eJournals Forum Modernes Theater 33/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2022-0017
In diesem Beitrag wird das New Yorker Living Theatre in seinen frühen Jahren beleuchtet, um den Versuch zu unternehmen, die Reflexion und Setzung der Gruppe als einen besonderen, kollektiven Spielraum aus einer mythisierten Verankerung in der geschichtlichen Darstellung zu lösen. Anhand eines erweiterten Materialrahmens, der z. B. administrative Unterlagen einschließt, lässt sich diskutieren, inwiefern sich die historiografisch zementierte Idee kollektiver Praxis nicht nur als Effekt politisch-ästhetischer Bestrebungen verstehen lässt, sondern auch als taktische Reaktion auf ökonomische Prozesse. Die angeführten Beispiele kursieren dabei um die Aspekte Besetzungspraxis und Gewerkschaft, anhand derer aufgezeigt werden soll, inwiefern der ‚Spielraum‘ Living Theatre weniger als utopischer Möglichkeitsraum, denn vielmehr auch im Sinne de Certeaus als taktischer Spielraum in Opposition zu bestehenden Strukturen lesbar ist.
2022
331-2 Balme

„But there is another side.“ Spielräume zwischen Markt und Kollektiv im frühen Living Theatre

2022
Nora Niethammer
„ But there is another side. “ Spielräume zwischen Markt und Kollektiv im frühen Living Theatre Nora Niethammer (Bayreuth) In diesem Beitrag wird das New Yorker Living Theatre in seinen frühen Jahren beleuchtet, um den Versuch zu unternehmen, die Reflexion und Setzung der Gruppe als einen besonderen, kollektiven Spielraum aus einer mythisierten Verankerung in der geschichtlichen Darstellung zu lösen. Anhand eines erweiterten Materialrahmens, der z. B. administrative Unterlagen einschließt, lässt sich diskutieren, inwiefern sich die historiografisch zementierte Idee kollektiver Praxis nicht nur als Effekt politisch-ästhetischer Bestrebungen verstehen lässt, sondern auch als taktische Reaktion auf ökonomische Prozesse. Die angeführten Beispiele kursieren dabei um die Aspekte Besetzungspraxis und Gewerkschaft, anhand derer aufgezeigt werden soll, inwiefern der ‚ Spielraum ‘ Living Theatre weniger als utopischer Möglichkeitsraum, denn vielmehr auch im Sinne de Certeaus als taktischer Spielraum in Opposition zu bestehenden Strukturen lesbar ist. Das New Yorker Living Theatre ist eines der vielbeachteten Beispiele, wenn es darum geht, alternative Arbeitsformen im Theater des 20. Jahrhunderts zu untersuchen. So wurde hinreichend über den kollektiven Anspruch der Gruppe geschrieben. Dabei wird dem Living Theatre die Politisierung der eigenen Arbeitsweise nahezu selbstverständlich zugeschrieben sowie zahlreiche Attribute, die sich heute wie paradigmatisch über eine avancierte Theaterpraxis um die Mitte des 20. Jahrhunderts stülpen lassen: demokratisch, anti-hierarchisch, anarchistisch, antiautoritär, Lebens- und Arbeitsgemeinschaft verschränkend. Entsprechende Darstellungen betonen das Living Theatre in Abgrenzung zu hierarchisch organisierten Theatergruppen als offenen ‚ Spielraum ‘ , innerhalb dessen beispielsweise hegemoniale Verhältnisse weitgehend außer Kraft gesetzt sind und der die Möglichkeit in sich einschließt, gesellschaftspolitische Kritik performativ-aktivistisch in eine alternative Form zu gießen. Eine präzise Konturierung bleibt zumeist aus. Das Living Theatre erscheint in diesem Sinne als (utopischer) Möglichkeitsraum, der den Rahmen für eine ‚ gemeinsame Sache ‘ für Personen bot, die sich einer künstlerisch-aktivistischen Stoßrichtung bewusst in den Dienst stellten. 1 Einer solchen Darstellung und Betrachtungsweise kann gleichsam kritisch begegnet werden. Denn zunächst lässt sie sich - zumal mit dem nötigen historischen Abstand - als Mythisierung begreifen, indem sie selektiv und repetitiv vorgeht. So kursieren (Selbst-)Definitionen, die den ‚ Spielraum ‘ Living Theatre (be-)greifbar machen, vor allem um Aufsehen erregende Ereignisse aus der Geschichte der Gruppe (beispielsweise Verhaftungen, Theaterschließungen, Skandale erzeugende Aufführungen und öffentliche Kontroversen), um deren radikal-politische Qualität zu betonen und das Kollektive ebendort zu verankern. Fokussiert wird dabei zumeist das Living Theatre der 1960er Jahre und damit eine Zeit, in der sogenannte ‚ collective creations ‘ 2 erprobt wurden und sich die Gruppe im selbstgewählten europäischen Exil befand, wo sie mit ihren Aufführungen Weltruhm erlangte. 3 Offenkundig ist damit aber einer- Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 218 - 230. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0017 seits ein historiografisches Problem angezeigt, wie es Thomas Postlewait mit dem Hinweis auf „ the seductive appeal of certain kinds of anecdotes and stories, which tend to simplify yet distort the nature of historical events “ 4 einschlägig herausgearbeitet hat. Andererseits lassen sich Hans Blumenbergs Überlegungen zur ‚ Arbeit am Mythos ‘ fruchtbar machen. So betont Blumenberg die stabilisierende und ordnungsstiftende Funktion mythischer Programme, die durch den Akt der Wiederholung und den „ kontingenten Akt der Selektion, dessen Kontingenz zu verdrängen ist “ 5 mitunter und bei Blumenberg explizit im politischen Handeln als Erklärungsmethode fungieren. Dabei geben sie sich in der Reflexion nicht nur in ihrem Gemacht-Sein zu erkennen, sondern enttarnen sich in der rhetorischen Figur der Präfiguration als Machtinstrument, vermittels dessen Kontingenz beherrscht und politisches Handeln vermittelt werden kann: [Präfiguration] beruhigt über Motivation, schirmt gegen Unterstellungen ab, indem sie als gar nicht mehr dispositionsfähig hinstellt, was zu entscheiden war. Sie schirmt den fremden Blick bei der Suche auf immer weitere ‚ Hintergründe ‘ der Motivation ab. Die historischen oder sich historisch dünkende oder historisch ambitionierte Handlung rückt in die Zone der Fraglosigkeit: wer sie in Frage stellt, mißachtet, worauf sie sich beruft. 6 Blumenbergs Überlegungen lassen sich als Folie über die im vorliegenden Kontext fokussierte Frage nach Spielräumen des Schauspielens legen. In diesem Sinne können Spielräume nicht nur auf ihre ordnungsstiftende Funktion hin befragt werden, sondern gerade im Moment ihrer Herausbildung je spezifische Hegemonialverhältnisse sichtbar machen. So eröffnen sich Einblicke in Organisation und Handeln des Living Theatre zumeist - und über einzelne Aufführungen hinaus - durch programmatische Selbstaussagen der Gründungsfiguren Julian Beck und Judith Malina. Repetitiv gezeichnet wird in solchen Dokumenten das Bild einer Konsensgemeinschaft, das kaum Bruchstellen zulässt, erzeugt durch die Zentralsetzung eines ‚ Wir ‘ , dessen Vielstimmigkeit aber hinter einzelnen Sprecher*innen-Instanzen zurücktritt. 7 Weitere Mitglieder des Living Theatre kommen selten zu Wort, kaum ist über ihre konkreten Arbeitsverhältnisse über ein verfestigtes Narrativ des Kollektiven hinaus zu erfahren. Nur unzureichend lässt sich so etwa ein Einblick in das spezifische institutionelle und organisatorische Umfeld, den ‚ Spielraum ‘ Living Theatre, gewinnen. Die bei Blumenberg vermerkte ‚ Fraglosigkeit ‘ wird entsprechend zementiert. In vorliegendem Beitrag soll, an diese Überlegungen anschließend, ein Perspektivwechsel in zwei Schritten vorgenommen werden. Entsprechend geht es im Folgenden erstens darum, den zeitlichen Untersuchungsrahmen zu erweitern und das frühe Living Theatre zu beleuchten, das in der Theaterwissenschaft bislang nur unzureichend Beachtung findet, indem es hinter dem ‚ Mythos 60er Jahre ‘ verschwindet. Die frühen Jahre der Gruppe zu fokussieren erscheint jedoch lohnenswert, denn dieser Zeitraum lässt sich als Phase untersuchen, in der weniger der Spielraum als utopischer Möglichkeitsraum von Bedeutung ist, sondern sich zuallererst über Ein- und Ausschlüsse überhaupt herstellt. Dabei entwickeln der Gründer und die Gründerin des Living Theatre, so möchte ich behaupten, einen kollektiven Ansatz im Rahmen einer organisatorischen Taktik, die von der historischen Setzung des utopischen Möglichkeitsraums jedoch verdeckt wird. Damit soll zweitens anhand bislang unbeachteter Archivmaterialien der Blickwinkel auf das heute als ikonisch geltende Living Theatre insgesamt erweitert werden: Wie 219 Spielräume zwischen Markt und Kollektiv im frühen Living Theatre und mit welchen Überlagerungen stellt sich der Spielraum konkret dar, wenn man administrationsbezogene Unterlagen hinzuzieht - Unterlagen, denen weder öffentlichkeitswirksamer noch programmatischer oder ästhetischer Charakter zu eigen ist? Welche Machtkonstellationen formen den ‚ Spielraum ‘ Living Theatre als Raum schauspielerischer Praxis und welche konkreten institutionellen Konstellationen lassen sich darin aufspüren? Zwei zentrale Aspekte leiten dabei meine Überlegungen. Dem ersten Teil des Beitrags liegt die mythische Begründung einer spezifischen Machtausübung zugrunde, die sich im Taktischen manifestiert. Anhand der Besetzungspraxis im frühen Living Theatre soll gezeigt werden, inwiefern die Rede von der Gemeinschaft eine mythisierende Tendenz zur Machtausübung innerhalb der Gruppe selbst darstellte. Daran anschließend möchte ich im zweiten Teil des Beitrags darlegen, inwiefern der Topos des*r ‚ Künstler*in als Hungerleider*in ‘ taktisch ins Feld geführt wird, um Arbeitsverhältnisse in einem institutionellen Zusammenhang zu bestimmen und zu stabilisieren. 8 Der Rückgriff auf den mythischen Topos erweist sich dabei als Mittel, um schauspielerische Motivation a priori unhinterfragbar zu begründen und gegen (beispielsweise ökonomische) Forderungen von innen wie auch von außen wirksam abzuschirmen. Einschluss und Ausschluss: Regulierung von innen Im folgenden Abschnitt dieses Beitrags werde ich nun zunächst die Besetzungspraxis im frühen Living Theatre fokussieren. Besetzungspraxis ist dabei als Vorgang von Interesse, der Machtkonstellationen (Besetzende und Besetzt-Werdende) in besonderem Maße erkennbar werden lässt. Anhand von Zutrittskriterien, die durch Ausschreibungen, Castings u. ä. explizit oder implizit benannt werden, lässt sich dabei der Spielraum, den es zu betreten gilt, zunächst bestimmen. Nur, wer die Zutrittskriterien erfüllen konnte, konnte also Zugang zum Spielraum erhalten und hatte die Möglichkeit, fester Teil der sich im Prozess des Castings formierenden Gruppe zu werden. In der Sichtbarmachung einer Grenzziehung zwischen ‚ innerhalb ‘ und ‚ außerhalb ‘ lassen sich nicht nur wertvolle Erkenntnisse über spezifische Organisationszusammenhänge gewinnen, sondern auch über interne Selbstverständnisse und Konfigurationen. Vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten Mythisierung muten der Beginn des Living Theatre bzw. insbesondere die eingeführten Zugangskriterien aufgrund ihrer Unbestimmtheit zunächst wenig Aufsehen erregend an. Während Beck und Malina, die ihrem künstlerischen Vorhaben 1947 seinen Namen, The Living Theatre, gaben, und bis zum Bezug eines eigenen Theaters im Jahre 1951 zunächst Wohnzimmeraufführungen für einen, so lässt sich vermuten, esoterischen Zirkel veranstalteten, suchten sie bereits ab 1946 Mitstreiter*innen über den Weg der Zeitungsannonce. In einer September-Ausgabe des wöchentlich erscheinenden New Yorker Literaturkritik-Magazins Saturday Review findet sich eine solche Annonce zwischen unzähligen Kleinanzeigen, deren Spanne von Wohnungsgesuchen, Kontaktanzeigen bis hin zu Stellenangeboten reicht: „ LITERATURE THEATER group in formation in N. Y. C. seeks plays, talent, finance and suggestions. What have you? Box 865- Q. “ 9 Weder eine ästhetische, noch eine politische Stoßrichtung war also Gegenstand der Anzeige, lediglich der Ort der Veröffentlichung lässt erkennen, dass ein grundsätzlich literarisch interessierter Personenkreis angesprochen werden sollte. Auch der Aspekt der Spezialisierung fand keinen Platz in der Annonce, die eine Selbstbestimmung der noch nicht benannten 220 Nora Niethammer Gruppe zunächst vermissen lässt. Vielmehr stand im Rahmen der Suche offensichtlich die Frage zentral, was man einer Theatergruppe zu bieten habe und welche Kompetenzen und Ideen man einbringen könne. Ob die Annonce Amateur*innen ansprechen sollte oder Personen mit spezifischer Ausbildung und Erfahrung, bleibt offen. Dass jedoch gerade die Unbestimmtheit ein assoziatives Potential in Bezug auf die Beschaffenheit eines Spielraums anbieten konnte, legt eine Interessensbekundung offen, die eine motivierte Bewerberin am Tag nach dem Erscheinen an Beck und Malina schriftlich versandte: Your ad in the Saturday Review sounded like a maiden ’ s prayer. I ’ ve been looking for a theatre group where I can lend my talents such as they are. Production and writing are my interest - not acting. I have done lightning at Hunter College and for the Equity Library Theatre and at Northwestern University under Theodore Fuchs. I can build a flat and mix dope and paint with the best of amateur stage hands, and have some minor directing. I ’ ve also done publicity writing - both in an amateur and in a professional capacity. [ … ] I ’ m really interested in becoming a part of the theatre group and I think I do have something to offer. 10 Diese Unbestimmtheit der Zutrittskriterien, die die enthusiastische Briefschreiberin als erhörtes ‚ Gebet einer Jungfer ‘ wertet, indem nicht Spezialisierung, sondern ein wie auch immer geartetes Talent zentral standen, wiederholt sich in Castingbögen aus dem Jahr 1947. Es wurde darin, neben Alter, Größe und Gewicht zwar auch nach Beruf, ‚ dramatic training ‘ und Erfahrung gefragt, jedoch blieb die Suche weiterhin undefiniert. So besteht ein Teil des Fragebogens aus einer Auflistung, die der Zusammenfassung aller denkbarerer Tätigkeitsbereiche, die das Theater anbietet, gleichkommt. Unter der Rubrik „ I can (or am willing to) do the following “ , 11 einer Formulierung, die suggeriert, dass Mehrfachnennungen möglich seien, findet sich die umfangreiche Auflistung möglicher Kompetenzen und Arbeitsfelder, in die sich die Bewerber*innen einordnen konnten: Acting, Directing, Designing, Publicity, Singing, Dancing, Typing, Lighting, Set Construction, Costume Making, Properties, Stage Crew, Secretarial Work, Ushering, Box Office, Musical Instrument, All Around Work, Others. 12 Erst in der Frage nach vier Lieblingsstücken und vier Rollen, die der*die Bewerber*in gerne einmal spielen würde, schlägt das Formular einen Bogen von Kompetenzen hin zu einem vagen ästhetischen Interesse. Gesucht wurde also auch hier prinzipiell nach Personen, die sich weniger über Professionalität und Spezialisierung definierten, sondern sich, allgemeiner, in die Arbeit einer Theatergruppe einbringen wollten und konnten. Es ist nun vielfach dargelegt worden, dass Becks und Malinas Vorhaben einer eigenen Truppe von Beginn unter finanzieller Not zu leiden hatte. 13 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage, wer Zugang zum konkreten Spielraum des Living Theatre erhalten konnte, auch über einen ökonomischen Zusammenhang begründen. Denn während die zitierte Ausschreibung sowie vorliegende Castingbögen zwar einerseits und besonders über den Aspekt des ‚ Multitasking ‘ die Möglichkeit der kollektiven Gestaltung eines Spielraums implizierten, lässt sich ‚ Multitasking ‘ auch als konkreter Bedarf verstehen, der sich aus wirtschaftlichem Mangel ergab. So brachte der Übertritt in den bewusst offen angelegten Spielraum nicht nur Möglichkeiten, sondern auch Verpflichtungen mit sich, die fernab künstlerischer Ambitionen liegen mussten. 1952 hieß es beispiels- 221 Spielräume zwischen Markt und Kollektiv im frühen Living Theatre weise in einem Aufruf: „ because of shortage of personnel, members of the cast will be asked to help clean the theatre before curtain time. “ 14 Diese beiläufige Notiz ist interessant, denn sie markiert ein konkretes Machthandeln in dem sich herausbildenden Spielraum der Gruppe. So formulierten Beck und Malina ihre Anforderungen an die Statusgruppe ‚ Cast ‘ als ‚ Theatermanagement ‘ . Ob sie in ihrer Funktion als Management selbst den Putzdienst übernahmen, darüber kann nur spekuliert werden, jedoch gibt die Notiz eine hierarchische Organisation zu erkennen, während sich das Prä-Kollektive über den Hebel der gemeinsamen Sache als Taktik andeutet, die sich entlang einer wirtschaftlichen Argumentation (shortage of personnel) entspinnt. Eine öffentliche Ausschreibung aus dem Jahr 1951 gewährt weitere Einblicke in die Machtkonstellation innerhalb des Living Theatre. Im Castingaufruf für die ersten Produktionen im Cherry Lane Theatre, dem ersten soliden Theaterraum, der der Gruppe zur Verfügung stand, wurden schließlich konkrete Merkmale benannt, die Schauspieler*innen erfüllen mussten, um den Erwartungen der Castenden zu entsprechen. So hieß es in diesem Aufruf: „ All three plays require actors who can speak verse or poetic language. Good diction is essential. All types of actors and actresses are needed. Also four children who must appear under 14 years of age. “ 15 Die Sprechkompetenz der Schauspieler*innen dominierte hier also zunächst eine Suche, die sich aus einem in Stückvorlagen begründeten Bedarf ergab. Während dabei über den Aspekt Diktion ein Kriterium ins Feld geführt wurde, das sich als Merkmal von Professionalität der Schauspieler*innen verstehen lässt und damit die offene Kontur des Multitasking wesentlich eingrenzte, wurde fast beiläufig der Handlungsspielraum von Schauspieler*innen neu bestimmt. So heißt es in der Ausschreibung weiter, man suche „ [a]ctors with dancing experience and actors capable of playing musical instruments who are non-802. “ 16 Der Verweis auf 802 - gemeint ist damit die US-amerikanische Musiker*innen-Gewerkschaft Local 802 - ist entscheidend, denn eine Gewerkschaftszugehörigkeit brachte (und bringt) immer auch strenge Regularien und wirtschaftliche Vorgaben mit sich. Auf den Aspekt externer juristischer Vorgaben werde ich später noch zurückkommen. Entscheidend ist dabei jedoch der Hinweis, dass anhand entsprechender Quellen mythisierende Darstellungen, die die Formierung des Living Theatre aus einer rein politisch-ästhetischen Perspektive betrachten, ausgehebelt werden und die Notwendigkeit einer historiografischen Re- Lektüre sichtbar machen. Im Bestreben des ‚ Theatermanagements ‘ , sich institutionellen Regulierungen zu entziehen, die die Möglichkeiten des eigenen Spielraums von außen begrenzten und organisierten, zeigt sich schließlich die Konkretisierung von Zutrittskriterien. Beck und Malina stabilisierten damit ihre eigene machtvolle Position innerhalb des Spielraums insofern als sie die Schwelle zwischen ‚ innerhalb ‘ und ‚ außerhalb ‘ an die Frage der Motivation bzw. den Wunsch nach Partizipation am künstlerischen Unterfangen knüpften. Während der Zutritt schrittweise präzisiert, kategorial erfasst werden und damit der Spielraum als solcher zunehmend bestimmt werden konnte, erforderte die Möglichkeit des Ausstiegs aus der Gruppe eine Umdeutung. Denn Versuche von Schauspieler*innen bzw. Mitwirkenden, sie zu verlassen, können als Destabilisierung gelesen werden, anhand derer sich Tendenzen einer Verschaltung von Machtausübung und Mythisierung erkennen lassen. Nachdem offensichtlich immer wieder Schauspieler*innen das Living Theatre verlassen hatten und anlässlich einer Umbesetzung in der Produktion The Idiot King von Claude Frede- 222 Nora Niethammer ricks, wendete sich Beck mit folgendem Befund an den Autor, um diesen von der Umbesetzung in Kenntnis zu setzen: „ Oh, these actors, who suddenly drop, they have been a curse on our work in the theatre since we started working in the theatre. How I hope that your play is not afflicted with this dread disease “ . 17 Das Bild eines offenen Möglichkeitsraums zunehmend verengend, erinnert Becks Metaphorik nun eher an einen organischen Körper, der durch Krankheit in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt wurde. Ausschließlich Schauspieler*innen adressierend, begab sich Beck dabei in eine wertende Position und eröffnete ein machtvolles Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer*innen, das mit mythisch anmutenden Begrifflichkeiten wie dem benannten ‚ Fluch ‘ verknüpft wurde. Für vorliegenden Zusammenhang erhellend ist ein Brief, den Beck an einen abtrünnig gewordenen Schauspieler richtete. Im Versuch, den Schauspieler zurück zu gewinnen, kehrte Beck seine pathologisierende Rhetorik um und wechselte auf die Ebene des Emotionalen. Überdeutlich tritt hier die Idee der Probengemeinschaft als besonderer Zusammenschluss in den Vordergrund. Die Referenz auf die Gemeinschaft erweist sich dabei als rhetorische Taktik, die bestehende Machtverhältnisse reorganisiert. So schreibt er: It has seemed very sad to us that you should go away. We miss you, we miss not only you as a worker, but we miss you as a friend. It is not that we miss a worker — the work is getting done — tho I know we could get on a good deal better and faster if you were around. [ … ] We trace, like detectives, the day of your departure to the fact that you had only recently ‘ read ’ for us. And, plainly, our guess is that the realization that you might not be really suited to a role in our first play came as a harsh disappointment to you. [ … ] And of course. The most important thing to you must be acting, not the building of a theatre or any theatre group. Acting is your life, so why should you devote yourself, all your working energy, and in heroic fashion, to a project in which you are not going to partake as an actor? It makes such good sense. [ … ] Do you think that we do not feel badly about not having a part ready for you in this play. We have worried and fretted about this for the longest while. How we wish there were a role for you in this! How often we have talked about it. 18 Becks Versuch des Zurückholens lässt die stabilisierende, ordnungsstiftende Funktion des Mythos und die Produktion von ‚ Fraglosigkeit ‘ , wie sie Hans Blumenberg herausgearbeitet hat, erkennen. So wurden einerseits unartikulierte Beweggründe spekulativ vorweggenommen, andererseits in den Spielraum Living Theatre reintegriert, indem sie als Effekt organisatorischer Zwänge relativiert wurden. Nicht das Nicht-Besetzt- Werden konnte Beck zufolge das zentrale Problem darstellen, sondern die übergeordnete organisatorische Zwangskonstellation, die künstlerische Ambitionen verhinderte. Während sich frühere Dokumente gerade über eine Trennung von ‚ acting ‘ und ‚ working ‘ im Sinne der gemeinsamen Sache und in Form des ‚ Multitasking ‘ hinwegbewegten, wird diese Differenzierung in Becks Versuch, den Schauspieler nicht zu verlieren, Verständnis suggerierend vollzogen: Nur wer bereit war, potentiell jegliche Funktion innerhalb der Gruppe zu übernehmen, konnte also auf die Erfüllung der explizit schauspielerischen Ambition hoffen. Damit inszenierte sich Beck in seiner Funktion als Theatermanager nun bewusst als Opfer eines Systems, in dem Kunst und Arbeit als Konsequenz einer spezifischen ökonomischen Situation nicht voneinander getrennt werden konnten. Der Verweis auf das Kollektive wurde dabei als taktisches Mittel herangezogen, um konkret etwas zu erreichen, und lässt sich gleichsam als sinnstif- 223 Spielräume zwischen Markt und Kollektiv im frühen Living Theatre tendendes, begründendes Element im Sinne Blumenbergs verstehen. Der Versuch, den Schauspieler zurückzugewinnen, kulminierte schließlich in einem Versprechen, in dem weder Kunst noch Arbeit, sondern die Gemeinschaft zentral stand. Damit wendete Beck seine argumentative Richtung, indem er nicht das Living Theatre als organisatorische Konstellation oder Arbeitszusammenhang zentral setzte, sondern das Bild der Gruppe als Ort des gemeinschaftlichen und gegenseitigen künstlerischen Begehrens mobilisierte: But there is another side. And on that side is that fact there is permanent place for you here, that we are anxious for you to participate in the company not as a mason, nor as a painter, nor as a carpenter or stage manager, but as an actor; and every time a role comes along for you, it will certainly be yours. [ … ] I really fell [sic! ] that though we need you, you also need us, tho [sic! ] we want you, you also want us. 19 Besetzung als Bedarfserfüllung (Multitasking, Diktion, institutionelle Unabhängigkeit) und künstlerische Arbeit als Art des gemeinsamen ‚ Begehrens ‘ wurden in diesem Sinne, so möchte ich behaupten, taktisch und damit machtvoll gegeneinander ausgespielt. Die Option, zwischen beiden Varianten zu oszillieren, erwies sich dabei, wie der oben zitierte Brief deutlich macht, als Möglichkeit, aus verschiedenen Richtungen machtvoll auf Schauspieler*innen einzuwirken und den Spielraum Living Theatre permanent neu bestimmen zu können. Die Widersprüchlichkeit des taktischen Machthandelns lässt sich zuspitzen und zwar dort, wo eine machtvolle Verfestigung von innen heraus mit einer Außenperspektive konfrontiert wird. So entspinnt sich am Beispiel der Besetzungspraxis von Jack Gelbers Stück The Apple, das das Living Theatre 1961 zur Aufführung brachte eine Kritik, die weniger auf den Vorgang des Besetzens selbst abzielte, denn vielmehr auf die Position der Theaterleiter*innen innerhalb dieses Vorgangs. Es ginge, so der scharfe Vorwurf, nicht um eine adäquate Besetzung, sondern um die Stärkung des eigenen Status. Als Reaktion auf eine Kolumne, die am 15.02.1961 in der New York Times erschien und im Zusammenhang mit einem Streit um die Abgeltung von Aufführungsrechten stand, schrieb Seymour Litvinoff, der die Rechte Gelbers vertrat an die Zeitung, den Konflikt weiter befeuernd: [ … ] Mr Gelber advised The Living Theatre that he would, at his own expense, return from London before or after the opening of ‘ The Connection ’ there, in order to attend rehearsals, complete casting, etc. Mr. Gelber spent approximately eight hours every day for the three weeks prior to his departure to London on January 21, 1961 in an attempt to cast the play. This he did all by himself, without any cooperation from the directors of The Living Theatre who had tied themselves up with other matters. He had found many suitable actors for the play, some of whom are well known in the Broadway, television, and motion picture areas. The Living Theatre, however, despite the fact that they took no part in the attempted casting, rejected most actors who had any kind of reputation at all, apparently they wish their names to appear more prominent than any other persons. 20 Die Richtigkeit und der subjektive Gehalt der Vorwürfe, die Gelbers Anwalt vorträgt, können an dieser Stelle nicht validiert werden. Jedoch ist Litvinoffs Brief im archivalischen Kontext Teil eines Konvoluts, dessen Lektüre eine Perspektivenverschiebung hinsichtlich der Gruppe Living Theatre geradezu aufdrängt. Denn während Beck und Malina sich nach außen um 1960 zunehmend als Gründungsfiguren einer spezifischen Gemeinschaft positionierten, geben Archivalien zu erkennen, wie sie das Living Theatre als eine Gruppe unter vielen zunehmend strategisch im professionellen Thea- 224 Nora Niethammer termarkt positionieren mussten, um ihr Bestehen zu sichern. Einschluss und Ausschluss: Regulierung von außen Im Zuge dieser zunehmenden Positionierung des Living Theatre - von Liebhaber*innen-Aufführungen im Wohnzimmer hin zu vielbeachteten internationalen Auftritten - waren Beck und Malina zunehmend mit dem Theater als Gewerbe und Markt konfrontiert. In der Konsequenz konnte es bei Ein- und Ausschlüssen aus dem Spielraum nicht mehr um eine interne Praxis gehen. Vielmehr rückten Bestimmungen und Vorgaben von außen in den Fokus. Dabei wurde der spezifische Spielraum der Gruppe mehr und mehr reglementiert und ausgehandelt. Wesentlicher, gleichsam oftmals unbeachteter Teil dieses Systems und Gegenstand der Aushandlung waren Künstler*innen- Gewerkschaften wie die eingangs bereits erwähnte Local 802 sowie die 1913 gegründete Actors ’ Equity Association (kurz: Equity). Equity bot Schauspieler*innen einen organisatorischen Kontext, juristische Unterstützung und stärkte ihre Rechte, eröffnete dabei in der komplexen Funktion jedoch vor allem einen eigenen, reglementierenden machtpolitischen Kontext. Die Gewerkschaft vertrat einerseits die Interessen der Schauspieler*innen auf dem Markt des Theaters und bot ihnen Lobby und juristische Unterstützung. Es ist andererseits naheliegend, dass die Gewerkschaft regulierend und im Zweifel sanktionierend auf die Theaterlandschaft einwirkte, und sich auf Schauspieler*innen ebenso bezog wie auf Manager*innen und Companies als Organisationsrahmen. Ein entscheidender Bestandteil der Regularien, die Equity hervorbrachte, bestand in der Einführung streng regulierter Honorare, der Versicherungspflicht und der neu eingeführten Verpflichtung zur Vergütung von Probenzeiten. Die Regularien griffen über die Honorarfrage hinaus jedoch weitaus tiefer in die Theaterpraxis ein und bestimmten, so ist anzunehmen, in starkem Maße die jeweiligen Spielräume. Aus einem vorliegenden Regelwerk aus dem Jahr 1957 lassen sich drei weitere, zentrale Bereiche der Regulation ablesen, die im Folgenden kurz skizziert werden. 21 Erstens griff Equity in die zeitliche Gestaltung von Theaterarbeit ein, indem tägliche Probenzeiten (auf fünf Stunden täglich) wie auch Gesamtprobenzeiten (auf vier Wochen) begrenzt wurden und nur durch eine Sonderzahlung überschritten werden durften. Auch Mindestruhezeiten waren im Regelwerk vermerkt, wobei Theatermanager*innen bei einer besonders kurzen Ruhezeit zwischen zwei Vorstellungen darauf verpflichtet wurden, eine warme Mahlzeit auf eigene Kosten sowie mit hygienischen Mindeststandards ausgestattete Garderobenräumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Zweitens nahm Equity Einfluss auf die Vertragsgestaltung. So waren Vertragsauflösungen sowohl durch Theatermanager*innen als auch durch Schauspieler*innen mit Fristen besetzt. Interessant ist dabei überdies die Differenzierung zwischen Off-Broadway und der (im Regelwerk nicht näher spezifizierten) Unterhaltungsindustrie, denn reguliert wurde explizit auch der Übertritt von Schauspieler*innen in den Unterhaltungsbereich, sollte dieser ein wirtschaftlich rentableres Engagement bieten. Drittens wirkte Equity auf die Freiheiten in Besetzungsfragen ein. So regulierte die Gewerkschaft, basierend auf den jeweiligen Box-Office-Umsätzen, die verpflichtende Anzahl an Gewerkschaftsschauspieler*innen je Produktion. Im Regelwerk aus dem Jahr 1957 ist beispielsweise nachzulesen, dass diese Zahl zwischen drei und acht liegen musste, wobei eine der Personen als Stage-Manager*in zu engagieren war, die jedoch keineswegs als Schauspieler*in auftreten durfte. 225 Spielräume zwischen Markt und Kollektiv im frühen Living Theatre Nun war es Schauspieler*innen, Manager*innen und Companies freilich grundsätzlich freigestellt, ob sie Teil der Gewerkschaft werden wollten. Die umfassenden Eingriffe und finanziellen Konsequenzen das gesamte Berufs- und Organisationsfeld betreffend machen jedoch deutlich, dass es selbst für Nicht-Gewerkschafts-Gruppen schwierig sein musste, sich den Regularien gänzlich zu entziehen. Dies wird deutlich in einem Brief, den eine Schauspielerin in den frühen 1950er Jahren an Beck und Malina richtete, ein Schreiben, in dem sie in entschuldigendem Ton erklärte, warum sie zu einem geplanten Vorsprechen nicht erschienen war: Just as I was about to come up to your apartment for a reading, I learned that yours was to be a ‘ non-Equity ’ production - Since I have been an Equity member for [Zahl nicht lesbar] years, I don ’ t suppose I would be allowed to be in your play even if I should get a part. 22 Die Freiheit, nach beispielsweise rein künstlerischen Gesichtspunkten besetzen zu können, wurde also maßgeblich eingeschränkt, weil das Living Theatre selbst zu diesem Zeitpunkt kein Gewerkschaftsmitglied war. Und andersherum: Gewerkschaftsschauspieler*innen konnten nicht ohne weiteres ihren eigenen Interessen folgen. Entsprechend wurde der Handlungsspielraum entscheidend verengt und veränderte über den Hebel gewerkschaftlicher Regularien die Frage, wer Zugang zum Living Theatre erhalten konnte. Ausnahmen dürften allerdings möglich gewesen sein. Denn im selben Jahr bat etwa eine Gruppe an Gewerkschaftsschauspieler*innen um eine Sondergenehmigung, indem sie ein geschicktes Argument ins Feld führten, das sich die Einengung des Spielraums taktisch und aus umgekehrter Perspektive zunutze machte: „ [We] should be encouraged to utilize any showcase possiblity, such as this. And finally we should be [sic! ] no means let non-union members take over our roles. “ 23 Dass Beck und Malina im Oktober 1958, kurz vor dem Umzug in eine neue, größere Spielstätte in der 14th Street in Manhattan um Aufnahme in die Equity Association baten, scheint allein als taktischer Umgang mit den Restriktionen schlüssig. Zu sehr wurde das organisatorische Umfeld durch die Gewerkschaft wohl bestimmt. Zahlreiche Beschwerden und Klagen durch Equity, teils im Namen von Schauspieler*innen bis hin zur Drohung eines Aufführungsverbots aufgrund ausstehender Zahlen zementieren jedoch den Eindruck, dass sich beide Kontexte - die Einwirkungen auf den Spielraum von außen und der Spielraum als Arbeitsrealität Living Theatre - nicht oder kaum in Einklang bringen ließen. Hungerleider*innen als taktischer Topos Die Gewerkschaft als Institution, die Arbeitsverhältnisse bestimmt und künstlerische Praxis dezidiert als Arbeit markiert, wurde von Beck und Malina öffentlich scharf kritisiert. An dieser Stelle wurde der eingangs erwähnte Topos des*r Künstler*in als Hungerleider*in zentral ein- und der Machtausübung zugeführt. In einem undatierten, voraussichtlich um die Mitte der 1960er Jahre entstandenen Manuskript schrieb Beck, der der Gewerkschaft schon früher faschistische Manier vorgeworfen hatte: [The actor] is being forced into the position of being a simple worker, which he is not, his work can be, or ought to be, distinguished from the work of manufacturing. The actor no longer creates, he makes, and what he makes is not primarily art or love, but money. This is what the Union emphasizes. 24 Anhand seiner Kritik, in der die Gewerkschaft als kapitalistische Instanz hervortritt, die in offenkundiger Anlehnung an Marx ‘ Diffe- 226 Nora Niethammer renzierung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit entworfen wurde, zog Beck also abermals eine Grenze zwischen Kunst und Arbeit, die er sich jedoch taktisch, so zeigt sich, zunutze machte. Und mehr noch, denn Becks Kritik, die den Begriff des Zwangs bemüht und damit die autonome Handlungsmacht von Schauspieler*innen negiert, lässt sich auch als ‚ Arbeit am Mythos ‘ interpretieren. In diesem Sinne ließe sich das Living Theatre, aus Sicht Becks, als prophetisches Angebot der Befreiung präfigurieren. Dies ist in Hinblick auf Becks Funktion als ‚ Theatermanager ‘ freilich bemerkenswert, denn damit wurde der Spielraum bestimmt, ein Spielraum indes, in dem sich nur befinden konnte, wer kein finanzielles Interesse hatte. Becks Bemerkung lässt sich so auch als Verschärfung seiner Machtposition lesen, die ihm das argumentative, potentielle Werkzeug dafür gab, Schauspieler*innen in einer zunehmend regulierten Theaterlandschaft nicht zu vergüten und damit von innen wie auch von außen einen Raum der ‚ Fraglosigkeit ‘ hervorbringt. In veränderter Weise erscheint das starke Bild des Prophetischen in einem Manuskript, das Beck und Malina 1959 verfasst hatten und das auf den biblischen Ausspruch „ Ihr könnt nicht dem Gott und dem Mammon dienen “ referiert. So schrieben sie: We want the poets and the artists, the visionaries and the prophets. The world hovers on the brink of spiritual and actual disaster and men rely on the puppets of Mammon to act as the priests in the theatre. The Living Theatre wants to be free of the service of Mammon, and because of this we turn to the poets and the artists, because next to the saints and the comman [sic! ] man, they are most free. 25 Wer also, so legt diese Programmatik nahe, Teil des Living Theatre werden konnte, war nicht nur finanziell desinteressiert, sondern ‚ auserwählt ‘ - und stand in weitaus größerem Dienst als jenem der Kunst. Beck und Malina verorteten sich und das Living Theatre damit in einem größeren historischen Zusammenhang des (sozialrevolutionären) künstlerischen Prophetentums, der über eine Kapitalismuskritik des 20. Jahrhunderts entschieden hinausreicht. Auch hieran lassen sich selbst-mythisierende Tendenzen offenkundig diskutieren. Während die angelegte Überhöhung des schauspielerischen Daseins evident ist, lässt sich jedoch eine taktische Wendung erkennen, die durch das Bild der Künstler*innen als Hungerleider*innen und Prophet*innen in Anschlag gebracht wurde und im Widerspruch zur Idee des offenen, Multitasking adressierenden Spielraums stand. Denn über diesen Hebel spezifischer Künstler*innen-Bilder ließ sich das Argument der Motivation und Identifikation stets neu entwickeln, indem ‚ Motivation ‘ , wie bereits erwähnt, vollständig aus einem Kontext gelöst wurde, in dem an ‚ Arbeit ‘ gekoppelte Forderungen der Schauspieler*innen fruchtbar sein konnten. Was bedeutete dies nun für Schauspieler*innen konkret? Der bereits erwähnte Jack Gelber hat dies retrospektiv-anekdotisch aus einer Perspektive deutlich gemacht, in der sich künstlerische und ökonomische Zusammenhänge des Spielraums Living Theatre direkt verschalten. So schrieb Gelber in seinem Text „ Julian Beck, Businessman “ : Each prospective actor was scrutinized as to his or her values and whether or not they measured up politically, aesthetically, sometimes sexually. Would the strength of their commitments drive away all thoughts of running to Equity every time Julian couldn ’ t pay them on time? Were they willing to live on unemployment? In other words, would they take more than the ordinary amount of crap an actor must bear [ … ]? 26 Während in Gelbers Beschreibung einerseits der Faktor des Ästhetischen und explizit 227 Spielräume zwischen Markt und Kollektiv im frühen Living Theatre Politischen ins Feld geführt wird, legt die Beschreibung eine Taktik frei, die Becks Bild des*r Hungerleider*in gegen ökonomische Aspekte bewusst ausspielt. So ließe sich in Bezug auf Gelbers Anekdote gleichsam behaupten, dass das Living Theatre vom ‚ service of mammon ‘ eben gerade nicht frei, sondern maßgeblich davon abhängig war, wenngleich dieser Service außerhalb des Spielraums Living Theatre, nämlich in einem dezidierten Kontext von Arbeit (statt Kunst) verortet wurde und entsprechend die Partizipation in sich, nach Becks Logik, ausschließenden Spielräumen erforderlich machte. Mehr noch, wenn Gelber eindrücklich ausführt: The one subsidy which was fundamental to the survival of the theater was the performers ’ deferred and often unpaid salaries. By and large, the Living Theatre actor had to work outside the theater to put food on the table and pay rent. A common strategy was for Julian to keep an actor on the payroll long enough to be eligible for unemployment insurance. While performing at night, the actor would collect unemployment checks relieving Julian of the obligation to pay that week ’ s salary. To quote a line I wrote in my play much later on, ‘ Unemployment insurance, the great patron of the Arts. ’ [ … ] It was common for Julian ’ s checks to bounce. After rushing into his office on more than one occasion with a twice bounced check, ready to kill, I would find myself coming back out with Julian ’ s sympathetic arm around me and another check in my hand, destined to bounce again. 27 Wenn Gelber hier den Begriff der ‚ Strategie ‘ benutzt, so betont er das Gemacht-Sein eines Spielraums, in dem ‚ Motivation ‘ über den Weg des Gemeinschaftlichen bzw. der Zugehörigkeit hergestellt wurde, um dadurch eine ökonomische Dimension künstlerischen Arbeitens zu verdecken und außerhalb institutioneller Strukturen überhaupt agieren zu können. In gerade diesem Gemacht-Sein setzt die Mythisierung an, die durch die Verschaltung verschieden konturierter Spielräume produziert wird und die bei Blumenberg benannten Unterstellungen abschirmt, während sie sich gleichsam in ihrer Widersprüchlichkeit zu erkennen gibt. In der Überlagerung der in diesem Beitrag aufgezeigten Perspektiven gibt sich ein machtpolitisches Konstrukt zu erkennen, das den Spielraum von Schauspieler*innen im Living Theatre in aller Widersprüchlichkeit absteckt und Schauspieler*innen in einem System permanenter Aushandlung verortet, in dem sich verschiedene Spielräume strategisch und in Widersprüchlichkeit verschalten. Das organisatorische Umfeld, das das frühe Living Theatre darstellte, ist im Sinne dieser Verschaltung immer taktischer, ästhetischer und ökonomischer Spielraum zugleich - ein Spielraum indes, der sich permanent aktualisiert und mit anderen Spielräumen überlagert. So scheint es entsprechend lohnenswert, den ‚ Spielraum ‘ Living Theatre aus einer starren Mythisierung zu lösen und zunehmend auf seine Machtkonstellationen und jeweiligen Aushandlungsprozesse hin zu befragen. Es bleibt dabei auch in diesem Beitrag am Ende schließlich ein zentrales Problem unauflösbar: Schauspieler*innen des Living Theatre kommen in der Geschichte des Living Theatre kaum zu Wort. Anmerkungen 1 Charles L. Mee spitzt dies bereits 1962 zu, wenn er schreibt: „ [T]he emphasis is on the style of the company, not on the style of the plays. “ Charles L. Mee, „ The Becks ’ Living Theatre “ , in: Tulane Drama Review 7/ 2 (Winter 1962), S. 194 - 203, hier S. 194. 2 Nur wenige Produktionen wurden als ‚ collective creations ‘ ausgewiesen, erstmals Mysteries and smaller pieces (1964). Der pau- 228 Nora Niethammer schalen Annahme, die Gruppe habe per definitionem kollektiv gearbeitet, ist somit mit Vorsicht zu begegnen. 3 Vgl. dazu besonders jene Beispiele mit dokumentarischem Anspruch, z. B. Aldo Rostagno, We, The Living Theatre. Aldo Rostagno with Julian Beck and Judith Malina, New York 1970; oder z. B. die vielbeachtete Dokumentation Resist! Ein Traum vom Leben mit dem Living Theatre, Belgien 2004. 4 Thomas Postlewait, The Cambridge Introduction to Theatre Historiography, Cambridge 2009, S. 80. 5 Hans Blumenberg, Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos, Berlin 2014, S. 11. 6 Ebd., S. 14 - 15. 7 Solche Programmatiken liegen zahlreich vor, es sei an dieser Stelle nur eine von vielen exemplarisch zitiert: „ To call into question / who we are to each other in the social environment of / the theatre / to undo the dots that lead our misery / to spread ourselves across the public ’ s table [ … ] This is what the Living Theatre does today / It is what it has always done “ . Julian Beck, zit. in: https: / / www.livingtheatre.org/ about, undatiert, [Zugriff am 01.08.2020]. 8 Der Begriff Taktik wird hier nach de Certeau eingeführt als „ Handlungen, die ihre Geltung aus der Bedeutung beziehen, welche sie der Zeit beilegen - und auch den Umständen, welche in einem ganz bestimmten Interventionsmoment in eine günstige Situation verwandelt werden “ . Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 91. 9 Annonce abgedruckt in: The Sunday Review, 14.09.1946, S. 41 [Hervorhebung im Original]. 10 Corinne Posner, Julian Beck und Judith Malina, 15.09.1946, Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for the Performing Arts. 11 Castingbögen vom 23.10.1947, Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for the Performing Arts. 12 Ebd. 13 Solche häufig in Erzählungen nur en passant eingestreuten Hinweise gründen zumeist auf Selbstaussagen Becks und Malinas, die zahlreich in veröffentlichten Rückschauen vorliegen. Beispielhaft ist etwa Julian Becks oft zitierte Darstellung „ How to close a theatre “ , in der er schreibt: „ I had some money, six thousand dollars which an aunt had left me, and with that we finally formally launched the Living Theatre in 1951 [ … ]. The Living Theatre never made money. We were broke after our second production. “ Julian Beck, „ How to Close A Theatre “ , in: Tulane Drama Review 8/ 3 (Spring 1964), S. 180 - 206, hier S. 180. 14 Handschriftliche Notiz, 12.03.1952, Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 055, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for the Performing Arts. 15 Castingaufruf, 15.10.1951, Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for the Performing Arts. 16 Ebd. 17 Julian Beck an Claude Fredericks, 1955, Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for the Performing Arts. 18 Brief von Julian Beck, 11.06.1958, Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for the Performing Arts [Adressat nicht eindeutig zuordenbar]. 19 Ebd. 20 Seymour Litvinoff an die New York Times, 15.02.1961, Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for the Performing Arts. 21 Vgl. zu den Regularien: Actors ’ Equity Association, „ Amendments to Equity rules governing employment as applied to Off- Broadway productions, effective September 1, 1957 “ , Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, NYPL. 22 Brief an Judith Malina, 1951, Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, NYPL [Hervorhebung im Original]. 23 Brief an die Actors ’ Equity Association, 02.11.1951, Living Theatre Records, *T-Mss 229 Spielräume zwischen Markt und Kollektiv im frühen Living Theatre 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for the Performing Arts. 24 Julian Beck, undatiertes Manuskript, Living Theatre Records, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for the Performing Arts. 25 Julian Beck und Judith Malina, Manuskript „ The Living Theatre “ , 1959, *T-Mss 1988 - 005, Billy Rose Theatre Division, New York Public Library for Performing Arts. Das angeführte Zitat ließe sich als Sinneswandel im Vorgriff auf einen ‚ Zeitgeist 1968 ‘ und als Versuch interpretieren, sich einem ökonomischen Kontext zu entziehen. Belege, die dieses Argument schwächen, finden sich jedoch zahlreich. So schrieben Beck und Malina, die 1964 bereits ein Theater ohne Eintritt forderten, im Zusammenhang mit der bevorstehenden, in New York stattfindenden Weltausstellung und im selben Jahr ein hohes finanzielles Defizit ausgleichen müssend in einem Statement zur Rettung des Theaters: „ With a World ’ s Fair Season ahead, it might turn out to be one of considerable profit, for aside from the artistic community, tourists have been perhaps the largest single category of paying spectators “ , ein Statement, in dem künstlerische Programmatik und das Ökonomische in Schwingung gebracht werden und sich in ihrer Widersprüchlichkeit zu erkennen geben. Zit. aus Julian Beck und Judith Malina, „ Statement October 17, 1963 “ , 17.10.1963, Karl Bissinger Papers, D-189, Department of Special Collections, General Library, University of California, Davis. 26 Jack Gelber, Manuskript „ Julian Beck, Businessman “ , 1986, Mark Hall Amitin / World of Culture for the Performing Arts, Inc. Archive; MSS 121; Fales Library and Special Collections, NYU Libraries. 27 Ebd. 230 Nora Niethammer