eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 51/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2022-0026
2022
512 Gnutzmann Küster Schramm

Sarah DIETRICH-GRAPPIN: Mehrsprachigkeit als Bildungsziel im schulischen Tertiärsprachenunterricht. Transferbasierte Kommunikationsstrategien im Kontext von spontaner Mündlichkeit und Zwei-Sprachen-Aufgaben. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2020 (Studien zur Fremdsprachendidaktik und Spracherwerbforschung), 276 Seiten [36 €]

2022
Carmen Konzett-Firth
Besprechungen 125 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0026 Sarah D IETRICH -G RAPPIN : Mehrsprachigkeit als Bildungsziel im schulischen Tertiärsprachenunterricht. Transferbasierte Kommunikationsstrategien im Kontext von spontaner Mündlichkeit und Zwei-Sprachen-Aufgaben. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2020 (Studien zur Fremdsprachendidaktik und Spracherwerbforschung), 276 Seiten [36 €] Die Monographie entspricht der von der Autorin 2018 an der Pädagogischen Hochschule Freiburg eingereichten Doktorarbeit. Sarah D IETRICH -G RAPPIN untersucht darin in einer empirischen Studie in Form eines qualitativen Experiments die Mehrsprachigkeitskompetenz von L3- Französischlernenden. Das Untersuchungsinteresse gilt den von den Lernenden angewandten Kommunikationsstrategien in durch Zwei-Sprachen-Aufgaben elizitierten Spontangesprächen in einem Unterrichtssetting. Unter Kommunikationsstrategien versteht die Autorin sowohl Produktionstransferprozesse als auch Code-Switching. Die erste Kategorie bezeichnet die Übernahme von sprachlichen Ressourcen in eine andere Sprache aus Kompensationsgründen, während die zweite auf den gezielten Einsatz mehrerer Sprachen für pragmatische oder stilistische Zwecke verweist. Die erste Kategorie ordnet also den Transferprozess eindeutig einer Dimension des Lernens zu, während die zweite keinen zwingenden Bezug zur Identität der Sprechenden als Lernende herstellt. Im ersten Teil des Buches (Kapitel 2) werden grundlegende Begriffe und theoretische Konzepte diskutiert. Dazu zählen nicht nur die Mehrsprachigkeitskompetenz als zentrales Forschungsobjekt, sondern auch kommunikative Kompetenz und Gesprächskompetenz, welche die Autorin aus ihrer jeweiligen theoretisch-begrifflichen Entstehungsgeschichte herleitet und diskutiert. Für Leser*innen ist besonders interessant, dass unterschiedliche Blickwinkel verschiedener fremdsprachendidaktischer Forschungskulturen auf Mehrsprachigkeitskompetenz beleuchtet werden. Insbesondere zeigt die Autorin Unterschiede zwischen der deutschsprachigen, franko- und anglophonen Wissenschaftstradition auf und verweist auch auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die zum Teil auf diese divergenten Zugänge zurückzuführen sind. Sarah D IETRICH -G RAPPIN legt ihrer eigenen Forschung in Anlehnung an den französischen Begriff der „compétence plurilingue“ den Begriff der „Mehrsprachigkeitskompetenz“ zugrunde. Sie unterstreicht in diesem Zusammenhang die Relevanz des (schulischen) L3- Erwerbs, da erst ab dem Erwerb einer zweiten Fremdsprache von einer tatsächlichen Diversität und nachhaltigen Abkehr von einem monolingualen Habitus gesprochen werden könne. Im zweiten Teil des Buches (Kapitel 3) legt die Autorin dar, in welchen Bereichen ihre Arbeit zur Schließung einer Forschungslücke beiträgt. Sie setzt sich kritisch mit bestehenden mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen auseinander und schließt an neuere Tendenzen (insbesondere in der romanistischen Fachdidaktik) an, wenn sie zu einer Erweiterung der Interkomprehensionsansätze im Hinblick auf eine „produktive Mehrsprachigkeitsdidaktik“ (S. 31) aufruft. Die Autorin stellt auch Desiderate im Bereich der methodologischen Zugänge zum Forschungsfeld der Mehrsprachigkeit fest. Sie hebt darunter besonders eine Notwendigkeit für qualitativ ausgerichtete sozialwissenschaftliche Studien und mehr unterrichtliche Interventionsforschung hervor. Im dritten Teil der Arbeit (Kapitel 4-6) geht es um die Vorstellung der Forschungsfragen und des Forschungsgegenstands, den die Autorin in einen lernseitigen und einen lehrseitigen Gegenstand unterteilt. Sie beschreibt zunächst detailliert die Genese ihrer Forschungsfragen als Zwischenergebnis eines qualitativ-heuristischen Forschungsprozesses, den sie erfreulich ausführlich offenlegt. Im Kapitel zum lernseitigen Forschungsgegenstand werden verschiedene Modelle für transferbasierte Kommunikationsstrategien diskutiert, wobei sich die Autorin selbst grundlegend auf Definitionen aus der pragmatischen Interlanguage-Forschung bezieht. Der lehrseitige Forschungsgegenstand wird in Kapitel 6 beschrieben und bezieht sich auf die 126 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0026 51 • Heft 1 Aufgaben, die im qualitativen Experiment zur Anwendung kommen. Die Autorin gibt an, einem „starken kommunikativen Ansatz“ zu folgen, was sich unter anderem im Weglassen der sprachlichen Vorentlastung von Aufgaben niederschlägt. Außerdem folgt die Autorin einer interaktionsanalytischen Definition von Gespräch. Schließlich wird in Kapitel 6 noch das Konzept der Zwei-Sprachen-Aufgaben erklärt, das in der Studie zur Anwendung kommt und bei dem die Schüler*innen dieselbe Aufgabe (im gegebenen Fall sukzessiv) in zwei verschiedenen Sprachen lösen: das erste Mal in ihrer - schulisch erlernten - L2 (Englisch), das zweite Mal in ihrer L3 (Französisch oder Deutsch). Der vierte Teil der Arbeit umfasst die Kapitel 7 und 8 und beschreibt das Untersuchungsdesign, den Erhebungsablauf und die Datenaufbereitung der Studie. Die Autorin erläutert im Detail die von ihr gewählte Methode des qualitativen Experiments, welches nicht nur eine Pilotierung der Untersuchungsaufgaben erfordert, sondern gemäß einer explorativen Forschungshaltung auch ein Überdenken und gegebenenfalls Verändern der Forschungsfragen vorsieht. Neben einer Erprobung des Untersuchungsdesigns und der darauffolgenden Unterrichtsintervention in einer deutschen und einer französischen Schule umfasst die Studie auch Gruppendiskussionen der Schüler*innen im Anschluss an die Unterrichtsintervention sowie schriftliche Befragungen der Lehrpersonen, um Einstellungs- und Identitätsaspekte zu erheben. Die Gesprächsaufgaben und die retrospektiven Gruppendiskussionen wurden transkribiert und kodiert. Durch die Anwesenheit der Forscherin im Feld konnten auch zusätzliche ethnographische Daten in Form von Feldnotizen erhoben werden. Der fünfte Teil des Buches (Kapitel 9 und 10) widmet sich der Datenanalyse. In Kapitel 9 werden die beiden Kommunikationsstrategien Produktionstransfer und Code-Switching behandelt, in Kapitel 10 erfolgt eine Analyse verschiedener Aktualisierungen des ein- oder mehrsprachigen Habitus unter den Schüler*innen. Aus der Analyse geht u.a. hervor (Kapitel 9), dass die L3-Lernenden beim Produktionstransfer häufiger auf ihre L2 als ihre L1 zurückgreifen. Bei der Auswahl von transferierten Elementen spielen überdies vor allem lautlich-semantische und orthographische Ähnlichkeiten zwischen Lexemen der verschiedenen Sprachen eine große Rolle, und die übernommenen Formen werden häufig nicht an die Zielsprache angepasst. In Bezug auf Code-Switching kann die Studie von D IETRICH -G RAPPIN einige Ergebnisse früherer L3-Forschung aus dem ungesteuerten Erwerb für den gesteuerten Kontext bestätigen: Die L2 scheint vorrangig als (lexikalische) Transferquelle zu dienen, während die L1 eine instrumentelle Rolle einnimmt. D IETRICH -G RAPPIN stellt außerdem fest, dass „regulierendes Code- Switching“ vor allem am Anfang und Ende von Gesprächen stattfindet sowie bei Turntaking zum Einsatz kommt, und dass die Schüler*innen im Setting der Zwei-Sprachen-Aufgaben in der L3-Aufgabe stärker in der Zielsprache verbleiben (also weniger in die L1 und L2 switchen). In Kapitel 10 stellt die Autorin vier Fallanalysen von Schüler*innen-Dyaden vor, aus deren Beschreibung sich vier kommunikative Profiltypen mehrsprachiger Identitäten ergeben, die Schüler*innen im Gespräch aktualisieren: monolingual, monolingual-exolingual, mehrsprachig und mehrsprachig-exolingual. D IETRICH -G RAPPIN verbindet im Stil einer ethnographischen Beschreibung die Gesprächshandlungen der Schüler*innen mit deren Aussagen über ihre mehrsprachige Praxis, die in den Gruppeninterviews erhoben wurden. Zusammen ergibt das ein ausführliches Bild der wahrgenommenen und umgesetzten sprachpraktischen Identität der Lernenden, jeweils bezogen auf das Zusammenspiel in einer konkreten Dyade. Für detaillierte Ergebnisse sei auf das Buch verwiesen, es soll an dieser Stelle nur erwähnt werden, dass das Profil „mehrsprachig-exolingual“ die größten Lernpotenziale zu versprechen scheint. Fazit: Die Studie von Sarah D IETRICH -G RAPPIN ist theoretisch fundiert und methodologisch durchdacht. Die Kombination unterschiedlicher theoretischer Ansätze aus verschiedenen Diskurstraditionen und die ausführliche Reflexion der Methoden sowie des Forschungshabitus sind Besprechungen 127 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0027 ein besonders interessantes Merkmal des Buches. Was den Aufbau betrifft, so ist die kleinteilige Strukturierung der Kapitel ohne Zusammenlegen auf größerer Ebene zwar auf den ersten Blick etwas unübersichtlich, erlaubt aber im Gegenzug ein schnelles und zielgenaues Nachlesen und Wiederauffinden von Informationen. Einige Kleinigkeiten in der Formatierung hätte man noch verbessern können um die eigentlich gute Lesefreundlichkeit noch zu erhöhen: weniger Fußnoten und ein Index rerum wären hilfreich gewesen. Durch den Fokus auf den L3-Erwerb und das Miteinbeziehen der ersten Fremdsprache Englisch im Forschungsdesign behandelt die Studie ein wichtiges Thema für die Fachdidaktik der L3-Sprachen (d.h. v.a. der romanischen Sprachen) im deutschsprachigen Raum. D IETRICH - G RAPPIN nimmt dadurch die L3-Lehrpersonen in die Verantwortung für eine mehrsprachigkeitsdidaktische Unterrichtsgestaltung, aber sie liefert auch konkrete Vorschläge dafür, wie dies gelingen kann. Besonders interessant ist zudem die Haltung der Autorin (und ihrer Studie) gegenüber dem Englischen, das nicht als leidige Konkurrenz behandelt wird, sondern aktiv als Ressource im L3-Unterricht zum Einsatz kommt. Der Appell der Autorin in ihren abschließenden Überlegungen, Mehrsprachigkeitskompetenz als Bildungsziel zu verankern, ist aus Forschungssicht eine logische Konsequenz - und zu begrüßen. Dadurch wäre es besser möglich, die Heterogenität dieser Kompetenz anzuerkennen (und zuzulassen! ) und auch den identitätsstiftenden Aspekt von Mehrsprachigkeit mit in den Blick zu nehmen und zu fördern. Innsbruck C ARMEN K ONZETT -F IRTH Giuseppe M ANNO , Mirjam E GLI C UENAT , Christine L E P APE R ACINE , Christian B RÜHWILER (Hrsg.): Schulischer Mehrspracherwerb am Übergang zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I. Münster: Waxmann 2020, 342 Seiten [39,90 €] Strukturveränderungen im Bildungsbereich kollidieren i.d.R. mit systemischer Trägheit, sind oft Folge von gegenstandsfernen Abwägungsprozessen und geben Anlass zu innersystemischen Konflikten. Umsetzung und Akzeptanz von Bildungsreformen beruhen nicht allein auf valider Evidenz und fundierten Sachargumenten; oft sind sie Ausdruck eines Kompromisses angesichts divergierender politischer Interessen. Das Autorenteam des vorliegenden Sammelbandes stellt sich der Aufgabe, eine evidenzbasierte Fachexpertise zu generieren. Es beforscht im Kontext der bereits 2004 lancierten Schweizer Fremdsprachenreform, vor dem Hintergrund der eidgenössischen Mehrsprachigkeit (4 Nationalsprachen, hoher Anteil an Herkunftssprachensprecher*innen, Diglossie-Situation für die Deutschschweiz) verschiedene Wirkungen einer solchen Systemveränderung; diese ist gekennzeichnet durch die Vorverlegung des Englischfrühbeginns in die 3. Klasse, die Umkehrung der Sprachenfolge (Englisch vor Französisch) und somit die Einführung eines „doppelten schulischen Fremdsprachenerwerbs“ (S. 9) innerhalb der 6 Klassen umfassenden Schweizer Primarstufe. Im Rahmen eines quasi-experimentellen Forschungsdesigns evaluieren die Forscher*innen auf der Grundlage umfangreicher Stichproben (Kanton St. Gallen) die horizontale wie auch die vertikale Kohärenz dieser Reform und setzen die Ergebnisse der Untersuchungsgruppe („Modell 3/ 5“, d.h. E ab Kl. 3, F ab Klasse 5) mit den Ergebnissen einer Vergleichsgruppe („Modell 5/ 7“, d.h. F ab Kl. 5, E ab Klasse 7) in Beziehung. Unter horizontal sind die Bezüge der Fremdsprachen Englisch und Französisch zueinander, wie auch zur Schulsprache Deutsch zu verstehen, unter vertikal die Verknüpfung des Fremdsprachenlernens über Schulstufen hinweg, insbesondere vor dem „Kontext wachsender sprachlicher Diversifizierung durch Migra-