburg-Bibliothek.