eJournals Forum Modernes Theater 33/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2022-0016
Suzuki Tadashi (*1939) gehört zu den wichtigsten Theaterkünstler*innen in Japan. Er hat sein eigenes Schauspieltraining, die ‚Suzuki-Methode‘, entwickelt und sich in seinen Inszenierungen mit der De- und Rekonstruktion des Verhältnisses von Körper und Sprache beschäftigt. Im Jahr 2009 ließ der Regisseur in seiner Produktion Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama, anders als in seinen bisherigen zahlreichen internationalen Produktionen, alle ausländischen Schauspieler*innen in japanischer Sprache spielen. In dieser Situation verfremden ihre Gesten und Sprechweisen die Selbstverständlichkeit der Sprache: Sie machen einen Sprach- und Kulturraum sichtbar, in dem die sprachliche, soziale und kulturelle Hierarchie ohne Gründe und als kollektive Phantasie entsteht. Im Spielraum der formalen Kollektivität bzw. der kollektiven Formalität zeigen sich markante Momente, mit denen die Grenzen der bestimmten Sprach- und Kulturräume überschritten und eine neue Möglichkeit der transkulturellen Schauspielkunst gezeigt werden.
2022
331-2 Balme

Sprache und Hierarchie. Die Möglichkeit des Widerstands in internationalen Koproduktionen des Regisseurs Suzuki Tadashi

2022
Ehito Terao
Sprache und Hierarchie. Die Möglichkeit des Widerstands in internationalen Koproduktionen des Regisseurs Suzuki Tadashi Terao Ehito (Sapporo) Suzuki Tadashi (*1939) gehört zu den wichtigsten Theaterkünstler*innen in Japan. Er hat sein eigenes Schauspieltraining, die ‚ Suzuki-Methode ‘ , entwickelt und sich in seinen Inszenierungen mit der De- und Rekonstruktion des Verhältnisses von Körper und Sprache beschäftigt. Im Jahr 2009 ließ der Regisseur in seiner Produktion Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama, anders als in seinen bisherigen zahlreichen internationalen Produktionen, alle ausländischen Schauspieler*innen in japanischer Sprache spielen. In dieser Situation verfremden ihre Gesten und Sprechweisen die Selbstverständlichkeit der Sprache: Sie machen einen Sprach- und Kulturraum sichtbar, in dem die sprachliche, soziale und kulturelle Hierarchie ohne Gründe und als kollektive Phantasie entsteht. Im Spielraum der formalen Kollektivität bzw. der kollektiven Formalität zeigen sich markante Momente, mit denen die Grenzen der bestimmten Sprach- und Kulturräume überschritten und eine neue Möglichkeit der transkulturellen Schauspielkunst gezeigt werden. Spielraum als Spannungsverhältnis In den 1960er Jahren entstanden in Japan Theaterpraktiken, die darauf abzielten, das moderne japanische psychorealistische Theater namens Shingeki 1 in einschlägigen künstlerischen Bereichen wie Dramaturgie, Schauspielkunst, Inszenierung, Theaterbau und Organisation zu kritisieren und zu überwinden. 2 Es handelte sich bei diesen Theaterpraktiken um Versuche, konventionelle Theaterideale zu durchbrechen und das Theater zu retheatralisieren, was in der japanischen Theatergeschichte als Neo- Avantgarde-Bewegung bezeichnet wird. Diese Bewegung wurde vor allem von Suzuki Tadashi, 3 Kara J ū r ō , Terayama Sh ū ji und Sat ō Makoto bestimmt. Im Vergleich zum ‚ demokratischen ‘ arbeitsteiligen System der großen Kompanien im Shingeki ist ein zentralistisches System, das um einen charismatischen Regisseur organisiert ist, charakteristisch für die kleinen Gruppen der genannten Praktiker*innen. Zu hinterfragen ist jedoch das Paradox: Einerseits versuchten die Praktiker*innen der 1960er Jahre, Schauspieler*innen von der Fessel der Literarisierung zu befreien und ihre Souveränität wiederzubeleben. Es steht außer Frage, dass das Machtverhältnis bei ihnen keine Repräsentation der realen Klassengesellschaft war, sondern den Versuch darstellte, sich der realen politischen bzw. sozialen Hierarchie zu entziehen und einen kreativen Spielraum 4 ‚ außerhalb ‘ des realen Machtverhältnisses zu bilden. Allerdings beinhalteten ihre Praktiken in den meisten Fällen ebenfalls ein diktatorisches Produktionssystem. In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf die Arbeiten des Regisseurs Suzuki Tadashi, um den Fragen nachzugehen, welcher künstlerische Spielraum unter einer strengen Diktatur in einer Theatergruppe entstehen kann, welche künstlerischen Möglichkeiten körperliche, sprachliche und kulturelle Einschränkungen den Schauspieler*innen einbringen können, wie in einer Aufführung sprachliche, soziale und kulturelle Machtverhältnisse sinnlich erfahrbar Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 205 - 217. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0016 gemacht und zugleich kritisch dargestellt werden können und welche Wirkung sie auf das Publikum haben können. Bei den Arbeiten von Suzuki ist sowohl im Training als auch in der Aufführung ständig die Zweiseitigkeit von Konstruktion und Dekonstruktion zu beobachten. Einerseits bringt Suzuki die Schauspieler*innen zu strenger Disziplin, um eine starke Gemeinschaft zu bilden. In seiner Inszenierung präsentiert sich tatsächlich eine ästhetisch konstruierte Kollektivität, welche oft von seinen Gegner*innen für zu formalistisch gehalten wird. Andererseits stellt der Regisseur seit wenigen Jahren wiederholt das Machtverhältnis in einer politischen, sozialen und künstlerischen Situation parodisch dar und dekonstruiert damit auf der ästhetischen Ebene die Hierarchie in der realen Welt. Dies ermöglicht eine durch seine Methode trainierte schauspielerische Kollektivität. Diese Kollektivität seiner Gruppe ist der Spielraum, in dem das Machtverhältnis verfremdet und kritisch reflektiert wird. In einer seiner Produktionen, die später ausführlich erörtert wird, befinden sich die Schauspieler*innen also in dem Dilemma, dass sie auch dann sprechen müssen, wenn ihnen die Sprache entzogen wird. Dieses Dilemma, das einerseits als Widerspiegelung des zentralistischen Machtverhältnisses in Suzukis Theater angesehen werden kann, führt andererseits zu einer kreativen Möglichkeit im sprachlichen, sozialen und ästhetischen Spielraum, womit die Machtverhältnisse von Regisseur und Schauspieler*innen, von Sehenden und Gesehenen sowie von Mehrheit und Minderheit kritisch infrage gestellt werden können. Suzuki-Methode Die Theaterpraktiken der bereits erwähnten Theaterkünstler*innen der 1960er Jahre sind weder als Genre mit einem Stil noch als Bewegung mit einem Manifest zu bezeichnen. Sie hatten aber ausnahmslos die Absicht, das Theater von seiner Unterordnung unter die Literatur zu befreien. Während Shingeki - auch wenn es zu seinem Beginn viele andere Möglichkeiten gegeben hätte - auf der „ natürlichen “ Nachahmung der Alltagsrealität und auf dem Schauspielerbild als „ natürliche Gestalt “ 5 beruhte, fokussierten sie ihren Blick auf die hochgradige Artifizialität bzw. ‚ Unnatürlichkeit ‘ des Körpers. Suzukis praktische und theoretische Arbeiten sind im Vergleich zu anderen Praktiker*innen seiner Generation insofern bemerkenswert, als er die Mechanismen, welche die artifiziellen und unnatürlichen Körper von Schauspieler*innen formen, in seiner Trainingsmethode ‚ Suzuki-Methode ‘ kontinuierlich und tiefgründig systematisiert. In seinem Theater geht es nicht darum, die Alltagsrealität realistisch nachzubilden. Die Schauspieler*innen präsentieren stattdessen die im normalen Leben unsichtbar bleibende exzessive Leidenschaftlichkeit durch ihren Körper. Sie zeigen sich als groteske, widersprüchliche und unverständliche Existenz. Sie müssen sich dazu der Ebene der Darstellung der Alltagsrealität entziehen und sich in einen nicht alltäglichen und hochgradig artifiziellen Kunstkörper verwandeln. Die ‚ Suzuki-Methode ‘ , eine von Suzuki entwickelte und von seiner Theatergruppe praktizierte Methode zur Ausbildung von Schauspieler*innen, besteht darin, durch simple Übungen wie Stampfen Druck auf den Körper (insbesondere auf den Unterkörper) auszuüben. Drei Grundprinzipien seines Trainings sind laut Suzuki Energie, Atmung und Schwerpunkt: Die Trainierenden aktivieren ihre körperliche Energie und kontrollieren ihren Körper, indem sie sich auf die Atmung und den Schwerpunkt konzentrieren. 6 Dabei geht es jedoch nicht um die Verbesserung der körperlichen Fähigkeiten, sondern darum, das Bewusstsein aller für den Körper, den Aufführungsraum, die Mitspie- 206 Terao Ehito lenden und das Publikum zu schärfen und gemeinsam zu einem praktischen und theoretischen Code zu gelangen. Dies ist also der kollektive Prozess, den artifiziellen Kunstkörper, der exzessive Affekte überzeugend auszudrücken vermag, zu erlangen. Darüber hinaus unterscheidet sich sein Training deutlich von dem für Tänzer*innen oder Musiker*innen, weil seine Methode besonderen Wert auf die Sprache legt. In vielen Übungen deklamieren die Trainierenden einen bestimmten Text. Es handelt sich um eine Wiederbelebung der Narration, welche den Kern der traditionellen Darstellungskunst ausmachte und trotzdem im modernen Theater außer Acht gelassen wurde. 7 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass Suzuki das theoretische und praktische Prinzip der kreativen Einschränkung von der traditionellen darstellenden Kunst gelernt hat. Im Bereich der Theateranthropologie wurde bereits darauf hingewiesen, dass in den traditionellen Theaterstilen der asiatischen Länder die körperliche Einschränkung ein wichtiges Element zur Erreichung einer bestimmten Körperlichkeit ist. Eugenio Barba weist zum Beispiel darauf hin, dass ein Prinzip der asiatischen traditionellen Theater „ die Konsequenz der Spannung “ sei, „ die zwischen gegensätzlichen Kräften besteht “ . 8 Wenn jemand beispielsweise einen Arm hebt, spürt er gleichzeitig im Inneren die gegensätzliche Kraft, den Arm zu senken. Hier funktioniert ein anderes Prinzip als beim Arbeitskörper im Alltagsleben. Da soll minimale Energie zu einem maximalen Ergebnis führen, um die Energie für die Arbeit zu sparen und die Leistung zu steigern. In der traditionellen Darstellungskunst ist es umgekehrt: ein minimales Ergebnis aus maximaler Energie. Dadurch, dass solch eine widersprüchliche - oder besser: unnatürliche - Einschränkung im Körper zu spüren ist, kann die körperliche Wahrnehmung intensiviert und von den alltäglichen Konventionen des Körpers befreit werden. 9 Die Trainingsmethode hat sich entwickelt, indem Suzuki den Inhalt des Textes verfremdet und das Verhältnis von Körper und Sprache rekonstruiert hat. In seinen bekannten Produktionen wie On the dramatic passions II (uraufgeführt 1970), Die Troerinnen (1974), Die Bakchen (1978), König Lear (1984) und Der Kirschgarten (1986) wurde die dramatische Situation jeweils durch eine andere Situation - wie beispielsweise die in einem psychiatrischen Krankenhaus - ersetzt. Die Einheit der Darstellung im Sinne des modernen Theaters geht verloren, und ein komplementäres Verhältnis von Körper und Sprache bzw. Darstellendem und Dargestelltem entsteht im Spielraum. Ausgedrückt wird nicht der Inhalt des Textes, sondern die exzessiven Leidenschaften der Menschen, die etwas erzählen müssen und dadurch gegebenenfalls das Individuelle zerstören können. Die Sprache der Aufführungen von Suzuki ist nicht nur ein Medium, das den Bedeutungsinhalt des Stückes und das Konzept der Inszenierung vermittelt, sondern sie ist auch das zentrale Element, um die Struktur der Aufführung zu präsentieren. Seit zwanzig Jahren reinszeniert Suzuki die oben erwähnten Produktionen und versucht über die Sprache neue Ausdrucksmöglichkeiten für die Schauspielenden zu finden. Sprache hat dabei die Funktion, das normalerweise unsichtbar bleibende Machtverhältnis im Theater zu veranschaulichen. In der folgenden Studie wird gezeigt, dass die Schauspieler*innen bei Suzuki mithilfe der Sprache die sozial und historisch reproduzierte Hierarchie zugleich darstellen und ihr widerstehen. Fremd- und Mehrsprachigkeit In den 1970er und 1980er Jahren erfuhr das Theater der 1960er Jahre, das zunächst als ‚ underground ‘ oder jugendliche, antiauto- 207 Sprache und Hierarchie ritäre und gegen das Establishment gerichtete Kultur galt, einen qualitativen Wandel. In dieser Periode hatten sowohl Suzuki als auch viele andere Theaterpraktiker*innen die Gelegenheit, ins Ausland zu gehen und mit ausländischen Schauspieler*innen zusammenzuarbeiten. Suzuki war in den 1970er Jahren in der internationalen Theaterszene hoch angesehen, und in den frühen 1980er Jahren bekam er die Gelegenheit, sein Schauspieltraining an Universitäten und Schauspielschulen in den Vereinigten Staaten und Australien zu unterrichten. Daraus entstanden Produktionen wie Die Bakchen (1984 in Australien) und König Lear (1988 in den USA). Seitdem hat Suzuki mit Schauspieler*innen aus vielen Ländern zusammengearbeitet, unter anderen aus den USA, Deutschland, Russland, Südkorea, China, Taiwan und Indonesien. Sowohl für Suzuki als auch für die anderen Theaterpraktiker*innen war es eine große Herausforderung, Theater außerhalb ihrer Muttersprache zu machen. Es könnte manchmal eine unangenehme und beängstigende Erfahrung gewesen sein. Dennoch gab diese Erfahrung ihm den wichtigen Anlass dazu, sich auf die Sprache selbst zu fokussieren. 10 Im Shingeki war die Sprache prinzipiell das Instrument, um die Ideen des Dramatikers oder des Regisseurs dem Publikum mitzuteilen - und es war nahezu unvorstellbar, dass Schauspieler*innen in einer unverständlichen Sprache spielten. Natürlich gab es seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts nicht wenige Gastspiele ausländischer Truppen, die im distanzierten Rahmen der fremden Kultur rezipiert wurden. Da Shingeki aber historisch im aufklärerischen Prozess entstand 11 , ist seine Verständlichkeit für ein japanisches Publikum immer schon vorausgesetzt. Verständlichkeit meint hier nicht nur sprachliche Verständlichkeit, sondern auch die Darstellungsweise: Alle Ereignisse auf der Bühne müssen der realen Welt entsprechen und die Gegenstände repräsentieren, ohne widersprüchlich zu sein. 12 Shingeki beruht also auf dem Prinzip der Repräsentation, welche die Identifikation von Darstellendem und Dargestelltem voraussetzt. Demgegenüber richteten die Theaterpraktiker der 1960er Jahre ihre Aufmerksamkeit auf die Unentscheidbarkeit bzw. Vieldeutigkeit der Sprache. 13 Indem Suzuki den Körper von dem Bedeutungsinhalt der Sprache differenzierte, hinterfragte er das Verhältnis von Körper und Sprache und gestaltete Zeit und Raum der Aufführung vielschichtig. In seiner erfolgreichen Produktion On the Dramatic Passions II (1970) etabliert er beispielsweise die Rahmenhandlung, dass eine verrückte Person sich in einem Gefängnis an viele Texte erinnert und sie spielt. 14 Dabei geht es nicht nur um die konzeptionelle Idee der Trennung von Wort und Körper, sondern um die Wiederbelebung der Schauspielkunst durch die artifizielle unnatürliche Körperlichkeit. Das dem Theater der 1960er Jahre mehr oder weniger gemeinsame Schauspielerbild ist nicht das des „ Menschendarstellers “ 15 , der die Alltagsrealität nachahmt und realistisch aussehende Menschen verkörpert, sondern es ist eine groteske, fremde und unnatürliche Existenz, die den wesentlichen Widerspruch bzw. die Unmenschlichkeit der Menschen zu präsentieren vermag. Die Sprache dieser Schauspieler*innen ist daher keine Imitation der Alltagssprache. Sie veranschaulicht vielmehr die Unverständlichkeit und Unentscheidbarkeit der sprachlichen Kommunikation. Anders gesagt: sie demonstriert die Fremdheit der Sprache. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Theaterpraktiker der 1960er Jahre eine neue kreative Phase dadurch erreichten, dass sie mit der Fremdsprache umzugehen lernten. Indem sie der Sprache der anderen begegneten, gingen sie dann auch über die begrenzte kulturelle und künstlerische Phase der jugendlichen Gegenkultur hinaus. Su- 208 Terao Ehito zukis Inszenierung von König Lear ist eine seiner erfolgreichsten Produktionen. Suzuki inszenierte das Stück mit der Struktur von ‚ Spiel im Spiel ‘ : Ein alter verrückter Mann in einem psychiatrischen Krankenhaus stellt sich vor, dass er König Lear sei, und das ganze Stück wird als seine Phantasie präsentiert. Im Jahr 2009 inszenierte Suzuki das Stück erneut als mehrsprachige Version. Anders als die japanische Version von 1984 und die englische Version von 1988 verwendete diese Version Japanisch, Deutsch, Englisch und Koreanisch: König Lear wurde von einem deutschen Schauspieler, Goneril von einer US-amerikanischen Schauspielerin, Regan von einer südkoreanischen Schauspielerin und Cordelia von einem japanischen Schauspieler gespielt. Infolgedessen wurde schon die erste Szene in vier Sprachen gespielt. Die Mehrsprachigkeit symbolisiert in dieser Produktion Uneinigkeit und gegenseitige Abstände in der königlichen Familie, d. h. die Unmöglichkeit der Kommunikation. Allerdings führte die durch das Schauspieltraining von Suzuki gemeinsam ausgebildete Körperlichkeit zur Harmonie bzw. Synchronisation in der Aufführung. Die Körperlichkeit der Schauspieler*innen ist nach Suzukis Methodik ästhetisch konstruiert, wie beispielsweise in Bezug auf die Schärfe und Tiefe ihrer Atmung, die Kraft ihrer Vokalisierung oder die mit ihrer Sprache verbundenen Gesten. Ein Aspekt dieser Praxis ist sicherlich ihre äußere Form. Die Leistung der Schauspieler*innen beruht jedoch darüber hinaus auf der Fähigkeit, die Rahmenstruktur der Phantasie des alten Mannes überzeugend umzusetzen. Ihre Kunst beruht dabei nicht auf ‚ Natürlichkeit ‘ , sondern auf Künstlichkeit. Das einzige Unterscheidungsmerkmal innerhalb dieser Gruppe von körperlichästhetisch disponierten Schauspieler*innen ist die Sprache. Daher scheint sich eine homogene Gemeinschaft zu etablieren, obwohl tatsächlich verschiedene Sprachen gesprochen werden. Infolgedessen kann das Publikum sowohl die symbolische Heterogenität als auch die phänomenale Homogenität zugleich wahrnehmen. Suzukis ästhetische und sprachliche Inszenierung dieser Art stellt einerseits auf der Ebene der Sinne die Macht des Schicksals dar, das Individuum zu binden und zu zerstören. Andererseits vermittelt sie dem Publikum auch die Leidenschaft des Einzelnen, solchen äußeren Faktoren zu widerstehen. Auf diese Weise kommt die Tragik von König Lear, in der jeder Einzelne seinem Schicksal aus eigenem Willen trotzt und letztlich zugrunde geht, dramatischer zum Ausdruck als im Rahmen der Repräsentation eines literarischen Werks. Jedoch ist Suzukis Inszenierung von König Lear auch zu problematisieren, weil durch die Mehrsprachigkeit das Machtverhältnis zwischen Muttersprache und Fremdsprache eher verstärkt als überwunden wurde. Für die japanischen Muttersprachler, die den größten Teil des Publikums ausmachten, waren alle anderen Sprachen als Japanisch Fremdsprachen. Es ist zweifelhaft, dass alle Zuschauer*innen die Fähigkeit hatten, zwischen den einzelnen Fremdsprachen zu unterscheiden und den sprachlichen Hintergrund der Schauspieler*innen zu erkennen. Die Mehrsprachigkeit dieser Inszenierung könnte in diesem Sinne auch dazu führen, die Trennung zwischen Japanisch und anderen Sprachen hervorzuheben und die dichotome Sicht für das Publikum hinsichtlich der Sprache, Japanisch vs. Fremdsprachen, zu verstärken. Dann hätte die Idee der Interkulturalität, die in der Theaterpraxis Suzukis auf die Zusammenarbeit Schauspielender mit verschiedenen Muttersprachen und auf die Mehrsprachigkeit von Aufführungen abzielte, in diesem Fall eher zur sozialen Segregation geführt. Auch für die meisten Theaterpraktiker der 1960er Jahre war es nicht leicht, sich 209 Sprache und Hierarchie diesem Problem der Interkulturalität zu entziehen, da sie die tradierte japanische Darstellungsweise strategisch auf ihre Praktiken anwendeten 16 und ihre Praktiken mehr oder weniger im Kontext des kulturellen Exotismus rezipiert wurden. 17 Suzuki versucht jedoch in einer anderen Produktion, die Selbstverständlichkeit der Dichotomie Japanisch vs. Fremdsprachen bzw. von Japanern vs. Ausländern radikal infrage zu stellen. Das ist eine neue Möglichkeit sowohl für ihn als auch für seine Gruppe, einen künstlerischen Spielraum hervorzubringen. Sprachraum als Machtverhältnis Nachdem Suzuki 2007 als künstlerischer Leiter des Shizuoka Performing Arts Center in den Ruhestand ging, kehrte er mit einigen Schauspieler*innen nach Toga Village in der Präfektur Toyama zurück, wo er seit den 1970er Jahren seinen künstlerischen Stützpunkt hatte. Angesichts des gesellschaftlichen Wandels beschäftigte er sich mit einem neuen Experiment, um eine stärkere Kollektivität als bisher zu bilden. Das Charakteristische seiner Arbeiten aus dieser Zeit ist, dass sie die Macht des Regisseurs in seiner Gruppe parodieren und das Machtgefüge auf verfremdende Weise zeigen. 18 Es ist anzumerken, dass sich zu dieser Zeit sein künstlerisches Interesse an der Präsentation persönlicher Verrücktheit hin zur Darstellung kollektiver Machtverhältnisse wandelte. In Toga versammeln sich jeden Sommer viele Schauspieler*innen aus der ganzen Welt bei ihm. Sie trainieren mit den Mitgliedern seiner Kompanie SCOT (Suzuki Company of Toga) und spielen bei seinen Produktionen mit. Diese Aktivität nennt Suzuki International-SCOT, die er für ein wichtiges Projekt hält. International SCOT ist ein Labor, das sich der Fragestellung widmet, wie sich unter den Bedingungen der Globalisierung eine theatrale Kollektivität bilden lässt. Im Jahr 2009 trug der damals siebzigjährige Regisseur eine Produktion der international SCOT vor: Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama (Klipp- Klapp-Berg am Autoschrott-Reihenhaus). In einem anderen Sinne als König Lear erforschte dieses Stück die Machtverhältnisse zwischen Regisseur und Schauspieler*innen sowie Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern und eröffnete eine neue Möglichkeit für das Schauspiel im Suzuki-Theater (Abb. 1). Die Produktion ist eine Rekonstruktion seiner beiden Inszenierungen Kachi Kachi Yama (Klipp-Klapp-Berg) von Dazai Osamu (Premiere: 1996) und Das Nachtasyl von Maxim Gorki (Premiere: 2005). Außerdem werden auch manche Texte wie Endspiel von Samuel Beckett und eine ultranationalistische Äußerung eines japanischen Mathematikers fragmentarisch zitiert. Kachi Kachi Yama ist ein bekanntes Märchen, in dem sich ein Hase an einem bösen Marderhund rächt, da der Marderhund eine Freundin des Hasens getötet hat. Der Schriftsteller Dazai interpretiert den Hasen als ein grausames Mädchen und den Marderhund als einen hässlichen Mann mittleren Alters, der in das Mädchen verliebt ist, und adaptiert dieses Volksmärchen als ironischen Kampf zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit. In dieser Adaption überlagert der Autor das Thema Gut und Böse in den Volksmärchen mit einer modernen weiblichen Rebellion. Suzuki inszenierte seinen Text mit der Rahmenstruktur von ‚ Spiel im Spiel ‘ in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das inszenatorische Konzept „ Welt als psychiatrisches Krankenhaus “ 19 verwendet Suzuki seit den 1990er Jahren oft, um die kollektive Verrücktheit auszudrücken und semiotische Bedeutungen des Textes kritisch zu verfremden. Dieser Weltanschauung zufolge sind alle Menschen prinzipiell Verrückte, und alle Ereignisse werden als ihr Possenspiel ver- 210 Terao Ehito standen. Die Identität aller Menschen befindet sich daher immer in einer Krise. In Suzukis Inszenierung werden die Häsin durch eine Krankenschwester, die auch Prostituierte zu sein scheint, und der Marderhund durch einen Kranken, der wie ein japanischer Mafiaboss aussieht, ersetzt. Der Regisseur interpretiert in dieser Inszenierung den Kampf zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit bei Dazai als groteskes Possenspiel zwischen der Krankenschwester und der Mafia und verfremdet die Geschichte im theatralen Rahmen des Krankenhauses. In der Inszenierung Das Nachtasyl ist auf der Bühne ein Autoschrottplatz eingerichtet. In dieser Kulisse leben die Figuren wie Landstreicher in verlassenen Autos. Auf dem Friedhof der Automobilindustrie sozusagen, die Japans rasantes Wirtschaftswachstum vorantrieb, spielen die Figuren das Stück und singen Lieder der Popsängerin Misora Hibari, einem kulturellen Symbol für das Wirtschaftswachstum. Sie träumen von einem utopischen Ort und geben sich der Erinnerung an die verlorene Vergangenheit hin. Diese Produktion verwendet eine Beckettsche Lesart von Gorkis Werk, um das Ende des kapitalistischen Überkonsums und der kapitalistischen Verschwendung darzustellen. Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama ist aber keine simple Mischung der beiden Inszenierungen. Zu bemerken ist, dass alle internationalen Schauspieler*innen aus Russland, Südkorea, Italien gemeinsam mit den japanischen in japanischer Sprache spielten. Suzuki lässt in dieser Produktion zum ersten Mal alle ausländischen Schauspieler*innen Japanisch sprechen und stellt dadurch die Kritik an sprachlichen Hierarchien in den Vordergrund. Wenn der Dialog in einer Fremdsprache geäußert wird, ist er als Sprache unver- Abb. 1: Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama, SCOT. 211 Sprache und Hierarchie ständlich und stattdessen wird der Bedeutungsinhalt des Dialogs direkt an das Publikum vermittelt (durch zusätzliche Medien wie Untertitel). Wenn aber die ausländischen Schauspieler*innen auf Japanisch sprechen, wird eher die Unnatürlichkeit einer Fremdsprache als ihre Mitteilung dargestellt. Im Inneren des Werkes scheint die Kommunikation zwischen den Figuren so reibungslos zu verlaufen wie in König Lear. Viele japanische Zuhörer*innen sind jedoch überrascht und verwirrt über die japanische Sprache der ausländischen Schauspieler*innen. Für denjenigen, der schon einmal eine mehrsprachige Inszenierung von Suzuki gesehen hat, müsste die Verwirrung viel größer sein, da nicht aufgeklärt wird, warum die ausländischen Schauspieler*innen Japanisch sprechen. 20 Sie wurden von Suzuki trainiert, sodass sie sich eine artifizielle Körperlichkeit aneignen konnten, die mit derjenigen der japanischen Schauspieler*innen vergleichbar ist. Jedoch ist der Unterschied zwischen ihnen im Vergleich zur internationalen Version von König Lear offensichtlicher. Die japanische Aussprache der nicht japanisch sprechenden Schauspieler*innen klingt in den Ohren des Publikums merkwürdig wie gebrochenes Japanisch. Obwohl Suzuki die Intonation der Alltagssprache oft in seinen Produktionen de- und rekonstruiert, handelt es sich um eine neue ästhetische Strategie. Im Unterschied dazu wird sprachliche Inkompetenz im Prinzip abgelehnt. Suzukis Auffassung zufolge müssen den Schauspieler*innen Sprache und Körper zur Verfügung stehen. In der Produktion Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama findet sich daher nicht nur die Kontinuität seiner Theaterästhetik, sondern auch der Versuch, davon abzuweichen. Suzuki konzentrierte sich bisher vor allem auf die Distanzierung zwischen Körper und Sprache sowie die Unmöglichkeit der Kommunikation. Für ihn ist die Sprache kein Kommunikationsmittel, sondern ein Anlass dafür, die Kommunikationslosigkeit auszudrücken. In der Produktion Haisha- Nagaya no Kachi Kachi Yama taucht Suzukis Regiekonzept der Kluft zwischen dem sprechenden Körper und dem gesprochenen Wort als ein eher strukturelles Problem auf. Das gebrochene Japanisch ist eine vom Regisseur erzwungene Fremdsprache, die das strukturelle Machtverhältnis zwischen Regisseur und Schauspieler*innen sichtbar macht. Zugleich deutet es auf das Machtverhältnis zwischen Muttersprachlern und Ausländern in einem Sprachraum hin. In diesem Sinne funktioniert die gemeine Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern auch als Unterbrechung der Kommunikation. Das gebrochene Japanisch der ausländischen Schauspieler*innen trägt nicht zur Repräsentation einer Figur bei, sondern impliziert einen Riss der Repräsentation. Diese ambivalente Eigenschaft ihrer Sprache lässt sich auf eine Geste beziehen, die in der postkolonialen Studie von Homi K. Bhabha als „ Mimikry “ 21 bezeichnet wird. Mimikry wird von den strukturell Schwachen wie Minderheiten, Immigranten und Kolonisierten betrieben. Bemerkenswert ist, dass sie sowohl Ähnlichkeiten als auch Unähnlichkeiten und Unterschiede hervorhebt. Wie sehr auch die Kolonisierten die Kolonisierenden imitieren wollen, sie können körperliche, sprachliche und kulturelle Unterschiede nicht vollständig auslöschen. Die Geste der Mimikry hebt solche Unterschiede hervor und verfestigt infolgedessen die Hierarchie. Mimikry ist ein Kernbegriff, um die Geschichte des modernen japanischen Theaters zu verstehen. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts entstand Shingeki durch den Import und die Imitation von Ideen und Methoden des Theaters aus europäischen Ländern. Die Gründer des Theaters Jiy ū Gekij ō , das 1909 gegründet wurde und im Allgemeinen als der Ursprung 212 Terao Ehito des Shingeki gilt, hatten keine andere Darstellungsweise als die bloß äußerliche Imitation des europäischen Theaters. 22 Die Darstellungsweise, sich durch Schminken und mit Perücken zu verkleiden sowie Gesten und Haltungen der Europäer oberflächlich nachzuahmen, müsste auch auf das damalige Publikum einen komischen Eindruck gemacht haben. Als Mimikry hob sie sowohl Ähnlichkeiten als auch Unähnlichkeiten zwischen Japanern und Europäern hervor. In der Zeit danach entwickelte sich im Shingeki unter dem Einfluss der Theorie von Stanislawski die schauspielerische Methode, um die Emotionen der Figuren rational zu verstehen und natürlich darzustellen. Die Theaterkünstler*innen der 1960er- Jahre kritisierten an Shingeki jedoch, dass es sich bezüglich dieser Imitation nicht wesentlich geändert hatte und vom kulturellen Kolonialismus nicht befreit wurde. Bei der Produktion Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama handelt es sich um ein Possenspiel, das um sprachliche Machtverhältnisse kreist. Die ausländischen Schauspieler*innen gehören zur sprachlichen Minderheit, und ihre Sprache könnte auch als sprachliche Mimikry verstanden werden. Die Verwirrung des Publikums, als die ausländischen Schauspieler*innen auf Japanisch sprachen, dürfte auch eine aus der sprachlichen Hierarchie bzw. der sprachlichen Monopolisierung resultierende Verwirrung gewesen sein. Jedoch unterscheidet ihre Sprache sich von der Mimikry im Shingeki, weil in Suzukis Inszenierung das sprachliche und kulturelle Machtverhältnis selbst ironisch ausgedrückt wird und der Zwang der Mimikry verfremdet wird. Spiel um Sprache und Hierarchie In der Produktion Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama wird das Machtverhältnis in einem Sprachraum insbesondere durch das Verhältnis zwischen den beiden Hauptrollen spielerisch gezeigt: die von der russischen Schauspielerin Nana Tatishvili gespielte Krankenschwester, ‚ die russische Häsin ‘ , und der vom japanischen Schauspieler Nihori Kiyosumi gespielte Kranke, ‚ der japanische Marderhund ‘ . Während dieser seine Muttersprache fließend und geschickt spricht, artikuliert jene mit großer Mühe gebrochenes Japanisch. Der sprachliche Kontrast erinnert das Publikum, dessen größter Teil japanische Muttersprachler sind, ständig an die sprachliche Hierarchie, die normalerweise im Sprechtheater außer Acht gelassen wird. Die ‚ russische Häsin ‘ muss immer ihrer schwierigen Situation widerstehen, obwohl sie durch sprachliche Einschränkung behindert ist. 23 Aber das Gleiche gilt auch für den ‚ japanischen Marderhund ‘ . Er ist ja im psychiatrischen Krankenhaus und spielt mit der Unmöglichkeit der Sprache in einer ausweglosen Situation. Sicherlich interagieren sie über die Sprache miteinander, aber sie dient nicht dazu, irgendeine Bedeutung zu vermitteln. Dass die Schauspielerin der ‚ russischen Häsin ‘ die Schauspielkunst beherrscht, ist an ihrer kräftigen Stimme und ihren gelenkigen Bewegungen leicht zu erkennen. Zwar ist es eine Beschränkung, dass sie in einer fremden Sprache agieren muss. Aber ihre mit ihrem gebrochenen Japanisch und ihrer artifiziellen Körperlichkeit kombinierte Performance schafft einen einzigartigen Rhythmus, oft mit komischem Effekt. Es ist ein markanter Moment, in dem sie sich von der Norm der sprachlichen Natürlichkeit befreien und eine neue und andere Virtuosität präsentieren kann. 24 Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama ist ein collageartiges Stück, in dem die Szenen nicht direkt miteinander verbunden sind. In manchen Szenen werden japanische Volkslieder gespielt und von den Figuren chorisch gesungen. Die Figur ‚ der japanische Alte ‘ , gespielt von Tsutamori K ō suke, symbolisiert 213 Sprache und Hierarchie die Gemeinschaftlichkeit des japanischen sprachlichen und kulturellen Raumes mittels der Musik. Zu einem Schlager der Popsängerin Shimakura Chiyoko murmelt er: „ Sehr gut, japanische Lieder sind herzlich gut. “ 25 Doch kaum hat er es pathetisch und gefühlvoll gesagt, springt die ‚ russische Häsin ‘ wie ein Blitz herein. Sie unterbricht die emotionale Einigkeit der Figuren und sagt zu dem ‚ japanischen Marderhund ‘ , der in der vorherigen Szene geschlafen hat: „ Du hast lange geschlafen. “ An dieser Reihenfolge kann das Publikum leicht erkennen, dass der sprachliche und kulturelle Raum vom Japanischen nichts anderes als Traum bzw. Phantasie der Figuren ist. Die leichte und geschickte Bewegung der Häsin bildet einen scharfen Gegensatz zum alten Körper des ‚ japanischen Alten ‘ - der Alte stirbt tatsächlich in der folgenden Szene. Zwar ist die Sprache der Häsin unnatürlich und eintönig, jedoch dient die Unnatürlichkeit dazu, die japanische Gemeinschaftlichkeit zu verfremden und kritisch zu betrachten. Hinsichtlich der Geste ist die folgende Szene bemerkenswert, in welcher die Häsin das vom Marderhund getragene Bündel Reisig in Brand setzt. Im ursprünglichen Märchen täuscht der Hase den Marderhund, der durch den Klang der Feuersteine aufgeschreckt wird, mit den Worten: „ Dieser Berg heißt Kachi Kachi Yama. “ 26 Mit diesem Wort, von dem der Titel des Märchens sich herleitet, begleitet aber die ‚ russische Häsin ‘ den Akt, sich eine Zigarette anzuzünden und sich zu parfümieren. Diese verfremdende Geste war in der früheren Produktion Kachi Kachi Yama nicht vorhanden und betont die Andersartigkeit der Häsin als ausländische Schauspielerin. Die Häsin täuscht den Marderhund erneut, als er das Geräusch des Feuers bemerkt: „ Das ist wahr, dieser Berg ist Pachi Pachi no B ō B ō Yama (Knistern und Knattern Berg). [ … ] Derselbe Berg hat je nach Standort einen anderen Namen. Weißt du das nicht? “ 27 Der ursprünglich von dem Schriftsteller Dazai geschriebene Text ist ausdrücklich eine Ausrede der Häsin. Aber in der Aufführung wird die Ebene der Darstellung vielschichtig: die Rache des Hasen an dem Marderhund als Ebene des Märchens; der Widerstand der Weiblichkeit als Ebene des Textes; die sexuelle Verführung der Krankenschwester als Ebene der Geste. Darüber hinaus erscheint hier eine neue ironische und metatheatrale Ebene, dass eine Ausländerin einem Muttersprachler die Sprache lehrt. Die vorletzte Szene, in welcher der Marderhund von der Häsin getötet wird, ist besonders spannend. Im Märchen lässt der Hase den Marderhund in ein Boot aus Erde einsteigen, um ihn in den See sinken zu lassen und dadurch zu töten. Auch in Suzukis Inszenierung findet ihr letzter Dialog auf dem Boot statt. Da sagt der japanische Marderhund: „ Halte die Japaner in Ehren, vergiss nicht die Idee der ethnischen Koexistenz! “ , 28 indem er seine Hand in den Rock der Häsin hineinsticht (Abb. 2). Sein Verhalten ist eine Parodie des historischen und kulturellen Fundamentalismus der japanischen Nation, die ihr Ressentiment gegen und ihre Begierde auf die Kultur der westlichen Länder richtete und zugleich versuchte, ihre eigene Kultur für besonders und edel zu halten. Daraufhin versetzt die Häsin ihm einen tödlichen Schlag und wischt sich den Schweiß von der Stirn. In diesem Moment wird ihr Machtverhältnis zum Marderhund komplex und vielfältig. Die ‚ russische Häsin ‘ symbolisiert sowohl eine weibliche Objekthaftigkeit, auf die ein männliches Subjekt seine sexuelle Begierde richtet, als auch ein zivilisiertes Subjekt, das eine barbarische Männlichkeit bestraft. Obwohl sie darüber hinaus eine sprachliche Minderheit ist, benimmt sie sich dem Marderhund gegenüber wie ein absolutistischer Herrscher. Das Verfahren der Häsin ist für den Marderhund eine unlogische irrationale Gewalt, wenn er auf dem sinkenden Boot 214 Terao Ehito schreit: „ Ich weiß nicht, ich verstehe nicht, ich kann mir keinen Reim darauf machen. Das ist beinahe Gewalt! “ 29 Das ist aber die Rache für die Gewalt von Männern gegen Frauen, von Kolonisierenden gegen Kolonisierte und von Mehrheit gegen Minderheit. In diesem Sinne ist der Kampf der russischen Häsin mit dem japanischen Marderhund ein auf Sprachen und Kulturen bezogenes Possenspiel über historische Gewalt. Abb. 2: Der japanische Marderhund und die russische Häsin, SCOT. In der Produktion Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama wird gezeigt, dass die sprachliche, soziale und kulturelle Hierarchie ohne Gründe, aber als kollektive Phantasie entsteht. Die ausländischen Schauspieler*innen stehen unter einem kulturellen Zwang, der auf Suzukis besonderer physischer Methodik beruht, und einer sprachlichen Unterdrückung der erzwungenen japanischen Sprache. In dieser Situation werden sie in der künstlerischen Freiheit eingeschränkt. Aber indem sie der Situation widerstehen, machen sie die Gewalttätigkeit und die Machtstruktur des Sprach- und Kulturraumes sichtbar, zu dem die japanischen Schauspieler*innen sowie Zuschauer*innen gehören, und erzeugen zugleich markante Momente, die die Grenzen der bestimmten Sprach- und Kulturräume überschreiten. Das ist eine andere grenzüberschreitende transkulturelle Schauspielkunst als Virtuosität in einem bestimmten Sprach- und Kulturraum. Ob Suzuki sich im Produktionsprozess dieser besonderen Praxis der Schauspielkunst bewusst war, ist nicht klar. Suzuki, der von der Sprach- und Körperkunst der Schauspieler*innen ausgegangen war, konfrontierte sie in dieser Inszenierung zum ersten Mal mit der Nutzlosigkeit der Sprache selbst und zeigte damit neue Möglichkeiten des Schauspielens auf. Auch heute noch treten in den Sommermonaten viele ausländische Schauspieler*innen in Suzukis Produktionen im Toga Village auf. Haisha- Nagaya no Kachi Kachi Yama ist jedoch bisher das einzige Experiment, alle ausländischen Schauspieler*innen in japanischer Sprache spielen zu lassen. Dennoch zeigt das Experiment in Haisha-Nagaya no Kachi Kachi Yama die Möglichkeit auf, die manieristische Selbstwiederholung des Schauspiels zu überwinden und der sprachlichen und kulturellen Hierarchie der internationalen Theaterszene zu widerstehen. Anmerkungen 1 In diesem Aufsatz wird Shingeki als das Theater definiert, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand und hauptsächlich darauf abzielte, Stücke abendländischer Länder zu übersetzen und aufzuführen. Charakteristisch für Shingeki ist der veristi- 215 Sprache und Hierarchie sche und psychorealistische Schauspielstil und das Prinzip der Repräsentation der Alltagsrealität. 2 Vgl. Senda Akihiko, Hirakareta Gekij ō (Das geöffnete Theater), Tokio 1976, S. 129 - 132. 3 In diesem Aufsatz wird gemäß der japanischen Konvention jeder japanische Familienname vorangestellt. 4 ‚ Spielraum ‘ wird in diesem Beitrag als ein Möglichkeitsraum verstanden, in dem ein menschliches Handeln unabhängig von politischen, sozialen und ethischen Fragen als sinnliches und semiotisches Ereignis aufgeteilt werden kann. In diesem Raum ist zwar Sprache von großer Bedeutung, aber nicht im Sinne von Wechselverständnis, sondern dessen Abwesenheit. 5 Vgl. Günter Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, Frankfurt a. M./ Basel 2000, S. 35 - 121. 6 Vgl. Suzuki Tadashi, Culture is the Body, übers. von Kameron Steele, New York 2015, S. 57 - 61. 7 Vgl. Suzuki Tadashi, The Way of Acting, übers. von J. Thomas Rimer, New York 1986, S. 3 - 24; Ian Carruthers und Takahashi Yasunari, The Theatre of Suzuki Tadashi, Cambridge 2004, S. 70 - 97; Tadashi, Culture is the Body, S. 31 - 61. 8 Eugenio Barba, Jenseits der schwimmenden Inseln: Reflexionen mit dem Odin-Theater: Theorie und Praxis des Freien Theaters, übers. von Walter Ybema, Hamburg 1985, S. 157. 9 Es geht in Suzukis Training allerdings nicht darum, künstlerische Körperlichkeit der traditionellen Darstellungskunst zu imitieren. Zwar ist es charakteristisch, eine kollektive Formalität bzw. eine formale Kollektivität zu bilden, jedoch zielt sein Training darauf, das Risiko des Verlusts der Individualität in der Kollektivität zu überwinden und eine neue Möglichkeit der Schauspielkunst durch Kollektivität und Formalität zu finden. 10 Suzuki beschreibt seine Erfahrungen, in den USA sein Training zu lehren. Vor dem Beginn des Trainings dachte er, dass sein Training für die amerikanischen Schauspieler*innen nicht leicht zu unterrichten wäre. Im Laufe des Trainings wurde ihm jedoch klar, dass die ‚ ethnische Besonderheit ‘ der Schauspieler*innen durch eine universelle Reflexion über den Körper überwunden werden kann. Vgl. Suzuki Tadashi, Naikaku no Wa II (Summe der Innenwinkel II), Tokio 2003, S. 43 - 52. 11 Die Geschichte des japanischen modernen Theaters ist mit dem Nationalismus und mit der Ideologie der Nationalsprache eng verknüpft. Vgl. Kamiyama Akira, Kindai Engeki no Raireki (Der Ursprung des modernen Theaters), Tokio 2006, S. 7 - 22; Hy ō d ō Hiromi, Enjirareta Kindai (Die gespielte Moderne), Tokio 2005, S. 260 - 262. 12 Einer der wichtigsten Theaterpraktiker*innen im Shingeki, Senda Koreya, bezeichnet in seiner Studie Kindai Haiy ū jutsu 1 „ Betrachtung und Imitation “ als wichtige Aufgabe der Schauspieler*innen. Hier ist leicht zu erkennen, dass die schauspielerische Methode im Shingeki auf dem rationalen, naturwissenschaftlichen Prinzip von Betrachtung, Prüfung und Wiederholung beruht. Vgl. Senda Koreya, Kindai Haiy ū jutsu 1 (Moderne Schauspielkunst 1), Tokio 1968, S. 223 - 239. 13 Die zeitgenössischen Zuschauer*innen der frühen Produktionen von Kara J ū r ō beispielsweise brachten ihre Eindrücke oft wie folgt zum Ausdruck: „ Ich weiß nicht, was da gesprochen wird und was daran interessant ist, aber es ist interessant. “ Solch ein Ausdruck symbolisiert die Sprachlichkeit des Theaters der 1960er Jahre, wo die Praktiker*innen der Überlegenheit des Signifikats über den Signifikanten widerstehen wollten. Vgl. Ō zasa Yoshio, Shin Nihon Gendai Engekishi 4 (Neue Geschichte des modernen Theaters in Japan 4), Tokio 2010, S. 138 - 141. 14 Zu dieser Produktion siehe: Watanabe Moriaki, „ Butai de Nani ga Shik ō saretaka “ (Was wurde im Theater probiert), in: Gekiteki naru Mono wo megutte (Über die dramatischen Leidenschaften), hg. von Waseda Sh ō gekij ō / K ō sakusha, Tokio 1977, S. 182 - 188; Senda Akihiko, „ Tachiagaru Kongen - Suzuki Tadashi Shiron “ (Der aufstehende Ursprung - ein Aufsatz über Suzuki Tadashi), in: Engeki no Shis ō - Suzuki Tadashi Ron Sh ū sei (Idee des Theaters - Ausgewählte Aufsäze über 216 Terao Ehito Suzuki Tadashi), hg. von Shizuoka Performing Arts Center, Shizuoka 2003, S. 30 - 40. 15 Zu dem Begriff ‚ Menschendarsteller ‘ im Sinne von August W. Iffland siehe: August Wilhelm Iffland, Beiträge zur Schauspielkunst. Briefe über die Schauspielkunst. Fragmente über Menschendarstellung auf den deutschen Bühnen, hg. von Alexander Ko š enina, Hannover 2009, S. 40 - 46. 16 Kara J ū r ō sieht zum Beispiel die vormodernen Kabuki-Akteur*innen als Archetyp des Schauspielerbildes. Er sah im Ressentiment und in der Rebellion der unterdrückten Klassen gegen die Gesellschaft die Energie, die die Schauspielkunst möglich machte. Vgl. Kara J ū r ō , Tokkenteki Nikutai Ron (Studie zum privilegierten Körper), Tokio 1997, S. 22 - 25. 17 Die Produktion On the dramatic Passions II wurde beispielsweise 1975 in Polen als „ Kontamination der realistischen Darstellung der zeitgenössischen Gegenwart und der orientalischen Stimmung des traditionellen Kabuki “ bezeichnet. Natürlich handelt es sich bei Suzukis Inszenierung nicht um eine Modernisierung des Kabuki, aber dieser Eindruck entsteht häufig bei der Rezeption von Suzuki im Westen. Financial Times (21. Juni 1975), in: Gekiteki naru Mono o Megutte - Suzuki Tadashi to sono Sekai, S. 245. 18 Die Produktion Vom Aschenputtel zur Marquise de Sade, uraufgeführt 2010, beispielsweise hat die Struktur eines Spiels im Spiel, sodass das ganze Stück die Probe einer Theaterkompanie ist. Der Regisseur ist eine komische Person, die in der Probe einschläft und während des Schlafs murmelt, wie unverständlich das Stück ist. Trotzdem verhält sich die Person als Diktator und alle Figuren folgen diesem anscheinend untüchtigen Regisseur ohne Beschwerden. Die Person lässt sich ohne Zweifel als Selbstparodie von Suzuki verstehen. 19 Vgl. Naikaku no Wa II, S. 236 - 238. 20 Allerdings gibt es in dieser Produktion die Figur ‚ der Muslim ‘ , der im Stück von Gorki als ‚ ein Tatar ‘ auftritt. Obwohl diese Person von einem japanischen Schauspieler gespielt wird, spricht sie mit Absicht gebrochenes Japanisch. Daher positioniert sich die Figur zwischen den ausländischen Schauspieler*innen und den anderen japanischen Schauspieler*innen, was die sprachliche Ebene der Produktion vielschichtig macht. 21 Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London/ New York 1994, S. 85 - 92. 22 Vgl. Akiba Tar ō , Nihon Shingekishi Gekan (Geschichte des japanischen modernen Theaters, Bd. 2), Tokio 1956, S. 146 - 190; Matsumoto Kappei, Nihon Shingekishi (Geschichte des japanischen modernen Theaters), Tokio 1967, S. 3 - 21. 23 In diesem Sinne ist seine Sprache gemäß Gayatri C. Spivak auch als „ subaltern “ zu verstehen, vgl. Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak? japanisch. übers. von Uemura Tadao, Tokio 1998, S. 3 - 29, 72 - 116. 24 Auch in den bisherigen Inszenierungen von Suzuki lässt sich ein solch lustiger Augenblick finden. In Cyrano de Bergerac (2003) spielte die russische Schauspielerin Irina Lindt Roxane. Als sie Christian im Schlachtfeld besucht, zählt sie plötzlich fiktive Speisen auf Japanisch auf, was die Zuschauer*innen zum Lachen brachte. 25 Vgl. Spieltext (zur Verfügung gestellt von der Kompanie SCOT), S. 22. 26 Ebd., S. 23. 27 Ebd., S. 24. 28 Ebd., S. 43. In der Produktion Kachi Kachi Yama lautete dieser Satz wie folgt: „ Halte die Alten in Ehren, vergiss nicht die Idee der Altersverehrung! “ 29 Ebd., S. 45. 217 Sprache und Hierarchie