eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 51/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2022-0004
2022
511 Gnutzmann Küster Schramm

Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundartstufe

2022
Heiko Kist
Annika Kolb
51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 H EIKO K IST , A NNIKA K OLB * Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe It’s clear that older readers, including you and me, remain interested in the imaginative play of drawings and paintings, telling stories, and learning how to look at things in new ways. (T AN 2002: paragraph 3) Abstract. While picturebooks have been part of foreign language classrooms at primary level for quite some time, the potential of this literary format is now increasingly being discovered for the secondary level. The paper presents results from a reading project with secondary school learners in Year 9 of a German Realschule. In the first part, characteristics of picturebooks for young adults are identified. These are illustrated by sample picturebooks that were read in the project. Subsequently, the potential of picturebooks for foreign language teaching at secondary level is explored. Lastly, the paper presents the perspective of the students on selected picturebooks and their reading experiences. The learners read different texts in free reading phases and could choose from a range of follow-up tasks. Results of a questionnaire survey, a group discussion in class and the analysis of selected learner texts show what features of picturebooks make them interesting for students in secondary school and reveal picturebooks’ potential also for the secondary foreign language classroom. 1. Picturebooks for teenagers? „Am Anfang habe ich gedacht, Bilderbücher, für uns? […]; kann ich auch meiner kleinen Cousine weitergeben“ 1 - so äußerte sich ein Schüler zu unserem Bilderbuchprojekt in einer 9. Realschulklasse. Dass Bilderbücher sich vor allem an Kinder richten, ist wohl nicht nur unter Schüler*innen eine weit verbreitete Meinung. So charakterisiert Barbara B ADER (1976: 1) diese in ihrer häufig zitierten Definition unter anderem als „an experience for a child“. Die didaktische Literatur zum Einsatz von Bilderbüchern im Fremdsprachenunterricht ist ebenfalls vor allem in der Primarstufe verortet (vgl. z.B. E LLIS / B REWSTER 2014; E NEVER / S CHMID -S CHÖNBEIN 2006; G HOSN 2013; M OURÃO 2015). In jüngster Zeit gibt es jedoch auch einen gegenläufigen Trend. „A misunderstanding of the picturebook’s intended audience“ (M OURÃO * Korrespondenzadresse: Heiko K IST und Prof. Dr. Annika K OLB , Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Anglistik, Kunzenweg 21, 79117 F REIBURG . E-Mail: hapekist@gmail.com; annika.kolb@ph-freiburg.de Arbeitsbereiche: Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht, graphic novels / Englischunterricht in der Primarstufe, Einsatz von (digitalen) Bilderbüchern im Fremdsprachenunterricht. 1 Transkript Auswertungsgespräch, Moritz, Z 86-88. 42 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 2017: 253) - so beschreibt Sandie M OURÃO die vorherrschende Beschränkung auf die Primarstufe. Zunehmend wird das Potential dieser literarischen Form nun auch für die Sekundarstufe entdeckt (vgl. A LTER 2019; A LTER / M ERSE 2022; M OURÃO 2017; L AZAR 2015). Gleichzeitig werden immer mehr Titel publiziert, die auch für ältere Lernende interessant sein können. Unser Beitrag basiert auf einem Bilderbuchprojekt mit Schüler*innen einer 9. Realschulklasse, das von uns gemeinsam geplant und von Heiko K IST in einer seiner Englischklassen durchgeführt wurde. Wir versuchen zunächst, Charakteristika von Bilderbüchern für ein älteres Lesepublikum zu bestimmen und illustrieren diese an im Projekt verwendeten Texten. Weiterhin wird dargestellt, welche Lerngelegenheiten Bilderbücher im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe bieten können. Schließlich beleuchten wir die Perspektiven der Schüler*innen, die sich in freien Lesephasen mit einer Auswahl von Bilderbüchern beschäftigten, auf das Projekt. Der Leseprozess wurde begleitet von einem offenen Angebot von schriftlichen und mündlichen Aufgaben zu den einzelnen Bilderbuchtiteln. Die Ergebnisse einer Fragebogenerhebung, eines Auswertungsgesprächs mit den Schüler*innen nach Abschluss des Projekts sowie ausgewählte Lernendentexte zeigen, was Bilderbücher auch für Teenager attraktiv macht und dass damit motivierende und bereichernde Lernerfahrungen im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe geschaffen werden können. 2. Was macht ein Bilderbuch „erwachsen“? Bilderbücher sind eine Form der visuellen Literatur, die Bilder und verbalen Text kombinieren. Visuelle und verbale Elemente tragen dabei gleichberechtigt zur Erzählung bei; auch das Format und der Peritext (z.B. Schutzumschlag, Vorsatz, Titelbild, vgl. M OURÃO 2013b: 72) spielen für die Bedeutungsgenerierung eine Rolle. Seit den 1980er Jahren stehen Bilderbücher zunehmend im Fokus der Forschung (vgl. C OLOMER et al. 2010; K ÜMMERLING -M EIBAUER 2018), sie werden dabei beispielsweise aus historischer, literaturwissenschaftlicher und pädagogischer Perspektive betrachtet. Besonders die Beziehung zwischen Text und Bild wird auf vielfältige Weise charakterisiert (vgl. z.B. N IKOLAJEVA / S COTT 2001; S IPE 2012). Bilderbücher für ältere Lernende lassen sich auf einem Kontinuum zwischen cross-over picturebooks (B ECKETT 2012) - Bilderbüchern, die sich an verschiedene Altersgruppen richten - und solchen, die sich explizit an Erwachsene wenden, verorten (O MMUNDSEN 2018: 221). Das Phänomen der crossover literature - Texte, welche die traditionellen Grenzen zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur überschreiten - wurde zunächst für Romane beschrieben, trifft jedoch auf Bilderbücher in besonderem Maße zu; Sandra B ECKETT bezeichnet diese als „the ultimate crossover genre“ (B ECKETT 2012: 307). Bilderbücher haben häufig eine doppelte Zielgruppe („dual audience“, N IKOLAJEVA / S COTT 2001: 17), sie richten sich sowohl an Erwachsene als auch an Kinder. Dabei lesen die beiden Zielgruppen das Buch jeweils auf verschiedene Weise und bringen unterschiedliche Perspektiven ein. Gerade die bildliche Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 43 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Ebene ermöglicht durch ihre interpretatorische Offenheit auch weniger erfahrenen Lesenden einen Zugang (vgl. B ECKETT 2018: 210). Gleichzeitig werden ältere Lesende zunehmend von Verlagen als Zielgruppe entdeckt, was sich daran zeigt, dass einige Bilderbücher inzwischen explizit als „nicht nur für Kinder“, „für alle Altersgruppen“ oder sogar „für Erwachsene“ beworben werden (vgl. B ECKETT 2018: 212; O MMUNDSEN 2018: 225). Als Bilderbuchrezipient*innen werden Erwachsene nicht mehr vorrangig als Vor- und Mitlesende zusammen mit Kindern angesprochen, sondern als „readers in their own right“ (B ECKETT 2018: 217). Was macht diese Bücher nun auch für ältere Lesende, insbesondere Schüler*innen der Sekundarstufe, die gleichzeitig Fremdsprachenlernende sind, interessant? Wie im Folgenden gezeigt wird, verweigern sich viele dieser Texte traditionellen Genreerwartungen des Bilderbuchs und bedienen sich postmoderner Erzählweisen und Stilmittel (vgl. S IPE / P ANTALEO 2008). Dies betrifft thematische Aspekte, literarische Gestaltungsmittel sowie Protagonist*innen und Erzählperspektive. 2.1 „Picturebooks as an introduction to life“ (B ECKETT 2015: 66) - Herausfordernde, universelle und aktuelle Themen Eine erste Grenzüberschreitung findet sich bei den behandelten Themen, die das inhaltliche Spektrum dessen, was in Bilderbüchern für Kinder in der Vergangenheit - meist mit pädagogischen und/ oder protektionistischen Hintergedanken - für angemessen gehalten wurde, deutlich erweitern. Tod, Krankheit oder Fluchterfahrungen beispielweise werden in aktuellen Bilderbüchern nicht mehr tabuisiert, da sie auch schon Teil der kindlichen Lebenswelt sind: „Children, like adults, need reading experiences that allow them to explore dark, disturbing, and painful subjects because such subjects can touch them personally and constitute part of their life experience“ (B ECKETT 2018: 215). Für Lernende in der Sekundarstufe gilt das umso mehr. Auch Jugendlichen können Bilderbücher helfen, sich mit Themen ihrer Lebenswirklichkeit auseinanderzusetzen. Von den in unserem Projekt verwendeten Büchern thematisiert The Island (G REDER 2007) beispielsweise Fremdenfeindlichkeit, Gruppenzugehörigkeit und Mobbing, The Red Tree (T AN 2001) beschäftigt sich mit emotionalen Hochs und Tiefs, dem Gefühl von Isolation und Nicht-Verstanden-Werden und der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt - Themen, die für viele Jugendliche in der Pubertät äußerst relevant sind. Die doppelte Zielgruppe Kinder und Erwachsene wird weiterhin von Bilderbüchern adressiert, die philosophische Fragen aufwerfen und von menschlichen Grunderfahrungen erzählen: „Crossover picturebooks explore the human condition and deal with the important issues that touch young and old alike“ (B ECKETT 2018: 215). Beispiele für solche existentiellen Aspekte sind Themen wie der Verlauf der Zeit und die eigene Stellung innerhalb der Generationenfolge in Grandpa Green (S MITH 2011) oder Window (B AKER 2002), oder eigene Beitrag zur Gesellschaft in 44 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 The Promise (D AVIES 2013). Dabei stellen die Bücher mehr Fragen als dass sie Antworten geben, und vermitteln keine eindeutige Moral. In Window zeigt die australische Autorin Jeannie B AKER den Blick aus einem Fenster im Laufe von ca. 25 Jahren. Jede Leserin und jeder Leser wird in diesem Buch andere Details entdecken, eigene Erfahrungen mit Veränderungen über die Lebensspanne in den Rezeptionsprozess einbringen und den Text vor dieser Folie interpretieren. Schließlich ermöglichen es viele Bilderbücher, thematische Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Diskursen herzustellen, und damit zu Themen, die auch für viele Jugendliche relevant sind. Beispiele aus unseren Projektbüchern sind Rassismus (The Island) Umweltschutz und Nachhaltigkeit in Window und The Promise (D AVIES 2013) oder Fleischkonsum in Mr Maxwellʼs Mouse (A SCH / A SCH 2004). 2.2 Visuelle und verbale Gestaltung Was bestimmte Bilderbücher weiterhin interessant für ältere Lesende macht, sind Elemente der visuellen und verbalen Gestaltung der Texte sowie komplexe Bild-Text- Beziehungen. Einige Bilderbücher überschreiten dabei erneut traditionelle Genregrenzen. Sie nehmen beispielsweise Elemente von Comics auf oder machen in ihrer Bildsprache Anleihen beim filmischen Erzählen; E VANS (2015b) bezeichnet sie als „fusion texts“. Dies erhöht ihre Attraktivität für viele Teenager, deren Mediennutzungsvorlieben und -gewohnheiten diese Techniken entgegenkommen. In The Wolves in the Walls beispielweise finden sich zum einen Charakteristika von Bilderbüchern wie das Querformat sowie großflächige bildnerische Darstellungen mit wenig Text, zum anderen an Comics erinnernde Panels, Sprechblasen und an filmische Mittel erinnernde Nahaufnahmen der Protagonisten. Bilderbücher für ein älteres Publikum zeigen oft verstörende Realitäten und schaffen mit düsteren Farben und harten Kontrasten eine bedrückende Stimmung. The Girl in Red (F RISCH / I NNOCENTI 2012) zeigt ein als bedrohliches Wimmelbild gezeichnetes großstädtisches Setting, das von Verwahrlosung, Dreck und Armut gekennzeichnet ist und für die Protagonistin eine feindliche Umgebung darstellt. Die vorwiegend schwarz-weißen Kohlezeichnungen mit nur spärlich eingesetzten Farben unterstreichen die bedrohliche Atmosphäre in The Island. Die visuelle Gestaltung fügt häufig neue Bedeutungsebenen hinzu, welche Sachverhalte darstellen, die sich mit Worten nicht ausdrücken lassen und die Rezipient*innen zum Nachdenken bringen können: Ironically, good narrative illustration is not about ‘illustration’ at all, in the sense of visual clarity, definition or empirical observation. It’s all about uncertainty, open-mindedness, slipperiness, and even vagueness. There’s a tacit recognition in much graphic fiction that some things cannot be adequately expressed through words: an idea might be just so unfamiliar, an emotion so ambivalent, a concept so nameless that it is best represented either wordlessly, through a visual subversion of words, or as an expansion of their meaning using careful juxtaposition (T AN 2011; zitiert in E VANS 2015b: 117f.). Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 45 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Während die Illustrationen in Bilderbüchern für ein kindliches Publikum oft recht eindeutig sind und weniger Spielraum für Interpretationen bieten (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel), geben Illustrationen in „erwachseneren“ Bilderbüchern oft Rätsel auf und nutzen symbolische Darstellungen. Leser*innen wird dabei eine eigene Interpretationsleistung abverlangt: „For me, a successful picture book is one in which everything is presented to the reader as a speculative proposition, wrapped in invisible quotation marks, as if to say ‘what do you make of this? ’“ (T AN 2002: par. 19). Gerade solche Bilderbücher, in denen Text und Bild unterschiedliche Geschichten erzählen, bieten interessante Gesprächs- und Denkanlässe. Die Illustrationen füllen Leerstellen, die der verbale Text lässt und bewirken Ambiguität (vgl. C AMPAGNARO 2015: 122). In The Wolves in the Wall werden Collagen aus Fotos, Zeichnungen und computergenerierte Bilder genutzt, was den Text fragmentarisch wirken lässt und die Frage nach der Realität des dargestellten Geschehens betont. Zu dieser Infragestellung der Realität tragen in vielen Büchern postmoderne Erzähltechniken wie nicht-lineares Erzählen, Mehrperspektivität und Metafikitionalität bei (vgl. B ECKETT 2018; P AN - TALEO / S IPE 2008), beispielsweise in The Girl in Red. Ein weiteres Merkmal von Bilderbüchern, die sich nicht nur an Kinder richten, ist ihre Intertextualität. Häufig werden literarische oder andere künstlerische Werke zitiert. Um diese Anspielungen und den oftmals daraus resultierenden Humor zu verstehen, sind Vorkenntnisse erforderlich (vgl. L AZAR 2015: 99). Gleichzeitig regen diese intertextuellen Elemente zu einem Vergleich verschiedener Texte an. Bilderbücher für ein älteres Lesepublikum haben häufig relativ viel verbalen Text, wodurch komplexere Plotstrukturen dargestellt werden können. Auch wenn dies für Schüler*innen der Sekundarstufe die Attraktivität erhöht, bringt es häufig auch Herausforderungen durch weniger frequentes Vokabular und kompliziertere Satzstrukturen mit sich (beispielsweise die Höflichkeitsformen in Mr Maxwellʼs Mouse). 2.3 Protagonisten und Erzählperspektive Während in Bilderbüchern, die sich vor allem an jüngere Lesende richten, häufig Kinder als Protagonist*innen auftreten, machen ältere Hauptfiguren Bilderbücher auch für Lernende der Sekundarstufe interessant (vgl. L AZAR 2015: 97f.). In The Girl in Red, The Promise, The Watertower und The Red Tree treten jugendliche Protagonist*innen auf, in The Island und The Man Who Walked Between The Towers sind die Charaktere Erwachsene, Window begleitet den Protagonisten vom Babybis ins Erwachsenenalter. Besonders jugendliche Charaktere erleichtern Teenagern eine Identifikation mit den dargestellten Personen. Häufig wird das Geschehen aus ihrer Perspektive erzählt und ihr Blick auf die Welt dargestellt. In The Girl in Red begleiten wir die jugendliche Protagonistin durch eine als feindlich gezeigte großstädtische Szenerie, mehrfach blicken wir der Hauptfigur quasi über die Schulter und sehen die Ereignisse mit ihren Augen. In The Promise und The Herd Boy kommentieren die in der ersten Person erzählten Texte die in den Illustrationen dargestellten Ereignisse. 46 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 3. Das Potential von Bilderbüchern für den Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe Welche Lerngelegenheiten bietet dieses literarische Format nun für den Fremdsprachenunterricht? Im Folgenden fassen wir einige Aspekte zusammen, die in der didaktischen Literatur zur Arbeit mit Bilderbüchern mit älteren Lernenden dargestellt werden. Diese werden dann in Abschnitt 4 der Einschätzung aus der Perspektive der Schüler*innen gegenübergestellt. Bilderbücher für ein erwachseneres Publikum behandeln Themen, die für Jugendliche äußerst relevant sind (vgl. M OURÃO 2017: 253), was auch unsere Beispiele im vorherigen Abschnitt zeigen. Sie können Lernenden helfen, mit persönlichen Herausforderungen der Teenagerjahre zurechtzukommen und bieten Anlässe für Aufgabenformate, die Jugendliche persönlich involvieren. Häufig wird betont, dass Bilderbücher auch für Schüler*innen mit begrenzten Sprachkenntnissen einen motivierenden ganzheitlichen Zugang zu Literatur bieten. Die im Vergleich zu beispielsweise Jugendromanen deutlich geringere Textmenge kann Berührungsängste mit fremdsprachlicher Literatur abbauen. Gerade schwächeren Lesenden kann die Bildebene beim Verständnis des fremdsprachlichen Textes helfen, was ihnen so Erfolgserlebnisse verschafft. In der didaktischen Literatur wird postuliert, dass mit einem solchen niedrigschwelligen Zugang Bilderbücher auch den Einstieg in das Lesen komplexerer literarischer Texte erleichtern und somit auf den Literaturunterricht der Oberstufe vorbereiten können (vgl. D ELANOY 2017: 19; L AZAR 2015: 98). Gerade in extensive reading settings können die Bedürfnisse und Interessen heterogener Lerngruppen berücksichtigt werden (vgl. DA R OCHA 2017: 169). In diesem Zusammenhang wird eine weitere Stärke von Bilderbüchern darin gesehen, dass sie - unter anderem durch ihre Nähe zu Comics - an die außerschulischen Rezeptionsgewohnheiten Jugendlicher anknüpfen. Damit bieten sie die Chance, der gerade im Teenageralter zuweilen verbreiteten Abneigung gegenüber dem Lesen entgegenzuwirken: „To help students develop a fondness for reading, we argue that educators need to take an approach that liberally draws upon the works, formats and genres that students enjoy reading“ (T HOMPSON / M C I LNAY 2019: 67). Eine solche Argumentation folgt einem weiten Begriff von Literatur, welcher der Multimodalität aktueller Kommunikation gerecht wird und der traditionellen Fokussierung auf einen Kanon etablierter Werke im Literaturunterricht entgegengesteht (vgl. D ELANOY 2017: 17). Das komplexe Zusammenspiel von Text und Bild schafft Gelegenheiten zur Ausbildung von multiliteracies (vgl. B ULL / A NSTEY 2019; H ALLET 2012). Dazu gehört auch kulturelles Lernen (vgl. B LAND 2016; M OURÃO 2017: 252f.) sowie eine kritische Perspektive auf diese Texte: It is often through the pictures in picturebooks that students access other interpretations of what they take for granted and by using more challenging picturebooks we can provide our English language students with opportunities to question social constructs and to be critical readers (M OURÃO 2013a: 82; vgl. auch A LTER 2019; L AZAR 2015). Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 47 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Im Hinblick auf sprachliches Lernen laden gerade unkonventionelle und vielschichtige Bilderbücher zu einem Austausch über die Texte ein, was vielfältige kommunikative Sprechanlässe für den Unterricht schafft (vgl. A LTER 2019: 29; M OURÃO 2017: 254). Besonders die Bilder regen zu unmittelbaren Reaktionen an und fordern Diskussionen und den Austausch von verschiedenen Interpretationen heraus. Es ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse der Forschung von G HOSN (2013: 63) zum Einsatz von Bilderbüchern im Grundschulfremdsprachenunterricht auch für ältere Lesende zutreffen: Bilderbücher führten in ihrem Forschungsprojekt im Vergleich zu Lehrbuchtexten zu tiefgründigeren und authentischen Gesprächen im Klassenzimmer. Die doppelte Kodierung durch Text und Bild unterstützt dabei das Lernen sprachlicher Strukturen: „Images support the text in a mutual relationship and as learning is facilitated by visual cues, reading helps the brain to remember these language structures, as the learner will connect an image to the word it represents“ (E ISENMANN / S UMMER 2020: 55). 4. „This book really got me“ 2 - Ergebnisse aus einem Leseprojekt in der Sekundarstufe Welche Perspektiven haben nun Jugendliche auf Bilderbücher? Während es inzwischen einige Studien zur Bilderbuchrezeption von Kindern gibt (z.B. A RIZPE / S TYLES 2016; K AMINSKI 2013), berichten nur vereinzelte Publikationen davon, wie jugendliche Lesende auf Bilderbücher reagieren (u.a. L AZAR 2015; M OURÃO 2013a; P AN - TALEO 2012). In einem Leseprojekt mit einer 9. Realschulklasse in Baden-Württemberg im Frühling 2021 gingen wir dieser Frage nach. Ursprünglich war das Projekt als gemeinsame Leseerfahrung im Unterricht geplant, doch aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde es online im Fernlernmodus durchgeführt. Die Klasse bestand aus zwölf Mädchen und vierzehn Jungen. Lockdown-Reading war den Schüler*innen bereits aus der ersten Phase des Fernlernens im Mai 2020 vertraut, als die Klasse sich mit dem Text Eric (T AN 2010) in verschiedenen Aufgaben auseinandergesetzt hatte. Dass der offene Aufgabenkanon und die sehr ungewöhnliche Geschichte damals großen Anklang gefunden hatten, ermutigte uns zu diesem umfangreicheren Projekt. Dabei nahmen wir drei Forschungsfragen in den Blick: • Wie reagieren Jugendliche auf Bilderbücher im Englischunterricht? • Welche Merkmale von Bilderbüchern machen diese relevant und attraktiv für Jugendliche? • Welche Gelegenheiten für literarisches Lernen bieten Bilderbücher in einem aufgabenorientierten Lesesetting? 2 Ilja, Lesejournal zu The Promise. 48 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 4.1 Das Leseprojekt Über einen Zeitraum von drei Wochen mit jeweils vier Englischstunden beschäftigten sich die Schüler*innen mit einem selbst gewählten Bilderbuch. Dazu hatten wir ihnen eine Auswahl von zwölf Büchern zur Verfügung gestellt. Sie fertigten ein Lesejournal an, das sowohl aus verpflichtenden als auch optionalen Aufgaben bestand. Bei der Auswahl der Bilderbücher für das hier vorgestellte Projekt legten wir Wert auf eine große Bandbreite an Themen, die Jugendliche ansprechen können (s. Abschnitt 2.1). Des Weiteren wählten wir sowohl Bücher mit weniger komplexen Bild-Text-Beziehungen (z.B. Grandpa Green) als auch solche mit vielschichtigen und uneindeutigen verbalen und visuellen Texten aus, um den unterschiedlichen Vorerfahrungen der Schüler*innen mit multimodalen Texten Rechnung zu tragen. Die von uns ausgesuchten Bilderbücher stellte die Lehrkraft zu Beginn des Projekts in einem Präsenztreffen kurz vor. Die Schüler*innen konnten sich dann für je eines der Bücher entscheiden, die jeweils in dreifacher Ausfertigung vorhanden waren. Im Verlauf des Projekts arbeiteten die Schüler*innen selbständig in ihrem eigenem Arbeitsrhythmus an den Aufgaben des Lesejournals, wobei in regelmäßigen Videokonferenzen ihre Fortschritte besprochen und Hilfestellungen gegeben wurden (z.B. Erarbeitung von sprachlichen Mitteln zur Vorstellung eines Bilderbuchs). Da immer zwei bis drei Lernende das gleiche Bilderbuch ausgewählt hatten, konnten die Schüler*innen sich zusätzlich innerhalb der picturebook group im Onlineunterricht austauschen, auch ohne dass dabei die Lehrkraft involviert sein musste. 4.2 Die Aufgaben des Lesejournals Die Aufgaben, welche die Schüler*innen bei der Auseinandersetzung mit dem gewählten Bilderbuch unterstützen sollten, umfassten sowohl lesebegleitende Aufgaben, die sich nicht auf spezifische Titel bezogen, als auch solche, die das Lesen des individuell gewählten Bilderbuches begleiteten. Beide Aufgabentypen folgten handlungs- und produktionsorientierten Ansätzen (vgl. N ÜNNING / S URKAMP 2020) und regten zu einer kreativen Auseinandersetzung mit den Texten an. Sie sollten es den Schüler*innen ermöglichen, eigene Erfahrungen und Perspektiven einzubringen und selbst multimodale Ausdrucksformen zu nutzen, beispielsweise einen Instagram- Post der Hauptfigur zu entwerfen (vgl. Abbildungen 1 und 2,  S. 49). Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 49 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Abb. 1: Instagram-Post der Hauptfigur zu Grandpa Green und The Island Ein Schwerpunkt lag auf der Erarbeitung eines book talks, den die Schüler*innen auf Video aufnahmen, um ihr gewähltes Buch den Mitschüler*innen vorzustellen. Beispiele für die Aufgaben des Lesejournals: • Sprechblasen zu Bilderbuchseiten hinzufügen • die Lieblingsszene zeichnen und deren Wirkungskraft beschreiben • einen Brief an einen Freund/ an den/ die Autor*innen schreiben • eine Silhouette der Hauptfigur ausschneiden und in eine neue Szene integrieren • sich selbst an geeigneter Stelle im Bilderbuch einzeichnen und die Szene beschreiben • eigene Erfahrungen zur Gefühlswelt und zur Thematik des Bilderbuchs erzählen (z.B. unheimliche Erlebnisse, Familienbeziehungen) Abb. 2: Beispielaufgaben des Lesejournals 50 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 4.3 Datenerhebung und -auswertung Im Laufe des Projekts erhoben wir drei Typen von Daten: Je ein Fragebogen zu Beginn und nach Abschluss des Leseprojekts sollten Aufschluss darüber geben, ob und inwieweit sich die Einstellung der Jugendlichen zu Bilderbüchern im Lauf des Projekts veränderte (FB 1: n=26; FB 2: n=25). Ergänzt wurden diese Einsichten in die Perspektive der Jugendlichen auf das Projekt durch ein Abschlussgespräch mit der Klasse, das wir in Form einer Videokonferenz als Teil des Distanzunterrichts führten. Darin äußerten sich die Jugendlichen sowohl zu ihren Erfahrungen mit dem Leseprojekt als auch zu ihrer Bewertung des Potentials von Bilderbüchern für das Englischlernen. Das Gespräch wurde aufgenommen und anschließend transkribiert. Eine dritte Datenquelle stellten die umfangreichen Texte der Lernenden in ihren Lesejournalen dar, in welchen diese ihre Leseprozesse dokumentierten. Im Gegensatz zu den Daten aus den Fragebögen und dem Auswertungsgespräch auf Deutsch verwendeten die Schüler*innen hier die englische Sprache. Alle drei Datentypen wurden computergestützt mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Während die Fragebögen (FB I und II) von den Schüler*innen anonym ausgefüllt wurden, wurden die Sprecher*innen im Transkript des Auswertungsgesprächs (TA) und die Texte der Lernenden in den Lesejournalen (LJ) und book talks (BT) pseudonymisiert. 4.4 Ergebnisse 4.4.1 Wie reagieren Jugendliche auf Bilderbücher im Englischunterricht? Die Vorankündigung der Lesephase wurde von den Jugendlichen zuerst mit gemischten Gefühlen angenommen. Einer Gruppe von 13 Lernenden, die im Fragenbogen vor der Leseeinheit angaben, sich auf das Projekt zu freuen, standen sieben Schüler*innen gegenüber, die das verneinten (vgl. Abb. 3). Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 51 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Abb. 3: Einschätzung des Bilderbuchprojekts vor und nach der Unterrichtseinheit Circa ein Drittel der Jugendlichen gab außerdem an, nicht gerne ein Bilderbuch im Englischunterricht zu lesen. Knapp die Hälfte der Schüler*innen bezeichnete Bilderbücher vor dem Projekt als kindisch, einige außerdem als langweilig oder altmodisch (vgl. Abb. 4). Abb. 4: Charakterisierung von Bilderbüchern vor/ nach dem Projekt (Anzahl der Nennungen) 0123456789 10 1 (trifft zu) 2 3 4 5 6 (trifft gar nicht zu) Auf das Unterrichtsprojekt "Picturebooks for Young Adults" freue ich mich. 02468 10 12 14 16 18 Das Projekt "Picturebooks for Young Adults" fand ich... 0 5 10 15 20 25 aufregend interessant unterhaltsam abwechslungsreich ansprechend altmodisch Welche Eigenschaften besitzen Bilderbücher für dich? pre-reading post-reading 52 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 Nach dem Abschluss des Projekts änderte sich dieses Bild. Sowohl im Abschlussgespräch als auch in den Fragebögen wird deutlich, dass einige Schüler*innen nun zu einer anderen Einschätzung kamen. 23 Schüler*innen gaben an, dass ihnen das Projekt super oder eher gut gefallen habe, nur zwei Lernende bewerteten es als „eher nicht gut“ (vgl. Abb. 3). Nur noch je eine Nennung gab es bei der Charakterisierung von Bilderbüchern als „kindisch“ oder „langweilig“ (vgl. Abb. 4). Im Abschlussgespräch erzählen einige Schüler*innen, dass sie dem Projekt anfangs sehr skeptisch gegenübergestanden hatten, wie auch das Eingangszitat deutlich macht, dass sich ihr Standpunkt aber nun geändert habe. Was diesen Meinungsumschwung befördert hat, versucht der nächste Abschnitt zu beantworten. 4.4.2 Welche Merkmale von Bilderbüchern machen diese relevant und attraktiv für Jugendliche? Ein erstes Merkmal von Bilderbüchern, das Jugendliche für dieses literarische Format einnahm, sind für sie relevante Themen, die in den Bilderbüchern angesprochen werden. Eine Schülerin bezeichnet sie als „ernste Themen“ - im Gegensatz zu solchen in Bilderbüchern für Kinder. In der Fragebogenerhebung wird das in der nach dem Projekt höheren Zustimmung zur Charakterisierung von Bilderbüchern als „ansprechend“, „informativ/ lehrreich“ und „interessant“ deutlich (vgl. Abb. 4) Die Kombination von Text und Bild sorgt dafür, dass auch mit weniger Text komplexes Erzählen möglich wird und attraktive Gegenstände verhandelt werden können; das Narrativ wird gewissermaßen komprimiert. Drei Schüler*innen meinen zu diesem Aspekt: Es hat mir gefallen, dass mit wenig Text und ein paar Bildern eine interessante Geschichte erzählt wurde. (FB I F5) Ich denke halt auch die Geschichte hätte man, glaube ich, bestimmt auch irgendwie in einem richtigen Buch zusammenfassen oder umschreiben können, und so war es halt kurzgefasst und trotzdem alles Wichtige. (TA, Grandpa Green, Z 256-258) … außerdem erzählen die Bilder viel mehr Geschichten als Bücher ohne Bilder. (FB II, F 9) Wie wichtig es für die Schüler*innen ist, einen persönlichen Bezug zur Thematik des Buches herzustellen, verdeutlichen die folgenden Zitate aus den Fragebögen, in denen die Auswahl des Bilderbuchs begründet wird: Mich hat das Buch Grandpa Green direkt angesprochen. Ich habe selbst keinen lebenden Opa mehr und auch nicht viele Erinnerungen. (FB II, F4) Da ich in dem Buch mein Lieblingsmärchen gesehen habe. (FB II, F4) Weiterhin begründen viele Schüler*innen ihre nun positive Einstellung zu Bilderbüchern mit deren Zugänglichkeit. Dies zeigt sich zunächst in der Bewertung von Bilderbüchern als „einfach zu lesen“ in der Fragebogenerhebung, die allerdings nach dem Projekt etwas geringer ausfiel (vgl. Abb. 4). Gerade Schüler*innen, die im Allgemeinen weniger gerne lesen, erwähnen die im Vergleich zu einem Roman reduzierte Textmenge und die visuelle Ebene, welche für einen niederschwelligen Zugang Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 53 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 zu einem literarischen Text sorgen. Ein Schüler drückt das im Auswertungsgespräch so aus: Es macht auch mal Spaß wieder ein Bilderbuch zu lesen und sich nicht durch 400 Seiten pure Buchstaben zu lesen. (TA, Moritz, Z 89-91) Die Kombination von Text und Bild wird von vielen Schüler*innen als attraktives Merkmal von Bilderbüchern herausgestellt. Dabei werden verschiedene Aspekte angesprochen. Zum einen erwähnen zahlreiche Lernende, dass die Bilder sie beim Verstehen des fremdsprachlichen Texts unterstützen: „Through the pictures I could understand the story much better and also put myself in well with the girl“ formuliert es Amelie in ihrem Lesejournal zu The Promise. Zum anderen betonen die Schüler*innen, dass die Bilder dem Leseprozess eine weitere Ebene hinzufügen. So bezeichnet Amelie die Bilder als „kleine Anschübe“ (TA, Amelie, Z 67), die es ihr ermöglichen, „dass man da weiterdenken kann“ (ebd., Z 76). Auch die emotionale Dimension des Erzählten wird vor allem auf der visuellen Ebene realisiert. Eine Schülerin meint dazu: The green pictures have given me summer vibes. (LJ Selina zu Grandpa Green) Die Bilder ermöglichen außerdem eigene kreative Zugänge zum Buch. Vor allem die Bildebene schafft Gelegenheiten für die Imagination der Lernenden, ganz ähnlich wie es S HAUN T AN in seinem Zitat (Abschnitt 2.2.) beschreibt („some things cannot be adequately expressed through words“): Es gab nicht so viel zum Lesen, aber trotzdem gab es eine ganz große Geschichte, weil man sich dann zu den Bildern auch noch mal eine Geschichte vorgestellt hat (FB II, F 5). Ein weiterer Punkt ist die Authentizität des Lesens eines englischsprachigen Bilderbuchs. Einige Schüler*innen nahmen das Projekt im Vergleich zur Arbeit mit dem didaktisierten Lehrwerk als lebensnaher und anwendungsorientierter wahr, was auch in folgendem Zitat deutlich wird: Und es hat halt echt geholfen, weil ich glaube im Englischen lernt man immer nur so, was wirklich korrekt ist und ich glaube so durch die Bilderbücher kriegt man nochmal (…) ein anderes Sprachgefühl, auch so mit Umgangssprache und so denke ich. (TA, Amelie, Z 230- 232) Benannt wird auch ein Mehrwert für den Erwerb sprachlicher Kompetenzen; die Arbeit mit den Bilderbüchern ermöglicht den Schüler*innen aus ihrer Sicht den Erwerb von Wortschatz und Strukturen in einem authentischen Kontext. 4.4.3 Welche Gelegenheiten für literarisches Lernen bieten Bilderbücher in einem aufgabenorientierten Lesesetting? Zusätzlich werfen die im Projekt erhobenen Daten auch einige Schlaglichter auf die Leseprozesse der Schüler*innen und zeigen Möglichkeiten für den Erwerb literatur- 54 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 bezogener Kompetenzen (D IEHR / S URKAMP 2015). Im Hinblick auf attitudinal-motivationale Kompetenzen verdeutlicht der vorherige Abschnitt das Potential des literarischen Formats Bilderbuchs für den Aufbau einer positiven Einstellung zu literarischen Texten. Die Mehrheit der Schüler*innen schreibt im Fragebogen, dass das ausgewählte Buch sie aufgrund der Thematik oder der visuellen Gestaltung direkt angesprochen habe. Beim Lesen gelingt es vielen Schüler*innen, persönliche Bezüge zwischen den Texten und der eigenen Lebenswelt herzustellen. Beispielweise schreibt Selina in ihrem Lesejournal: „I’m happy that I chose this book (Grandpa Green), because while I was reading it, I was thinking about my grandfather, who doesn’t live anymore.“ Die Schüler*innen entwickeln „Freude an ästhetischen Merkmalen“ (D IEHR / S URKAMP 2015: 25) der Bilderbücher, was in diesen Zitaten deutlich wird: Mir hat gefallen, wie sich die Farben der Bilder im Verlauf von dem Buch geändert haben (FB II, F5) The book is very colourful and all the colours fit together very well. That’s why it appealed to me personally. Sometimes you have to think twice what the author wants to say (LJ Tanja zu A House that once was) Außerdem zeigen sie „Einfühlungsvermögen in Figuren“ (ibid.: 25): I identify with her because I am also very dreamy and thoughtful and I also know these moods that she describes (LJ Anna zu The Red Tree). I really like this scene, because the tree is beautiful and the girl is happy and that makes me happy too (LJ Jennifer zu The Red Tree) Die Beschäftigung mit den Bilderbüchern bot den Schüler*innen weiterhin Möglichkeiten der Entwicklung von ästhetisch-kognitiven Kompetenzen. In einigen Lernendentexten wird deutlich, wie ihnen das „Erkennen und Deuten ästhetischer Darstellungsformen“ (D IEHR / S URKAMP 2015: 25) gelingt. Die Schüler*innen beziehen den visuellen und den verbalen Text aufeinander: I like the colours in this picture, because they look scary like they want to say: “Do not swim here, there is a monster in it” (LJ Joshua zu The Watertower). Die Bilder finde ich sehr wichtig denn sie geben der Geschichte noch mehr Leben und füllen Lücken aus (FB II, F10) Auch die Bilder haben erst so gar keine richtige Bedeutung gegeben, wenn man das so sagen kann. Und dann, wenn ich es halt verstanden habe, habe ich auch die Bilder verstanden. Was die eigentlich damit sagen wollen, so richtig (TA, Tanja, Z 103-105) Die Lernenden setzen sich mit in den Bilderbüchern dargestellten Werten auseinander und kommen zu persönlichen Beurteilungen der Bücher: There is a contrast of machinery, technique and nature (LJ Anna zu The Red Tree) In the end I want to say that I really like this book because it showed me how a heart and a world can change (LJ Ilja zu The Promise) Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 55 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Schließlich bieten Bilderbücher auch Gelegenheiten zur Förderung sprachlich-diskursiver Kompetenzen. Im Hinblick auf Lernstrategien erwähnen die Schüler*innen, dass ihnen die visuelle Ebene helfe, sich sprachliche Strukturen im Gedächtnis zu behalten, und Bedeutungen aus dem Kontext zu erschließen: Weil ich finde man kann da gut Englisch lernen, weil man es sich mit den Bildern alles leichter merken kann (FB II, F1) Durch Lesen lerne ich persönlich sehr gut. Man sieht wie Wörter geschrieben sind, auch wenn man nicht jedes Wort versteht, versteht man den Inhalt trotzdem (FB II, F3) Das Leseprojekt enthielt eine Vielfalt von Aufgaben, in denen die Lernenden ihre Reaktion auf die Texte dokumentierten. Die Schüler*innen empfanden dabei den Austausch über die verschiedenen Bücher als motivierenden Kommunikationsanlass. Der Austausch in den book talks und die Lesejournale lassen sich mit D IEHR / S URKAMP (2015: 25) als „Anschlusskommunikation unter Nutzung des themenspezifischen Wortschatzes und der generisch-diskursiven Muster eines literarischen Textes“ charakterisieren. Die Schüler*innen stellten besondere Gestaltungsmerkmale ihres ausgewählten Bilderbuches heraus: The book is drawn very realistically, and I like that personally really much. In one scene Bubba gets scared by something. We don’t see what scares him, only his face, and this is the best scene, I think, because one can speculate what happened to him. After that Bubba changed and I think, Gary Crew wants to say that loneliness and fear can change persons and loneliness is a big problem of this lockdown (BT, Moritz, Z 17-22). The images and colours in the book are very dark. I think, these colours were the right choice because they underline this whole creepy story (BT, Lena, Z 23-25). Im Sinne „generisch-diskursiver Muster“ (D IEHR / S URKAMP 2015: 25) trugen die Lernenden bei der Aufgabenbearbeitung der Multimodalität des literarischen Formats durch das Verfassen von eigenen visuellen Texten Rechnung (vgl. Abb.1,  S. 49), in denen sie beispielsweise Farbgebung, Layout und Perspektiven zur Bedeutungserzeugung nutzten. 5. Fazit und Ausblick Im durchgeführten Projekt bestätigte sich das in der didaktischen Literatur dargestellte Potential von Bilderbüchern, gerade auch bei wenig leseaffinen Lernenden eine positive Einstellung zu literarischen Texten zu fördern und Vorbehalte gegenüber Literatur abzubauen. Es zeigte sich, dass sich die Perspektive der Schüler*innen auf Bilderbücher im Verlauf des Projekts maßgeblich zum Positiven änderte. Gerade das individuelle Lesesetting ermöglichte es, persönlichen Leseinteressen Rechnung zu tragen, wie es Tamara im Auswertungsgespräch erläutert: Also ich glaube auch, das ist relativ schwer, was für alle zu finden, weil […] es waren ja auch ein paar gruseligere dabei und ich glaube manche kommen halt gar nicht mit dem klar 56 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 und manche finden das voll cool / und dann so Fantasy […]. Ich fand das jetzt so wie es gemacht wurde, am besten, dass sich jeder sein eigenes raussuchen konnte und dann konnte man sich auch irgendwie austauschen, was cool ist und was nicht so (TA, Tamara, Z 163- 167). Es wurde deutlich, dass die Lernenden persönlich berührt auf die literarischen Texte reagierten und so Literatur emotional erlebten. Bilderbücher zeigten sich damit als Mittel, Berührungsängste gegenüber fremdsprachlicher Literatur abzubauen und zur Anbahnung von „lifelong reading“ (K RASHEN 2011) beizutragen. Es ergaben sich vielfältige Gelegenheiten zur Förderung des literarischen Lernens. Den Schüler*innen gelang es, die Texte auf die eigene Lebenswelt zu beziehen, Empathie mit den dargestellten Protagonist*innen zu entwickeln und Elemente der Bildsprache und deren Wirkung zu beschreiben. Gefördert werden konnten auch Kompetenzen im Bereich multiliteracies, wenn die Schüler*innen beispielsweise Farbgebung, Zeichenstile und Intentionen von Illustrator*innen analysierten und interpretierten. Ein kreatives, offenes Aufgabensetting sowie kooperative Lernformen und das Sprechen über das Gelesene trugen dabei maßgeblich zum Kompetenzerwerb bei. Die Schüler*innen betonten, dass sie den Austausch in der Gruppe und das Teilen der eigenen Leseerfahrungen mit den anderen als besonders gewinnbringend empfanden. Es ist zu hoffen, dass auch Lehrkräfte der Sekundarstufe das Potential von Bilderbüchern entdecken und dann zu einem ähnlichen Fazit kommen wie ein Schüler, der sich auf die Frage, ob sich seine Meinung zu Bilderbüchern geändert habe, wie folgt äußert: Sehr sogar, ich würde mir echt Bilderbücher in Englisch kaufen, weil ich finde sie echt spannend. (FB II, F7) Literatur Primärtexte A SCH , Frank / A SCH , Devin (2004): Mr Maxwell´s Mouse. Toronto: Kids Can Press. 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Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 57 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Sekundärtexte A LTER , Grit / M ERSE , Thorsten (Hrsg.) (2022): Rethinking Picturebooks for Intermediate and Advanced earners. Tübingen: Narr. A LTER , Grit (2019): „Show me a story. Picturebooks in der Sek I: ein bekanntes Medium im neuen Kontext“. In: Englisch 5-10, 45, 28-31. A RIZPE , Evely / S TYLES , Morag (2016): Children Reading Picturebooks. Interpreting visual texts. London: Routledge. B ADER , Barbara (1976): American Picturebooks from Noah’s Ark to The Beast Within. London: Macmillan. B ECKETT , Sandra L. (2012): Crossover picturebooks. A genre for all ages. New York: Routledge. B ECKETT , Sandra L. (2015): „From traditional tales, fairy stories, and cautionary tales to controversial visual texts: Do we need to be fearful? “ In: E VANS , Janet (Hrsg.), 49-70. B ECKETT , Sandra L. (2018): „Crossover picturebooks“. In: K ÜMMERLING -M EIBAUER , Bettina (Hrsg.), 209-219. 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