eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 51/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2022-0008
2022
511 Gnutzmann Küster Schramm

Young Adult Literature and critical literacy - politische Bildung im fremdsprachlichen Literaturunterricht

2022
Britta Freitag-Hild
51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 B RITTA F REITAG -H ILD * Young Adult Literature und critical literacy - politische Bildung im fremdsprachlichen Literaturunterricht Abstract. This paper explores the role that Young Adult Literature can play for developing foreign language learners’ critical literacy in secondary schools. Drawing on Paulo F REIRE ’s Critical Pedagogy and approaches in literature and language pedagogy, critical literacy is understood as learners’ competence to critically reflect and question established beliefs, texts, representations and power relationships with the aim of participating in social transformation. The paper argues that critical literacy can be seen as a central goal of literature classes and illustrates how it can be transferred into classroom practice. Several texts are presented to show how learners may be encouraged to critically reflect social, political and environmental issues of global importance, such as climate change, racism, or social justice, thus developing skills they need to become critical agents of change. 1. Einleitung Welche Rolle können Literatur und Literaturunterricht in einer Zeit übernehmen, die von Krisen geschüttelt ist? Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind vielfältig und komplex, sie betreffen nicht nur das Leben vieler Einzelner, sondern die Weltgesellschaft und zukünftige Generationen insgesamt. Neben der Pandemie, die unser Leben nach wie vor prägt, gibt es eine Reihe weiterer globaler Problemlagen: Armut und zunehmende soziale Ungleichheiten, der Zugang zu hochwertiger, inklusiver Bildung und Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der Bedarf nach Arbeitsplätzen und sicheren Arbeitsbedingungen, der Zugang zu Trinkwasser und der schonende Umgang mit natürlichen Ressourcen, eine nachhaltige Lebensweise sowie der sich zuspitzende Klimawandel und schließlich Kriege und andere gewaltsame, extremistische und terroristische Auseinandersetzungen, die den Frieden bedrohen und Menschen in unsichere Krisensituationen führen. Um diesen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen, unterzeichneten die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen im Jahr 2015 die Agenda 2030 - ein ambitioniertes Aktionsprogramm, in dem 17 Nachhaltigkeitsziele, die Sustainable Development Goals (SDGs), formuliert wurden, die bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollen. Hochwertige, inklusive Bildung erhält hier eine * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Britta F REITAG -H ILD , Universität Potsdam, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Am Neuen Palais 10, 14469 P OTSDAM . E-Mail: freitagh@uni-potsdam.de Arbeitsbereiche: Literatur- und Kulturdidaktik, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Generisches Lernen. 108 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 zentrale Rolle, um Individuen und Gemeinschaften zu verantwortungsvollem Handeln als Weltbürger*innen in der Weltgesellschaft zu befähigen und um ihnen zu ermöglichen, als critical agents of change den sozialen Wandel mitzugestalten (vgl. UN 2015). Auch in der Fremdsprachendidaktik wird derzeit darüber nachgedacht, welchen Beitrag der Fremdsprachenunterricht für die Auseinandersetzung mit diesen gesellschaftlichen Herausforderungen leisten kann (vgl. z.B. die Beiträge in B URWITZ - M ELZER / R IEMER / S CHMELZER 2021). Der vorliegende Beitrag nimmt insbesondere die Literatur bzw. den fremdsprachlichen Literaturunterricht in den Blick. Die grundlegende Annahme lautet, dass Werke der Young Adult Literature aufgrund ihrer Thematik und ihrer literarischen Gestaltung besonders dazu geeignet sind, die Auseinandersetzung von Lernenden in der Sekundarstufe I mit diesen Problemlagen anzuregen. Unter Rückgriff auf Paulo F REIRE (1970) als Vertreter der Critical Pedagogy wird critical literacy verstanden als eine Kompetenz, Repräsentationen, Texte, Machtstrukturen etc. kritisch zu hinterfragen und im Sinne einer transformatorischen Pädagogik auch zu verändern. Aktuelle Kinder- und Jugendliteratur lädt nicht nur mit ihren jugendlichen Protagonist*innen Leser*innen zur Identifikation ein, sondern verhandelt darüber hinaus auch moralische und ethische Fragen der Gegenwart und entwirft literarische Szenarien, in denen junge Menschen gegen Missstände und Restriktionen aufbegehren, in denen sie gesellschaftliche Veränderungen anstoßen und in diesem Sinne zu agents of change werden. Der vorliegende Text erörtert daher die Frage, welchen Beitrag Werke der englischsprachigen Young Adult Literature - insbesondere solche mit Themen wie social justice und Nachhaltigkeit - für die Entwicklung einer critical literacy spielen können und wie die Auseinandersetzung mit diesen Werken im Fremdsprachenunterricht zur politischen Bildung beitragen kann. 2. Literaturunterricht als transformative Bildung: Themen für die Fridays for Future-Generation Während sich die fremdsprachliche Literaturdidaktik in den letzten Jahren intensiv mit der Frage nach dem Beitrag des fremdsprachlichen Literaturunterrichts zum literarischen Kompetenzerwerb auseinandergesetzt hat (vgl. z.B. H ALLET / S URKAMP / K RÄMER 2015), steht hier die Frage nach der Förderung einer Reflexionsfähigkeit durch die Auseinandersetzung mit kritischen und ernsten Themen im Literaturunterricht im Mittelpunkt. Dabei bezieht sich der Begriff der Reflexion auf das Nachdenken und die Beurteilung der im Text dargestellten Denk- und Verhaltensweisen, auf die kritische Reflexion der Wertvorstellungen literarischer Figuren und ihrer (literarischen) Lebenswelt, aber auch auf die bewusste Wahrnehmung, wie der Leseprozess durch den Text, z.B. durch die Erzählperspektive oder andere Verfahren der Sympathielenkung, gesteuert wird. Aus literaturdidaktischer Sicht kommt der Ausbildung einer solchen kritischen, distanzierten Lesehaltung neben dem einfühlenden, empathischen Lesen besondere Bedeutung zu: H ALLET (2009: 83) zufolge kommt die bil- Young Adult Literature und critical literacy 109 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 dende Funktion des Literaturunterrichts vor allem durch die Förderung solcher reflexiven Fähigkeiten zum Tragen, „denn in der Reflexion thematisieren sich Leser/ innen als agents, also als kulturelle Akteurinnen und Akteure und als Individuen, die sich denkend, ethisch wertend und handelnd in ein Verhältnis zur Welt setzen.“ Ein solches Verständnis von Lernenden als critical agents, die sich aktiv und handelnd in die Gestaltung der Welt einbringen, passt zum Selbstverständnis der „Generation Greta“ (H URRELMANN / A LBRECHT 2020), die sich in den letzten Jahren z.B. in der Fridays for Future-Bewegung zunehmend politisch zu Wort meldet. Es erscheint daher nur folgerichtig, wenn auch der Fremdsprachenunterricht und der fremdsprachliche Literaturunterricht die Fragen stellen und die Themen behandeln, die viele junge Menschen bewegen und die sie mitgestalten wollen. Dazu gehören zuvorderst die drängenden Fragen nach der Zukunft unseres Planeten und unserer Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen. Aber auch andere, oftmals existenzielle soziale und politische Fragen und Themen wie z.B. Ausgrenzung und Unterdrückung, Rassismus oder soziale Ungleichheit können und sollten in den fremdsprachlichen Literaturunterricht integriert werden, um Lernende als kulturelle Akteurinnen und Akteure in gesellschaftliche Prozesse zu involvieren und ihre Fähigkeiten als critical agents of change auszubilden. Zugleich sind dies Themen, die zentral in Texten der Young Adult Literature verhandelt werden. Wenn Lernende in gesellschaftlichen Transformationsprozessen eine aktive Rolle einnehmen wollen und sollen, benötigen sie entsprechende Kompetenzen, Einstellungen und Fähigkeiten. Dazu kann Bildung insgesamt, aber auch der fremdsprachliche Literaturunterricht, einen wesentlichen Beitrag leisten: Literarische Texte lösen Irritationen aus und fordern Lernende heraus, weil sie ethische und moralische Fragen verhandeln. Damit regen sie Lernende zur gemeinsamen Reflexion von Themen an, die den Einzelnen wie auch die Gesellschaft als Ganzes betreffen, ermutigen zur Stellungnahme und zum Handeln. So lässt sich Literaturunterricht im Sinne transformativer Bildung verstehen, der eine Veränderung individueller Bedeutungsperspektiven ebenso wie gesellschaftliche Transformationsprozesse anzustoßen vermag (vgl. WBGU 2011; S INGER -B RODOWSKI 2016). Damit fördert die Auseinandersetzung mit Literatur im Fremdsprachenunterricht diejenigen Fähigkeiten, die zur Veränderung und Mitgestaltung von Gesellschaft benötigt werden und die sich im Folgenden unter Rückgriff auf das Konzept der critical literacy näher bestimmen lassen. 3. Critical literacy als Lernziel für den Literaturunterricht Das Konzept der critical literacy geht zurück auf Ansätze der Critical Pedagogy, die mit F REIRES (1970) Pedagogy of the Oppressed verbunden ist. Es beruht auf der Grundannahme, dass unsere Welt sozial konstruiert ist und Sprache das zentrale Medium ist, über das wir uns die Welt erschließen, sie zugleich aber auch verändern können - „reading the word“ wird hier mit der Idee „reading the world“ verknüpft (vgl. F REIRE / M ACEDO 1987). Nach F REIRE ermöglicht Sprache nicht nur Dialog und 110 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 erfüllt damit eine kommunikative Funktion, sondern beinhaltet auch reflexive (reflection) und performative Dimensionen (action): Das ‚Erlesen‘ der Welt, die Beschreibung oder Bezeichnung der Umgebung mit eigenen Worten, versteht er als dialogischen und zugleich emanzipatorischen Akt der Lernenden im Sinne von Empowerment, mit dem sie selbst als Akteure mit ihrer eigenen Stimme die Welt verändern und auf diese Weise zur ‚Humanisierung‘ derselben beitragen: „If it is in speaking their word that people, by naming the world, transform it, dialogue imposes itself as the way by which they achieve significance as human beings“ (F REIRE 1970: 68). Das Konzept der critical literacy als Zielsetzung der Critical Pedagogy wurde in diverse Bildungskontexte übertragen und hat auch in der Fremdsprachenforschung (vgl. G UILHERME 2002; A KBARI 2008; L UKE 2012; sowie die Beiträge in G ERLACH 2020) und Literaturdidaktik Aufmerksamkeit erfahren (vgl. z.B. M C L AUGHLIN / D E V OOGD 2004a; M ATZ 2020). Hier wird critical literacy oft im Zusammenhang mit der reader response theory betrachtet und verstanden als eine kritische Perspektive, ein kritischer Akt des Lesens, bei dem Leserinnen und Leser über die Informationsentnahme (efferent reading) sowie über das ästhetische und einfühlende Lesen (aesthetic reading) hinaus gehen und einen distanzierten Blick auf den Text einnehmen, um seine Bedeutung zu reflektieren, um zu verstehen, welche Sicht er auf die Gesellschaft und lebensweltliche Diskurse einnimmt, und auch um das eigene Leseerlebnis und die Lenkung durch den Text kritisch zu betrachten. In der Rolle des kritischen Lesers geht es darum, einerseits Denk- und Verhaltensweisen der literarischen Figuren zu beurteilen und andererseits zu reflektieren, wie ein Text gestaltet ist, welche individuellen oder gesellschaftlichen Stimmen er aufgreift oder ausblendet, wie er die Leserinnen und Leser in ihrer Sinngebung lenkt und welche Funktion einem Text z.B. innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses zukommt. Aus Sicht der Critical Pedagogy zielt critical literacy aber nicht nur auf ein tiefergehendes, kritisches Textverständnis, sondern erfüllt zugleich eine gesellschaftliche bzw. politische Funktion: „Reading the word and the world“ (F REIRE / M ACEDO 1987) beziehen sich nämlich nicht nur auf literarische Texte, sondern generell auf die kritische Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen in der Gesellschaft, die sich in sprachlichen und literarischen, aber auch anderen Formen bzw. Modi der Repräsentation manifestieren können. Das Lernziel der critical literacy beruht auf einem weiten Textverständnis, das sich nicht nur auf Texte im engeren Sinne, sondern ganz allgemein auf die Wahrnehmung und kritische Reflexion gesellschaftlicher (Macht-) Verhältnisse, der Zusammenhänge zwischen Sprache und Macht sowie der Bedingungen des Zusammenlebens und der Gestaltung von Beziehungen innerhalb der Gesellschaft beziehen kann: Reading from a critical stance requires both the ability and the deliberate inclination to think critically about - to analyze and evaluate - information sources (e.g. texts, media, lyrics, hypertext), meaningfully question their origin and purpose; and take action by representing alternative perspectives. The goal is for readers to become text critics in everyday life - to comprehend information sources from a critical stance as naturally as they comprehend from the aesthetic and efferent stances. (M C L AUGHLIN / D E V OOGD 2004b: 53f.) Young Adult Literature und critical literacy 111 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 Die Zielsetzung, als „text critics in everyday life“ (ebd.) einen kritischen Blick auf Lebenswelt und Gesellschaft zu werfen, wird verbunden mit taking action: Es geht also nicht ausschließlich um kritische Reflexion, um Bewusstmachung und Beurteilung von Texten, Situationen, gesellschaftlichen Bedingungen und Machtverhältnissen, sondern auch um Handeln, um eine Reaktion der Lernenden auf den Text oder den betrachteten Sachverhalt, um das Einbringen einer alternativen Sicht, Perspektive oder Interpretation durch die Lernenden selbst. Das Wissen darüber, wie Sprache Bedeutung produziert und wie Sprache und Macht miteinander verbunden sind, ermöglicht es Lernenden, dieses Wissen für ihr eigenes Handeln zu nutzen, etablierte Bedeutungen oder Sprachverwendungen zu hinterfragen, umzudeuten und auf diese Weise zur Veränderung beizutragen. Wenn Lernende lernen, Sprache oder gesellschaftliche Diskurse kritisch zu reflektieren, zu hinterfragen oder herauszufordern, sie umzudeuten oder alternative Repräsentationen zu produzieren, kann auch der fremdsprachliche Literaturunterricht einen wichtigen Beitrag zu ihrer Partizipationsfähigkeit und zur Teilhabe an gesellschaftlicher Transformation leisten. Die Ausbildung von critical literacy wird nicht nur von Vertretern der Critical Pedagogy, sondern auch in der Literaturdidaktik mit dem Anspruch verbunden, gesellschaftliche Veränderungen im Sinne von social justice anzustoßen und aktive Teilhabe der Lernenden an Transformationsprozessen, z.B. in Form von social activism, zu ermöglichen (vgl. S TOVER / B ACH 2012). Diese Form der Politisierung von Literaturunterricht darf allerdings weder zur Überwältigung der Lernenden oder zur Instrumentalisierung für politische Zwecke noch zur Engführung bei der Auseinandersetzung mit einem literarischen Text führen: Weder die Lesart eines Textes noch die Urteile und Reaktionen der Lernenden auf den Text dürfen von der Lehrkraft auf eine bestimmte Perspektive hin eingeengt oder vorweggenommen werden. Vielmehr muss es darum gehen, die Vielfalt möglicher Interpretationen und Perspektiven auszuloten und Lernende auf dieser Grundlage zu eigenständigen Urteilen zu ermutigen. In Anlehnung an J UCHLERS (2015: 9) narrativen Ansatz einer hermeneutischen Politikdidaktik lässt sich Literatur so einsetzen, um Lernenden „einen verstehenden Zugang zum Politischen zu ermöglichen und sie auf dieser Grundlage zur politischen Urteilsbildung zu befähigen.“ Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Ziel, Lernende der Sekundarstufe I zu critical readers auszubilden, einen hohen Anspruch darstellt. Jedoch lassen sich dafür in der Literaturdidaktik etablierte Verfahren identifizieren, die im Folgenden skizziert werden. 4. Literaturdidaktische Zugänge zur Förderung von critical literacy Die Förderung von critical literacy ist nicht beschränkt auf einzelne Disziplinen, sondern muss als allgemeines Bildungsziel betrachtet werden. Zugleich ist die Frage berechtigt, welche fachspezifischen Inhalte, hier aus der Sicht des fremdsprachlichen Literaturunterrichts, sich eignen, um den kritischen Blick der Lernenden auf Texte, aber auch auf gesellschaftliche Strukturen und Bedingungen zu fördern. Das bildungs- 112 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 relevante Potenzial literarischer Texte für die Entwicklung reflexiver Fähigkeiten, von kulturellem Verstehen sowie von Empathie- und Urteilsfähigkeit steht dabei außer Frage (vgl. B REDELLA 2012). Diese Fähigkeiten sind wichtige Teilkompetenzen und Voraussetzungen für die kulturelle Handlungsfähigkeit der Lernenden und für ihre Partizipation und Mitgestaltung kultureller und gesellschaftlicher Prozesse. Zugleich wird in der Diskussion über kompetenzorientierten Unterricht auch hervorgehoben, dass sich die zu erwerbenden Kompetenzen stets nur im Tun, im Handeln in einer konkreten Anforderungssituation entwickeln lassen. Insofern ist der Prozess des Verstehens und der Reflexion, der bei der Rezeption literarischer Texte im Unterricht zunächst im Vordergrund steht, zu verbinden mit Möglichkeiten für die Lernenden zum Handeln, zur Partizipation und Mitgestaltung. Hier bietet das Konzept der critical literacy Ansatzpunkte, weil nach F REIRE - wie oben gesehen - Reflexion (reflection) mit Aktion (action), mit Partizipation und Mitgestaltung auch im Sinne der Transformation (transformation) von Gesellschaft verbunden wird. Im Folgenden gilt es daher zu erörtern, welche Aspekte bzw. Dimensionen im Literaturunterricht für die Förderung von critical literacy besonders zu berücksichtigen sind. Nach J ANKS (2014: 17) beginnt die Fähigkeit, Texte kritisch zu lesen, mit der Erkenntnis, dass es sich bei Texten nicht um neutrale Abbilder der Wirklichkeit, sondern um „partial re-presentations of the world“ handelt. Bei der Produktion einer Äußerung oder eines Textes müssen Sprecher*innen oder Autor*innen auswählen, welche Worte, welche sprachlich-diskursiven Strukturen ihre kommunikative Absicht angemessen ausdrücken können. Damit gibt die Art der Sprachverwendung, die Wahl einer bestimmten sprachlichen (oder anderen semiotischen) Form zugleich Hinweise auf die subjektive Positionierung der Sprecher*innen, die im Sprach- und Literaturunterricht reflektiert und analysiert werden kann: „In the process of re-presenting the world, text-makers have to make many choices. […] Every choice foregrounds what was selected and hides, silences or backgrounds what was not selected. Focusing on the selections gives us an opportunity to notice them and to think about their effects“ (ebd.: 17f.). Ziel bei der Entwicklung der Fähigkeit zum kritischen Lesen muss es daher sein, solche discursive choices bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren bzw. zu verstehen, auf welche Weise Wortwahl bzw. Sprachverwendung mit besonderen Interessen oder politischer Macht verbunden sein können. Nicht alle Entscheidungen bei der Formulierung einer sprachlichen Äußerung werden bewusst getroffen; dennoch kommt es für die Entwicklung von critical literacy darauf an, kritische Fragen zu stellen und mit Lernenden gemeinsam darüber nachzudenken, inwiefern eine bestimmte Wortwahl, Erzählperspektive oder die argumentative Darstellung eines Sachverhalts eine Positionierung beinhaltet: We need to ask critical questions: Who benefits and who is disadvantaged by the position on offer? Who does it include? Who does it exclude? How has the situation or the person or the action been construed? Are there other possible ways of interpreting what took place? What are the possible social consequences of this view of the world? In effect these are all just versions of the key question for critical literacy: Whose interests are served? (ebd.: 15) Young Adult Literature und critical literacy 113 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 Um im Literaturunterricht also neben Lesemotivation, Leseverstehen und Empathie auch das kritische Lesen zu fördern, müssen reflexive Fähigkeiten geschult werden. Der kritische Blick auf Fragen wie z.B., welche Erfahrungen und Sichtweisen in einem Text Gehör finden, ausgeblendet oder als weniger glaubhaft dargestellt werden, lassen sich (teilweise sprachlich vereinfacht) auch mit Lernenden der Sekundarstufe I reflektieren. M C L AUGHLIN / D E V OOGD (vgl. 2004a: 17f.) verweisen dabei auf vier Dimensionen zur Förderung von critical literacy, die für die Gestaltung des Literaturunterrichts Anwendung finden können - sie geben sowohl eine Orientierung bei der Textauswahl als auch Hinweise auf geeignete literaturdidaktische Zugänge, die der jeweiligen Altersstufe und dem fremdsprachlichen Können der Lernenden in der Sekundarstufe I angepasst werden müssen: 1) Irritationen auslösen: Critical literacy zielt darauf, etablierte oder für selbstverständlich gehaltene Denk- und Sichtweisen zu hinterfragen (vgl. ebd.: 17). Dafür eignen sich Texte, die selbst ungewohnte oder für die Lernenden fremde Perspektiven präsentieren bzw. inszenieren und dadurch gewohnte Sichtweisen aufbrechen. Um etablierte Denk- und Sichtweisen aufzubrechen, kann es hilfreich sein, solche Irritationen einerseits als Denkanstöße und als Motivation für das Leseerlebnis und den kommunikativen Austausch zu nutzen; andererseits darf die Irritation nicht dazu führen, dass das Leseerlebnis vorzeitig abgebrochen wird, weil die Lernenden keinen Zugang zum Text finden. Hierfür sind entsprechende Unterstützungsangebote von Seiten der Lehrkraft sinnvoll, die von den Besonderheiten des Textes ausgehen sollten. Darüber hinaus kann auch die kritische Analyse eines literarischen Textes - z.B. mit Blick auf die Erzählperspektive, repräsentierte Figurenperspektiven, ausgeblendete Stimmen oder Sichtweisen - dazu beitragen, für selbstverständlich gehaltene Denkweisen oder gewohnte Interpretationen zu hinterfragen. 2) Multiperspektivität erfahrbar machen: Das Aufbrechen gewohnter, typischer oder etablierter Sichtweisen lässt sich durch die Erfahrung von Multiperspektivität unterstützen (vgl. M C L AUGHLIN / D E V OOGD 2004a: 17); diese kann entweder durch die Reflexion und Differenzierung der verschiedenen (Figuren-)Perspektiven innerhalb eines Textes oder aber durch Perspektivenwechsel gefördert werden, wenn z.B. eine Situation oder Erfahrung aus dem Text aus einer nicht repräsentierten Figurenperspektive geschildert wird. Entsprechende Aufgaben sollten anregen, ein Erlebnis aus der Sicht einer Figur zu schildern, die im Text selbst z.B. nur Beobachter ist oder in die Leser*innen keinen Einblick erhalten. M C L AUGHLIN / D E V OOGD (2004a) schlagen außerdem die Transformation einer Erzählung in eine andere Zeit, ein anderes Setting und die Veränderung der Erzählperspektive oder der Protagonisten vor, die mit sprachlichem Scaffolding auch für Lernende der Sekundarstufe I umsetzbar sind (Veränderung von gender, race, ethnicity, class, age, etc.). 3) Soziopolitische Fragen reflektieren: Critical literacy zielt darauf, gesellschaftliche Machtkonstellationen zu hinterfragen, so dass bei der Literaturbetrachtung besonderer Wert auf die Analyse und Reflexion von Fragen gesellschaftlicher bzw. politischer Macht und Machtkonstellationen zwischen einzelnen Figuren und zwischen bzw. innerhalb gesellschaftlicher Gruppen gelegt wird (vgl. ebd.: 18). Auf diese 114 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 Weise können Lernende u.a. einen verstehenden Zugang zu den in literarischen Texten inszenierten Machtunterschieden gewinnen, repräsentierte und inszenierte Denk- und Verhaltensweisen genauer untersuchen und reflektieren. Dieser Fokus bietet sich insbesondere für Literatur an, in der ohnehin aktuelle gesellschaftliche Themen und soziopolitische Fragestellungen verhandelt werden (vgl. Abschnitt 5). Welche Themen sich für die jeweiligen Altersstufen der Sekundarstufe I eignen, sollte vom vorhandenen Weltwissen der Lernenden abhängig gemacht werden, das für ein angemessenes Textverständnis erforderlich ist. 4) Partizipation und soziales Engagement fördern: Da die Förderung von critical literacy nicht nur auf Reflexion zielt, sondern auch auf die Übernahme von Verantwortung und die Befähigung zu Teilhabe (vgl. ebd.), sollte das Lesen von Literatur auch verbunden werden mit dem Nachdenken darüber, was sich konkret in der eigenen Umgebung und in der Gesellschaft verändern muss, um gegen Ungleichheit in der Gesellschaft oder Weltgesellschaft anzugehen (z.B. in Bezug auf die Verteilung von Wohlstand und Reichtum, Zugang zu Bildung, das Zugeständnis politischer Rechte und gesellschaftliche Teilhabe) und um Gesellschaft inklusiver zu machen. Diese Dimension beinhaltet die Forderung, dass Literatur in Beziehung zur Lebenswelt der Lernenden gesetzt werden muss und mit ihnen gemeinsam Möglichkeiten zur Partizipation ausgelotet werden. Diese können u.a. im Erstellen eines politischen Schreibens, in der Entwicklung eines Unterstützungsangebots für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, in der Umsetzung einer Ausstellung zu einem für relevant erachteten Thema bestehen, auf das die Literatur ihre Aufmerksamkeit gelenkt hat. Auch in unteren Jahrgangsstufen lassen sich z.B. Ideen oder Handlungsempfehlungen für eine inklusive oder nachhaltige Schul- oder Klassengemeinschaft in der Fremdsprache formulieren. Die vier Dimensionen von critical literacy sind dabei alle gleichermaßen relevant für den Unterricht, und sie sind auch unabhängig voneinander im Unterricht oder für die Auswahl geeigneter Texte und Aufgaben einsetzbar. Welche Texte sich nun zur Ausbildung von critical literacy eignen und welche Zugangsweisen sich dafür anbieten, lässt sich im Folgenden exemplarisch anhand von Beispieltexten skizzieren; dafür wurden insbesondere Texte ausgewählt, die mit social justice, racism und climate change besonders aktuelle Themen verhandeln. 5. Young Adult Literature und die Förderung von critical literacy Die Themen, Genres und Ausprägungen der Young Adult Literature bieten vielfältige Möglichkeiten für den fremdsprachlichen Literaturunterricht, um junge Menschen zur Auseinandersetzung mit aktuellen, relevanten und für sie bedeutsamen Themen und Problemlagen heutiger und zukünftiger Gesellschaften zu motivieren. Wenngleich sich diese Werke keineswegs als ein einheitliches Genre präsentieren, so zeichnen sie sich zusammen betrachtet dadurch aus, dass ihre jugendlichen Protagonist*innen Situationen, Konflikte und Herausforderungen erleben, die andere Jugendliche in ähn- Young Adult Literature und critical literacy 115 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 licher Weise erfahren oder mit denen sie in ähnlicher Weise konfrontiert werden könnten (vgl. H AYN / K APLAN 2012: 1). Je nach Genre, ob es sich z.B. um einen realistischen Jugendroman, eine Dystopie oder Fantasy-Geschichte handelt, verändern sich das Setting, die Beziehungen der Protagonist*innen und ihre Konflikte sowie ihre Handlungsspielräume. Die im Folgenden vorgestellten Texte behandeln soziale und politische Themen wie z.B. Rassismus und die Bedrohung der Tierwelt und unseres Planeten durch den Menschen sowie den menschengemachten Klimawandel. Einige Texte lassen sich dem Bereich der realistischen Young Adult Fiction zuordnen und ermöglichen eine kritische Sicht auf unsere heutige Gesellschaft; andere entwerfen dystopische Zukunftsvisionen, die aber zugleich den Blick auf aktuelle Problemlagen lenken und die Frage aufwerfen, was zu tun ist, um derartige Szenarien zu verhindern. Für alle Texte gilt, dass sie - jeweils mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung - geeignet sind, um die vier Dimensionen von critical literacy im Literaturunterricht der Sekundarstufe I zu fördern und auf diese Weise Fähigkeiten der Lernenden auszubilden, um als critical agents of change einen aktiven Beitrag zur Gestaltung einer inklusiven und nachhaltigen Gesellschaft leisten zu können. Der realistische Jugendroman The Hate U Give von Angie T HOMAS (2017) erzählt aus Sicht der jugendlichen Starr Carter die Ereignisse nach dem Tod ihres Freundes Khalil, der während einer Polizeikontrolle von einem ,weißen‘ Polizisten erschossen wird. Leserinnen und Leser erleben aus der Innenperspektive und in zahlreichen dialogischen Passagen, wie Starr versucht, mit ihrer Rolle als Zeugin der erlebten Ungerechtigkeit, dem alltäglichen Rassismus gegenüber Afroamerikaner*innen in der amerikanischen Gesellschaft umzugehen und in der eigenen Familie, gegenüber Freunden, den Medien und der Polizei eine Stimme zu finden. Starr ist die Einzige, die Khalils Unschuld bezeugen kann, ihre Eltern versuchen sie jedoch zu schützen, und so muss Starr zunächst für sich selbst klären, welche Rolle sie einnehmen will. Bis Starr schließlich die bewusste Entscheidung trifft, dass sie ihre Stimme auch in öffentlichen Protesten für Khalil (und damit auch für andere Opfer von Polizeigewalt und institutionellem Rassismus) einsetzt, erlebt sie zunächst eine ganze Reihe von Situationen, in denen sie selbst oder ihre Familie den offenen und latenten Rassismus zu spüren bekommen: die unbewussten, verletzenden Äußerungen ihrer Freundin; die Befragung Starrs auf der Polizeiwache, die eher den Schusswaffengebrauch des Polizisten zu rechtfertigen versucht als die Unschuld Khalils zu beweisen; der brutale und erniedrigende Umgang mit Starrs Vater Maverick durch eine Polizeistreife. Die Identifikation mit Starr wird jugendlichen Leserinnen und Lesern ab Klasse 9/ 10 insofern erleichtert, als sie nicht nur als Ich-Erzählerin der Geschichte fungiert, sondern auch mit altersspezifischen Themen und Problemen eines Teenagers - Freundschaft, Liebe, Unabhängigkeit - beschäftigt ist. Zugleich inszeniert der Roman Starrs coming of age und ihre Identitätsfindung als einen Weg des finding your voice und der bewussten Entscheidung für social activism. Wenngleich der Roman u.a. auf problematische Narrative von black on black crime zurückgreift, insofern Khalil und andere Schwarze aus Starrs Umgebung in kriminelle Machenschaften und Drogen- 116 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 geschäfte verwickelt sind, ermöglicht der Jugendroman doch die Auseinandersetzung mit soziopolitischen Fragestellungen als einer wichtigen Dimension von critical literacy: Indem die Lernenden den Alltag Starrs erleben, macht der Roman die komplexen Zusammenhänge und Dimensionen unterschiedlicher Formen von Rassismus (offen vs. latent, individuell vs. institutionell) und der erwiesenen Benachteiligung von People of Color in der Gesellschaft auf einer individuellen Ebene greifbar. Zugleich können Aufgaben dazu anregen, Äußerungen und Verhaltensweisen mit Blick auf latent rassistische Denkweisen zu analysieren und zu hinterfragen sowie über Möglichkeiten des Umgangs mit solchen Situationen nachzudenken (vgl. F REITAG -H ILD 2021). In diesem Sinne eignet sich der Roman in vielfältiger Weise, Lernende zu einem kritischen Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse zu befähigen und ihre eigene Rolle als change agents zu reflektieren. Allerdings ist mit Blick auf den Romanumfang, das notwendige Kontextwissen zur African-American history und der Thematik eine Auseinandersetzung mit dem Roman als Ganzes erst ab Klasse 10 zu empfehlen. Die Buchreihe Seekers des Autorenteams mit dem Pseudonym Erin H UNTER lässt sich der environmentalist fiction zuordnen und widmet sich den Geschichten von drei jungen Bären, die in der Wildnis Nordamerikas unterwegs sind, Abenteuer überstehen und dabei lernen müssen zu überleben. Der erste Band, The Quest Begins (H UNTER 2009), erzählt abwechselnd von der Eisbärin Kallik, der Schwarzbärin Lusa und dem Grizzlybären Toklo: Der Lebensraum von Kalliks Familie, die zunächst mit Bruder und Mutter auf dem Eis lebt, gerät durch die zunehmende Wärme und die heißen Sommermonate in Gefahr. Das Eis schmilzt schneller als gewöhnlich und macht es unmöglich, sich ausreichend mit Nahrung zu versorgen, bevor die Bären den Sommer an Land verbringen müssen. Das schmelzende Eis wird zur Bedrohung für die Bärenfamilie, und der Versuch, von einer Eisscholle zur nächsten zu schwimmen, endet schließlich tödlich für Kalliks Mutter, die von Orkas angegriffen wird, und trennt Bruder und Schwester, so dass Kallik alleine weiterziehen muss. Die Schwarzbärin Lusa hingegen wächst von Tierpflegern umsorgt im Zoo auf und träumt vom Leben in der Wildnis. Sie reißt aus, um Toklo, den Sohn einer sterbenden Grizzlybärin, in den Wäldern Nordamerikas zu finden und diesem eine Nachricht seiner Mutter zu überbringen. Die Geschichten werden in der personalen Erzählsituation aus der Perspektive der drei Bärenkinder erzählt, so dass die Leserinnen und Leser deren fiktionalisierte Wahrnehmung der Ereignisse aus der Innensicht miterleben. Die heiße Sonne wird in der Wahrnehmung der Bären zum ‚Feuerhimmel‘ (burn-sky), die Besucher im Zoo zu ‚Flachgesichtern‘ (flat-faces) und Autos zu ‚Feuerbiestern‘ (firebeasts). Der Klimawandel und auch der Eingriff des Menschen in die Natur (z.B. durch den Bau von Schnellstraßen und Eisenbahnlinien) wird für die Bären zunehmend zum Problem, weil so ihr natürlicher Lebensraum und ihre Jagdgebiete zerstört werden. So werden sie entweder vom Menschen abhängig wie Toklos Mutter oder von ihnen gejagt und eingefangen, wenn sie sich zu nah an Menschensiedlungen heranwagen wie Kallik. Der inszenierte Perspektivenwechsel führt jugendlichen Leserinnen und Lesern Young Adult Literature und critical literacy 117 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 anschaulich vor Augen, wie Klimawandel und die Zerstörung des Lebensraums der Tiere das Schicksal der Bärenkinder beeinflussen und regt zur Reflexion über die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels an. Dabei wird das bedeutsame Thema verbunden mit spannenden und sprachlich leicht zugänglichen Geschichten, die die Themen bereits in den unteren Jahrgangsstufen der Sekundarstufe (Klasse 7/ 8) erschließen und die in der gesamten Lerngruppe auch auszugsweise oder alternativ als individuelle Lektüre gelesen werden können. Wenngleich davon ausgegangen werden kann, dass die jungen Leserinnen und Leser der Mittelstufe bereits mit dem Thema Klimawandel vertraut sind, bietet es sich an, zur weiteren Förderung von critical literacy die Lektüre eines Kinderromans wie Seekers zu verbinden mit der Erarbeitung oder individuellen Lektüre von Sachbüchern oder einer Recherche zu dem Thema. Ausgehend von den erzählten Erlebnissen der Bärenkinder und ihrer Schicksale können Rechercheaufträge zur Lebensweise bzw. zu den Lebensumständen von Bären ein Verständnis der Problematik fördern. Damit sollten die Geschichten nicht einfach als Sprungbrett für die Auseinandersetzung mit einem Sachthema verstanden werden. Vielmehr kann die Lektüre im Sinne eines ecocritical reading - also mit einem besonderen Blick auf die dargestellten Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt - dazu genutzt werden, um mithilfe der (fiktionalisierten) Erzählungen über Auswirkungen des Klimawandels auf Mensch und Umwelt ins Gespräch zu kommen. Die Verbindung von environmentalist und climate fiction lässt sich auch bereits in der Unterstufe (Klasse 5/ 6) mit dem Bilderbuch Greta and the Giants von Zoë T UCKER (2019) in den Englischunterricht integrieren. Die illustrierte Geschichte von Greta mit märchenhaften Elementen (sprechende Tiere, Riesen) ist inspiriert von der Fridays for Future Bewegung und von Greta Thunbergs Geschichte, die in einem Nachwort auch an die Leserinnen und Leser rekapituliert und mit einem call to action verknüpft wird: Das Mädchen Greta wird hier von den Tieren des Waldes zu Hilfe gerufen, weil Riesen rücksichtslos deren Lebensraum zerstören, um Häuser und Städte zu bauen. Gretas Idee für einen Protest, der wie Greta Thunbergs Skolstrejk För Klimatet mit einem einfachen Plakat beginnt, andere zum Mitmachen bewegt und am Ende in eine mitreißende Bewegung mündet, bringt die Riesen schließlich zum Umdenken, und so führt das Happy End der Geschichte zur Erkenntnis, dass sich das Erheben der eigenen Stimme und gemeinsames Handeln in Form von social activism lohnt, um für eine bessere und nachhaltige Zukunft zu kämpfen. Hier kann die von F REIRE eingeforderte Verbindung von reflection und action für die Entwicklung von critical literacy greifen, wenn Gretas Geschichte als Redeanlass genutzt wird, um über die Problematik des Klimawandels und des Umgangs des Menschen mit natürlichen Ressourcen zu sprechen und der Austausch dazu motiviert, über die eigene Rolle nachzudenken, welchen konkreten Beitrag die Lernenden ggf. selbst mit ihrem Engagement oder ihrer Stimme für Umwelt- und Klimaschutz leisten wollen. Einen ganz anderen Zugang zu dem Thema wählt Saci L LOYD (2008) mit ihrem dystopischen Roman The Carbon Diaries 2015. Das Leben in London, wo Laura Brown mit ihrer Familie lebt, ähnelt dem heutigen in weiten Teilen. Jedoch hat ein 118 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 großer Sturm große Teile Englands zerstört bzw. verwüstet und die englische Regierung hat zum Jahresbeginn als erster Staat innerhalb der EU - der Brexit spielt hier noch keine Rolle - ein carbon rationing system eingeführt, um die Bevölkerung zum Einsparen von CO2 zu bewegen und damit den Klimawandel aufzuhalten oder zumindest zu bremsen. Das System wird - wie die (fiktionalen) Zeitungsausschnitte in Lauras Tagebucheinträgen deutlich machen - von Politiker*innen als großer Durchbruch bejubelt und Europa und auch die USA (repräsentiert in der Stimme von Lauras Cousine, die in E-Mails und Textnachrichten zu Wort kommt) blicken mit einer Mischung aus Anerkennung und Ungläubigkeit auf die Entwicklungen, die die CO2- Einschränkungen für den Lebensstandard der Briten mit sich bringen. Die anfänglichen Strategien der Familie Brown zum Umgang mit dem neuen System, das mit einer personalisierten Carbon Card und Strafen zur Durchsetzung der Energierationen einher geht, werden schnell auf eine harte Probe gestellt - Lauras Schwester Kim ist nicht bereit sich einzuschränken und möchte ihr altes Leben zurück. Lauras Vater, ein Dozent für Travel & Tourism, verliert seine Arbeitsstelle, und auch Lauras Mutter hat Schwierigkeiten, auf Bequemlichkeiten und Luxusgüter zu verzichten. Die Familie bricht auseinander, die Wetterextreme (Stürme, Dürre, Waldbrände, Flut) spitzen sich zu und die Browns finden erst am Ende des Jahres wieder zueinander zurück, als London aufgrund einer Flut im Chaos zu versinken droht und die Sorge der Browns um die Sicherheit und Gesundheit der eigenen Familie sie wieder vereint, auch wenn die Zukunft ungewiss bleibt. Das Zukunftsszenario, das entworfen wird, zeichnet ein düsteres Bild sowohl mit Blick auf den Klimawandel als auch auf die Gesellschaft und erweist sich angesichts zunehmender Wetterextreme und Klimaprognosen und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen zu Klimaschutz und Energiewende als höchst aktuell. Insofern ist die Nähe der Romanwelt zu unserer Gegenwart unübersehbar. Das Aufbegehren von Lauras Familie gegen die Einschränkungen der früheren Freiheiten führt aber nicht wie in den dystopischen Gesellschaften von The Giver von Lois L OWRY (1993), The Hunger Games von Suzanne C OLLINS (2008) oder Divergent von Veronica R OTH (2011) zur Überwindung eines totalitären Regimes, das eine alternative Welt geschaffen hat, in der individuelle Freiheiten, Grund- und Menschenrechte zugunsten der Gemeinschaft oder einer auserwählten Elite aufgegeben wurden (vgl. H ILL 2012: 103). Laura Brown ist keine mutige Protagonistin, wie wir sie aus The Giver oder The Hunger Games kennen, die wie Jonas oder Katniss als agent of change einen Weg aus einer totalitären Gesellschaft zeigen könnte. Ihre Stärke liegt vielmehr darin, dass sie trotz allem, was um sie herum geschieht, sich selbst und ihrer Familie treu bleibt und insofern in allem Chaos und trotz der üblichen Teenager-Themen für ihre Familie eine gewisse Stabilität und Zusammenhalt verkörpert. Mit Blick auf die Förderung von critical literacy lässt sich der Roman mit seiner realistischen, aber düsteren Zukunftsvision nutzen, um über alternative Lebensweisen zur Dekarbonisierung unserer Gesellschaft nachzudenken. Am Beispiel von Laura und ihrer Familie können Lernende über mögliche Zukunftsszenarien ins Gespräch kommen: Which social and climate-specific changes seem realistic, probable or exag- Young Adult Literature und critical literacy 119 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 gerated? Whose attitudes or behaviour seem desirable or problematic in your eyes? How do the changes in society affect the characters’ lives and (what) do they learn from these experiences? Which individual and collective values do the protagonists represent and which of these values seem relevant for our society and the world as a whole? In jedem Fall regt die Dystopie die Auseinandersetzung mit relevanten Fragen unserer Zeit an und ermutigt Leserinnen und Leser der Klassenstufen 9/ 10, Antworten auf drängende Fragen zu finden: „What can I do to prevent such a world? How can we survive? How can we remain human? “ (ebd.: 101). Das Potenzial der ausgewählten Geschichten liegt darin, dass ihre Protagonist*innen nicht nur aufgrund des Alters als geeignete Identifikationsfiguren für die junge Generation fungieren, sondern sie sich ebenso wie ihre Leserinnen und Leser in einer Lebensphase befinden, in der sie die eigene Rolle in der Gesellschaft, wer sie sind und wer sie sein wollen, in der sie ihre eigene Stimme und Identität erst finden müssen. Die vorgestellten Texte der Young Adult Literature laden insofern zur Identifikation mit den jungen Protagonist*innen ein, verhandeln aber zugleich moralische und ethische Fragen der Gegenwart, die mit den drängenden Fragen unseres Zusammenlebens verbunden sind. Indem die Lernenden sich im fremdsprachlichen Literaturunterricht mit diesen Fragen kritisch auseinandersetzen, können sie ihre Fähigkeiten einer critical literacy entwickeln, um sich als kulturelle Akteurinnen und Akteure in die Gestaltung einer nachhaltigen und inklusiven Welt und ihrer eigenen Zukunft einzubringen. Literatur Primärliteratur C OLLINS , Suzanne (2008): The Hunger Games. New York: Scholastic. H UNTER , Erin (2009): Seekers: The Quest Begins. London: HarperCollins. L LOYD , Saci (2008): The Carbon Diaries 2015. London: Hodder Children’s Books. L OWRY , Lois (1993): The Giver. London: HarperCollins. R OTH , Veronica (2011): Divergent. London: HarperCollins. T HOMAS , Angie (2017): The Hate U Give. New York: Balzer & Bray. T UCKER , Zoë (2019): Greta and the Giants. London: Quarto Publishing. Sekundärliteratur A KBARI , Ramin (2008): „Transforming lives: introducing critical pedagogy into ELT classrooms“. In: ELT Journal 62.3, 276-283. 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