eJournals Forum Modernes Theater 33/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2022-0019
2022
331-2 Balme

Astrid Schenka, Aufführung des offen Sichtlichen. Zur Poesie des Mechanischen im zeitgenössischen Theater, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2020, 269 Seiten

2022
Franziska Burger
dern auch die forcierte Einbindung der Künstler- Person in seine Inszenierungen gelten der Autorin als Exempel für die ubiquitäre Bezugnahme auf die historische Tradition einer Entgrenzung der Kunstpraktiken. Detail- und geistreich sowie mit einer Vielzahl an informativen kunsttheoretischen und -historischen Einlassungen ergänzt, zeigt die Lektüre von ATTA ATTA - Die Kunst ist ausgebrochen (2003) eindrücklich, wie die performativ vollzogene Kunst über Künste „ neue Kunst-Welt-Relationen “ (S. 46) entstehen und den mit ironisch gebrochener Geste inszenierten Schauplatz von Kunstgeschichte(n) überdies mit einer Familienfarce korrelieren lässt, um den Topos von ‚ Kunst und Leben ‘ au second degré zu thematisieren. In der anschließenden Betrachtung von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008) liegt der Akzent ebenso auf der transmedialen Dimension der bestimmenden Einflüsse - vornehmlich des Fluxus, der in der paradoxen Gattungsbezeichnung ‚ Fluxus-Oratorium ‘ aufgerufen wird - , die nunmehr allerdings potenziert erscheinen, indem sie zu Chiffren der labilen Künstler-Existenz umgeformt werden. Besonders deutlich - darin ist Ralfs auf einer Argumentationslinie mit der jüngeren Forschungsliteratur - zeigt sich Schlingensiefs persönliche Aneignung künstlerischer Gesten in der Umwertung christlicher Erlösungsethik in ein radikales Autonomiebekenntnis im Zeichen des Fluxus (bes. Joseph Beuys). Das ‚ Fluxus-Oratorium ‘ nimmt in Ralfs Argumentation für die metaästhetische Selbstreflexion und -inszenierung in Schlingensiefs Spätwerk eine Schlüsselrolle ein. Als „ Ethik der Theater-Aufführung “ (Kap. II) beschreibt sie im Rekurs auf deren spezifische Medialität, Performativität, Semiotizität und Ästhetizität die wechselseitige Dynamik des im Zentrum der Inszenierung stehenden Zeigens der eigenen Verwundbarkeit, das an die Präsenz des Publikums appelliert. Dadurch erhält das „ fundamentale Ingemeinschaftstehen “ (S. 156) in der Inszenierung einen existentiellen Doppelsinn: Das theatrale Dispositiv der Ko-Präsenz wird zugleich zur Metapher für das Leben selbst, das auf dem Spiel steht. Demgegenüber erfüllt das ebenso konstitutive Medium Film eine gänzlich andere Funktion (Kap. III). Auf Basis medientheoretisch informierter, kluger Analysen weist die Autorin darauf hin, dass die Vielzahl an filmischen Materialien, mit der die Existenz des Protagonisten Schlingensief codiert wird, ein medienreflexives Spiel um An- und Abwesenheit, um Selbst- und Fremdreferenz, um Vergangenheit und Gegenwart in Gang setzt, das sich zum rituell angeeigneten theatralen Prinzip von gemeinsam geteilter Zeit gegenwendig verhält. Auf die ästhetischen und ethischen Implikationen der aus diesem Wechselspiel hervorgehenden augenscheinlichen Überproduktion von Erscheinungsweisen des sterbenden Ichs hingegen geht Ralfs dabei weniger ein. Daran zeigt sich nicht zuletzt auch die affirmative Tendenz im gesamten Argumentationszusammenhang, die sämtliche Gesten ‚ im Sinne ‘ des Künstlers sowohl als Belege für eine ästhetische Sprengung wie als ethischen Appell für menschliche Verbundenheit aufsammelt, sich in dieser Idealisierung aber gegen eine kritische Durchdringung der paradoxen Inszenierung eines im Zeichen des Geniekults stehenden performativen Maximalismus (bis hin zum Vermächtnis des Operndorfs) immunisiert. Außer Frage steht, dass die Publikation durch einen genauen Blick und die Fähigkeit zur theoretischen Kontextualisierung besticht und nicht nur ein Gewinn für die Forschung zu Schlingensiefs Werk, sondern auch anschlussfähig für Fragen zur Ästhetisierung der Existenz ist. München J OHANNA Z ORN Astrid Schenka, Aufführung des offen Sichtlichen. Zur Poesie des Mechanischen im zeitgenössischen Theater, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2020, 269 Seiten. Die Offenlegung von theatralen Prozessen ist eine wichtige Inszenierungsstrategie im Gegenwartstheater: Das Aus-der-Rolle-Fallen der Performer*innen/ Schauspieler*innen oder der Einsatz von Expert*innen des Alltags können als Versuche gelesen werden, den dahinterliegenden Theaterapparat sichtbar zu machen. Dazu zählt Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 232 - 234. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0019 232 Rezension auch der Forschungsgegenstand, dem sich die Theaterwissenschaftlerin, Dramaturgin und Übersetzerin Astrid Schenka in ihrer Publikation widmet: Die Ausstellung des Mechanischen in Objekttheaterinszenierungen. Schenka untersucht dafür ausgewählte Produktionen des Gegenwartstheaters aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz, bei denen Objekte im Zentrum stehen, womit genaugenommen ausschließlich solche Objekte gemeint sind, deren Konstruktion nicht verdeckt, sondern ausgestellt ist, um so „ den Vorgang der Bewegung als gleichwertigen Teil der Aufführung [zu zeigen] “ (S. 13). Schenkas Verwendung des Begriffs Objekttheater kann bisweilen irreführend sein, da sie damit sämtliche Inszenierungsstrategien meint, in denen Objekte (damit auch Puppen) zentral gesetzt werden, während das im Figurentheaterbereich etablierte Verständnis bestimmte Ästhetiken umfasst, bei denen mit Alltagsgegenständen inszeniert wird. Entsprechend bezieht sich diese Untersuchung sowohl auf Figurentheaterinszenierungen als auch auf Mechanisches Theater und performative Installationen. Damit leistet Schenkas Publikation nach Kathi Lochs Veröffentlichung Dinge auf der Bühne (2009) erstmals wieder aus dem deutschsprachigen Raum einen wissenschaftlichen Beitrag zu Dingphänomenen im Gegenwartstheater. Zentrale Gegenstände sind das Objekt im Gegenwartstheater und das mittels einer technischen Vermittlung realisierte Verhältnis zwischen Mensch und Ding. Diese Vermittlungsarbeit wird von der Autorin als „ mechanisch “ beschrieben, „ sowohl das Material und seine Bewegungen als auch die Anordnungen innerhalb der Inszenierungen betreffend “ (S. 13). Charakteristisch ist die „ wenn/ dann-Wirkungskette “ (S. 13) eines technischen Ablaufes, deren Wahrnehmung sich in einem Spannungsfeld zwischen „ Wiederholung und Differenz “ (S. 13) abspielt. Verhält sich ein Ablauf nicht gemäß der Erwartungshaltung, so Schenka, eröffnen sich Leerstellen, die „ das aktive Befüllen [ … ] durch die Zuschauerin “ (S. 14) ermöglichen. Aufgrund dieser (bewusst inszenierten) Auslassungen entfaltet sich die Wahrnehmung des Poetischen, definiert als „ Korrelation aus Konkretheit und Unkonkretheit “ (S. 14). In der 2019 an der Freien Universität Berlin angenommenen Dissertation wird näher eingegangen auf Arbeiten der Gruppen Royal de Luxe (Das Wiedersehen von Berlin, 2009) und La Machine (Le Grand Eléphant), sowie Heiner Goebbels Stifters Dinge und Zimouns Mécaniques remontées, deren Analyse das Kernstück des Buches bildet. Im ersten Teil werden anhand der Produktion Das Wiedersehen von Berlin und der eingesetzten Riesenmarionetten die Besonderheiten des Mechanischen aufgezeigt, indem Bewegungssequenzen der Figur der Kleinen Riesin analysiert werden. Gerahmt wird das Kapitel von Überlegungen zu künstlichen (Theater-)Körpern bzw. Marionetten und deren Funktionsweise. Auch wenn die Forschungsarbeit sich nicht vordergründig auf figurentheatrale Phänomene beschränkt, bezieht sich Schenka immer wieder auf Phänomene und Theorien, die im Kontext dieser Theaterform entstanden sind: Insbesondere das Spielprinzip der offenen Manipulation (die die sichtbare Kopräsenz von Spieler*in und Spielobjekt bezeichnet und damit ein für das Figurentheater charakteristisches Prinzip der Offenlegung der Spielprozesse markiert) wird für die Untersuchung der Wirkung des Mechanischen herangezogen. Damit wird jene Form der mittels technischer Vermittlung umgesetzten Verbindung zwischen Mensch und Objekt zu fassen versucht, die „ nicht nur bewusst offengelegt, sondern auch inszeniert “ wird (S. 107). Ergänzt werden diese Analysen zum Mechanischen und ‚ offen Sichtlichen ‘ (so auch der Untertitel des Buches) anhand Ausführungen zu Goebbels Stifters Dinge, einer Produktion, die sich gerade durch die scheinbare Abwesenheit von Menschen auszeichnet. Mit der performativen Installation - in welcher verschiedene Klangapparaturen in einem definierten Ablauf funktionieren - wird nicht ein Resultat, sondern ein Prozess ausgestellt, der kein eindeutiges Bedeutungsangebot macht. Durch ambivalenten Sinn der Installation wird der Wahrnehmungsprozess selbst thematisiert und aufgedeckt. Schenka nimmt dies zum Anlass, um eine Auseinandersetzung mit der Mechanik der Wahrnehmung durchzuführen und Überlegungen zur Produktion mit solchen zur Rezeption zu verquicken: Die Autorin zeigt anhand der Klangapparaturen, dass die Mechanik der Wahrnehmung, wie auch die Mechanik der Dinge auf einer „ wenn/ dann-Wir- 233 Rezension kungskette “ (S. 175) aufbaut, wobei die inszenierten Leerstellen eine besondere Rolle spielen. Im zweiten Teil wird anhand der Klanginstallationen des Schweizer Klangkünstlers Zimoun die Varianz des Mechanischen untersucht: Dies meint die „ Eigentümlichkeit “ (S. 208) der Materialien und Objekte, die Unvorhergesehenes zu evozieren vermag, genauso wie Momente des Nicht-Funktionierens oder „ Misslingen[s] “ (S. 222). Grundlage sind die bewusst gesetzten Leerstellen in den Produktionen, die gerade erst die aktive Wahrnehmung ermöglichen. Die Wirkung ist jene des Poetischen. Diese wird erst im letzten Teil näher erläutert, der argumentiert, dass sich das Poetische nicht in der Wiederholung, sondern gerade in der Wahrnehmung der Varianz eines mechanischen Ablaufs materialisiert. Das Poetische, definiert als „ Korrelation von Konkretheit und Unkonkretheit, das eng mit dem Anordnungsmerkmal der leeren Zentren korrespondiert “ (S. 251), findet sich so in Schenkas Analysen des Mechanischen wieder. Die äußerst ausführlichen Inszenierungsbeschreibungen sowie die Beschreibung der Arbeitsweise und Einbettung anderer Werke der untersuchten Theatermacher*innen sind teilweise ausufernd. Indem sie nicht nur die ausgewählten Inszenierungen in die Untersuchung einbezieht, sondern auch die Arbeitsweise und das restliche Werk der jeweiligen Gruppen, trägt die Autorin allerdings zum Diskurs über Arbeitsprozesse im Gegenwartstheater bei. Durch die Auswahl der Inszenierungsbeispiele vermag Schenka das bisher nahezu ausschließlich als historisches Phänomen betrachtete Mechanische Theater, das sie unter dem Begriff Objekttheater greift, als Phänomen des Gegenwartstheaters zu platzieren. Sie zeigt auf, wie reich dieses inter- und transdisziplinäre Forschungsfeld ist, indem sie den Einsatz von bewegten Objekten in unterschiedlichen Theaterformen wie Figurentheater, Mechanischem Theater oder performativen Installationen untersucht. Darüber hinaus werden Produktionen analysiert, die im deutschsprachigen Raum bisher kaum besprochen wurden, wodurch Schenka neben ihrer ungewöhnlichen Perspektive auf das Mechanische und Poetische der Forschung einen neuen wesentlichen Beitrag hinzufügt. Dass die Inszenierungsstrategie der offenen Manipulation als Konzept fruchtbar gemacht wird, um die Offenlegung der Theatermittel in Inszenierungen mit Objekten zu untersuchen und so zu zeigen, dass figurentheatrale Phänomene wichtige Elemente des Gegenwartstheaters sind, ist ein Verdienst von Schenkas Arbeit. Bern F RANZISKA B URGER Leon Gabriel, Bühnen der Altermundialität. Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis, Berlin: Neofelis 2021, 351 Seiten. Es gibt wissenschaftliche Monografien, die sich einen überschaubaren Gegenstand suchen und diesen durchdeklinieren. Hierbei stehen die Vertiefung und die Ausbreitung eines eingegrenzten und überschaubaren Feldes im Vordergrund, das sich die Leser*innen in der Lektüre erarbeiten. Was aber, wenn dieser Gegenstand die Welt ist und dabei nicht nur die eine Welt, sondern eine Auffassung von Welt als Multi- und Pluriversum? Wie groß ist dann dieses Feld und wo eigentlich werden Leser*innen abgeholt und hingeführt? Dass Leon Gabriel sich nicht mit der einen Welt zufriedengibt, ist dem Titel seines Buches Bühnen der Altermundialität. Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis nicht direkt zu entnehmen. Lässt doch die Eingrenzung auf die Bühne etwas anderes vermuten, weil seine Wortkreation Altermundialität nur vage Assoziationen einer anderen Welt evozieren. Bezeichnend ist, dass Gabriel Johann Amos Comenius Orbis Pictus in seinem zweiten Kapitel heranzieht, um die Differenz von Bild und Sprache als Mittel der Weltanschauung zu verhandeln. So steckt im Werk von Comenius der Anspruch, die Welt als Ganzes in Form eines Schulbuchs emblematisch zu fassen und vermittelbar zu machen. Die dabei vor- und dargestellte Welt ist recht überschaubar, dennoch aber mit dem Anspruch zu Papier gebracht, allumfassend zu sein. Diesem Weltbild stellt sich Gabriel und sein Werk entgegen. Vielmehr erweckt er in sieben Kapiteln sein Konzept von Altermundialität zum Leben Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 234 - 236. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0020 234 Rezension