eJournals Forum Modernes Theater 33/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2022-0013
Der Titel des Beitrags „Unbestimmtheit üben“ beschreibt scheinbar eine paradoxe Handlung. Unbestimmtheit lässt sich nicht einüben. Denn sie liegt außerhalb dessen, was sich kulturell bestimmen lässt. Und gerade weil das so ist, stellt kulturelle Unbestimmtheit einen spannenden Gegenstand für die künstlerische Forschung dar. Wenn das Potential des ‚Künstlerischen‘ darin liegt, fragwürdig gewordene Denktraditionen, leichtgläubigem Pragmatismus und institutionellem Alltag mit einem Schulterzucken zu begegnen, dann besitzt es womöglich auch das Potential, Unbestimmtheit als etwas zu verstehen, dass sich künstlerisch hervorrufen lässt. Der Beitrag geht der Idee nach, immer dann in den Schauspielunterricht zu intervenieren, wenn sich stereotype Wahrnehmungsweisen bewusst oder unbewusst in die Beziehungen zwischen Lehrenden und Studierenden eingeschlichen haben. Das Instrument dieser Intervention besteht darin, kulturtheoretische Texte gemeinsam zu lesen. So können stereotype Wahrnehmungen von Geschlecht, Ethnizität, Alter, Gesundheit uvm. reflektiert und in eine künstlerisch-forschende Invention kultureller Unbestimmtheit überführt werden.
2022
331-2 Balme

Unbestimmtheit üben. Kulturtheoretische Interventionen in den Schauspielunterricht

2022
Daniel Rademacher
Unbestimmtheit üben. Kulturtheoretische Interventionen in den Schauspielunterricht Daniel Rademacher (Graz) Der Titel des Beitrags „ Unbestimmtheit üben “ beschreibt scheinbar eine paradoxe Handlung. Unbestimmtheit lässt sich nicht einüben. Denn sie liegt außerhalb dessen, was sich kulturell bestimmen lässt. Und gerade weil das so ist, stellt kulturelle Unbestimmtheit einen spannenden Gegenstand für die künstlerische Forschung dar. Wenn das Potential des ‚ Künstlerischen ‘ darin liegt, fragwürdig gewordene Denktraditionen, leichtgläubigem Pragmatismus und institutionellem Alltag mit einem Schulterzucken zu begegnen, dann besitzt es womöglich auch das Potential, Unbestimmtheit als etwas zu verstehen, dass sich künstlerisch hervorrufen lässt. Der Beitrag geht der Idee nach, immer dann in den Schauspielunterricht zu intervenieren, wenn sich stereotype Wahrnehmungsweisen bewusst oder unbewusst in die Beziehungen zwischen Lehrenden und Studierenden eingeschlichen haben. Das Instrument dieser Intervention besteht darin, kulturtheoretische Texte gemeinsam zu lesen. So können stereotype Wahrnehmungen von Geschlecht, Ethnizität, Alter, Gesundheit uvm. reflektiert und in eine künstlerisch-forschende Invention kultureller Unbestimmtheit überführt werden. Schauspielende, die bewusst ihre Körper präsentieren, offenbaren immer auch unbewusste Bewegungen, Haltungen und körperliche Konturen. Indem Schauspielende ihre Subjektivität ins Spiel bringen, offenbaren sie zudem unbewusste Werthaltungen, Denk- und Wahrnehmungsweisen. Hierzu zählen verborgene Vorstellungen zu Geschlecht, Ethnizität, Alter, Gesundheit, Mensch, Tier und Umgebung. Kurzum: Schauspielende tragen manchmal unbeabsichtigt zur Reproduktion von kulturellen Stereotypen bei. 1 Ähnliches gilt für mich, als Lehrendem. Bewusst und unbewusst reproduziere ich stereotype Sichtweisen auf Körper, Bewegungen, Handlungen und Aktionen. Als Zuschauender bin ich im Schauspielunterricht ein Co-Konstrukteur. Mein analytischer Blick auf geschlechternormative, ethnisierende u. a. Merkmale, ist ein Blick, der Zuschreibungen aktualisiert und somit gilt für mich das Gleiche, was eingangs über das Spiel von Schauspielenden gesagt wurde: Zuschauende tragen häufig unbeabsichtigt zur Reproduktion von kulturellen Stereotypen bei. Besonders auffällig wird dies, wenn die Reproduktion von Klischees und Normen gezielt zum Gegenstand des Unterrichts gemacht wird. In dem vorliegenden Beitrag gehe ich der Frage nach, inwiefern eine dritte Position in solchen Unterrichtssituationen hilfreich sein kann. Eine Position der Verhandlung, die es ermöglicht von den Wahrnehmungen der Studierenden sowie der Lehrenden abzurücken. Eine Position, die den konstruktivistischen Charakter des Wahrnehmens berücksichtigt und ihn selbst zum Gegenstand macht. In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, inwiefern kulturwissenschaftliche Interventionen in den Schauspielunterricht solche Funktionen erfüllen können. Im Sinne des übergeordneten Themas dieses Themenhefts schließen sich folgende Fragen an: Wenn kulturtheoretische Vermittlungen für die unbewusste Reproduktion von Stereotypen sensibilisieren, so entstehen neue Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 166 - 176. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0013 Spielmöglichkeiten, in denen Weiblichkeit, Männlichkeit, Diversität, Ethnizität und Alter künstlerisch neu erfunden und erforscht werden können. Dieser Ansatz zählt zu den mittlerweile gängigen Praktiken an Kunst- und Schauspielschulen, soll im Folgenden jedoch trotzdem durchdacht und vertieft werden. Eine weitere Frage gilt den forschenden Handlungsmöglichkeiten im Schauspielunterricht. Welche Vermittlungsmöglichkeiten können entstehen, wenn das Lesen und Diskutieren von Kulturtheorie zum Alltag im künstlerischen Unterricht gehört? Wie verändern sich die Beziehungen zwischen Lehrenden und Studierenden, hin zu einer forschenden Gemeinschaft? Der Begriff Intervention, im gleichen Masse überverwendet wie unterbestimmt 2 , reagiert auf den Umstand, dass die Begriffe Theorie und Praxis im institutionellen Alltag häufig komplementär verwendet werden. Indem Theorie und Praxis als normative Gegensätze auftreten, geraten künstlerisch-forschende Vermischungen von Lesen, Spielen, Sprechen und Bewegen nicht selten zu einer ethisch-ästhetischen Guerilla-Taktik am Rande institutioneller Programmatik. Der Begriff Intervention zielt in diesem Beitrag auf die Auflösung normativer Trennungen von Theorie und Praxis ab. Seine Verwendung markiert den Anfang eines Eingreifens in den künstlerischen Unterricht, das auf ein situatives Erfinden künstlerisch-forschender Agency angelegt ist. Hierbei folgt der Beitrag einem Vorschlag von Frauke Surmann, die in ihrer Dissertation Ästhetische In(ter)ventionen im öffentlichen Raum. Grundzüge einer politischen Ästhetik von einem immanenten Übergang zwischen Interventionen und Inventionen ausgeht. 3 Das Eingreifen und das Neuerfinden sind miteinander verwoben und nicht voneinander zu trennen. Diesem Bild folgend, besteht das Plädoyer dieses Beitrags nicht darin, aus einer autoritären theoretischen Position in künstlerische Praktiken einzugreifen. Das gemeinschaftliche Lesen kulturtheoretischer Texte soll hingegen als Invention künstlerisch-forschender Gemeinschaften verstanden werden. Die Ausführungen beginnen mit zwei prominenten kulturtheoretischen Positionen, die im Hinblick auf ihr Potential zur Erweiterung, Erneuerung und Veränderung des Schauspielbegriffs gelesen werden. Namentlich werden Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter und Gilles Deleuze/ Felix Guattaris Lesart von Antonin Artauds November 1947 - Wie verschafft man sich einen organlosen Körper? mit dem Ziel analysiert, Koordinaten und Beziehungen für die Agency von Schauspielenden zu ermitteln. Mit Isabelle Stengers und Donna Haraways Fortschreibung radikal empiristischer Forschungsweisen und ihrer teils ironischen, teils hoffnungsvollen Vorstellung forschender Sprechgemeinschaften scheint es möglich, die Gegenüberstellung von Theorie und Praxis zu Gunsten künstlerisch-forschender In(ter)ventionen zu verabschieden. Verfehlen, De-Formieren, Parodieren Das folgende Zitat wurde in einem Pressegespräch im Jahr 2013 von einem designierten Intendanten eines großen Sprechtheaters in Nordrhein-Westfalen ausgesprochen. Es leitet die Präsentation der künstlerischen Neuausrichtung des Hauses ein: Wir haben in der Zeit des postmodernen Theaters alle Formen durchbuchstabiert, doch diese Phase ist vorbei, heute ist nichts altmodischer als die Dekonstruktion. Uns interessiert die archaische Verabredung, dass Menschen auf der Bühne, Menschen im Publikum etwas erzählen. 4 In diesem Statement eines versierten Theaterpraktikers zeigt sich eine abwertende Haltung gegenüber sogenannten postdramatischen Theaterformen. Es wird der Ein- 167 Unbestimmtheit üben. Kulturtheoretische Interventionen in den Schauspielunterricht druck erweckt, als wäre ‚ die Dekonstruktion ‘ ein homogener Block, der sich historisch abschließen ließe, und den das Theater nun ästhetisch überwunden hätte. Es wird also verkannt, dass Dekonstruktion eine kritische Praxis ist, die sich wiederholen muss, wenn sich ihre Anlässe wiederholen. Und diese liegen in bewussten und unbewussten Reproduktionen von Gewalt und Diskriminierung in Ästhetik und Philosophie. Zudem erweckt das Statement den Eindruck einer kontinuierlichen und einstimmigen Entwicklung von theaterästhetischen Formen und Strategien. Es scheint die pragmatische, praxisbezogene und kurzatmige Frage beantworten zu wollen: Wie geht es nach der Dekonstruktion weiter? Versteht man dekonstruktive Ansätze jedoch als performative Resonanzen des Theaters in medienkulturellen Umgebungen, so wird schnell deutlich, dass die Frage nach zukünftigen Theaterformen nicht auf deren Überwindung abzielen kann, sondern auf ihre ästhetischen Konsequenzen, Erweiterungen und Fortschreibungen. Oder, im Sinne dieses Themenheftes gefragt: Welche Spielmöglichkeiten entstehen, wenn kulturelle Schemata, Typisierungen und Zuschreibungen aufgelöst und in Unbestimmtheitszonen 5 überführt werden? In Das Unbehagen der Geschlechter beschreibt Judith Butler drei Strategien, um die Wiederholung stereotyper Geschlechterdarstellungen in Alltag und Kunst zu unterlaufen: Das Verfehlen typischer Merkmale, die gezielte Deformation von Merkmalen und die Parodie geschlechternormativer Akte. 6 Bevor vertiefend auf diese Stilmittel eingegangen wird, soll zuerst daran erinnert werden, welche Veränderungsmöglichkeiten Butler für realistisch hält. Sie geht davon aus, dass performative Dekonstruktionen einen Zweifel an der Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und Ursprünglichkeit von Geschlechtsidentitäten säen können: „ Als glaubwürdige Träger solcher Attribute können sie [jedoch] gründlich und radikal unglaubwürdig gemacht werden. “ 7 Aber geht mit den genannten Strategien nicht immer auch eine implizite oder gar offensichtliche Bestätigung typischer Merkmale einher? Ist nicht gerade die Parodie besonders anfällig dafür, Stereotype zu reproduzieren? Sie lebt von der Herabsetzung von Geschlechterrollen und ihren Merkmalen, die sie im Gewand des Kleidertauschs präsentiert. Butler präzisiert daher ihren Begriff der Parodie anhand einer Definition des Pastiches, die sie Fredèric Jamesons Postmodernism and Consumer Society entnimmt: Wie die Parodie ist das Pastiche die Nachahmung eines eigentümlichen oder einzigartigen Stils, das Tragen einer stilisierenden Maske oder das Sprechen in einer toten Sprache. Allerdings ist das Pastiche eine neutrale Praxis der Mimikry ohne die Hintergedanken der Parodie, ohne den satirischen Impuls, ohne Gelächter, ohne dies untergründig immer noch vorhandene Gefühl, dass es etwas Normales gibt, im Vergleich zu dem das, was imitiert wird, eher komisch wirkt. Das Pastiche ist gleichsam eine blanke Parodie (blank parody), eine Parodie, die ihren Humor eingebüßt hat. 8 Eine Parodie, im Sinne von Jamesons Pastiche, kann als ästhetisches Verfahren der Dekonstruktion und Aufdeckung eingesetzt werden, das die Grundlosigkeit von Geschlechteridentäten und den mit ihnen verbundenen Subjektivationen offenbart. Sicherlich erinnern die Lesenden Beispiele aus Theater und Film. Vielleicht ist Volker Spenglers Darstellung der Figur Elvira Weishaupt in Rainer Werner Fassbinders In einem Jahr mit 13 Monden 9 ein Beispiel, das zeigt, dass Verfehlen und De-Formieren nicht bedeuten müssen, Attribute durch Auslassungen oder Übertreibungen implizit zu reproduzieren. Butler präzisiert diese Handlungsstrategie anhand von zwei Fragen, die sicherlich 168 Daniel Rademacher wörtlich in den Schauspielunterricht einfließen können: Welche Performanz in welchen Kontexten zwingt uns, erneut die Stelle und die Stabilität von Männlichkeit und Weiblichkeit zu betrachten? Und welche Art von Performanz der Geschlechtsidentität entlarvt den performativen Charakter der Geschlechtsidentität selbst und setzt ihn so in Szene, dass die naturalisierten Kategorien der Identität und des Begehrens ins Wanken geraten? 10 Im Falle von Elvira Weishaupt ist es gerade ihre verstörende Fügsamkeit in weiblich konnotierte Verhaltensmuster, die die ‚ Stellen ‘ von Männlichkeit und Weiblichkeit ins Wanken bringt. Das Lesen von Das Unbehagen der Geschlechter im Schauspielunterricht fragt nach ‚ Stellen ‘ , an denen Schauspielende sich selbst und ihr subjektives Erleben im Hinblick auf Geschlechteridentäten verorten. In den Denkweisen von Judith Butler können dies jedoch nur Stellen sein, die innerhalb der Rahmung von Subjektivität liegen. Denn Butler sieht bekannterweise keine Möglichkeit, Subjektivität unabhängig von Geschlechternormen zu denken. Es folgt, dass Schauspielende immer Gefahr laufen, sich in einem subjektiven Erleben heimisch zu fühlen, das Geschlechternormen als gegebene Bedingungen in sich aufgenommen hat. Ob von diesen Stellen aus der unbewussten Reproduktion von Stereotypen umfassend entgegengewirkt werden kann, oder ob sich nicht immer wieder neue Schematisierungen ihren Schauplatz suchen, bleibt sicherlich eine leitende Frage. Unbestimmtheit und Spiel Der Begriff des organlosen Körpers steht bei Gilles Deleuze und Felix Guattari für ein anderes Denken. In 28. November 1947 - Wie schafft man sich einen organlosen Körper? verfolgen Gilles Deleuze und Felix Guattari Antonin Artauds bekannte Forderung nach dem organlosen Körper. 11 Denn binden Sie mich, wenn Sie wollen, aber es gibt nichts Sinnloseres als ein Organ. Wenn Sie ihm [dem Menschen] einen Körper ohne Organe hergestellt haben, dann werden Sie ihn von all seinen Automatismen befreit und ihm seine wirkliche und unvergängliche Freiheit zurückerstattet haben. Dann werden Sie ihm wieder beibringen, wie im Delirium Musetten verkehrt herum zu tanzen, und diese Kehrseite wird seine richtige Seite sein. 12 In Das Theater und die Wissenschaft führt Artaud aus, dass er die Aufgabe des Theaters darin sieht, eine „ organische und psychische Transformierung des menschlichen Körpers “ zu bewirken: „ wo sich anatomisch, durch das Stampfen von Knochen, Gliedern und Silben, die Körper erneuern, und sich physisch unverfälscht die mythische Handlung, einen Körper zu erschaffen, darstellt “ . 13 Hier klingt an, was in der Mitte des 20. Jahrhundert zu einem Kennzeichen der Performance Art gerät: Die Gewalt gegen den Körper als dekonstruktives, performatives Verfahren. Wie Antonin Artaud sprechen Deleuze und Guattari von einer Übung und von Experimenten, die darin bestehen, die Wahrnehmung menschlicher Körper von organischen Bestimmungen zu lösen. Was kann es bedeuten, im Kontext schauspieltheoretischer Überlegungen zu fragen: Wie verschafft man sich einen organlosen Körper? „ Der organlose Körper ist das, was übrigbleibt, wenn man alles entfernt hat. Und was man entfernt, ist eben das Phantasma, die Gesamtheit der Signifikanzen und Subjektivationen. “ 14 Der organlose Körper ist ein Emblem dekonstruktiver Verfahren. Ein Emblem, das für die maximale Auflösung kultureller Zuschreibungen auf den Körper, die Psyche und die Sprache steht. Indem der Blick auf die Organe 169 Unbestimmtheit üben. Kulturtheoretische Interventionen in den Schauspielunterricht entfällt, entfällt der funktionale Blick auf das Geschlecht, die Gesundheit, das Alter und „ natio-ethno-kulturelle Zuordnungen “ . 15 So markiert der organlose Körper eine Zone der Unbestimmtheit. 16 Für die Schauspieltheorie ist interessant, dass Deleuze und Guattari die Gewalt gegen den Körper kritisieren, die sie in Artauds Rhetorik ausmachen. Dabei schlagen sie nicht vor, Artaud verharmlosend zu lesen, sondern fragen, ob es nicht auch einen Weg der Fröhlichkeit gibt, um den Körper, die Sprache und die Subjektivität von Macht und Zuschreibungen zu lösen. Wozu diese schaurige Kohorte von zugenähten, durchleuchteten, katatonisierten und ausgelaugten Körpern, wenn der oK [organlose Körper] doch auch voller Fröhlichkeit, Ekstase und Tanz ist? [ … ] Warum nicht auf dem Kopf gehen, mit den Stirnhöhlen singen, mit der Haut sehen, mit dem Bauch atmen, die einfachste Sache, Entität, voller Körper, auf der Stelle reisen, Anorexie, sehende Haut, Yoga, Krishna, Love, Experimentieren. Wo die Psychoanalyse sagt: Halt, findet euer Selbst wieder! , müsste man sagen: Gehen wir noch viel weiter, wir haben unseren oK noch nicht gefunden, unser Selbst noch nicht genügend abgebaut. 17 Es ist ihre radikal konstruktivistische Position, aus der heraus die Schaffung des organlosen Körpers ein Leichtes ist: „ findet heraus, wie man ihn macht “ . 18 Wobei ‚ machen ‘ in diesem Fall nicht auf eine frankensteinsche Erschaffung abzielt, sondern auf eine Veränderung von Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen. Den Organismus aufzulösen, hat nie bedeutet, sich umzubringen, sondern den Körper für Konnexionen zu öffnen, die ein ganzes Gefüge voraussetzen, Kreisläufe, Konjunktionen, Abstufungen und Schwellen, Übergänge und Intensitätsverteilungen, Territorien und Deterritorialisierungen, die wie von einem Landvermesser vermessen werden. 19 Freilich kann nicht einfach beschlossen werden, anders wahrzunehmen. Deswegen ist der organlose Körper nicht als Begriff gedacht, sondern als Übung, Programm und Experiment. Der organlose Körper ersetzt „ Anamnese durch Vergessen und Interpretation durch Experimentieren “ . 20 Er wird als zukunftsorientiertes Programm verstanden, nicht als Interpretationsverfahren der Vergangenheit. In diesem Programm hängt alles von zwei Geschicken ab, die mit einem machtvollen Dritten verstrickt sind: Klugheit, Spiel und Tod. Klugheit ist die allen dreien gemeinsame Kunst; wenn man den Organismus demontiert und dabei manchmal mit dem Tod spielt, indem man der Signifikanz und der Unterwerfung ausweicht, dann spielt man mit der Falschheit, der Illusion, der Halluzination, dem psychischen Tod. 21 Aber wo ist diese Klugheit verortet? In welchen Beziehungen steht sie zu den Organen, zu Signifikanz und Subjektivität? Man muss genügend Organismus bewahren, damit er sich bei jeder Morgendämmerung neugestalten kann; und man braucht kleine Vorräte an Signifikanz und Interpretation, man muss auf sie aufpassen, auch um sie ihrem eigenen System entgegenzusetzen, wenn die Umstände es verlangen, wenn Dinge, Personen oder sogar Situationen euch dazu zwingen; und man braucht kleine Rationen von Subjektivität, man muss so viel davon aufheben, dass man auf die herrschende Realität antworten kann. Ahmt die Schichten nach. 22 Das Programm des organlosen Körpers sieht vor, Beziehungen zu der „ herrschenden Realität “ aufrecht zu erhalten, Vorräte an Signifikanz zu bewahren und Subjektivität als Nachahmung zu verstehen. Somit scheint es einen Ort der Unbestimmtheit zu geben, von dem ausgehend der strategische Einsatz von Subjektivität und Handlung, „ wenn es 170 Daniel Rademacher die Umstände verlangen “ , geleistet werden kann. 23 Dieser Ort macht es möglich, Unbestimmtheit und Spiel in einem konkreten Zusammenhang zu denken. So würden sich Agency und Spiel überlagern. Spiel und Nachahmung begleiten das Handeln und durchziehen jedes Tun mit einem spürbaren Als-ob. Das Programm des organlosen Körpers hebt die Trennung von Spiel und Handlung auf, da sich beide Dimensionen gleichsam als Schauspiel vor einem Ort der Unbestimmtheit ereignen. Oder anders gewendet: Unbestimmtheit scheint eine Voraussetzung für das Spiel zu sein. 24 Welche Anregung kann der organlose Körper für das Schauspiel liefern? Wenn die Übung darin besteht, den Körper frei von kulturellen Zuschreibungen wahrzunehmen, dann besteht sie auch darin, damit immer wieder zu scheitern. „ Man kann den organlosen Körper nicht erreichen. Der organlose Körper ist eine Grenze. “ 25 Trotzdem geht von dieser Übung eine ethische Aufforderung an das Schauspiel aus. Sie besteht darin, das Programm von Dekonstruktion, Unbestimmtheit und Spiel immer wieder neu zu spielen. In jedem Auftritt ‚ als Frau ‘ und ‚ als Mann ‘ werden wirkungskräftige Als-Obs vor einem Hintergrund der Unbestimmtheit exponiert, noch bevor Spielende ihrem sogenannten Bühnen-Ich oder ihrer literarische Figur Konturen verleihen können. Vielleicht ist es die spürbare Gegenwart dieser Unbestimmtheit in den vielfältigen Nachahmungen des Theaters, die die Unterscheidung zwischen Figur und Schauspielenden, Einfühlung und Verfremdung in der Praxis zuweilen nivelliert. 26 Spekulatives Fabulieren Butler betont, dass die Wiederholung und Re-Inszenierung kulturell erzeugter Schemata zugleich Effekt des Subjekts und dessen Begründung ist. Tatsächlich wird die Performanz mit dem strategischen Ziel aufgeführt, die Geschlechtsidentität in ihrem binären Rahmen zu halten - ein Ziel, das sich keinem Subjekt zusprechen lässt, sondern eher umgekehrt das Subjekt begründet und festigt. 27 Die performative Aufrechterhaltung ‚ des Subjekts ‘ sichert für Butler dessen Verhandlungs- und Aushandlungsgeschicke. Hierin kann ein Grund dafür liegen, weshalb sie dieses ‚ Subjekt ‘ nicht weiter dekonstruiert. Sie sichert die (politische) Handlungsfähigkeit des Individuums. Andererseits schreibt sie auf diese Weise eine Geschichte binärer Geschlechterbeziehungen fort. Hingegen steht die Idee des organlosen Körpers bei Deleuze und Guattari dafür, eben diese Subjektivität abzulegen, um sie wie ein Ei in der Tasche zu tragen. „ Für den Notfall, wenn man sie braucht. “ 28 Die Verfassung des organlosen Körpers ist somit die der Unbestimmtheit. Das Plädoyer dieses Beitrags für den Schauspielunterricht besteht darin, beide Positionen zu erforschen. Die Idee, kulturtheoretisch in den Schauspielunterricht zu intervenieren zielt darauf, vertiefende künstlerische Erforschungen zu initiieren. Künstlerische Erforschungen der performativen Aufrechterhaltung subjektiver Figurationen sowie organloser Unbestimmtheit. An der Stelle, an der Männer- und Frauenbilder, Schemata und Klassifizierungen zuweilen in komplementären Typisierungen auseinanderfallen, erinnern kulturtheoretische Eingriffe an die Neugier und Lust eines notwendigen Nicht-Wissens. Die Beziehung Lehrende-Studierende erfährt die Erweiterung um ein vermittelndes Drittes. In Spekulativer Konstruktivismus unterbreitet Isabelle Stengers einen Vorschlag zum Üben von Unbestimmtheit, als Voraussetzung „ kosmopolitischen Forschens “ 29 . Für Stengers scheint Unbestimmtheit ein verlangsamender Zustand des Nicht-Wissens zu sein, den Sie der hierarchischen Anordnung von Theorie und Praxis gegenüberstellt. 171 Unbestimmtheit üben. Kulturtheoretische Interventionen in den Schauspielunterricht Er [der hierarchische Ansatz] erfordert überdies Praktiker, die - und dies ist ein politisches und kein kosmopolitisches Problem - es gelernt haben, mit den Schultern zu zucken angesichts der Forderung von verallgemeinernden Theoretikern, die sie als Untergebene definieren, die die Aufgabe haben, eine Theorie ‚ anzuwenden ‘ , und ihre Praxis als eine Illustration der Theorie vereinnahmen. 30 Als ‚ Modus der Unbestimmtheit ‘ versteht Stengers ein Ereignis, auf das kein funktionales ‚ also dann ‘ folgen kann. 31 Sie spielt hierbei auf Gilles Deleuze und dessen Lektüre von Herman Melvilles Bartleby der Schreiber. an. Die bekannte Geschichte des Kopisten, der lieber nicht mehr kopieren möchte, und der generell jede Aufforderung mit der Formel „ I would prefer not to “ 32 beantwortet. Er will nur sagen, was er buchstäblich sagt. Und was der Text sagt und wiederholt, lautet: ICH MÖCHTE LIEBER NICHT, I would prefer not to. So lautet seine Ruhmesformel, und jeder verliebte Leser wiederholt sie seinerseits. Ein magerer und blasser Mann hat die Formel ausgesprochen, die jedem den Kopf verdreht. Worin aber besteht die Buchstäblichkeit der Formel? 33 Die Wiederholung des Aussprechens der Formel ist es, die nach Deleuze zu einer Errichtung von Unbestimmtheitszonen führt. Diese Zonen breiten sich aus. „ Die Formel [ … ] hebt eine Zone der Unbestimmtheit aus, die unaufhörlich zwischen den nicht-gemochten Tätigkeiten und einer bevorzugten Tätigkeit wächst. Jede Besonderheit, jede Referenz wird abgeschafft. “ 34 Ausgehend von Bartlebys freundlichen Verweigerungen breiten sich solche Zonen in der Geschichte von Herman Melville unaufhörlich aus. Sie verteilen sich und ihre Funktionslosigkeit, und schaffen auf diese Weise den Platz für etwas Neues. Sie beenden die Reproduktion kultureller Schemata. Gerade deshalb eignet sich der Begriff der Unbestimmtheit in der künstlerischen Forschung als Motiv des Anfangs. 35 Mit Donna Haraway lässt sich ein Verständnis von Unbestimmtheit als Mehrstimmigkeit entwickeln, das an diesem Anfang ansetzt. Haraway entwickelt die Idee eines spekulativen Fabulierens, das für Schauspielende interessant ist, da es beim spekulativen Fabulieren um spielerische Neu-Konfigurationen von Welten, Werden und Erzählungen geht. Spekulative Fabulationen sind erfinderische, radikal konstruktivistische Modelle. In diesen Modellen geht es nicht um die vorsichtige Vermeidung stereotyper Figurationen, sondern um die notwendige Neuerfindung von Wissen, Gestalten, Verwandtschaften Eingehen, Beziehungen und Körper Erfahren. Spekulative Fabulationen reaktivieren das Erzählen als performative Praxis der Produktion von Wissen um andere Existenzformen, Erkenntnisse und Zusammenhänge denk- und erfahrbar zu machen. Erzählung und Fiktion sind bei Haraway der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht als Illusion gegenübergestellt, sie begründen vielmehr eine Ko-Konstruktion der Produktion von Welt als Erfahrung. Dekonstruktion stellt eine Voraussetzung für Unbestimmtheit und neue Spiele dar, um diese Spiele ernst zu spielen. Wissenschaftliche Fakten und spekulative Fabulationen brauchen einander und beide brauchen einen spekulativen Feminismus. SF und Fadenspiele denke ich im dreifachen Sinne als Figurationen. Erstens zupfe ich großzügig Fasern aus verklumpten und dichten Ereignissen und Praktiken heraus. Ich versuche, den Fäden zu folgen und die Spuren so zu lesen, dass ihre Verwicklungen und Muster entscheidend dafür werden, wie wir an wirklichen und spezifischen Orten, in wirklichen und spezifischen Zeiten unruhig bleiben können. So verstanden ist SF eine Methode des Nachzeichnens, des Verfolgen eines Fadens in die Dunkelheit, in eine 172 Daniel Rademacher gefährlich wahre Abenteuergeschichte hinein, in der vielleicht klarer wird, wer für die Kultivierung artenübergreifender Gerechtigkeit lebt oder stirbt und warum. Zweitens ist SF nicht nur die Methode des Nachverfolgens, sondern das Ding an sich: jenes Muster und jene Versammlung, die eine Antwort verlangen; das Ding, das man selbst nicht ist, aber mit dem man weitermachen muss. Drittens bedeutet SF weitergeben und entgegennehmen, herstellen und aufheben, Fäden aufnehmen und fallen lassen. SF ist eine Praxis und ein Prozess, ein Werden-mitanderen in überraschender Aufeinanderfolge, eine Figur des Fortdauerns im Chthuluzän. 36 Diese Passage lässt sich als Anleitung einer künstlerisch-forschenden Gemeinschaft lesen, die sich im Aufgreifen von Fäden und Lesen von Spuren gemeinsam in Unruhe versetzen lässt. In diesem Werden-mit-anderen löst sich die komplementäre Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis in einem Abenteuer von gemeinsamen Lesen, Sprechen, Spielen und Bewegen auf. In diesem Abenteuer sind weder die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Maschine, Mann und Frau vorausgesetzt, noch kann Wissen öffentlich repräsentiert werden. Es kann jedoch gemeinsam erforscht und in der Performanz spekulativer Fabulationen geteilt werden. Die Aufgabe besteht darin, sich entlang erfinderischer Verbindungslinien verwandt zu machen und eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben. Es ist unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wieder aufzubauen. 37 Spekulative Fabulationen stellen vielleicht eine gemeinsame Invention dar. Auch wenn ihre Initiation möglicherweise nicht um einen einschreitenden und intervenierenden Eingriff herumkommt. Der Begriff Invention steht einerseits für das Erfinden, und dies berührt Haraways ironischen Umgang mit dem Spekulieren, Konstruieren, Phantasieren und Konstatieren. In der Musikwissenschaft steht der Begriff für ein zwei- oder dreistimmiges Klavierstück, mit nur einem zu Grunde liegenden Thema. So regt der Begriff zu dem Erforschen von Unbestimmtheit als Mehrstimmigkeit kultureller Formen an. Unbestimmtheit üben Die schwedische Sängerin, Tänzerin, Performerin und Choreographin Alma Söderberg fordert die Augen, das Gehör und die Körper der Zuschauenden in ihrer Performance Deep Etude mit Hilfe vielstimmiger rhythmischer Verfahren heraus. Sie zielt jedoch nicht auf eine Überforderung der Zuschauenden und Zuhörenden ab, sondern auf ein gemeinsames Üben. So steht der Begriff étude im Französischen für das Studieren, Erforschen, Beobachten und Erlernen. In der Musikwissenschaft werden Übungsstücke als Etüden bezeichnet, die zur Einübung spezieller spieltechnischen Fähigkeiten gedacht sind. Und eben dies praktiziert Söderberg in ihrer Performance auf der großen Bühne des Essener PACT Zollvereins. Sie trägt ein graues, dreiviertellanges Kleid aus leichtem Baumwollstoff. Darüber ein weites Leinenhemd, das keine femininen Konturen erkennen lässt. Sie hebt ihre Hände nach vorne, so dass die Zuschauenden in ihre geöffneten Handflächen sehen. Ihre Finger sind gespreizt und zeigen nach oben. Sie schließt ihre Handflächen und öffnet sie wieder. Mit der ersten Klappbewegung setzt die Toneinspielung eines hämmernden Rhythmus ein. Eine Schreibmaschine. Mit der Zeit fügt die Performerin 173 Unbestimmtheit üben. Kulturtheoretische Interventionen in den Schauspielunterricht weitere rhythmische Verläufe hinzu. Zuerst ist es ihre linke Hand, die einen zusätzlichen Beat schlägt. Dann kommt ihre rechte Hand dazu. Später richten sich ihre Arme erst zur rechten, dann zur linken Seite, so dass kreisende Bewegungen ihres Oberkörpers entstehen. Es ist nicht klar, ob ihre Bewegungen dem Rhythmus folgen, oder ob sie ihn lenken. Nach ca. 12 Minuten verlangsamt sie ihre Bewegungen bis zum Stillstand. Die Verbindung zwischen ihrem Körper und der Toneinspielung löst sich auf. In einem Interview beschreibt Alma Söderberg zwei ästhetische Motive, die sie mit den polyrhythmischen Verfahren in Deep Etude verknüpft. Ihr künstlerischer Ansatz besteht darin, polyrhythmische Relationen nicht nur zwischen akustisch-musikalischen Schlägen zu entdecken, sondern auch in den visuellen Dimensionen der Performance: I started thinking about polyrhythm in this more musical sense. But then it kind of expanded. It became about these relations between different expressions. The visual, the oral, what you hear, what you see, the body and the voice, and to think of that also as polyrhythmic relations. It is also what you kind of experience as a viewer. These different relations: things that go together and don ’ t. And it is also very much depending on the person that is listening, that is watching, to be kind of engaged [sic] with the work and to see the relations. 38 Alma Söderberg erweitert den Begriff der Polyrhythmik, indem sie akustische und visuelle Eindrücke als räumliche Mehrstimmigkeit produziert. Ihr Körper erzeugt Klänge, Geräusche und einen wiederkehrenden Takt. Zudem werden Rhythmen über eine Tonspur eingespielt. So entstehen spannungsreiche Verläufe, denen Söderberg mit ihren Bewegungen folgt, oder die sie mit ihren Bewegungen gezielt kontrastiert. Sie spricht gezielt von Zuhörenden und Zuschauenden, da Gesehenes und Gehörtes hier parallel und kontrastreich zueinandersteht. Zuschauende und Zuhörende sind ‚ engaged ‘ , wenn sie sich darauf einlassen, in den wiederholenden Beats und Bewegungen eigene Verläufe, Linien und Punkte zu entdecken. Als Performerin stößt Söderberg in jeder Aufführung (bzw. öffentlichen Übung) auf andere Möglichkeiten, Linien und Punkte miteinander zu verknüpfen. The definition of an Etude in music, for example, is that you are practicing a skill. So it is a kind of set of exercises in a way to practice a specific skill. And in this case, the skill is kind of a polyrhythmic skill. It is about to be [sic] in many different layers in the same time. For me as performer, I produce sound and movement. So I am both. A kind of a percussionist and a dancer at the same time. Plus [sic] there is a track, by Henrik Willigens. And it is also quite complex[sic], so there is the skill of hearing all those different layers, and moving in between them, being in the right moment [sic], so that is where the Etude part comes in [sic]. 39 Alma Söderberg verortet sich in der Live- Situation performativ zwischen den rhythmischen Verläufen ihres Gesangs, ihrer Percussion, ihrem Sprechen und ihren körperlichen Bewegungen. Indem sie die Fertigkeit einübt, akustische und visuelle Verläufe als Linien und Punkte ihrer eigenen Verortung gelten zu lassen, erweitert sie die in diesem Beitrag skizzierten (Spiel-) Positionen um eine Position künstlerischer Unbestimmtheit. Ausgangspunkt ist eine Position des Übens. Ein Üben, dass nicht als Vorbereitung performativer Darstellung in Probeprozessen gedacht ist, sondern als eine künstlerische Agency im Moment der Aufführung. Die Zuschauenden üben mit der Performerin mit. Indem sie die vielschichtigen Verläufe ihres Wortgesangs, ihres Fingerschnippens und Händeklatschens verfolgen, geraten sie zwischen die Linien und 174 Daniel Rademacher Punkte typisierender Wahrnehmungsweisen. Alma Söderberg verführt sie zu einer ästhetischen Erfahrung, in der kulturelle Bestimmungen zu Geschlecht, Ethnizität, Alter, Gesundheit, Mensch, Tier und Umgebung aus dem Blick geraten. Sie nennt diese rhythmische Verführung „ a game, a soft one “ . Ihr Spiel zeigt, dass sich Unbestimmtheit scheinbar doch üben lässt. Entgegen der einleitenden These dieses Beitrags ist dies vielleicht immer dann möglich, wenn Agency fragend, spekulierend, forschend, übend und probierend gedacht wird. 40 Anmerkungen 1 In der Schauspieltheorie des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche Strategien, Spiele, Tricks und Praktiken entwickelt, die dekonstruktiv auf Körper und Subjektivität von Spielenden einwirken. Für den Bereich schauspielmethodischer Ansätze sind neben anderen Michail Chekhov, W. E. Meyerhold und auch Sanford Meisner zu nennen. 2 Friedrich von Borries et al., Glossar der Interventionen. Annäherung an einen überverwendeten, aber unterbestimmten Begriff, Berlin 2012, S. 5. 3 Frauke Surmann, Ästhetische In(ter)ventionen im öffentlichen Raum. Grundzüge einer politischen Ästhetik, Paderborn 2014. 4 Stefan Bachmann in der Pressekonferenz zur Präsentation des Spielplans 2013/ 14 am Kölner Schauspielhaus, in: Rheinische Post, 29.4.2013. Betrachtet man die Spielpläne des großen und erfolgreichen Hauses unter der Leitung des namhaften Intendanten, so fällt auf, dass Erzähltheater mit dem Schwerpunkt auf Drama, Narration, Figur und Darstellung nicht unbedingt im Vordergrund stehen. Stattdessen tragen die künstlerischen Arbeiten häufig Untertitel, wie: eine performative Installation, Choreografie, Ballet, Räume in Transformation, Stadtgang, digitale Zone usw. Zudem werden häufig Texte von dekonstruktivistisch arbeitenden Autor*innen inszeniert. In der Spielzeit 2020/ 21 werden gleich mehrere Stücke von Elfriede Jelinek, Sybille Berg und Samuel Beckett aufgeführt. Aus dieser Nichtübereinstimmung zwischen der diskursiven Präsentation des Theaterprogramms und den tatsächlich umgesetzten Ästhetiken ließe sich schließen, dass die oben zitierte Passage strategischen Charakters ist, möglicherweise mit dem Ziel, bestimmte Publikumskreise für das neue Programm zu gewinnen. 5 Gilles Deleuze, Kritik und Klinik, Frankfurt a. M. 2000, S. 112. 6 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1992, S. 207. 7 Ebd. 8 Fredèric Jameson, Postmodernism and Consumer Society, S. 114. 9 Rainer Werner Fassbinder, In einem Jahr mit 13 Monden, 1978. 10 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 207. 11 Gilles Deleuze und Felix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin, 1992 [1980], S. 205. 12 Antonin Artaud, Letzte Schriften zum Theater, übers. von Elena Krapalik, München 1980, S. 29. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 208 - 209. 15 Paul Mecheril spricht in Subjektbildungen. Interdisziplinäre Analysen der Migrationsgesellschaft mit Absicht von natio-ethnokulturellen Zuordnungen und betont mit dieser Begriffskombination, dass Zuschreibungen wie Nation, Ethnizität und Kultur häufig unbewusst vorgenommen werden: „ Die wechselseitige Verwiesenheit der Kategorien Nation, Ethnizität und Kultur, die damit verbundene Verschwommenheit und Unklarheit ist zugleich auch Bedingung ihres politischen und sozialen Wirksamwerdens. Denn diese Vagheit und signifikante Leere ist der Hintergrund, vor dem es möglich wird, Imaginationen, Unterstellungen und Zuschreibungen vorzunehmen, die der Verwendung von Bezeichnungen wie ‚ türkisch ‘ , ‚ italienisch ‘ , ‚ deutsch ‘ , ‚ arabisch ‘ zugrunde liegen. “ Paul Mecheril, Subjektbildungen. Interdisziplinäre Analysen der Migrationsgesellschaft, Bielefeld 2014, S. 14. 16 Gilles Deleuze, Kritik und Klinik, S. 98. 175 Unbestimmtheit üben. Kulturtheoretische Interventionen in den Schauspielunterricht 17 Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, S. 206. 18 Ebd., S. 208. 19 Ebd., S. 219. 20 Ebd., S. 206 - 208. 21 Ebd., S. 220. 22 Ebd., S. 220. 23 Ebd. 24 Reinhold Görling leitet seinen Beitrag „ Spiel: Zeit “ in: Astrid Deuber-Mankovsky und Reinhold Görling (Hg.), Denkweisen des Spiels. Medienphilosophische Annäherungen, Wien/ Berlin 2016, S. 19 - 52 mit einem Zitat von Gilles Deleuze ein: „ Die Spiele benötigen das leere Feld, ohne das nichts voranginge noch funktioniere. “ Gilles Deleuze, „ Woran erkennt man den Strkturalismus? “ , in: François Châlet (Hg.), Geschichte der Philosophie, Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1975, S. 269 - 302, hier S. 292. 25 Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, S. 206. 26 Wolf-Dieter Ernst, „ Schauspielkunst und Wissen im Zeichen der technischen Sichtbarmachung des mimetischen Ausdrucks “ , in: Wolf-Dieter Ernst, Anja Klöck und Maike Wagner (Hg.), Psyche Technik - Darstellung. Beiträge zur Schauspieltheorie als Wissensgeschichte, München 2016, S. 87 - 110. 27 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 206 28 Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, S. 206. 29 Isabelle Stengers, Spekulativer Konstruktivismus, Berlin 2008, S. 153. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Hermann Melville, Bartleby, Stuttgart1985. 33 Deleuze, Kritik und Klinik, S. 98. 34 Ebd. 35 Deleuz und Guattari, Tausend Plateaus, S. 206. 36 Donna Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a. M./ New York 2018, S. 11. 37 Ebd., S. 9. 38 Alma Söderberg im Interview: https: / / www. pact-zollverein.de/ journal/ alma-soederbergueber-deep-etude-bei-pact-zollverein [Zugriff am 29.04.2021]. 39 Ebd. 40 Ebd. 176 Daniel Rademacher