eJournals Forum Modernes Theater 33/1-2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2022-0020
2022
331-2 Balme

Leon Gabriel, Bühnen der Altermundialität. Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis, Berlin: Neofelis 2021, 351 Seiten

2022
Christoph Rodatz
kungskette “ (S. 175) aufbaut, wobei die inszenierten Leerstellen eine besondere Rolle spielen. Im zweiten Teil wird anhand der Klanginstallationen des Schweizer Klangkünstlers Zimoun die Varianz des Mechanischen untersucht: Dies meint die „ Eigentümlichkeit “ (S. 208) der Materialien und Objekte, die Unvorhergesehenes zu evozieren vermag, genauso wie Momente des Nicht-Funktionierens oder „ Misslingen[s] “ (S. 222). Grundlage sind die bewusst gesetzten Leerstellen in den Produktionen, die gerade erst die aktive Wahrnehmung ermöglichen. Die Wirkung ist jene des Poetischen. Diese wird erst im letzten Teil näher erläutert, der argumentiert, dass sich das Poetische nicht in der Wiederholung, sondern gerade in der Wahrnehmung der Varianz eines mechanischen Ablaufs materialisiert. Das Poetische, definiert als „ Korrelation von Konkretheit und Unkonkretheit, das eng mit dem Anordnungsmerkmal der leeren Zentren korrespondiert “ (S. 251), findet sich so in Schenkas Analysen des Mechanischen wieder. Die äußerst ausführlichen Inszenierungsbeschreibungen sowie die Beschreibung der Arbeitsweise und Einbettung anderer Werke der untersuchten Theatermacher*innen sind teilweise ausufernd. Indem sie nicht nur die ausgewählten Inszenierungen in die Untersuchung einbezieht, sondern auch die Arbeitsweise und das restliche Werk der jeweiligen Gruppen, trägt die Autorin allerdings zum Diskurs über Arbeitsprozesse im Gegenwartstheater bei. Durch die Auswahl der Inszenierungsbeispiele vermag Schenka das bisher nahezu ausschließlich als historisches Phänomen betrachtete Mechanische Theater, das sie unter dem Begriff Objekttheater greift, als Phänomen des Gegenwartstheaters zu platzieren. Sie zeigt auf, wie reich dieses inter- und transdisziplinäre Forschungsfeld ist, indem sie den Einsatz von bewegten Objekten in unterschiedlichen Theaterformen wie Figurentheater, Mechanischem Theater oder performativen Installationen untersucht. Darüber hinaus werden Produktionen analysiert, die im deutschsprachigen Raum bisher kaum besprochen wurden, wodurch Schenka neben ihrer ungewöhnlichen Perspektive auf das Mechanische und Poetische der Forschung einen neuen wesentlichen Beitrag hinzufügt. Dass die Inszenierungsstrategie der offenen Manipulation als Konzept fruchtbar gemacht wird, um die Offenlegung der Theatermittel in Inszenierungen mit Objekten zu untersuchen und so zu zeigen, dass figurentheatrale Phänomene wichtige Elemente des Gegenwartstheaters sind, ist ein Verdienst von Schenkas Arbeit. Bern F RANZISKA B URGER Leon Gabriel, Bühnen der Altermundialität. Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis, Berlin: Neofelis 2021, 351 Seiten. Es gibt wissenschaftliche Monografien, die sich einen überschaubaren Gegenstand suchen und diesen durchdeklinieren. Hierbei stehen die Vertiefung und die Ausbreitung eines eingegrenzten und überschaubaren Feldes im Vordergrund, das sich die Leser*innen in der Lektüre erarbeiten. Was aber, wenn dieser Gegenstand die Welt ist und dabei nicht nur die eine Welt, sondern eine Auffassung von Welt als Multi- und Pluriversum? Wie groß ist dann dieses Feld und wo eigentlich werden Leser*innen abgeholt und hingeführt? Dass Leon Gabriel sich nicht mit der einen Welt zufriedengibt, ist dem Titel seines Buches Bühnen der Altermundialität. Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis nicht direkt zu entnehmen. Lässt doch die Eingrenzung auf die Bühne etwas anderes vermuten, weil seine Wortkreation Altermundialität nur vage Assoziationen einer anderen Welt evozieren. Bezeichnend ist, dass Gabriel Johann Amos Comenius Orbis Pictus in seinem zweiten Kapitel heranzieht, um die Differenz von Bild und Sprache als Mittel der Weltanschauung zu verhandeln. So steckt im Werk von Comenius der Anspruch, die Welt als Ganzes in Form eines Schulbuchs emblematisch zu fassen und vermittelbar zu machen. Die dabei vor- und dargestellte Welt ist recht überschaubar, dennoch aber mit dem Anspruch zu Papier gebracht, allumfassend zu sein. Diesem Weltbild stellt sich Gabriel und sein Werk entgegen. Vielmehr erweckt er in sieben Kapiteln sein Konzept von Altermundialität zum Leben Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 234 - 236. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0020 234 Rezension und geht hier alles andere als einschließend, abrundend oder mit dem Anspruch allumfassend zu sein vor. Sein Werk brilliert und fordert gleichermaßen durch seine Komplexität, Vielschichtigkeit und Offenheit heraus. Daher kann und will ich im Rahmen dieser Besprechung nicht auf Einzelheiten seiner Argumentation eingehen, sondern ziehe es vor, mich auf die Struktur und die damit verbundene implizite Zielsetzung zu konzentrieren. Der strukturelle wiederkehrende Rahmen des Buches besteht aus einer Verwebung von drei Schichten. Zum einen zieht Gabriel Beispiele aus dem weiten Feld des Theaters und der performativen Künste heran. Seine Beschreibungen der Aufführungen und Ereignisse, mit sehr genauen Beobachtungen und teilweise überraschenden Ableitungen, dienen als Türöffner für eine sehr viel breiter angelegte Betrachtung, deren Ziel es ist „ die Möglichkeit der Pluralität von Welten und die Bezugnahme auf diese in theatralen Praktiken “ (S. 221) zu eröffnen. Das setzt er um, indem er den deskriptiv am konkreten Gegenstand eingeführten ästhetischen Praktiken, eine sich abstrakt öffnende philosophische Auseinandersetzung anschließt. Hierbei nimmt Gabriel vorwiegend Bezug auf französische Poststrukturalisten: So bezieht er sich beispielsweise neben Michel Foucault, Jacques Derrida, Gille Deleuze auch auf deren nähere und teilweise fernere Bezugsquellen wie Martin Heidegger, Walter Benjamin oder Hannah Arendt. Dieses beides zieht Gabriel in einer dritten Schichtung zusammen, um seinen Ansatz der Altermundialität weiträumig zu umkreisen. Denn tatsächlich handelt es sich um ein Umkreisen dieses Begriffs, der nur bedingt bestimmt wird. So wird Altermundialität zum Beispiel in Abgrenzung zu einem teleologisch ausgerichteten Moderneverständnis einer sich vereinheitlichenden globalisierten Welt vorgestellt und als „ Mannigfaltigkeit an Welten “ herausgehoben, die die „ Fiktion der einen Welt samt ihrem Ziel in Frage “ (S. 221) stellt. „ Altermundialität beschreibt die Möglichkeit der Vielheit von Welten anstelle eines Einheitsraumes der einen Welt. Dies meint aber kein ‚ Ding in der Welt ‘ , sondern ein Anderes-Denken zugunsten einer immer stattfindenden unaufhaltbaren Verzweigung “ (S. 311). Ausgehend von der greifbaren Konkretheit der Beispiele über eine weitere konkrete, aber die Beispiele abstrahierende Bezugnahme auf philosophische Theorien bis hin zur schlussendlich öffnenden Synthese beider, wird eine Struktur geschaffen, die Altermundialität nicht nur beschreibt, sondern zum Strukturmerkmal des Textes macht und zum wesentlichen Teil der Leseerfahrung werden lässt. So sehr die konsequente Übertragung des eigenen theoretischen Ansatzes auf die Komposition des Buches und seiner Leseerfahrung zu bewundern ist, wird sie auch zur Herausforderung. Gabriel geht in seinem hochgradig komplexen Buch ein extrem hohes Wagnis ein, in der Überlagerung diverser Schichten und dem darin gesetzten Ziel, selber der Vielheit der konkreten wie abstrakten Welten gerecht zu werden. Der damit verbundene Mehrwert ist, dass er - teilweise vorauseilend, vielleicht auch antizipierend - , Globalisierung in seinem theoretischen Gewebe aus den Fängen einer vermeintlich - trotz aller auszumachender Pluralität - geschlossenen Weltanschauung herauslöst. Dieses Unterfangen schafft aber auch viele Stolpersteine. Als Leser*in wird man mit all diesen Pluriversen - ihren Differenzen, stilistischen Charakteren, methodischen Grundlegungen oder auch philosophischen Welten(anschauungen) - überfrachtet und manchmal auch ratlos abgehängt. Ein Eintauchen in die von Gabriel geschaffene Welt ist kaum möglich, wird man doch vor die Herausforderung gestellt, sich immer wieder von Neuem in das Andere und Fremde hinein begeben zu müssen, wenn man einen Fuß in die diskursive Tür bekommen will. Hierbei fühle ich mich an Theatererfahrungen erinnert, in denen ich als Zuschauer auf Distanz gehalten werde und der kritisch distanzierende Anteil, die auch mögliche pluriversale Erfahrung übertüncht und verdrängt. Ein solches Distanziertwerden löst bei mir weniger eine Öffnung für das Andere aus, sondern eher eine Demut gegenüber den 235 Rezension verhandelten Gegenständen. Im schlimmsten Fall erlebe ich das Präsentierte als Überheblichkeit oder es kommt das Gefühl auf, dem an mich gerichteten Anspruch nicht gewachsen zu sein. Bühnen der Altermundialität ist kein Buch über Theater, sondern ein Buch, das Theater zur Projektionsfläche, zum Erfahrungsraum oder auch zum exemplarischen Gegenstand macht, mit dem in Anlehnung an philosophische Diskurse die Welt als eine pluralisierte, als ein Multiversum beschrieben wird, bei der die üblichen Aspekte einer ordnungsliebenden Betrachtung von Zuschauer*innen versus Aktuer*innen, Liveness oder Kopräsenz etc. (vgl. S. 127) aus dem Fokus rücken. Für Gabriel liegt vielmehr „ die politische Aufgabe eines Denkens, dass [sic! ] der Pluralität Rechnung tragen will, darin, dem Chaos keine neue Ordnung oder Gründung gegenüberzustellen, sondern sich auf selbiges einzulassen, sich ins Chaos zu versenken “ (S. 288 f). Wer sich auf Entdeckungsreise begeben will, die einerseits einen Einblick in Gegenwartstheater gibt und in eine Vielzahl von künstlerischperformativen Ansätzen, wer sich nicht scheut auf Basis der Stückbeschreibungen, sich auf analytische Pfade dieser in das Pluriversum philosophischer Diskurse hineinzubegeben und sich dabei einem sich öffnenden Begriff von Welt, Globalisierung und Pluralität widmen will, für den und die ist diese Lektüre ausgesprochen bereichernd. Nicht immer sollte man erwarten, die dort aus- und dargelegten Zusammenhänge direkt erfassen zu können, aber auch das ist Teil der entwickelten Altermundialität, denn Verstehen hat immer auch schließende und oft auch ausschließende Wirkungen, gerade dann, wenn sich aus dem Verstehen geschlossene Ideologien ergeben und eben keine öffnende Vielheit geschaffen wird. Genau dies erreicht Gabriels Buch, es erschafft ein pluriversales Feld von Theater-Welten. Wuppertal C HRISTOPH R ODATZ 236 Rezension