eJournals Forum Modernes Theater 33/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2022-0018
2022
331-2 Balme

Sarah Ralfs, Theatralität der Existenz. Ethik und Ästhetik bei Christoph Schlingensief, Bielefeld: transcript 2019, 344 Seiten

2022
Johanna Zorn
Rezension Sarah Ralfs, Theatralität der Existenz. Ethik und Ästhetik bei Christoph Schlingensief, Bielefeld: transcript 2019, 344 Seiten. Im Angesicht des Todes, so die Ausgangsbeobachtung von Sarah Ralfs, vollzieht sich im Spätwerk Christoph Schlingensiefs eine existentielle Zuspitzung seiner konstitutiven transgressiven und intermedialen Ästhetik. Mit dieser These ist zugleich die leitende Perspektive des Buches artikuliert, die sich nicht auf die Suche nach Brüchen begibt, die das Œ uvre vor und nach der Krebsdiagnose in zwei kategorial verschiedene Abschnitte teilen, sondern die Theaterinszenierungen sowie sämtliche öffentliche Äußerungen und Auftritte bis hin zum Operndorfprojekt als „ Kristallisationspunkt “ (S. 13) betrachtet, in dem sich die seit je vollzogene „ Verflechtung von Kunst und Leben und gleichzeitig die Verdichtung von Kunst und Künsten “ (S. 13) paradigmatisch zeigt. Dieser Überzeugung entsprechend verfolgt die Autorin keine isolierte Analyse der infolge der Krebserkrankung entstandenen letzten Inszenierungen ab dem Jahr 2008, sondern bindet ausgewählte Werke in eine Vergleichskonstellation zum vorhergehenden Schaffen ein, um das Modifikationsgeschehen der nunmehr auf die elementare eigene Verletzbarkeit des Künstlers hin projizierten ästhetischen Prämissen exemplarisch durchzuarbeiten. Erklärtes Ziel der Untersuchung ist es, die Relation von Ethik und Ästhetik im Spätwerk auszuleuchten und damit die Weise zu erhellen, in der Fragen des menschlichen Ausgesetzt- und Zusammenseins künstlerisch verhandelt und philosophisch kontextualisiert werden. Das Buch fächert die titelgebende Verdichtung der selbstreflexiven und metaästhetischen Verfahren hin zu einer ‚ Theatralität der Existenz ‘ in fünf Kapiteln auf. Das Vorgehen ist systematisch angelegt und erläutert die Spezifika der theatralen Spiele um Leben und Tod entlang künstlerischer Praktiken. So widmet sich das erste Kapitel der Thematisierung von bild- und aktionskünstlerischen Verfahren der Avantgarden und Neoavantgarden, das zweite untersucht die Bezugnahme auf die theatrale Aufführungssituation, im dritten Kapitel steht die Funktion des Films im Zentrum. Das vierte und fünfte Kapitel wiederum fokussieren mit der Oper und der Installation ausdrücklich synästhetische und dem Zusammenwirken der Künste verpflichtete Inszenierungsstrategien. Damit erfolgt ein gradueller Perspektivwechsel: Im Bayreuther Parsifal (2004 - 07), der ‚ ReadyMadeOper ‘ Mea Culpa (2009) sowie dem in den Animatographen materialisierten totalen Installationskonzept sieht die Autorin v. a. eine produktive Reibung mit Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks, die zum Ende des Künstlerlebens zum Indiz „ einer Abwendung von einem humanistischen Vitalismus “ (S. 309) und darin sogar als mediale Entsprechung seines Sterbens hypostasiert wird. Die grundlegende methodische Entscheidung, die Gliederung nicht an einzelnen Inszenierungen auszurichten, sondern auf der Folie ästhetischer Strategien Spotlights auf die Thematisierung der prekären Existenz zu richten, erweist sich als wertvoll, da auf diese Weise topologische Schwerpunkte der Verarbeitung persönlichen und künstlerischen Materials gesetzt und ins Gesamtwerk eingeordnet werden. Den fundierten Analysen ist ein konziser Abriss zu Schlingensiefs Werkgenealogie sowie eine kunstphilosophische Verortung als „ negative Gattungsästhetik “ (S. 24 - 27) vorangestellt, mit der das in der neo-/ avantgardistischen Tradition stehende übergeordnete Charakteristikum von Schlingensiefs Kunst exponiert wird: Die Sprengung von Grenzziehungen künstlerischen Handelns. Das die Auseinandersetzung mit neo-/ avantgardistischen Programmatiken und Verfahrensweisen beleuchtende erste Kapitel des Buches ist zugleich das umfangreichste. Nicht nur das experimentelle Wiederholen und Durchspielen entsprechender Praktiken, nicht nur die expliziten wie verfremdenden Referenzierungen auf kanonische Aktionen und Performances, son- Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 231 - 232. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0018 dern auch die forcierte Einbindung der Künstler- Person in seine Inszenierungen gelten der Autorin als Exempel für die ubiquitäre Bezugnahme auf die historische Tradition einer Entgrenzung der Kunstpraktiken. Detail- und geistreich sowie mit einer Vielzahl an informativen kunsttheoretischen und -historischen Einlassungen ergänzt, zeigt die Lektüre von ATTA ATTA - Die Kunst ist ausgebrochen (2003) eindrücklich, wie die performativ vollzogene Kunst über Künste „ neue Kunst-Welt-Relationen “ (S. 46) entstehen und den mit ironisch gebrochener Geste inszenierten Schauplatz von Kunstgeschichte(n) überdies mit einer Familienfarce korrelieren lässt, um den Topos von ‚ Kunst und Leben ‘ au second degré zu thematisieren. In der anschließenden Betrachtung von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008) liegt der Akzent ebenso auf der transmedialen Dimension der bestimmenden Einflüsse - vornehmlich des Fluxus, der in der paradoxen Gattungsbezeichnung ‚ Fluxus-Oratorium ‘ aufgerufen wird - , die nunmehr allerdings potenziert erscheinen, indem sie zu Chiffren der labilen Künstler-Existenz umgeformt werden. Besonders deutlich - darin ist Ralfs auf einer Argumentationslinie mit der jüngeren Forschungsliteratur - zeigt sich Schlingensiefs persönliche Aneignung künstlerischer Gesten in der Umwertung christlicher Erlösungsethik in ein radikales Autonomiebekenntnis im Zeichen des Fluxus (bes. Joseph Beuys). Das ‚ Fluxus-Oratorium ‘ nimmt in Ralfs Argumentation für die metaästhetische Selbstreflexion und -inszenierung in Schlingensiefs Spätwerk eine Schlüsselrolle ein. Als „ Ethik der Theater-Aufführung “ (Kap. II) beschreibt sie im Rekurs auf deren spezifische Medialität, Performativität, Semiotizität und Ästhetizität die wechselseitige Dynamik des im Zentrum der Inszenierung stehenden Zeigens der eigenen Verwundbarkeit, das an die Präsenz des Publikums appelliert. Dadurch erhält das „ fundamentale Ingemeinschaftstehen “ (S. 156) in der Inszenierung einen existentiellen Doppelsinn: Das theatrale Dispositiv der Ko-Präsenz wird zugleich zur Metapher für das Leben selbst, das auf dem Spiel steht. Demgegenüber erfüllt das ebenso konstitutive Medium Film eine gänzlich andere Funktion (Kap. III). Auf Basis medientheoretisch informierter, kluger Analysen weist die Autorin darauf hin, dass die Vielzahl an filmischen Materialien, mit der die Existenz des Protagonisten Schlingensief codiert wird, ein medienreflexives Spiel um An- und Abwesenheit, um Selbst- und Fremdreferenz, um Vergangenheit und Gegenwart in Gang setzt, das sich zum rituell angeeigneten theatralen Prinzip von gemeinsam geteilter Zeit gegenwendig verhält. Auf die ästhetischen und ethischen Implikationen der aus diesem Wechselspiel hervorgehenden augenscheinlichen Überproduktion von Erscheinungsweisen des sterbenden Ichs hingegen geht Ralfs dabei weniger ein. Daran zeigt sich nicht zuletzt auch die affirmative Tendenz im gesamten Argumentationszusammenhang, die sämtliche Gesten ‚ im Sinne ‘ des Künstlers sowohl als Belege für eine ästhetische Sprengung wie als ethischen Appell für menschliche Verbundenheit aufsammelt, sich in dieser Idealisierung aber gegen eine kritische Durchdringung der paradoxen Inszenierung eines im Zeichen des Geniekults stehenden performativen Maximalismus (bis hin zum Vermächtnis des Operndorfs) immunisiert. Außer Frage steht, dass die Publikation durch einen genauen Blick und die Fähigkeit zur theoretischen Kontextualisierung besticht und nicht nur ein Gewinn für die Forschung zu Schlingensiefs Werk, sondern auch anschlussfähig für Fragen zur Ästhetisierung der Existenz ist. München J OHANNA Z ORN Astrid Schenka, Aufführung des offen Sichtlichen. Zur Poesie des Mechanischen im zeitgenössischen Theater, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2020, 269 Seiten. Die Offenlegung von theatralen Prozessen ist eine wichtige Inszenierungsstrategie im Gegenwartstheater: Das Aus-der-Rolle-Fallen der Performer*innen/ Schauspieler*innen oder der Einsatz von Expert*innen des Alltags können als Versuche gelesen werden, den dahinterliegenden Theaterapparat sichtbar zu machen. Dazu zählt Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 232 - 234. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0019 232 Rezension