eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 51/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2022-0009
2022
511 Gnutzmann Küster Schramm

Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens

2022
Doris Abitzsch
Ewout van der Knaap
51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 D ORIS A BITZSCH , E WOUT VAN DER K NAAP * Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens Abstract. This paper deals with a research area of the ERASMUS+ project Developing Teaching Competencies for Extensive Reading Programs (LEELU, 2016-2019), an international teacher training intervention on the topic of extensive or free voluntary reading. Subject-specific pedagogy experiences and insights of teachers who established this programme in German as a foreign language in grade 10 are highlighted. In Italy, the Netherlands and Hungary, teachers brought principles of free voluntary reading into practice and developed them further cooperatively. An open-ended teacher survey reveals the success of the programme. Interview transcripts deepen the results of the findings. 1. Einführung Im ERASMUS+-Projekt LEELU 1 wurde eine internationale LehrerInnenbildungsmaßnahme zum Thema freies Lesen durchgeführt und es wurde in Zusammenarbeit zwischen vier Universitäten 2 und neun Schulen 3 in drei Ländern ein Konzept für den extensiven Leseunterricht in Klasse 10 erprobt. Unzureichende Lesekompetenz von Jugendlichen (vgl. R EISS 2016) war Ausgangspunkt für das Projekt. Durch die * Korrespondenzadressen: Doris A BITZSCH , MA; Prof. Dr. Ewout VAN DER K NAAP , Universiteit Utrecht, Faculteit Geesteswetenschappen, Departement Talen, Literatuur en Communicatie, Duitse taal en cultuur, Trans 10, 3512 JK Utrecht, die Niederlande E-Mail: d.abitzsch@uu.nl; e.w.vanderknaap@uu.nl Arbeitsbereiche: Fremdsprachendidaktik, Deutschsprachige Literatur, fremdsprachliche Literaturdidaktik. 1 „Lehrkompetenzentwicklung für Extensiven Leseunterricht“. Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung tragen allein die Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben. 2 Loránd Tudományegyetem Budapest (HU), Università degli Studi di Palermo (I), Universiteit Utrecht (NL), Universität Wien (A) 3 Teilnehmende Schulen: Istituto Tecnico Economico per il Turismo Marco Polo (Palermo, I), Liceo Classico Statale Umberto I (Palermo, I), Liceo Linguistico Statale Ninni Cassarà (Palermo, I), Gerrit Rietveld College (Utrecht, NL), St. Bonifatius College (Utrecht, NL), Willem de Zwijger College (Papendrecht, NL), ELTE Apáczai Csere János Gyakorló Gimnázium és Kollégium (Budapest, HU), ELTE Trefort Ágoston Gyokorló Gimnázium (Budapest, HU), Madách Imre Gimnázium (Budapest, HU) N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l 122 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 Integration von freiem Lesen in den Unterricht an weiterführenden Schulen wurde u.a. angestrebt, Lesekompetenz zu fördern. Dieses Konzept umfasst fachdidaktische Prinzipien für die Gestaltung des freien Lesens und einen Bücherkatalog mit Lehrmaterialien, die den Lehrpersonen der teilnehmenden Schulen als Arbeitsmaterial zur Verfügung gestellt wurden und knüpft an dem Bedürfnis nach Verbesserung der Lese- und allgemeinen Sprachkompetenz, sowie deren positiven Effekte auf die Lesemotivation von SchülerInnen an (vgl. A BITZSCH et al. 2019; A BITZSCH / VAN DER K NAAP 2019). Im Projekt ging es um das Erfahrungslernen von Lehrpersonen, die in Tandems aus LehramtsstudentInnen und erfahrenen Lehrpersonen gemeinsam ein extensives Leseprogramm in Deutsch als Fremdsprache implementierten. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich demnach mit den (fach)didaktischen Erkenntnissen, die die beteiligten Lehrpersonen während der Ausführung gewonnen und miteinander geteilt haben, und die zur Weiterentwicklung der fachdidaktischen Prinzipien und Arbeitsmaterialien verwendet wurden. Für die Dokumentation des Lernens der Lehrpersonen und den effektiven Einsatz des Programms zum freien Lesen wurden spezifische LEELU-Zielkompetenzen festgelegt. Wie praktikabel das Programm aus Sicht der betroffenen Lehrpersonen ist, wird durch Erkenntnisse einer schriftlichen Befragung dargestellt, die zum einen die Akzeptanz und Umsetzung des freien Lesens untersucht und zum anderen die Erfahrung der LehrerInnen in Bezug auf die Förderung von Autonomie und Motivation auf Seiten der SchülerInnen fokussiert. Darüber hinaus werden Gesprächsprotokolle nach Handlungsalternativen analysiert, um entstandene Probleme und gefundene Lösungsansätze zur Interpretation und Illustration heranzuziehen. 2. Zum Vorgehen im LEELU-Projekt Neben der Fokussierung auf die Weiterentwicklung fachdidaktischer Prinzipien des extensiven („freien“) Lesens verfolgte das Projekt einen multiperspektivischen Ansatz innerhalb der LehrerInnenbildungsforschung (vgl. H OFFMANN / D AWIDOWICZ 2017; S CHRAMM / D AWIDOWICZ / H OFMANN 2019). Basierend auf Prinzipien des Educational Design Research (P LOMP 2013) und des Konzepts einer professionellen Lerngemeinschaft wurden ca. 7 Monate Einheiten zum freien Lesen in den Unterricht integriert. Über diese Einheiten wurde auf Schulniveau, national und international wöchentlich zurückgeblickt und Verbesserungsmöglichkeiten wurden angewandt. Auf diese Weise sollte ein Konzept auf verschiedenen Ebenen entwickelt werden, das auf videobasierter (teilweise digitaler) kollegialer Kooperation zwischen LehrerInnen und LehramtsstudentInnen basierte (vgl. H OFMANN 2021). In Italien, den Niederlanden und Ungarn waren 18 Lehrpersonen (pro Schule ein Tandem aus LehramtsstudentInnen und erfahrenen Lehrpersonen) aktiv, die sich in verschiedenen Konstellationen persönlich und videobasiert, über die Prinzipien des freien Lesens verständigten. Dabei unterstützten sie Beobachtungsbögen und Videoaufnahmen des Unterrichts. Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 123 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 Der Artikel nimmt die Frage in den Fokus, wie die Lehrkräfte die Umsetzung des freien Lesens in den Unterricht reflektieren. Dazu werden zunächst der Inhalt der Intervention und die Art und Weise, wie die LehrerInnen zur Reflexion angeregt werden, dargestellt. 2.1 Konzept des freien Lesens Fiktionale Texte spielen im Lesefertigkeitstraining meistens eine geringe Rolle. Dennoch können auch fiktionale Texte für die Förderung von Sprachfertigkeit benutzt werden. Die Technik des extensiven Lesens bietet sich an, um LeserInnen so viel wie möglich mit der Fremdsprache in Kontakt zu bringen. Dieses Vorgehen kann bei jeglichen Textsorten angewandt werden. Dem Oberbegriff „extensives Lesen“ untergeordnet wird das „freie Lesen“, bei dem SchülerInnen und Lehrpersonen während der Unterrichtszeit mehrmals wöchentlich längere Texte eines angemessenen Schwierigkeitsgrads in individueller Auswahl und in individuellem Tempo lesen, um eine Förderung der allgemeinen Sprachkompetenz anzustreben (vgl. K RASHEN 2004). SchülerInnen, die bewusst und engagiert lesen, haben bessere Lernstrategien und höhere Lernerfolge (vgl. OECD 2016). Für unterschiedliche Aspekte der Sprachentwicklung werden in internationalen Untersuchungen positive Effekte freien Lesens festgestellt (vgl. K RASHEN 2004, 2011; J EON / D AY 2016; N AKANISHI , 2015; Y AMASHITA 2015; H ORST 2005; E LLEY 1991). Im LEELU-Projekt wurden ferner Fortschritte im allgemeinen Sprachstand im Vergleich zu den Kontrollgruppen untersucht (A BITZSCH et al. 2019). Ansätze für das freie Lesen sind zwar international diskutiert (vgl. P ILGREEN 2000; M ACALISTER 2015), allerdings sind Erhebungen von Projekten in diesem Bereich selten auf die Sekundarstufe ausgerichtet. Zudem lagen vor dem LEELU-Projekt noch keine Programme zum freien Lesen im Bereich Deutsch als Fremdsprache vor. Wesentliche Bedingungen des freien Lesens sind ein attraktives Angebot an Texten und eine entspannte Atmosphäre zum Lesen. Für den Erfolg des freien Lesens ist eine gute Ausstattung entscheidend; als Lehrkraft kann man auf eine gute (Schul-)Bibliothek nicht verzichten. Mehrere Studien haben gezeigt, dass freies Lesen im Klassenzimmer einen stärkeren positiven Effekt hat, je länger der Zeitraum des freien Lesens dauert. Programme, die ein Jahr oder länger dauern, erzielen ausnahmslos höhere Punktzahlen beim Textverständnis (vgl. K RASHEN 2004). Im Projekt wurden ausschließlich physische Bücher benutzt. Wege des digitalen Lesens wurden nicht untersucht und sind bezüglich des freien Lesens auch noch nicht überzeugend dargestellt. 2.2 Grundbedingungen für das freie Lesen Im LEELU-Projekt wurden den Schulklassen alle Materialien bereitgestellt. Dabei handelte es sich um eine Klassenbibliothek mit auf der Grundlage spezifischer Kriterien ausgewählter Lektüre (vgl. A BITZSCH / VAN DER K NAAP 2019). Die Lektüreaus- 124 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 wahl unterschied sich in den einzelnen teilnehmenden Ländern aufgrund der unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzung der SchülerInnen und Lehrplanvorgaben (vgl. A BITZSCH et al. 2019). Die SchülerInnen sollten während eines Zeitraums von 7 Monaten aus der Lektüre dieser Klassenbibliothek zweibis dreimal pro Woche 20 Minuten lesen können. Darüber hinaus wurde den LehrerInnen Material zur Dokumentation ihrer Beobachtungen und den SchülerInnen zur Bewertung von gelesenen Büchern zur Verfügung gestellt. Die LehrerInnen verfügten auch über Material und Vorschlägen zur Anregung von Reflexion sowie Strategientraining. 4 Die Lehrpersonen und SchülerInnen wurden außerdem durch die zuvor formulierten Prinzipien unterstützt (A BITZSCH et al. 2019; vgl. D AY / B AMFORD 2002): 1. Stellen Sie einfachen Lesestoff zur Verfügung. Achten Sie dabei dennoch darauf, dass der Lesestoff verschiedene Niveaus bedient. 2. Achten Sie darauf, dass der angebotene Lesestoff aus abwechslungsreichen Themen besteht. Stellen Sie deshalb auch Comics und Zeitschriften zur Verfügung. 3. Ermutigen und unterstützen Sie die SchülerInnen bei der Auswahl des Lesestoffs. 4. Geben Sie den SchülerInnen die Chance, so viel wie möglich zu lesen. 5. Stellen Sie sicher, dass die gewählten Titel ein hohes Lesetempo fördern. 6. Machen Sie den SchülerInnen deutlich, dass das Ziel des Lesens Entspannung, Information und allgemeines Verständnis ist. 7. Halten Sie die SchülerInnen dazu an, leise und individuell zu lesen. 8. Denken Sie daran, dass das Lesen bereits die Belohnung ist. Wenn die Umstände gut sind, reicht Ermutigung. Loben Sie keine Preise aus, testen sie die SchülerInnen nicht und lassen Sie keine Zusammenfassungen schreiben oder Lesetagebücher führen. 9. Erläutern Sie, dass SchülerInnen Bücher nicht zu Ende lesen müssen. 10. Seien Sie ein Vorbild und lesen Sie zur gleichen Zeit wie die SchülerInnen. 11. Schließen Sie sich mit Ihren Kolleginnen und Kollegen über das Programm kurz. 12. Lassen Sie die SchülerInnen die Titel der gelesenen Texte und deren persönliche Bewertung notieren. Behalten Sie diese Notizen für Ihre eigene Übersicht. Alle teilnehmenden Lehrkräfte wurden vor Beginn des freien Lesens in einer einwöchigen Präsenzveranstaltung gemeinsam zu den Grundbedingungen fortgebildet. In Bezug auf das freie Lesen lernten die LehrerInnen während dieser Fortbildung den Bücherkatalog kennen und entwickelten sie auf der Grundlage der für alle teilnehmenden Länder geltenden Prinzipien erste Verfahren zum Einsatz des freien Lesens in ihren spezifischen nationalen und schulinternen Kontexten. 2.3 LehrerInnenbildungskonzept Ansetzend an frühere Forschungsergebnisse zu professionellen Lerngemeinschaften und Ko-Konstruktion (vgl. u.a. B AUM / I DEL / U LLRICH 2012; D AWIDOWICZ / S CHRAMM 2016; W IPPERFÜRTH 2016) wurde im LEELU-Projekt ein Vorgehen konzipiert, durchgeführt und evaluiert, das Tandems bestehend aus erfahrenen LehrerInnen und LehramtsstudentInnen zum Besprechen und Analysieren ihres eigenen Unterrichts 4 Alle Materialien sind unter https: / / www.leelu.eu/ material/ zugänglich. Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 125 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 und des Unterrichts von anderen anregt. Angelehnt an Erkenntnisse von W IPPER - FÜRTH (2015) wurde dabei auf die Kombination von LehramtsstudentInnen und erfahrenen LehrerInnen gesetzt, um deren unterschiedlichen Erfahrungshintergründe und Perspektiven für die Bereicherung des kollegialen Austauschs fruchtbar zu machen. Die TeilnehmerInnen haben sich bei ihrem Austausch nicht nur auf ihren individuellen Schulkontext konzentriert, sondern auch schulübergreifend auf lokaler und internationaler Ebene zusammengearbeitet, um so die Perspektiven aller Lehrpersonen zu erweitern und durch Reflexion die individuelle professionelle (Weiter)Bildung zu unterstützen. Dieser Perspektivenwechsel und die dazugehörende Reflexion fand zunächst in jeder Schule zwischen erfahrenen LehrerInnen und LehramtsstudentInnen in Partnerarbeit und zumeist in Präsenz statt. Auf der Grundlage videographierter Unterrichtssequenzen durchlief jede Lehrperson mehrfach einen Reflexionszyklus, der sowohl Beobachtung, Analyse im gemeinsamen Gespräch als auch individuelle Reflexion beinhaltet (vgl. D AWIDOWICZ et al. 2019). Um den kollegialen Austausch und Ko- Konstruktion zu fördern, wurde in den Gesprächen auf ein Nachvollziehen und Verstehen hingearbeitet. Die Lehrpersonen wurden dazu angehalten, verschiedene Interpretationen zu den jeweiligen Unterrichtssituationen zu besprechen, um so neue Ziele und Handlungsalternativen für zukünftige Unterrichtssequenzen gemeinsam zu entwickeln. Die Tandems wurden zu Beginn des Projektzeitraums vom LEELU-Team beim Durchlaufen des Reflexionszyklus unterstützt und begleitet. Im Laufe des Projektes veränderte sich die Rolle der Projektmitarbeiterin von der einer Moderatorin zu der einer Protokollantin und Organisatorin. Auf lokaler und internationaler Ebene fanden für den kollegialen Austausch Videokonferenzen statt. Zuvor wählte jedes Tandem Videoausschnitte aus, die es zeigen und besprechen wollte. Insgesamt nahmen alle LehrerInnen und LehramtsstudentInnen an drei lokalen und an drei internationalen Gesprächen teil, bei den internationalen in jeweils unterschiedlichen Konstellationen mit je einem Tandem pro Land. In diesen Gesprächen ging es darum schulinterne (international auch länderspezifische) Herausforderungen und deren Lösungsansätze darzustellen. Außerdem sollten die Lehrpersonen miteinander teilen, welche Erkenntnisse sie über das Konzept des freien Lesens entwickelt haben (vgl. H OFFMANN 2019; H OFMANN 2021; S CHRAMM 2020). Auf diese Weise sollte das Ziel erreicht werden, weitere mögliche Handlungsalternativen kennenzulernen, bewährtes Unterrichtshandeln auszubauen, und schulinternes konstruiertes Wissen mithilfe einer Außenperspektive zu erweitern. 3. Erfahrungslernen der LehrerInnen Bislang wurden Prinzipien des freien Lesens, die für Lehrkräfte erstellt worden sind (vgl. ERF 2011; H ILL 1992), nicht hinsichtlich der LehrerInnenperspektive untersucht. Ein Projektziel war es deshalb, ein auf verschiedene Unterrichtskontexte über- 126 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 tragbares Konzept freien Leseunterrichts zu erarbeiten, und in der Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen in drei Ländern weiterzuentwickeln. 3.1 Zielkompetenzen für LehrerInnen Die teilnehmenden LehrerInnen und LehramtsstudentInnen zeichnen sich durch eine starke Heterogenität aus, was Ausbildung(sjahre), Bildungskontext und Arbeitsjahre betrifft. Daher wurde zur Gewährleistung der internationalen Vergleichbarkeit das Europäische Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung (EPOSA, Newby et al. 2007) für die Festlegung der Zielkompetenzen verwendet, indem aus den dortigen Kann-Beschreibungen Deskriptoren gewählt wurden, die unmittelbar mit dem primären Prozess der Unterrichtsgestaltung in Zusammenhang stehen und gleichzeitig an die Ausgangspunkte des freien Lesens anschließen (Tabelle 1). Einige dieser Deskriptoren wurden umformuliert sowie ergänzt, um die gesamte Palette der didaktischen Prinzipien des freien Lesens abzudecken. Die Deskriptoren verhalten sich komplementär zu den fachdidaktischen Prinzipien (vgl. 2.3). Kategorie Bereich Deskriptor Kontext Ressourcen und institutionelle Beschränkungen Ich kann organisatorische Einschränkungen an meiner Schule erkennen (z.B. Raum-, Stundenplanänderung) und meinen Unterricht entsprechend anpassen. (modifiziert) Methodik Lesen Ich kann SchülerInnen verdeutlichen, dass die Ziele des Lesens ausschließlich Vergnügen und Entspannung sind. Ich kann SchülerInnen, die Schwierigkeiten bei der Buchauswahl haben, dazu anleiten, ihre Interessen und Fähigkeiten (sprachliche und literarische Kompetenz) zu ermitteln und passenden Buchkriterien zuzuordnen. Ich kann SchülerInnen, die Schwierigkeiten bei der Lektüre haben, dazu anleiten, die Gründe für ihre Schwierigkeiten zu ermitteln und passende Problemlösungsstrategien anzuwenden. Durchführen einer Unterrichtsstunde Klassenführung Ich bin in der Lage, gemäß den Bedürfnissen der SchülerInnen und Anforderungen des freien Lesens unterschiedliche Rollen einzunehmen (Person, die Information zur Verfügung stellt, VermittlerIn, Aufsichtsperson etc.). (modifiziert) Ich kann das freie Lesen auf verbindliche Weise beginnen und zielgerichtet beenden. (modifiziert) Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 127 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 Kategorie Bereich Deskriptor Ich kann für eine Atmosphäre im Klassenzimmer sorgen, in der alle SchülerInnen still lesen können. Sprache im Unterrichtsraum Ich bin in der Lage zu entscheiden, wann der Einsatz der Erstsprache in bspw. Beratungs- und Reflexionsgesprächen der Zielsprache vorzuziehen ist. (modifiziert) Selbstständiges Lernen LernerInnenautonomie Ich kann SchülerInnen dazu anleiten, über die Bedeutung des Lesens und die Lesekompetenz zu reflektieren. Ich kann SchülerInnen dazu anleiten, die Bedeutung der Prinzipien des freien Lesens (kein Einsatz von Wörterbüchern; Auswahl leichter Lektüre; etc.) zu erkennen und die Verantwortung für die Umsetzung dieser zu übernehmen. Diagnostik (nicht im EPOSA) Ich kann erkennen, wenn SchülerInnen Schwierigkeiten bei der Buchauswahl oder Lektüre haben. Ich kann auf Basis von Beobachtung und Leitfragen in Beratungsgesprächen die literarische Kompetenz, die Lesekompetenz und die Konzentrationsfähigkeit von SchülerInnen einschätzen. Tab. 1: Zielkompetenzen (vgl. A BITZSCH et al. 2019) 4. TeilnehmerInnen und Verfahren Die teilnehmenden Schulen gehören zum Ausbildungsnetzwerk der involvierten Lehrerbildungsinstitute. Im Hinblick auf die unter 3 beschriebenen Zielkompetenzen nahmen alle TeilnehmerInnen an der Befragung teil. Neben dieser schriftlichen Befragung zu ihren Eindrücken und Erfahrungen dienen mündliche Gesprächsäußerungen der Beantwortung der Forschungsfragen. An den jeweils drei teilnehmenden Schulen pro Land nahmen eine erfahrene Lehrkraft und ein/ e LehramtsstudentIn am Projekt teil (n=18). 4.1 Fragebogen Die beteiligten LehrerInnen wurden zweimal über ihre Projekt-Erfahrungen befragt: Anfang Juli 2017 und Ende April 2018. Die erste Befragung fand im Anschluss an die Fortbildungswoche statt (s. 2.3). Dabei wurde auf die Erwartungen der LehrerInnen an das freie Lesen in ihrem Kontext fokussiert. Die zweite Befragung wurde nach 128 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 Abschluss der Intervention durchgeführt. Beide Meinungsbefragungen bestehen aus zwei Teilen: Der erste Teil handelt vom Leseverhalten der SchülerInnen (die separat befragt wurden) 5 , im zweiten Teil wird nach der Praktikabilität des Projekts gefragt. Der erste Befragungsteil zum Leseverhalten der SchülerInnen bezieht sich auf die Eindrücke der Lehrkräfte zur Autonomie und Lesestrategien sowie zur Lesemotivation und Einstellung in der von ihnen unterrichteten Klasse. Die Items zur LernerInnenautonomie beruhen auf MARSI (Metacognitive Awareness of Reading Strategies Inventory, vgl. M OKHTARI / R EICHARD 2002). Die 30 Items des MARSI-Bogen wurden zur Beschränkung des Arbeitsaufwands auf 10 Items eingekürzt. Die ausgewählten Items stehen in direktem Zusammenhang zu den Prinzipien des freien Lesens und sind über die Strategien global (4), problem solving (3) und support reading (3) verteilt. 6 Die Antworten wurden auf einer Fünferskala erhoben. Der Teil des Fragebogens zur Motivation und Einstellung bezüglich des Lesens beruht auf S CHAFFNER / S CHIEFELE (2016) und wurde zum Teil mit der Entwicklung der literarischen Kompetenz in Verbindung gebracht. Ebenfalls zur Beschränkung des Arbeitsaufwands für die SchülerInnen und aufgrund des unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhangs zwischen dem Konzept des freien Lesens und spezifischen Items des Originalfragebogens wurden für die Dimensionen curiosity und involvement 10 der 34 Items für die Befragung ausgewählt. In beiden Teilen wurde zudem Bezug genommen auf das Lesen in der Freizeit in der Erstbzw. Schulsprache der SchülerInnen und auf das Lesen an der Schule im Schulfach Deutsch. Die Antworten wurden auf einer Viererskala erhoben. Der zweite Befragungsteil fokussiert die Erfahrungen der Lehrkräfte hinsichtlich der praktischen Ausführung des freien Lesens im Unterricht. Die Items beruhen auf den von VAN DEN B RANDEN (2009) beschriebenen acht Merkmalen, die für die Akzeptanz und Umsetzung von Innovationen im Unterricht durch (Fremdsprachen)LehrerInnen als förderlich gesehen werden können. Insgesamt wurden 18 Items zu den Merkmalen compatibility, complexity, feasibility, concreteness, problemorientedness formuliert. Die Formulierung der Items stand dabei im direkten Zusammenhang mit den Prinzipien des freien Lesens und deren Anwendung im LEELU- Projekt (s. 2.2). 7 Antworten wurden auf einer Viererskala erhoben. Darüber hinaus bekamen die TeilnehmerInnen 4 offene Fragen zu den Vor- und Nachteilen, die sie bei der Ausführung des freien Lesens für sich selbst und die SchülerInnen feststellten. 5 Die Reliabilität der Items war akzeptabel und wurde bei den SchülerInnen gemessen. 6 global: 1. I have a purpose in mind when I am reading; 2. I think about what I know to help me understand what I read; 3. I use context clues to help me understand what I am reading; 4. I check my understanding when I come across conflicting information; problem solving: 5. I try to get back on track when I lose concentration; 6. I try to picture or visualize information to help remember what I read; 7. I try to guess the meaning of unknown words or phrases; support reading: 8. I summarize what I read to reflect on important information in the text; 9. I paraphrase (restate ideas in my own words) to better understand what I read; 10. I go back and forth in the text to find relationships among ideas in it. 7 Beispielsweise: In den letzten Monaten haben mich die angebotenen Methoden und Materialien zum Führen von Beratungsgesprächen und Reflexionsgesprächen mit den SchülerInnen bei der Einführung des Programms für freies Lesen unterstützt. Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 129 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 4.2 Inhaltsanalyse Da im vorliegenden Artikel auf die Eindrücke und Erfahrungen der Lehrpersonen während der Intervention eingegangen werden soll, werden lediglich die Ergebnisse der zweiten Befragung betrachtet. Zusätzlich wurden die erstellten Gesprächsprotokolle der Tandemgespräche, der lokalen und internationalen Gespräche (s. 2.3) und die transkribierten internationalen Gespräche mit einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach einer deduktiven Vorgehensweise ausgewertet, um sowohl weitere Rückschlüsse auf die Praktikabilität ziehen zu können als auch die von den LehrerInnen im Gespräch und Unterricht entwickelten und erprobten fachdidaktischen Handlungsalternativen zu kategorisieren und zu beschreiben. Dazu wurde zunächst der Zeitraum des freien Lesens in drei Zeitabschnitte eingeteilt, um Sicht auf sich verändernde Problematiken zu erhalten: Startphase (Sept. - Okt. 2017), Festigungsphase (Nov. 2017 - Jan. 2018) und Automatisierungsphase (Feb. - April 2018). Als Kategorien für die Analyse der Protokolle und Transkripte dienten die festgelegten Zielkompetenzen für Lehrkräfte, verteilt über die Kompetenzgebiete: Kontext, Methode, Durchführung einer Unterrichtsstunde, Selbstständiges Lernen, Diagnostik (s. 3.1). Hinzu kam die Kategorie “weitere” für zusätzliche fachdidaktische Handlungen in Bezug auf das freie Lesen, die nicht durch die beschriebenen Prinzipien und festgelegten Zielkompetenzen abgedeckt wurden. Anschließend wurden die Gesprächsprotokolle und Transkripte auf festgestellte Probleme und deren Handlungsalternativen untersucht und es wurde das gesamte Material kodiert. 5. Ergebnisse Zunächst werden die Ergebnisse der schriftlichen Befragung dargestellt. Daran schließt sich eine Darstellung der wichtigsten Befunde aus den Inhaltsanalysen der Gespräche an. 5.1 Befragung Die SchülerInnen, so betonen die Lehrkräfte, haben durch das Projekt mehr Erfahrung mit der Lektüre von deutschsprachigen Büchern gesammelt. Manche Lesestrategien werden von den SchülerInnen ziemlich oft verwendet, wie das Einsetzen von Vorkenntnissen (4,2) oder das Benutzen von Kontextinformationen (4,5), andere Strategien zum Textverstehen werden hingegen weniger verwendet. Zusammenfassungen (2,4) sollten im Projekt nicht erstellt werden. 8 Der Frage, ob freies Lesen geeignet war, die Lesefertigkeit der SchülerInnen zu verbessern, stimmen alle Lehrkräfte zu, bei der Einschätzung der Verbesserung der literarischen Kompetenz im Deutschen 8 Dass nach Eindruck der LehrerInnen die anderen Sprachfertigkeiten, wie das Sprechen und das Hörverstehen, nicht im gleichen zeitlichen Rahmen und primär gefördert wurden, stimmt mit dem Fokus des Projekts überein. 130 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 sind die Lehrkräfte etwas vorsichtiger. Die LehrerInnen nahmen eine Stärkung der Autonomie der SchülerInnen durch das Projekt wahr. So habe es den SchülerInnen sehr gefallen, selbst ein Buch zu wählen und selbstständig über für sie interessante Themen zu lesen. Bezüglich der Motivationssteigerung fürs Fach schwanken die Lehrkräfte Ungarns zwischen eindeutiger Bejahung und vorsichtiger Bejahung, während die Lehrkräfte Italiens und der Niederlande etwas skeptischer sind. Gespräche mit SchülerInnen verdeutlichten aber, dass diese dem DaF-Unterricht mit freiem Lesen den Vorzug zu gelenkteren Unterrichtsverfahren gaben. Im zweiten Teil der Befragung gaben die LehrerInnen weiterhin an, dass sie hinsichtlich der sprachlichen Eignung der Titel zufrieden waren. Allerdings waren sie nicht immer überzeugt, dass die Bücher für freies Lesen für die Zielgruppe inhaltlich passend waren. Dies ist angesichts der Schwierigkeit für relative Anfänger angemessene Bücher zu finden, und im Hinblick auf die Beratungsfunktion, die von den LehrerInnen zu erlernen war, nachvollziehbar. Bei der persönlichen Buchauswahl sei der Bücherkatalog auf der Website von den SchülerInnen aber wenig benutzt worden, was sicherlich ein Beratungsaspekt ist. Überdies haben die niederländischen Lehrkräfte bemerkt, dass nicht alle SchülerInnen mit der Selbstständigkeit umgehen können und ihre Motivation gering ist. Sie lesen im Allgemeinen nicht gerne, waren deswegen nicht so motiviert, deutschsprachige Bücher zu lesen und konnten darum wahrscheinlich auch nicht so gut mit der Autonomie umgehen. Die Bemerkungen der italienischen Lehrpersonen ähneln denen der niederländischen Lehrpersonen. Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen den drei Ländern. In Ungarn haben die SchülerInnen sich darüber beklagt, dass sie zu wenig Zeit für das Lesen hatten und deswegen den roten Faden verloren hätten. Sie waren laut Einschätzung der LehrerInnen sehr motiviert. Gemäß der effortless reading hypothesis (vgl. K RASHEN 2011) können LeserInnen sich nur in einem Buch verlieren, wenn Verständlichkeit keine Hürde ist. Nach der Einschätzung der LehrerInnen könnten ihre SchülerInnen während des Lesens von Texten in der Erstsprache oft oder sogar normalerweise alles um sich herum vergessen (3,3), hingegen würde das beim Lesen im Deutschunterricht fast nie oder nur selten gelingen (2,3). Die Nachhaltigkeit des freien Lesens scheint gesichert zu sein, denn auf die Aussage „Ich konnte in den letzten Monaten das freie Lesen in den Rahmen meines persönlichen Schulkontexts (Curriculum, Stundenpläne, Räume, Klassengröße) integrieren.“ wird mehrheitlich zustimmend geantwortet. 5.2 Gespräche Vorweg muss erwähnt werden, dass die Heterogenität der teilnehmenden LehrerInnen und ihre diversen Schulkontexte dazu führen, dass kein einheitliches Problem mit einem oder mehreren spezifischen Aspekten des freien Lesens erkannt werden kann. Infolgedessen sind die von den LehrerInnen entwickelten Handlungsalternativen zunächst stark von den eigenen schulinternen und lokalen Gepflogenheiten geprägt. Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 131 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 Dennoch wurden auch Handlungsalternativen aus den internationalen Gesprächen mit in die eigene Schulpraxis überführt und ausprobiert. Deutlich wird dies z.B. an der unterschiedlichen Ausprägung des Gesprächsbedarfs im Bereich Sprache im Unterrichtsraum. Dieses Thema taucht vielfältig in den schulinternen und lokalen Gesprächen der teilnehmenden LehrerInnen in den Niederlanden auf und wurde über den gesamten Projektzeitraum mit unterschiedlicher Schwerpunktlegung ausgebaut. LehrerInnen entwickelten eine Vorgehensweise, in der sie bewusst entschieden, welche Gespräche in der Zielsprache (vorwiegend individuelle Beratungsgespräche) und welche Gespräche im Allgemeinen in der Erstsprache (vorwiegend Reflexionsgespräche zu Leseprozessen) geführt wurden. L1: Beide [Sprachen], aber wenn sie, also einfach nur wirklich Reflexionen schreiben, dann Italienisch, weil die Schüler nicht wirklich ein hohes Niveau haben. Aber die Vokabeln, die sich die Schüler merken wollen, sind ja natürlich auf Deutsch. […] L2: Wie wir das machen: Also wenn wir im Klassenverband um eine Reflexion bitten, dann fragen wir auf Deutsch und meistens reagieren die Schüler dann einfach auf Niederländisch. Und wenn das so eine Art persönliche Reflexion oder ein Reflexionsgespräch ist, dann machen wir das meist auf Niederländisch, weil sich die Schüler dann wohler fühlen und sie sich auch besser ausdrücken können. 9 Der Einsatz von Beratungsgesprächen war in allen Phasen des freien Lesens als fachdidaktische Handlung zu beobachten. Vor allem bei der inhaltlichen Auswahl der Bücher (Bereich: Lesen, Kategorie: Methode) setzten die LehrerInnen in der Startphase auf individuelle Beratungsgespräche, wenn sie feststellten, dass SchülerInnen Bücher aufgrund des Covers oder des Titels auswählten, letztendlich vom Inhalt enttäuscht waren und somit teilweise keine weitere Lesemotivation aufbringen konnten. In den Beratungsgesprächen stellten LehrerInnen fest, dass SchülerInnen schwer beschreiben konnten, was sie gern lesen. Daher wurde in allen Schulen auf Beratung im Klassenverband gesetzt, um gemeinsam über Lesegeschmack zu reflektieren und somit Vorbilder für SchülerInnen mit geringerer Lesefreude zu kreieren. An Schulen in Italien wurde dieses Vorgehen außerdem verwendet, um die Konzentration in den Lesephasen zu gewährleisten. Dazu wurden Bewertungsposter entwickelt und im Klassenraum aufgehängt. Im Bereich LernerInnenautonomie der Kategorie Selbstständiges Lernen kam an einigen Schulen in Ungarn Fragen zur Begrifflichkeit „frei“ auf. Die Entscheidungsfreiheit, die ihnen bei der Auswahl und auch Ablage der Bücher geschenkt wurde, nutzen die SchülerInnen nur teilweise, weil sie sich nicht trauten, ein Buch aufgrund von Nichtgefallen zurückzugeben und durch ein anderes Buch auszutauschen. Die LehrerInnen begegneten diesem widersprüchlichen Empfinden der SchülerInnen mit individuellen Beratungsgesprächen und dem Auflösen der schulischen Atmosphäre, indem sie versuchten, die Leseumstände dem Lesen in der Freizeit anzugleichen (andere Sitzordnung, Essen/ Trinken). 9 Im Sinne der besseren Lesbarkeit wurden diese und folgende Zitate minimal sprachlich bereinigt. 132 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 Den gesamten Projektzeitraum betrachtend wird sichtbar, dass besonders in den EPOSA-Bereichen Lesen (Kategorie: Methodik) und Klassenführung (Kategorie: Durchführung einer Unterrichtsstunde) fachdidaktische Fragestellungen mit KollegInnen erörtert wurden. Beispielhaft zeigt dies, dass die LehrerInnen konstant an einer (Weiter)Entwicklung des Handlungsrepertoires und somit der Konkretisierung der Prinzipien des freien Lesens gearbeitet haben. So standen in der Startphase des Schuljahres vor allen Fragen bezüglich des Beginns des freien Lesens im Mittelpunkt: Welcher Moment innerhalb einer Unterrichtsstunde ist geeignet, um frei zu lesen? In dieser Phase tauchten Probleme in Bezug auf unklare Instruktionen, Dauer der Buchauswahl/ des Bücherholens auf. Während dieser ersten Monate entwickelten die LehrerInnen sowohl schulintern als auch auf lokalem und internationalem Niveau verschiedene Handlungsalternativen, wie z.B. die Verwendung von Lesezeichen oder separate Aufbewahrung der jeweils von den SchülerInnen gelesenen Bücher. In der Festigungsphase beschäftigten sich die LehrerInnen mit Fragen zur Überleitung vom freien Lesen zum weiteren Verlauf der Unterrichtsstunde und dem Zeitpunkt des freien Lesens innerhalb der Unterrichtsstunde. Sie probierten aus, ob ein Verlegen des freien Lesens an das Ende der Unterrichtsstunde dazu führte, dass SchülerInnen das Lesen mehr als Entspannung wahrnahmen und dadurch einfacher eintauchen konnten. In der Automatisierungsphase spielten Fragen zum Start des freien Lesens kaum noch eine Rolle, da an allen Schulen ähnliche Methoden gefunden wurden, die zu einem schnellen Lesebeginn führten. Dahingegen gingen die LehrerInnen auf die Suche nach geeigneten Handlungsalternativen für das Einleiten des Endes der Lesephase, da einige SchülerInnen angaben, dass die Lesephase zu kurz war und zu abrupt abgeschlossen wurde, um ihr Lesebedürfnis zu stillen. Andere SchülerInnen gaben an, Konzentrationsprobleme zu Beginn des freien Lesens und dadurch zu wenig Zeit zum Lesen zu haben. Einige Schulen sind in dieser Phase auf ein zuvor nicht vorgesehenes Ausleihverfahren für die Bücher übergegangen. Einige LehrerInnen wiederum entschieden sich, verstärkt individuelle Beratungs- und Reflexionsgespräche einzusetzen, um Konzentrationsproblemen auf den Grund zu gehen und dafür Lösungen zu finden. L3: […] Aber das Problem ist, sie sind einunddreißig in der Klasse, wir haben also große Klassen. Und dann ist es natürlich schwierig, die Konzentration zwanzig Minuten zu haben. Also die Schüler sprechen miteinander und sie sind nicht so konzentriert. […] L4: […] zum Beispiel am Freitagnachmittag könnte ich das vielleicht auch nicht schaffen […]. Wir sagen, wenn wir alle zwanzig Minuten ruhig lesen, dann können wir zehn Minuten früher weg, zum Beispiel. Eine Art Belohnung für die Anstrengung. L5: […]Wir haben eine Extralesestunde eingeplant und ich muss es euch sagen, dass ich unseren Direktor bat auch mit zu lesen […] Also damit er auch spürt und fühlt, wie das abläuft. Zwanzig Minuten hat er zusammen mit mir, mit den Schülern gelesen und anschließend haben wir in der Muttersprache über das Projekt und die Erfolge geredet. Das war auch eine Art der Reflexion und die Schüler waren absolut enthusiastisch. Das ist eine Klasse mit sechzehn Schülern. Also das ist wirklich Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 133 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 keine kleine Klasse, also einunddreißig sind wirklich enorm viel. Könnt ihr nicht einmal diese große Klasse teilen und einmal das ausprobieren? […] L4: […] mir gefällt aber auch die Idee, dass man die Klasse mal teilt. Und zwar würde ich die Klasse allerdings nicht teilen, um einfach den normalen Leseunterricht zu machen, weil du, naja, im wirklichen Leben seid ihr halt auch nicht zu zweit, sondern bist du alleine mit der Klasse mit einunddreißig Schülern. Aber ich würde dann jetzt schon den Vorteil nutzen, dass ihr jetzt zu zweit seid, um vielleicht eine Reflexionsstunde getrennt zu machen, dass man halt jeweils mit den fünfzehn Schülern reflektiert, anstatt mit einunddreißig. […] Noch vor dem Start des freien Lesens ergaben sich für LehrerInnen an verschiedenen Standorten Probleme mit den Räumlichkeiten und der Bücheraufbewahrung (Kategorie: Kontext, Bereich: Ressourcen und institutionelle Beschränkungen). Dafür wurden Lösungen, wie die Verwendung eines Rollkoffers oder die Verlegung des Deutschunterrichts in die Schulbibliothek gefunden. Aus einer anderen Teilstudie des Projekts geht hervor, dass die Beratungsphasen beim freien Lesen Lehrpersonen vor Schwierigkeiten stellen, die länderspezifisch unterschiedlich sein können. Die Schulrealitäten unterscheiden sich stark und es bedarf in der LehrerInnenausbildung eines scharfen Auges auf die Lehr- und Lerntraditionen (vgl. H OFFMANN 2019). 6. Fazit und Diskussion Durch einen multiperspektivischen Ansatz ist im LEELU-Projekt versucht worden, die Sicht auf das fachdidaktische Handeln von Lehrkräften zu schärfen und die Praktikabilität des freien Lesens im Fremdsprachenunterricht (Deutsch) an Sekundarschulen zu evaluieren. Die Ergebnisse des Artikels in Bezug auf die Einsichten der LehrerInnen zur Autonomie und Motivation der SchülerInnen wären mit Erkenntnissen, die aus einer quantitativen Analyse der SchülerInnenbefragung zu gewinnen wäre, zu vergleichen. Darüber hinaus wäre zu überlegen, ob die Ergänzung der fachdidaktischen Prinzipien um ausgewählte Deskriptoren des EPOSA zur benötigten Trennschärfe bei der deduktiven Inhaltsanalyse entscheidend beitrüge. Eine eventuelle erweiterte induktive Kategorienbildung, die auch zur Ergänzung der Prinzipien des freien Lesens führen könnte, wäre zu überlegen. Verbinden wir die Positionen der Lehrkräfte mit den Zielkompetenzen im Projekt, dann fällt in der Kategorie des Kontextes auf, dass reguläre Schulen und Abläufe des Schulalltags prinzipiell nicht eingerichtet sind für das freie Lesen, aber mit kleinen Eingriffen in Raumplanung und Möblierung gute Möglichkeiten geschaffen werden können. Schulen mit einem positiven Leseklima geben Lehrer- und SchülerInnen hierfür genug Raum. Allerdings mangelt es den LehrerInnen an Zeit, was dazu führt, dass dem time-on-task-Prinzip des freien Lesens nicht immer entsprochen werden kann. Für die Kategorien Methodik, selbständiges Lernen und Diagnostik ist zu beobachten, dass der Austausch der Lehrpersonen in allen Gesprächskonstellationen erheblich zur Verbesserung der Durchführbarkeit beigetragen hat, indem sie die zuvor beschriebe- 134 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 nen Prinzipien durch ihr Handeln konkretisiert haben. Es stellt sich dabei die Frage, inwiefern eine stärkere Integration der Didaktik des freien Lesens die erzielten Erfahrungen im Bereich Autonomie und Motivation noch positiver beeinflussen könnte. 10 In der vorliegenden Studie wurde deutlich, dass freies Lesen für den Fremdsprachenunterricht gewinnbringend sein kann, wenn Lehrkräfte sich mit der Didaktik, die dafür notwendig ist, auseinandersetzen. In Lehreraus- und -fortbildungen wären Module zum freien Lesen zu integrieren. Literatur A BITZSCH , Doris / VAN DER K NAAP , Ewout / A BBATE , Roberta / D AWIDOWICZ , Marta / F ELD - K NAPP , Ilona / H OFMANN , Katrin / H OFFMANN , Sabine / P ERGE , Gabriella / S CHRAMM , Karen (2019): Freies Lesen im LEELU-LehrerInnenbildungsprojekt. Vom Forschungsstand zu einer Handreichung für den Unterricht. 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