eJournals Forum Modernes Theater 33/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2022-0009
Schauspieler*innen als – heute in aller Regel befristet – an einem öffentlichen Repertoiretheater angestellte Ensemblemitglieder oder Gastierende befinden sich in der widersprüchlichen Position, sich einerseits als Künstler*innen zu definieren und im öffentlichen Diskurs auch als solche markiert zu sein, tatsächlich aber als Angestellte der Weisungsbefugnis einer Theaterleitung zu unterstehen und immer innerhalb einer Gruppe zu agieren. Dieser Beitrag fragt, wie (Theater-)Schauspieler*innen selbst ihre eigenen Handlungsspielräume innerhalb dieses von diversen Abhängigkeitsverhältnissen durchzogenen Berufsfelds beschreiben und definieren, das Individualität und Originalität ebenso einfordert wie die Fähigkeit und Bereitschaft zur Einordnung in künstlerische Gesamtkonzeptionen. Auf welche Weise wird etwa die Indienstnahme der eigenen Kreativität und des eigenen Körpers im Kontext einer Regiearbeit als bewusst hingebungsvoller Akt schauspielerischer Selbstbestimmung behauptet? Vorgestellt werden drei mögliche Haltungen eines öffentlich geäußerten schauspielerischen Selbstverständnisses, die als Strategien der zumindest diskursiven Selbstermächtigung gelesen werden: Einer ‚affirmativen‘ und einer ‚kritischen‘ Positionierung im Dispositiv der immer noch dominanten Regietheateridee wird eine neuere ‚aktivistisch-institutionskritische‘ Haltung sich solidarisch emanzipierender Schauspieler*innen gegenübergestellt. Die Thesen verstehen sich als Anregung für weitere Forschungen und Diskussionen zu Machtverhältnissen in theatralen Inszenierungsprozessen.
2022
331-2 Balme

Künstlerische Autonomie im solidarischen Kollektiv? Paradoxe Selbstverständnisse und gefundene Spielräume von Ensembleschauspieler*innen in Stadttheaterbetrieben des 21. Jahrhunderts

2022
Anna Volkland
Künstlerische Autonomie im solidarischen Kollektiv? Paradoxe Selbstverständnisse und gefundene Spielräume von Ensembleschauspieler*innen in Stadttheaterbetrieben des 21. Jahrhunderts Anna Volkland (Berlin) Schauspieler*innen als - heute in aller Regel befristet - an einem öffentlichen Repertoiretheater angestellte Ensemblemitglieder oder Gastierende befinden sich in der widersprüchlichen Position, sich einerseits als Künstler*innen zu definieren und im öffentlichen Diskurs auch als solche markiert zu sein, tatsächlich aber als Angestellte der Weisungsbefugnis einer Theaterleitung zu unterstehen und immer innerhalb einer Gruppe zu agieren. Dieser Beitrag fragt, wie (Theater-)Schauspieler*innen selbst ihre eigenen Handlungsspielräume innerhalb dieses von diversen Abhängigkeitsverhältnissen durchzogenen Berufsfelds beschreiben und definieren, das Individualität und Originalität ebenso einfordert wie die Fähigkeit und Bereitschaft zur Einordnung in künstlerische Gesamtkonzeptionen. Auf welche Weise wird etwa die Indienstnahme der eigenen Kreativität und des eigenen Körpers im Kontext einer Regiearbeit als bewusst hingebungsvoller Akt schauspielerischer Selbstbestimmung behauptet? Vorgestellt werden drei mögliche Haltungen eines öffentlich geäußerten schauspielerischen Selbstverständnisses, die als Strategien der zumindest diskursiven Selbstermächtigung gelesen werden: Einer ‚ affirmativen ‘ und einer ‚ kritischen ‘ Positionierung im Dispositiv der immer noch dominanten Regietheateridee wird eine neuere ‚ aktivistischinstitutionskritische ‘ Haltung sich solidarisch emanzipierender Schauspieler*innen gegenübergestellt. Die Thesen verstehen sich als Anregung für weitere Forschungen und Diskussionen zu Machtverhältnissen in theatralen Inszenierungsprozessen. Im April 1968 veröffentlichen zwei junge Ensembleschauspieler*innen, Barbara Sichtermann und Jens Johler, einen im Folgenden viel kommentierten Aufsatz in der westdeutschen Fachzeitschrift Theater heute: „ Über den autoritären Geist des deutschen Theaters “ . 1 Sie konstatieren darin eine Krise des deutschen Theaters, fragen, ob es sich um eine „ Führungskrise “ handele und „ bessere Intendanten “ gebraucht würden, oder ob die Krise „ am Ende ein Ergebnis des Systems “ sei? Sie wollen bei ihrem „ Versuch, diese Fragen zu beantworten, [ … ] vom Schauspieler aus[gehen] “ , denn dessen „ zentrale[r] Standort [ … ] innerhalb der Theaterproduktion “ biete „ eine gute Voraussetzung, grundsätzliche Mängel der Arbeitsmethoden am Theater und deren Ursachen aufzuzeigen “ . 2 - Was an diesem frühen Dokument der Mitbestimmungsforderungen an westdeutschen Theatern bemerkenswert ist, ist auch die Tatsache, dass sich hier erstmals diejenigen öffentlich kritisch und mit Blick auf das ‚ Gesamtsystem Theater ‘ äußern, die bisher immer Objekt der Kritik und Analyse gewesen waren. Die eigene Position innerhalb des Produktionsgefüges der öffentlich finanzierten Theater der BRD wird zudem von den Schauspieler*innen provokant als eine der freiwilligen Unterordnung charakterisiert: Das Theater wird undemokratisch regiert, es hat sich ein feudalistisches Wesen bewahrt, das den meisten Schauspielern bewußt ist und genüßlich von ihnen akzeptiert wird. Sie wollen es gar nicht ändern, sie nehmen in Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 105 - 119. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0009 masochistischer Weise die Notwendigkeit zu buckeln, zu kriechen und zu heucheln in ihr vermeintliches Bohème-Los auf. 3 Schauspieler*innen werden hier also keineswegs nur als Opfer einer hierarchischen Struktur beschrieben, sondern ihnen wird eine Mitverantwortung an den als problematisch bewerteten Zuständen - Autoritätshörigkeit, fehlende Diskussionsbereitschaft und mangelndes Interesse an einer Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Wirklichkeit - innerhalb des westdeutschen Theaters zugesprochen. Dies wirkt auch heute noch provozierend, insofern Schauspieler*innen durch vertragliche Abhängigkeiten, eine Praxis der oftmals nur noch kurzen Engagements an einem Theater und im Bewusstsein der vergleichsweise leichten eigenen Ersetzbarkeit durch Kolleg*innen ökonomisch durchaus gute Gründe haben, sich als nicht allzu eigenwillig und widerständig in der künstlerischen Zusammenarbeit zu zeigen. Eine Betrachtung der institutionellen Machtverhältnisse muss also mindestens zwei Aspekte enthalten: den lange Zeit im öffentlichen wie theaterwissenschaftlichen Diskurs vernachlässigten Aspekt der Arbeits- und Produktionsbedingungen der einzelnen Berufsgruppen im Theater sowie die soziologische Frage nach dem jeweils eigenen Rollenverständnis, das immer auch Ideen zum eigenen Status, zum eigenen Handlungsspielraum innerhalb des Gefüges des arbeitsteilig organisierten professionellen Theaterschaffens enthält. Eben diese Akzeptanz der eigenen, in der Regel nicht reflektierten Lage innerhalb der Ordnung sozialer Hierarchien hat Pierre Bourdieu als „ symbolische Herrschaft “ bezeichnet. 4 Diese bewirke, wie der Soziologe Stephan Moebius heute erklärt, dass die Beherrschten an ihrer Beherrschung mitwirken [ … ]. Wir wachsen so selbstverständlich mit bestimmten Sinnzusammenhängen sowie Denk- und Wahrnehmungsweisen auf, dass wir mit den uns darin zugewiesenen Rollen und Identitäten oft leidenschaftlich verhaftet sind. Und gar nicht mehr merken, welche sozialen Hierarchien da mitschwingen. Die Begabungsideologie ist eine solche Naturalisierung, oder auch das vorherrschende Geschlechterverhältnis. 5 Diesen Aspekt der ‚ leidenschaftlichen Identifizierung ‘ mit der zugewiesenen agency, dem eigenen schauspielerischen Handlungsspielraum, der außerdem abhängt vom jeweils zuerkannten Maß an Begabung und von äußeren Merkmalen wie Geschlecht, Herkunft, Alter etc. (vgl. dazu den Beitrag von Hanna Voss), werde ich anhand eines ersten Beispiels analysieren und dann im Folgenden neuere Suchbewegungen nach alternativen Ideen der schauspielerischen agency vorstellen. Ich gehe davon aus, dass zeitgenössische Vorstellungen des Schauspieler*innenberufes und entsprechend auch Selbstverständnisse vielfältig und - besonders mit Blick auf (Stadt-)Theater und die hier lange Zeit als unhinterfragbar geltenden sozialen und künstlerischen Hierarchien - aktuell in Veränderung begriffen sind. Es können dennoch Tendenzen beschrieben werden in der Frage, auf welche Weisen Schauspieler*innen heute mit dem eigenen, in Hinblick auf den gesamten Entstehungsprozess einer Inszenierung in unterschiedlichem Ausmaß eingeschränkten Gestaltungsspielraum umgehen, vor allem, wie sie diesen Spielraum öffentlich begründen. Es geht dabei nicht um die im Folgenden zitierten Aussagenden selbst, die genügend öffentliche Anerkennung besitzen, um sich ausführlicher über den eigenen Berufsstand äußern zu dürfen, sondern um eine Analyse ausgewählter Aussageereignisse innerhalb eines kleinen Teils des öffentlichen Diskurses über professionelles Schauspielthea- 106 Anna Volkland ter, das wiederum im Dispositiv des öffentlich finanzierten (Stadt-)Theaters verortet ist. 6 Das heißt, es geht um die bisher in der theaterwissenschaftlichen Forschung noch kaum betrachteten, im Sinne einer Hinwendung zu produktionsästhetischen und machtkritischen Fragestellungen aber als (diskursiver) Gegenstand durchaus relevanten Selbstdefinitionen und Spielräume des (Nicht-)Einverstandenseins von Schauspieler*innen im Theater. 7 Divergierende Loyalitäten: Textdienerin, Situationskünstler, Ensembletier, … ? Ich war an einigen Maßstäbe setzenden Inszenierungen, also nicht an Arbeiten, sondern an wirklichen Werken, beteiligt gewesen und bin es noch. [ … ] Ich will mich für etwas zur Verfügung stellen, das größer ist, als ich es selbst bin. Etwas, das mich übersteigt. 8 Diese Sätze äußert eine be- und anerkannte Schauspielerin 2015 im Interview mit einer großen internationalen Kulturzeitschrift. Sie markiert damit zwar eine scheinbar individuelle Position, bezieht sich aber zugleich auf ein Feld von Aussagen, die mit einem bestimmten (historischen) Verständnis von Theater als Kunst(werk) zu tun haben und entsprechend mit einem spezifischen Verständnis dessen, was die Aufgabe der Schauspielerin oder des Schauspielers wäre. Das ‚ Werk ‘ , das dem Publikum vorzuführende ‚ Endprodukt ‘ bezeichnet die Schauspielerin als das Maßgebliche ihrer Arbeit, den Produktionsprozess als weniger bedeutsam; es sei „ nicht interessant “ , betont sie mehrmals, über „ Theater als Beruf “ oder „ das Schauspielen “ zu sprechen. 9 Produktionsbedingungen sollen unsichtbar bleiben bzw. werden dann im Laufe des noch ausführlicher zu betrachtenden Interviews von der Schauspielerin selbst in Szene gesetzt, in ein eigenes Narrativ eingebunden. Es gibt daneben deutlich anders akzentuierte öffentlich geäußerte Selbstverständnisse von Schauspieler*innen. Etwa solche, die die eigene künstlerische (Co-)Autor*innenschaft im Inszenierungs- und Probenprozess betonen. Tief in der Historie des von (materiellen) Abhängigkeitsverhältnissen und (moralisch wie ästhetisch begründeten) Disziplinierungsanforderungen geprägten Berufs Schauspieler*in verankert und - wie im obigen Zitat - heute in aller Regel als Freiwilligkeit und eigener Wunsch markiert, ist dagegen die Idee des Sich-selbst-zur- Verfügung-Stellens. 10 Bezeichnet wird damit die ‚ dienende ‘ Rolle des eigenen sichtbaren und energetisch agierenden Körpers, der eigenen Phantasie, Emotionalität, Intellektualität, sogar des eigenen Wollens innerhalb eines von Vielen gestalteten und meist von Einzelnen verantworteten Inszenierungsprozesses, also gegenüber einer Regie- und einer Textposition, einem Kolleg*innenensemble und einer Theaterleitung. Schauspieler*innen bewegen sich innerhalb verschiedener, im besten Fall beweglicher und transparenter Machtverhältnisse, wobei sie - wie bereits angedeutet - innerhalb der künstlerischen Prozesse sowie durch die Form ihrer befristeten Arbeitsverträge an Stadttheatern in der Regel nur geringe Möglichkeiten des Bestimmens und Lenkens besitzen. Sie müssen mitmachen wollen. Öffentlich geäußerte Selbstverständnisse der eigenen Position als (Theater)Schauspieler*innen sind also durchaus auch als Versuche zu lesen, sich eigene Handlungsmacht zuzuschreiben. Welche Rechtfertigungen oder welches Nichteinverständnis äußern sie angesichts (mal kritisierter, mal verschleierter) asymmetrischer Beziehungen im arbeitsteilig organisierten Repertoiretheater? 11 Im Folgenden werden zuerst am Beispiel der Aussagen zweier prominenter Schauspieler*innen einerseits ein affirmatives, andererseits ein kritisches Ver- 107 Künstlerische Autonomie im solidarischen Kollektiv? ständnis gegenüber der Idee, als Schauspieler*in ‚ Material ‘ einer durch eine Regieposition geformten Inszenierung zu sein, vorgestellt und befragt werden. Relevant ist dabei die jeweilige Sicht auf ‚ Theater ‘ als Kunst(werk), als (Lohn-)Arbeit oder als sozialer, immer gemeinschaftlicher Prozess. Abschließend wird - im Rahmen dieses Textes nur knapp - die Bedeutung der Idee des Im-Ensemble-Seins für die Konstitution eines neuen aktivistischen, machtwie institutionskritischen Schauspieler*innenselbstverständnisses reflektiert. Obwohl sich Schauspieler*innen heute durchaus selbstbewusst - und immer noch in Differenz zu gängigen Vorstellungen eines einsamen Schöpfergenies - als Künstler*innen begreifen, ist ihr juristischer Status als Ensemblemitglieder oder als Gast an einem Stadttheater der von weisungsgebundenen Arbeitnehmer*innen. Die Frage nach ihrer eigenen ‚ schöpferischen Freiheit ‘ oder ‚ künstlerischen Mitverantwortung ‘ stand sehr lange Zeit gar nicht zur Debatte, vielmehr konzentrierten sich Schauspiel-Diskurse (allein im deutschsprachigen Raum zwischen dem 17. und frühen 20. Jahrhundert) auf Fragen der Erziehung (insbesondere im Übergang vom Wandertruppendasein zur Sesshaftigkeit) und Ausbildung, der Selbstbeherrschung und der ‚ Steuerung ‘ bzw. Inszenierung durch die Spielleitung (auch wenn einzelne Schauspieler*innen ab dem späten 19. Jahrhundert als Unternehmer*innen durchaus neue Handlungsmacht erlangten). 12 Die eigene strukturelle und künstlerische Unfreiheit innerhalb eines arbeitsteilig organisierten professionellen Theaterschaffens wurde erst in den späten 1960er und 1970er Jahren in der BRD ganz offensiv problematisiert, Formen der damals u. a. als ‚ Mitbestimmung ‘ bezeichneten ‚ kollektiven Kreativität ‘ (nach Versuchen in den späten 1920er Jahren etwa in Erwin Piscators Studio) erneut sowohl in der BRD als auch DDR erprobt. 13 Und das Ringen um die demokratische Praxis des Theaterschaffens innerhalb der intendanzgeleiteten Stadttheater in Deutschland dauert bis heute an. Grundsätzlich haben sich die (westlichen) Ideen dessen, was Theater (mit Schauspieler*innen) sein und folglich auch, wie Theater entstehen kann, im Laufe der letzten 120 Jahre deutlich aufgefächert und es existieren nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts nebeneinander verschiedene, einander sogar widersprechende, bewusste und unbewusste Ideen dessen, was die Rolle von (Schau-)Spieler*innen im Machtgefüge (Dispositiv) ‚ arbeitsteilig organisiertes Ensemble- und Repertoiretheater ‘ ausmacht. 14 Je nachdem, mit welchem politischen, sozialen, künstlerischen Verständnis Theater produziert wird, findet das eine oder das andere Rollen(selbst)verständnis einen geeigneteren Ort. Bereits 1970 beschrieben die beiden Theaterwissenschaftlerinnen Toby Cole und Helen Krich Chinoy dieses Phänomen: Immer wieder taucht die Frage auf: Ist der Schauspieler ein originärer Schöpfer oder verkörpert er lediglich den Text des Autors und flößt den Vorstellungen des Regisseurs Leben ein? [ … ] Schauspieler waren immer geteilt in ihrer Loyalität; einige befürworteten die Unterordnung des Schauspielers unter den Autor; einige verorten sich auf der Seite des Schauspielertheaters, in dem die Vorstellungskraft der Spieler regiert; andere haben sich, vor allem in den letzten Jahren, damit abgefunden, Elemente innerhalb eines von einem Regisseur geformten Ensembles zu sein. Wieder andere haben sich mit ihren Neuerungen suchenden Regisseuren zusammengefunden, um den kollektiven Ritus des Theaters wiederzuentdecken. 15 Diese Aufzählung suggeriert eine gewisse Freiwilligkeit in der Wahl der Rolle bzw. des Arbeitszusammenhangs. Letzterer gibt letztlich die Antwort auf die Frage, ob etwa ‚ die Vorstellungskraft der Spieler re- 108 Anna Volkland giert ‘ oder ‚ Dienst ‘ an Text und/ oder Regiekonzept zu leisten sind. Welche Wahlmöglichkeiten haben Schauspieler*innen heute und hierzulande, zumal mit Hoffnung auf wenigstens ein wenig soziale Sicherheit, die am ehesten der Status ‚ Ensemblemitglied eines öffentlichen Theaters ‘ zu bieten scheint? ‚ Kunst ‘ und Machtstrukturen im Theater Je höher der Erfolgsdruck oder -willen, je enger die (Erwartungs-)Spielräume für Form und Wirkung des ‚ Endprodukts Inszenierung ‘ , desto stärker setzen sich hierarchisch-bürokratisch organisierte Produktionsprozesse durch, die eine stärkere Kontrolle und Regulierung von Abläufen und Entscheidungen, also auch zeitliche Effizienz befördern. Sehr viel Zeit und Engagement aller fordern dagegen egalitärkollektive Strukturen, die Theatermachen als gemeinsamen, ergebnisoffenen Prozess mit verschiedenen gleichberechtigt Beteiligten begreifen. 16 Im Feld des öffentlich finanzierten Theaterschaffens werden die bürokratischen, d. h. durch Regeln und Routinen geleiteten, auf fester Rollen- und Kompetenzuteilung (Trennung der Positionen Text, Regie, Darstellung etc.), d. h. auf professioneller Differenzierung basierenden Arbeitsweisen und Organisationsstrukturen im ‚ System Stadttheater ‘ zwar immer wieder als ‚ hierarchisch ‘ , ‚ patriarchal ‘ , ‚ undemokratisch ‘ kritisiert, gleichzeitig betont ein traditioneller Diskurs vorrangig den Kunstcharakter dieser Form der Theaterarbeit. Entgegen der tatsächlich hochgradigen Organisiertheit heißt es dann, Kunst sei nicht vollständig zu regulieren, nicht zu demokratisieren und ‚ bürokratisieren ‘ . Und so werden Leitungsfiguren im Theater, etwa Regisseur*innen, genauer: Regisseure nicht etwa als Vorgesetzte bezeichnet, sondern eher als Künstler mit Team. Sie sind dabei diejenigen, so die Annahme, die sich als besonders begabt und visionär, künstlerisch kraftvoll und klug, charismatisch-mitreißend oder sogar geniehaft bewiesen haben. Institutionalisierte Hierarchien werden hier diskursiv naturalisiert, sie scheinen zum ‚ Wesen ‘ des Theaters und seiner Künstler*innen zu gehören. Dieser hier nur skizzierte traditionelle Diskurs verzichtet auf die Problematisierung der Machtverhältnisse innerhalb der arbeitsteilig organisierten Stadttheater und assoziiert ‚ Theater ‘ mit ‚ Kunst ‘ , diese wiederum mit der Notwendigkeit der ‚ Freiheit des Werks ‘ . Auch Schauspieler*innen sollten diese Freiheit nicht beschränken, sondern vielmehr für alle Ideen ‚ offen ‘ sein, auch ‚ eigene Grenzen überschreiten ‘ . Sie befinden sich in der eigentümlichen Position, in einem hohen Maße verantwortlich für die Wirkung einer Inszenierung zu sein, aber nicht primär für deren Aussagen und Form. Sie gelten einer Öffentlichkeit als darstellende Künstler*innen - innerhalb des Produktionsprozesses einer Inszenierung dagegen als ‚ Besetzung ‘ , d. h. weniger als ‚ Erobernde ‘ denn als ‚ Söldner*innen ‘ . Kriegsmetaphorik wird sich nun auch in den beiden Beispielen zeitgenössischer Schauspieler*innenselbstverständnisse wiederfinden, die auf Grundlage zweier publizierter Texte (z. T. vergleichend) betrachtet werden. Es handelt sich dabei sicher nicht um die einzig möglichen Positionen, vielmehr soll gezeigt werden, wie die eigene Rolle im Spannungsfeld von ‚ Kunst ‘ und ‚ Arbeit ‘ , von Selbstbestimmtheit und ‚ Dienst ‘ artikuliert wird. Letzterer wird dabei - vermutlich unbewusst - in Übereinstimmung mit traditionellen geschlechtsspezifischen Konzeptionen ( ‚ weibliche Hingabe ‘ ) als positiv bzw. abzulehnend bewertet. 109 Künstlerische Autonomie im solidarischen Kollektiv? Die Service-Position: ‚ Benutz mich! ‘ Der Wunsch, kompetent geführt zu werden und sich gemeinsam mit anderen durchaus ein Stück weit ‚ selbstaufopferungsbereit ‘ einer Arbeit zu widmen, an deren Wert alle Beteiligten glauben, erscheint als verbreitete Form des systemischen Funktionierenwollens von Stadttheaterschauspieler*innen - und ist gleichzeitig die Position, die eine (mehr oder weniger stark) asymmetrische Verteilung von Kompetenz, Verantwortung und Entscheidungsgewalt akzeptiert. Die Seite der ‚ kompetenten Führung ‘ steht dabei unter einem sehr hohen Druck auf mehreren Ebenen - mit Folgen. Erinnert sei an dieser Stelle an den ‚ großen Zauberer ‘ Max Reinhardt 17 , der 1915 aus Perspektive des - so die Selbstdarstellung - überaus sensiblen, phantasiebegabten, mit der brutalen Realität der materiellen und sozialen Bedingungen der ersten Probe konfrontierten Regisseurs beschreibt, wie er die Schauspieler*innen wahrnimmt: Die Schauspieler kommen. [ … ] Feinde. Alles Feinde. Da rotten sich schon einige Unzufriedene hinter einer durchlöcherten Wand zusammen. Sie tuscheln und blättern verächtlich in ihren Rollen. [ … ] Alle sind klüger, alle würden es besser machen als der da vorne, am Pult. Die Tragik des Schauspielerloses steigt aus der Versenkung auf. Er darf sich nicht wie andere Künstler seine Aufgaben selbst wählen, nicht spielen, wozu er Lust hat, nicht schaffen, wenn er in Stimmung ist. Alles wird ihm kommandiert von dem da vorne. 18 Das Unbehagen der Schauspieler*innen angesichts der eigenen strukturellen künstlerischen Ohnmacht wird als zusätzliche Herausforderung für den allein gegen eine Gruppe stehenden Regisseur beschrieben, nicht etwa als ein durch mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten zu behebendes Problem der Schauspieler*innen. Vielmehr muss der kluge Regisseur, um überhaupt künstlerisch arbeiten, das heißt für Reinhardt: sein zuvor erdachtes, ‚ visionäres Regiekonzept ‘ umsetzen zu können, diverse Manipulationsstrategien anwenden, um die (vermeintlich oder tatsächlich) renitenten Schauspieler*innen für sich zu gewinnen; wenn Schmeicheleien nicht weiterhülfen, sei auch jedes andere Mittel legitim: Dazwischen muß auch geschnauzt werden, Krach gemacht werden, ein richtiges Theaterdonnerwetter. [ … ] Der Träge erhitzt sich noch nicht für die Rolle, aber über die schlechte Behandlung, tut nichts. - Hauptsache ist, daß er endlich in Hitze ist; so kann er gebogen, gemodelt werden. Denn nur in der Glut ist er zu formen, gleichviel auf welchem Wege sie erzeugt wird. 19 Wenn auch Dank des seit einigen Jahren eingesetzten grundlegenden Bewusstseinswandels, den Initiativen wie das ensemblenetzwerk seit 2015 vorantreiben, bereits seltener, ist die Ansicht, dass heftige Emotionen zur Probe gehörten, dass Theater ohne ‚ Krise ‘ nicht auskomme, auch unter Schauspieler*innen verbreitet. Zuweilen geben sie sogar an, von der Regie unbedingt sehr hart behandelt werden zu wollen, um - erinnert das nur zufällig an Reinhardts Worte? - ‚ auf Temperatur zu kommen ‘ . Solche Äußerungen bleiben in der Regel im Bereich des Anekdotischen, es sind Interna aus dem Theaterfeld, die nur im Rahmen einer sensiblen ethnographischen Feldforschung als Analysematerial gewertet werden könnten. Dennoch ließe sich fragen, ob die Behauptungen von Schauspieler*innen - wobei mir tatsächlich keine derartigen Aussagen von Männern bekannt sind - , die eigene, auch gewaltsame Disziplinierung im Inszenierungsprozess nicht nur ertragen zu können, sondern sogar selbst zu wollen oder gar zu ‚ brauchen ‘ , nicht einen (bewussten oder unbewussten) Versuch darstellt, die eigene abhängige und ungeschützte Position 110 Anna Volkland als immerhin ‚ selbstbestimmt ‘ zu definieren? Auch das folgende Beispiel legt immer wieder nahe, dass der Probenprozess wie auch die Bühne als Momente und Ort der Grenzüberschreitung definiert werden, dass sogar brutale Härte eingefordert wird, um - vielleicht - als Schauspielerin selbst eine Art von Unverletzlichkeit zu suggerieren: Manchmal wünsche ich mir, das Theater wäre so hart wie der Kunstmarkt, wo es um viel Geld geht, da mußt du auf Biegen und Brechen liefern, da fliegen die Fetzen. Da bist du alleine für dein Überleben verantwortlich. Ich bin dafür, daß es im Theater mehr zur Sache geht und man auch mehr auf die Fresse kriegt, wie in den 20er Jahren, als in Berlin die erste Kokain-Tote Coco am Potsdamer Platz vom Tisch gesunken ist. Mit zwanzig Herzinfarkt, warum denn nicht? 20 Dies sind Worte aus dem eingangs zitierten Interview mit Bibiana Beglau, damals u. a. Ensemblemitglied des Münchner Residenztheaters. Ihre Äußerungen legen große Übereinstimmungen mit einer dem ‚ Regietheater (Regisseur als Schöpfer) ‘ gegenüber stark affirmativen Position nahe und sie zeigt deutliches Verständnis für die Notwendigkeit eines nicht nur freundlichen Umgangs mit den Schauspieler*innen durch die Regie: Man kann in der Arbeit total Arschloch sein. Dagegen habe ich nichts. Es ist mir fast lieber, wenn jemand sagt: ‚ Diese Arbeit ist kein Spaß ‘ , [ … ]. Ich habe nichts gegen Hierarchien. Es muß sie geben, denn einen Sack individualistischer Knallchargen zu bespaßen, bei der Stange zu halten und zu disziplinieren, ist nicht einfach. 21 Das stark defizitäre Bild, das Beglau während des gesamten mehrseitigen Interviews in Lettre International immer wieder von Vertreter*innen ihrer eigenen Berufsgruppe zeichnet, über die (gemeinsam mit dem redaktionell Verantwortlichen Frank M. Raddatz) als „ rückratlos “ gewitzelt wird, die als „ infantil “ , „ divenhaft “ oder „ Volltrottel “ bezeichnet werden, dieses (zumindest behauptete) Selbstbild korreliert mit der (ebenfalls behaupteten) Vorstellung, jegliche eigene Phantasie oder Emotionalität von Schauspieler*innen seien als überflüssig anzusehen, man sei vor allem als physische Verfügungsmasse im Inszenierungs- und Aufführungsprozess gefragt: Dieses Fleisch, das wir sind, gehört auf die Bühne. Da muß ich nicht spielen und mir Schauspielerunsinn ausdenken, sondern das, was der Dichter gesagt hat und besser sagt, als ich es könnte, bringe ich mit meinem Fleisch zur Sichtbarkeit. 22 Theater wird von Beglau nicht als etwas (auch konzeptionell) gemeinsam Hergestelltes beschrieben, sondern Schauspieler*innen sind einem Regisseur (sie nennt keine Regisseurinnen), dem - trotz der gleichzeitigen Huldigung von Textautoren - die alleinige Schöpferposition zugeschrieben wird, klar nachgeordnet. Ein Regisseur nimmt in ihren Augen eine besondere Stellung ein: Castorf steht außerhalb. Er hat das mit einem Satz beschrieben, den ich irre finde: „ Ich habe keinen Meister. Es gibt nur mich. “ Das heißt nicht, daß er arrogant ist, sondern das meint, er schafft ganz aus sich selbst heraus. Das macht für mich den Künstler aus, daß er keinen Meister hat, keine Tradition, der er nacheifert. 23 Die Idee eines Genies, das ‚ ganz aus sich selbst heraus ‘ schafft, das vermeintlich niemals ein inspirierendes Buch gelesen, ein anregendes Gespräch geführt oder eine denkwürdige Theateraufführung erlebt hat, das im Probenprozess von niemandem beeinflusst werden kann, gilt dem Theaterwissenschaftler Hajo Kurzenberger bereits seit Friedrich Nietzsche und Walter Benja- 111 Künstlerische Autonomie im solidarischen Kollektiv? min als überwunden und so stellt er schon 2009 fest: Jeder Künstler, so ist es heute common sense, interagiert bei seinem schöpferischen Tun mit ästhetischen und kulturellen Standards, ist eingebunden in gesellschaftliche Umfelder, arbeitet in und gegen Institutionen, die seine Kunst prägen. 24 Die Schauspielerin Bibiana Beglau behauptet das anders. Indem sie von einer tatsächlichen Außergewöhnlichkeit allein des Regisseurs ausgeht, wird die eigene Leistung vor allem als physische Extremleistung definiert und diese spezifische Rollenauffassung - tatsächlich eine Reduktion - auch legitimiert: [ … ] auf der Bühne müssen wir in die Extreme gehen. Ansonsten weiß ich - außer mit Hilfe genialer Texte eine extreme Form von Leben zu propagieren - nicht, was ich auf der Bühne anderes machen könnte oder sollte. 25 Beglau beschreibt eine für sie typische Probensituation, in der sie selbst einen selbstzerstörerisch anmutenden szenischen Vorschlag macht, der ohne Text eher beiläufig stattfindet, aber so anstrengend ist, dass sie davon Nasenbluten bekommt. 26 Muss diese Schauspielerin vor sich selbst geschützt werden? Sie selbst setzt auf ‚ Eigenverantwortlichkeit ‘ - ein Begriff, den sie immer wieder benutzt: Aber eine hierarchische Struktur [im Theater, A. V.] impliziert nicht, daß jemand ein menschlicher Ausfall werden muß. Da ist Eigenverantwortlichkeit gefragt, und wenn sonst etwas schiefläuft, sind die Schauspieler gefragt, denn sie haben eine Macht, auch eine psychologische. Die Ensembles meckern in den Kantinen ständig rum, sind aber oft nicht fähig, ein offenes Wort an die Leitung zu richten. Was soll einem denn passieren? Der Intendant oder die Intendantin ist doch auf diese 35 Spielernasen angewiesen, noch mehr, wenn es nur zwanzig oder zwölf sind. Aber offen zu sprechen, das scheint in diesem aufgeklärten Beruf nicht zu funktionieren. 27 Hier zeigt sich eine verblüffende Blindheit gegenüber den realen Abhängigkeitsverhältnissen der eigenen Berufsgruppe. Als gut nachgefragte Film- und Theaterschauspielerin scheint Beglau das Problem einer Vertragsnichtverlängerung oder des ausbleibenden Folgeengagements als Gastierende sowie das der Nicht- oder nur Nebenrollenbesetzung ( „ künstlerischer Liebesentzug “ 28 , wie das ensemble-netzwerk dies nennt) nicht zu kennen und auch bei Kolleg*innen noch nie wahrgenommen zu haben. Dabei können sich gerade jene Schauspieler*innen, die sich lediglich dadurch auszeichnen, ihr ‚ Fleisch ‘ auf der Bühne ‚ zur Sichtbarkeit zu bringen ‘ , überhaupt nicht sicher sein, nicht etwa durch neues williges ‚ Frischfleisch ‘ (um im sprachlichen Bild Beglaus zu bleiben) ausgetauscht zu werden. Die kritisierte Rückratlosigkeit der Schauspielkolleg*innen wird hier nicht innerhalb eines realen Machtverhältnisses zwischen rechtlich schlecht geschützten Arbeitnehmer*innen und ihren Arbeitgeber*innen verortet, nicht innerhalb eines Marktes, der eine übergroße Zahl verfügbarer Schauspieler*innen bereithält und auf dieser Angebotsseite entsprechende Anpassungsmechanismen produziert, die schon in den Schauspielschulen vorbereitet werden. Bekannte und gefragte Schauspieler*innen haben dagegen eine andere Position auf dem ‚ Theatermarkt ‘ - ihre Aufgabe ist es nicht, sich anzupassen, sondern im Gegenteil ihre ‚ Einzigartigkeit ‘ unter Beweis zu stellen. Beglaus Alleinstellungsmerkmal wäre etwa ihre Bereitschaft zur totalen Hingabe und Selbstverausgabung, die sich - auch wenn sie zeitgenössisch sportlich und daher zunächst scheinbar ‚ selbstbewusst unfeminin ‘ daherkommt - in eine Tradition der ‚ großen Schauspielerin ‘ als der 112 Anna Volkland bescheiden und demütig Leidensfähigen, eher Seienden als Spielenden und Erfindenden ( „ dieses Fleisch, das wir sind …“ , „ da muß ich nicht spielen “ ) einreihen. Eleonora Duse kann, so erstaunlich das auf den ersten Blick angesichts des bei Beglau sehr athletischen, bei der Duse äußerst reduzierten Bewegungsspiels und Körpereinsatzes erscheinen mag, in vielen ihrer Aussagen als eine Art Vorbildfigur für Beglaus Selbstverständnis gelesen werden. Schon 1883 lehnte die Duse es ab, „ bloß zu spielen “ , formulierte um 1900, dass Kunst den Rauschzustand brauche, gab sich vollkommen uneitel. 29 Claudia Balk erklärt: Eleonore Duse erfüllte mit ihrer persönlichen Kunstauffassung weibliche Muster (ihrer Zeit): 1. das Gebot der Hingabe [ … ] Mit zunehmendem Alter wurde dieser weiblich bestimmte Drang, sich dem Publikum hingeben zu wollen, durch eine Art Kunst-Religion veredelt: der heiligen Kunst wollte sie sich ganz geben. 2. Akzeptanz und Identifikation mit der weiblichen Leidensstruktur [ … ] 30 Den Nachwirkungen des Selbstkonzepts der Schauspielerin als derjenigen, die sich ganz der Kunst weiht - anders als etwa das Konzept der ‚ exzentrischen Diva ‘ à la Sarah Bernhardt es vorsieht, das Beglau im Gespräch strikt ablehnt - , kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Die Behauptung der selbstgewählten Rolle als einer Art Medium der Theaterkunst, das sich selbst nicht schont, suggeriert aber sicherlich eine Art Unangreifbarkeit als Mensch bzw. Frau, da das eigene Leiden (bei Beglau auch körperliche Versehrungen und Verschleiß) einen höheren Zweck habe: den des „ wirklichen Werks “ . Die souveräne Position: Theaterarbeit als Begegnung unterschiedlicher Künstler*innen Ein ganz anderes Alleinstellungsmerkmal als besonderer, ‚ künstlerischer ‘ Schauspieler - und ein zu Beglau konträres Selbstverständnis - stellt der ebenso gefragte und preisgekrönte, im Gegensatz zu Beglau aber seit Jahren nicht mehr in einem Ensemble, sondern im Theater vor allem als Solist auftretende Fabian Hinrichs vor. Eine demütige, ‚ dienende ‘ Haltung als Schauspieler*in innerhalb eines oft bildgewaltigen Regietheatersettings kritisiert er und fordert 2018 in einer viel beachteten Rede, Spieler*innen sollten mehr sein als inszenatorische Verfügungsmasse: Auf meiner Suche nach dem souveränen Schauspieler mit einer Leitung nach oben begegnete mir preußischer Gehorsam, wohl als erschütterndes, durch die Generationen hindurch gewandertes Erbe des preußischen Militarismus, wackeres Soldatentum, man sah Menschen bei anstrengender Arbeit zu. [ … ] Und so sollte man als künstlerischer Schauspieler nicht mit sich umgehen lassen, als wäre man ein Soldat, der in der Kaserne einsatzbereit auf Befehle zu warten hat [ … ]. Inmitten all des entfremdeten, austauschbaren und nicht zuende [sic! ] sozialisierten, notgedrungen oder sogar freudig mitlaufenden Servicepersonals auf den Bühnen dieses Theatertreffens gab es jemanden mit Präsenz. 31 In dieser Rede, eigentlich eine Laudatio auf den Schauspieler Benny Claessens, assoziiert Hinrichs Künstler*innen-Sein mit ‚ Souveränität ‘ und einer bestimmten Form von Unverfügbarkeit. Statt Hingabe oder Söldnertum fordert er die Möglichkeit von Selbstbestimmung, die sich der flexiblen Einsetzbarkeit innerhalb jedes szenischen Gefüges - der aufwendig geplanten Regiekonzeption - widersetzt und die eigene 113 Künstlerische Autonomie im solidarischen Kollektiv? Phantasie, die eigenen Talente, die eigenen Gefühle - „ [u]nd, schnallen Sie sich an: Denken, eigenes Denken “ (Hinrichs) - auf der Bühne sichtbar werden lassen will. Auch hierin zeigt sich ein deutlicher Gegensatz zur obigen ‚ bescheidenen ‘ Idee, es ginge Schauspieler*innen allein um die Sichtbarkeit der Worte des Dichters oder die Phantasien der Regie mittels der eigenen Körperlichkeit. Unverfügbarkeit ist aber nicht nur in dieser emanzipatorischen Lesart impliziert, sondern sie hängt mit einem grundsätzlich ‚ nichtinstrumentellen ‘ Verständnis von Kunst zusammen. Es solle, so Hinrichs, nicht versucht werden, Schauspieler*innen als in ihrer Wirkung kalkulierbare und im Sinne eines Gesamtkonzepts verstehbare Elemente zu benutzen ( „ das Regie-Gefängnis “ , nennt er es). Alles [ … ] wird durch die Konzentration auf Sinnzuschreibungen, auf Interpretierbares ausgeschlossen, alle ästhetischen Erfahrungen, die nicht im Lesen bestehen. Der ästhetischen Erfahrung der Stimme, des Körpers, der eigenen Schönheit von Schauspielern kommen wir mit Sinnzuschreibungen nicht nahe. [ … ] Denn es ist eben [an Claessen, A. V.] etwas spürbar, dass zutiefst künstlerisch ist - künstlerisch in dem Sinne, dass es das Zweckmäßige ohne Zweck ist, etwas, das sich unserer Definition entziehen möchte und auch entzieht. 32 Es geht Hinrichs einerseits um einen möglichst selbstbestimmten eigenen Beitrag innerhalb einer Inszenierung, denn die Aufgabe der ‚ künstlerischen ‘ Schauspieler*innen könne nicht darin bestehen, eine etwa von der Regieposition kommende Aufgabe möglichst gut zu erfüllen - „ Service “ , wie Hinrichs das nennt. Gleichzeitig geht es ihm um eine Art von Theater als Kunst, die nicht vollständig semiotisch entschlüsselbar ist. Wie Beglau, von deren Selbstverständnis er sich ansonsten distanziert, favorisiert auch er einen Kunstbegriff, der sich einem ordnenden Verstehen entzieht und immer wieder die Verbindung zu etwas Höherem andeutet - so spricht er etwa romantisierend (den tatsächlich sehr prekären Status der ‚ freien ‘ Wandertruppenspieler*innen stark verklärend) vom (früheren) „ Schauspieler als Künstler, [ … ] dessen Lebensräume [ … ] der Himmel und das Darüberhinaus, das nach oben Gespannte waren “ . 33 Wichtig aber ist, dass Hinrichs ‚ Kunst ‘ nicht allein in der Regie, nicht im Text verortet, sondern in einer ‚ Poesie ‘ , die auch und gerade dem Schauspielen eigen sei. Besonders die spontane Qualität dieser Poesie sei entscheidend (und ‚ politisch ‘ ): Sie befreit uns zur Spontaneität, Benny Claessens ist spontan! Und er hat sich den Raum dafür genommen, so wie es eben ging, ob gegen Widerstände, das weiß ich nicht, denn Schauspieler sind strukturell betrachtet nicht die Entscheider. 34 Hinrichs nimmt die Position der Schauspielenden als derjenigen, die nicht die Entscheidungshoheit besitzen, hier erst einmal an - plädiert innerhalb dieses Rahmens aber für den Versuch, ‚ sich den Raum zu nehmen, so wie es eben geht ‘ . Anders als Beglau macht Hinrichs nicht etwa die ‚ Rückratlosigkeit ‘ der Schauspieler*innen für ihre Situation verantwortlich: [ … ] was Anderes bleibt dem heutigen deutschen Schauspieler zunächst (! ) übrig, als sich zu fügen und sich die Uniform anzuziehen, die man ihm in den Spind gehängt hat, wenn er weiter in Lohn und Brot stehen muß. [ … ] [E]s ist ja klar: wer nicht mitmacht, wird entlassen. Und dann wohl lieber ein künstlerisches Auftrittsverbot als gar nicht mehr aufzutreten, denn neben dem Ödipuskomplex gibt es ja auch noch den existentielleren Komplex - den Geldkomplex. 35 Die künstlerische Freiheit der Schauspieler*innen ist also dort am größten, wo sie auch in ökonomischer Hinsicht die Kapa- 114 Anna Volkland zitäten haben, sich einer bestimmten Form der Mitwirkung zu entziehen. Welche Freiheit des Mitmachens aber könnte es geben? In einem 2018 geführten Interview wird Hinrichs, der seit Jahren als ‚ freier ‘ Schauspieler seine Arbeitszusammenhänge selbst wählt, gefragt, wo er „ die größeren Zumutungen erlebt “ habe: „ beim Film oder im Theater? “ : Hinrichs: Im regisseurzentrierten Stadttheater ist das Zumutungspotenzial größer. In dieser eigentlich sehr jungen Spielart des Theaters hängt die Entwicklung der Produktion von der Bildung, vom Talent, vom Sadismus, vom Drogenkonsum, von der Intelligenz des Regisseurs ab. Man ist dem, besonders als junger Schauspieler, schutzlos ausgeliefert. Wenn man Theaterarbeit aber anders versteht, nämlich als Begegnung unterschiedlicher Künstler, sind die Möglichkeiten im Theater größer. 36 Die ‚ Begegnung unterschiedlicher Künstler ‘ erscheint hier als Möglichkeit des Zusammenarbeitens auf Augenhöhe, ohne Forderung nach gleichem Können, gleichem Denken, gleichen Aufgaben. Wie gelangt man zu einer solchen Konstellation? Wer lädt wen ein? Wer entscheidet über die Regeln des gemeinsamen Arbeitens? Hinrichs selbst fiel im Theater in den letzten Jahren vor allem durch Inszenierungen des eng mit den Schauspieler*innen am Text arbeitenden Autor-Regisseurs René Pollesch auf, in denen er als Solo-Protagonist vor dem Hintergrund eines fast gänzlich stummen Bewegungschores agierte. 37 Dies erscheint als eine Möglichkeit, umzugehen mit dem Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Souveränität und Spontanität und der Notwendigkeit, im Theater mit Anderen zusammenzuarbeiten und -zuspielen. Offen bleibt dabei sowohl die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten von Schauspieler*innen, die über weniger kulturelles (und ökonomisches) Kapital verfügen und die eigenen Arbeitsbedingungen für sich selbst nicht mitbestimmen können (und sei es, indem sie nur bestimmte Arbeitskontexte akzeptieren, andere ablehnen), als auch die nach theatralen Spielformen, die mehrere eigensinnige, souveräne Schauspieler*innen auf der Bühne zusammenbringen. Ausblick: Ensembles als Kollektive? Einem gleichberechtigten Zusammenspiel von Darsteller*innen, die sich zudem durch Regie, Text, Dramaturgie, Bühnen- und Kostümbildner*innen etc. begleitet sehen, steht die (oben bereits angedeutete) Annahme verschiedener Grade künstlerischen Talents entgegegen - auch bereits innerhalb des Schauspieler*innen-Ensembles. Trotz der Behauptung, Schauspieler*innen seien ‚ Ensembletiere ‘ (Beglau), trotz der auch schauspieltheoretisch - etwa prominent durch Stanislawski - begründeten Ablehnung eines ‚ Starsystems ‘ , trotz der Sozialisation als Gruppenmitglied (Ausbildung im Klassenverband) und der Betonung des kollegialen Aufeinander-Angewiesenseins auf der Bühne (etwa: ‚ den Ton voneinander abnehmen ‘ als ‚ Technik des Zusammenspielens ‘ ), sind Schauspieler*innen als i. a. R. nur befristet beschäftigte Arbeitnehmer*innen zugleich in Konkurrenz zueinander stehende Einzelkämpfer*innen. Sie sind unterschiedlich, insofern alle Menschen verschieden sind, aber auch, weil nach wie vor die Zuschreibung unterschiedlicher Begabungsgrade existiert. In seiner viel zitierten Schrift Das Theater im Lichte der Soziologie (1931) erklärt der Dramaturg und Autor Julius Bab die scheinbar naturgegebenen Unterschiede der Bedeutung von Schauspieler*innen; sie seien dem Versuch des Aufbaus eines „ gleichberechtigt mittelmäßige[n] “ Ensembles stets vorzuziehen: 115 Künstlerische Autonomie im solidarischen Kollektiv? Schauspieler sind Künstler, [ … ] die Kraft und Wert mit besonderer Deutlichkeit aus einer Lebenssphäre jenseits der sozialen Ordnung beziehen. [ … ] Diese Kraft aber tritt ganz rein, ganz stark, unbedingt überzeugend für alle in jeder Generation nur bei einer kleinen Anzahl von Auserwählten auf. [ … ] Mit etwas Übertreibung könnte man sagen, daß der Wert der anderen Schauspieler daher rührt, daß die Großen ja nicht allein auftreten können. [ … ] Es bleibt gewiß ein Ideal, ein ausgeglichenes Ensemble zu pflegen, in dem kein einzelner von seinen Kollegen absticht. Und doch wird jeder wirklich theaterempfindliche Mensch lieber ein echtes Genie unter Schmieranten, als eine ausgeglichen mittelmäßige Vorstellung sehen. 38 Dass gemeinsame Arbeit, etwa auch im Sinne einer Kollektivregie, zur künstlerischen Mittelmäßigkeit führt, ist eine eng mit dem Genieglauben verbundene Annahme, die bis heute legitimiert, dass Einzelnen - heute nur noch selten ‚ großen Schauspieler*innen ‘ , sondern ‚ großen Regisseuren ‘ (sehr selten Regisseurinnen) - eine absolute Autorität im Inszenierungsprozess zugesprochen wird, der sich alle Anderen, v. a. die Schauspieler*innen nur fügen können, bestenfalls ‚ gern ‘ (wie Beglau), oder gegen die sie zu rebellieren versuchen (wie Hinrichs). Die Idee, es gäbe in der Kunst ‚ wenige Auserwählte ‘ (heute: besonders Begabte) ist allerdings eine nur leicht umzudeutende Annahme, die keineswegs mit der Idee eines egalitären Ensembles in Konflikt geraten muss: Es ist von verschiedenen, in ihrer Einzigartigkeit und Eigenwilligkeit zu fördernden Spieler*innen auszugehen, die sich - angezogen von bestimmten Ideen und guten Arbeitsbedingungen - in einem Theater versammeln können. „ Das Ensemble - ein Kollektiv ausgeprägter Persönlichkeiten “ titelte etwa Anfang 1989 ein theaterpolitischer Beitrag im DDR-Magazin Theater der Zeit - doch bald schon galt der ‚ Kollektiv ‘ -Begriff als Inbegriff des (politischen) Zwangs. 39 Dreißig Jahre später erklärt der sich als neuer Intendant eines ehemaligen ‚ Ost-Theaters ‘ bewerbende René Pollesch: „ Die Volksbühne ist prädestiniert für SpielerInnen, die Verantwortung übernehmen, das ist der einzig gültige Sexappeal. “ 40 Indem Stadttheater-Schauspieler*innen sich heute zunehmend nicht mehr als „ Fleisch, das den Worten des Dichters zur Sichtbarkeit verhilft “ (Beglau) definieren oder sich wünschen, durch einen ‚ genialischen ‘ Regiezugriff ‚ Teil eines Werkes ‘ zu werden, scheint sich auch institutionell ein neues Aufgabenprofil herausbilden. Noch ist dennoch nicht zu erkennen, dass sich die etablierte Arbeitsteilung zwischen einem konzeptionell verantwortlichen Regie-Team und den ihm zugeteilten Spieler*innen tatsächlich auflösen würde. Allerdings gibt es mit dem bereits erwähnten ensemble-netzwerk e. V. und verbündeten Organisationen seit etwa 2015 eine Bewegung, die neben Ideen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen aller Berufsgruppen am Stadttheater auch ein neues aktivistisches Selbstbewusstsein von Schauspieler*innen artikuliert. Die hier Engagierten verstehen sich als die Institution (Stadt-) Theater mitprägende Ensemble-Spieler*innen, die nicht nur Aufführungen und Inszenierungen, sondern auch die Bedingungen von Proben- und Inszenierungprozessen, die Regeln und Arten der Regelbestimmung, -modifikation und -befolgung mitgestalten wollen. Diese Art der Verantwortung anzunehmen, bedeutet ein Selbstverständnis, dass die eigene Aufgabe nicht allein als ‚ künstlerisch ‘ definiert, sondern auch an den strukturellen sowie ideellen Voraussetzungen des von Hinrichs geforderten Arbeitens auf Augenhöhe arbeitet. Auch Solidarität wird hier als ‚ Sexappeal ‘ verstanden. 116 Anna Volkland Die Schauspielerin und damals erste Vorstandsvorsitzende des ensemble-netzwerks Lisa Jopt beschreibt 2018 im Gespräch, dass besonders das gemeinsame, im Austausch stattfindende Lernen und Erkennen grundlegend für den Glauben an die Möglichkeiten der Veränderung eines Theatersystems sind, das schließlich auch in Hinblick auf seine künstlerischen ‚ Endprodukte ‘ offener gedacht werden wird: Meiner Meinung nach entwickelt sich ein neues Selbstbewusstsein, und das wird in den nächsten Jahren noch viel mehr in den Spielplänen stattfinden. D. h., durch unsere Selbstermächtigung werden wir beginnen, Kunst anders zu tun und zu denken. [ … ] Wir fangen an, die Gesellschaft oder eben auch unsere eigenen Theater in ihrer Komplexität, aber auch in ihrer Gestaltbarkeit zu begreifen. 41 Bertolt Brecht und seine Mitstreiter*innen hätte das fraglos gefreut: Als Theaterschaffende ‚ die Welt als veränderbar ‘ zeigen zu wollen, heißt natürlich auch, den ‚ Produktionsapparat Theater ‘ selbst nicht unangetastet zu lassen und immer auch die Wechselwirkungen zwischen Kunst und Gesellschaft zu (unter)suchen. In dem Maße, in dem Ideen von Demokratie und Gleichwertigkeit aller Menschen gesamtgesellschaftlich zunehmend als wertvoll diskutiert wurden und auch immer wieder aufs Neue diskutiert werden müssen, waren und sind auch innerhalb theatraler Produktionsprozesse und (hierzulande) innerhalb der sie beherbergenden ‚ Institution Stadttheater ‘ wieder und wieder Fragen nach der eigenen demokratischen Verfasstheit - und was das konkret bedeuten würde: als Wert und als Praxis? - (kritisch) zu verhandeln. Anmerkungen 1 Barbara Sichtermann und Jens Johler, „ Über den autoritären Geist des deutschen Theaters “ , in: Theater heute, April 1968, S. 2 - 4, hier zit. nach Henning Rischbieter, Theater im Umbruch. Eine Dokumentation aus ‚ Theater heute ‘ . Hg. von Henning Rischbieter, München und Velber bei Hannover, Januar 1970, S. 130 - 138. 2 Ebd., S. 130. 3 Ebd., S. 132. 4 Vgl. zum Konzept der ‚ symbolischen Herrschaft ‘ bei Bourdieu etwa Hilmar Schäfer, „ Symbolische Herrschaft und soziale Iterabilität. Die sprachliche Reproduktion sozialer Differenzen bei Pierre Bourdieu und Judith Butler “ , in: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie, 12/ 8 (2015), S. 96 - 108. 5 Stephan Moebius, zit. nach Velten Schäfer, „‚ Der freie Wille ist eine Ideologie ‘ . Interview: Der Soziologe Stephan Moebius erklärt, warum sich eine ungerechte Welt für viele ‚ in Ordnung ‘ anfühlt “ , in: freitag, No. 14, 08.04.2021, S. 15. Vgl. auch Robert Schmidt und Volker Woltersdorff (Hg.), Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu, Theorie und Methode, Bd. 48, Köln 2008. 6 Zu den hier verwendeten Begriffen und zur meine Analyse inspirierenden Methode der wissenschaftssoziologischen Diskursanalyse siehe Reiner Keller, Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, 4. Aufl., Wiesbaden 2010. 7 Mit Blick auf das Wissen und Selbstverständnisse von Schauspieler*innen stehen bisher v. a. Schauspieltechniken bzw. Spielweisen im Vordergrund, vgl. etwa Ole Hruschka, Magie und Handwerk. Reden von Theaterpraktikern über die Schauspielkunst, Bd. 3 der Reihe Medien und Theater, Hildesheim 2005. 8 Frank M. Raddatz im Gespräch mit Bibiana Beglau, „ Leben! Benutz mich! Das Extreme als Mittel, unserer Wabbelklötzchenkultur zu entkommen “ , in: Lettre International 117 Künstlerische Autonomie im solidarischen Kollektiv? 110 (Herbst 2015), S. 114 - 120; zitierte Aussagen: S. 114, S. 120. 9 Ebd., S. 114. 10 Notiz zur Geschichte des schauspielerischen Dienstes: Schon für die Spieler*innen der scheinbar freien europäischen Wandertruppen schien es (besonders im Winter) erstrebenswert, sich vertraglich ein warmes Quartier, Schutz, Spielmöglichkeiten und eine kleine Entlohnung am Hof eines reichen Förderers zu sichern, allerdings um den Preis einer vollständigen Verfügbarkeit als Anweisungen erhaltende Dienstleistende, wie sie etwa ein Anstellungsdokument am Hof zu Dresden um 1670 dokumentiert: „ Insonderheit aber soll er [der Schauspieler, A. V.] schuldig sein, bei Unsrer Residenz sich wesentlich aufzuhalten, aufm Theatro beim Agieren sich gebrauchen zu lassen und, was ihm zu lernen überreichet wird, dasselbe willigst anzunehmen und hierinnen sich nicht widerspenstig zu erweisen, sondern jederzeit seinem Vermögen nach williges Gehorsams zu verrichten [ … ]. “ Auszüge zit. nach Gerhart Ebert, Der Schauspieler. Geschichte eines Berufs. Ein Abriß, Berlin 1991, S. 157. (Ebert wiederum zitiert Eduard Devrient, Geschichte der deutschen Schauspielkunst, Bd. 1, zuerst erschienen in Leipzig 1848, hier Berlin 1967, S. 153.) 11 Vgl. zu den Folgen asymmetrischer Macht in Stadttheaterbetrieben: Thomas Schmidt, Macht und Struktur im Theater. Asymmetrien der Macht, Heidelberg 2019. 12 Vgl. etwa Gisela Schwanbeck, Sozialprobleme der Schauspielerin im Ablauf dreier Jahrhunderte, Reihe Theater und Drama, Bd. 18, W.-Berlin 1957. Zu Schauspielerinnen als Unternehmerinnen vgl. etwa Claudia Balk, Theatergöttinnen. Inszenierte Weiblichkeit. Clara Ziegler - Sarah Bernhardt - Eleonora Duse, Katalog zu drei Ausstellungen im Deutschen Theatermuseum München, Frankfurt a. M. 1994. 13 Vgl. Hajo Kurzenberger, „ Kollektive Kreativiät: Herausforderung des Theaters und der Praktischen Theaterwissenschaft “ , in: Ders., Theater als kollektive Praxis. Chorkörper - Probengemeinschaften - theatrale Kreativität, Bielefeld 2009, S. 181 - 201. Sowie: Anna Volkland, „‚ Brauchen Sie Kunst? Wenn ja: wozu? ‘ Institutionskritik im Stadttheater der BRD nach 1968 “ , in: Forum Modernes Theater, 31 (2020), S. 101 - 112. 14 Vgl. zum Begriff des Dispositivs: Lorenz Aggermann, Georg Döcker und Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in Ordnung der Aufführung, Frankfurt a. M. 2017. 15 Toby Cole und Helen Krich Chinoy (Hg.), Actors on Acting: The Theories, Techniques, and Practices of the Great Actors of All Times as Told in Their Own Words, neue überarb. Auflage, 1. Auflage 1949 (New York), New York 1970, S. xvi. Übersetzung aus dem Englischen von mir. 16 Vgl. (ohne Theaterbezug) Joyce Rothschild- Whitt, „ Collectivist Organization: An Alternative to Rational Bureaucratic Models “ , in: American Sociological Association (Hg.), American Sociological Review, 44/ 4 (8/ 1979), S. 509 - 527. 17 „ Der große Zauberer Max Reinhardt “ , Dokumentation, Buch und Regie: Gottfried Reinhardt, hergestellt im Auftrag von ORF und ZDF, 1973. 18 Max Reinhardt, „ Von der modernen Schauspielkunst und der Arbeit des Regisseurs mit dem Schauspieler “ , in: Manfred Brauneck (Hg.), Klassiker der Schauspielregie. Positionen und Kommentare zum Theater im 20. Jahrhundert, Hamburg 1988, S. 139 - 145, hier S. 142. 19 Ebd., hier S. 143 f. 20 Raddatz, Beglau, „ Leben! Benutz mich! “ , S. 118. 21 Ebd., S. 118 und 119. 22 Ebd., S. 116. 23 Ebd., S. 117. 24 Kurzenberger, Kollektive Kreativität., S. 181 f. 25 Raddatz, Beglau, „ Leben! Benutz mich! “ ., S. 116. 26 Ebd., S. 117. 27 Ebd., S. 119. 28 Die Gründerin des ensemble-netzwerks Lisa Jopt prägte den Begriff ‚ künstlerischer Liebesentzug ‘ früh und benutzte ihn in zahlreichen Interview und Reden; seitdem gehört der Ausdruck zum kämpferischen Be- 118 Anna Volkland griffsvokabular von künstlerischen Theatermitarbeiter*innen, um auf die nicht nur ökonomische Abhängigkeit von Intendant*innen und Regisseur*innen hinzuweisen. Vgl. etwa: Lisa Jopt und Anselm Weber im Interview: „ Der Faktor Mensch. Die Aktivistin und der Intendant über Mitbestimmung und Machtverteilung im Theater “ , in: Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de (Hg.), Theater und Macht. Beobachtungen am Übergang, Schriften zu Bildung und Kultur, Band 15, Berlin 2021, S. 19. 29 Eleonore Duse in einem Brief 1883 sowie in einem Brief um 1900, zitiert nach Balk, Theatergöttinnen, S. 180 und 181. 30 Balk, Theatergöttinnen, S. 183 f. 31 Fabian Hinrichs: „ Die Kunst sitzt im Kerker. Wie das Theater zum Drill wurde - und wie man sich dem widersetzt. Die Laudatio auf Benny Claessens, den Gewinner des Alfred- Kerr-Darstellerpreises “ , in: Der Tagesspiegel, 23.05.2018, online: https: / / www.tagesspiegel. de/ kultur/ laudatio-auf-benny-claessens-diekunst-sitzt-im-kerker/ 22586896.html [Zugriff am 02.10.2019]. Die Rede wurde später mehrfach auch an anderen Stellen veröffentlicht. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Peter Laudenbach im Gespräch mit Fabian Hinrichs, „’ Ich will mir die Freiheit erhalten, meiner Karriere auch schaden zu können. ’ Der Schauspieler Fabian Hinrichs über Künstler, Regisseure und andere Servicekräfte “ , in: brand eins 7 (2018), online: htt ps: / / www.brandeins.de/ magazine/ brand-ein s-wirtschaftsmagazin/ 2018/ service/ fabian-hi nrichs-interview-ich-will-mir-die-freiheit-er halten-meiner-karriere-auch-schaden-zu-ko ennen [Zugriff am 31.07.2020]. 37 „ Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! “ (UA Januar 2010, Volksbühne Berlin), „ Kill your Darlings! Streets of Berladelphia “ (UA Januar 2012, Volksbühne Berlin), „ Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt “ (UA Oktober 2019, Friedrichstadt Palast Berlin). 38 Julius Bab, Das Theater im Lichte der Soziologie. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1931, Stuttgart 1974, S. 107 und 108. 39 Karl Schneider, „ Das Ensemble - ein Kollektiv ausgeprägter Persönlichkeiten “ , in: Theater der Zeit 2 (1989), S. 10 - 12. Sowie: Bojana Cvejic, „ KOLLEKTIVITÄT? Sie meinen Kooperation! “ , Übs. v. Therese Kaufmann, in: Journal transversal 1 (2005), online: https: / / transversal.at/ transversal/ 1204/ cvejic/ de [Zugriff am 05.11.2020]. 40 René Pollesch zitiert nach Rüdiger Schaper, „ René Pollesch übernimmt Intendanz. Der Volksbühnengeruch kehrt zurück “ , in: Berliner Tagesspiegel, 12.06.2019, online: www. tagesspiegel.de/ kultur/ rene-pollesch-ueber nimmt-intendanz-der-volksbuehnengeruchkehrt-zurueck/ 24449620.html [Zugriff am 13.06.2019]. Der zitierte Satz stammt aus dem mit „ Tous Ensemble “ überschriebenen Konzeptpapier (Intendanzbewerbung) für Pressevertreter*innen, Berlin Juni 2019. 41 Lisa Jopt im Gespräch mit Kevin Rittberger, „ Die meisten von uns wussten noch nicht mal, dass man seine Abgeordneten treffen kann. “ , in: Matthias Naumann und Kevin Rittberger (Hg.), Organisation/ Organisierung, Mülheimer Fatzerbücher, Bd. 6, Berlin 2018, S. 145 - 155, hier S. 149 f. und S. 155. 119 Künstlerische Autonomie im solidarischen Kollektiv?