eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 25/49

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0001
2022
2549 Dronsch Strecker Vogel

Eine durch und durch politische Angelegenheit: Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments

2022
Martin Leutzsch
NT aktuell Eine durch und durch politische Angelegenheit: Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments. Gedanken zu Fragestellungen, Problemen und Kontexten der Forschung Martin Leutzsch Für Ulrike Wagener und Rose Wecker Zeitschrift für Neues Testament 25. Jahrgang (2022) Heft 49 In der neutestamentlichen Wissenschaft sind feministische Untersuchungen seit den 1970er Jahren, Nutzungen des Gender-Konzepts seit den 1980er Jahren, queere Lektüren seit Anfang des 21. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken. Es wäre vermessen, hier einen Forschungsbericht vorlegen zu wollen, der der Fülle der einschlägigen Veröffentlichungen und dem Engagement der zahlreichen Forschenden gerecht werden könnte. 1 Nicht Einzelergebnisse sollen im folgenden Text im Zentrum stehen, sondern Überlegungen struktureller Art zu Fragestellungen, Konzepten, offenen und verdeckten Problemen und künftigen Aufgaben solcher Forschungen. 1 Informationen über den Forschungsstand bietet zuletzt die Sammelrezension von Silke Petersen, In Bewegung. Feministische Exegese, Gender- und Queer-Studies in den Bibelwissenschaften, ThLZ 145/ 2020, 471-485. Aktuelle Resumés der (anglophonen) Forschung bieten die Beiträge in Benjamin H. Dunning (Hg.), The Oxford Handbook of New Testament, Gender, and Sexuality, Oxford 2019. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 8 Martin Leutzsch Wie bei jeder denkbaren Variante neutestamentlicher Wissenschaft gibt es auch hier enge Zusammenhänge zwischen Forschung und Forschenden. Feministische Exegesen, Gender Studies und queere Lektüren der Bibel machen diese Zusammenhänge explizit und positionieren sich ausdrücklich als politische Praxis. Das macht sie angreifbar. Beim Streben nach Teilhabe am Diskurs, Anerkennung der Deutungskompetenz, Zugang zu beruflichen Positionen und Ressourcen geht es um Fragen von Macht und Anerkennung. Überhaupt wahrgenommen zu werden, wertschätzend wahrgenommen und mit den eigenen Beiträgen und Anfragen ernst genommen zu werden, sind Anliegen, die politisch oft gegen große Widerstände errungen werden müssen, in konflikthaften Prozessen, in denen Fairness und Achtung der Menschenwürde der Benachteiligten nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Gehören diese Kontexte der Forschung notwendig mit zum Thema, so lohnt es sich, zu Beginn einige Blicke in die fernere und nähere Vergangenheit zu werfen. 1 Vorgeschichten: Das Neue Testament in Genderdebatten der letzten sieben Jahrhunderte Querelle des Femmes Vom 14. bis ins 18. Jahrhundert wurde in der christlichen Intellektuellenkultur eine ausgedehnte publizistische Debatte um die Inklusion oder Exklusion von Frauen in den Feldern Politik, Gesellschaft, Kultur und Religion ausgetragen. Beteiligt waren Männer mit oder ohne geistliches Amt und Frauen, die qua Geschlecht vom geistlichen Amt ausgeschlossen waren. Neben anderen Frauen aus der Geschichte spielen in der Querelle des Femmes Frauen der Bibel argumentativ eine wichtige Rolle. 2 Wenn die Bibel von Königinnen und Richterinnen erzählt, ist dann ein Ausschluss von gegenwärtigen Frauen von Spitzenpositionen in Politik, Rechtsprechung und Militärwesen nicht unbegründet? Wenn biblische Frauen als Lehrerinnen auftreten, kann ihnen dann der Zugang zu Bildung beschränkt oder verwehrt werden? Wenn es nicht nur in der griechischen und römischen Antike Dichterinnen gab sondern auch in der Bibel, würden sie 2 Christine de Pizans „Le Livre de la Cité des Dames“ (1405) führt unter anderem Maria von Nazareth, Maria von Magdala, die kanaanäische Frau, die Samaritanerin, Elisabeth und die Unterstützerinnen Jesu an. Marie de Gournays „L’Egalité des Hommes et des Femmes“ (1622) erwähnt Apphia, Maria von Magdala, die ersten Auferstehungszeuginnen, Elisabeth und Hanna und die Frau des Pilatus. Priscillas Lehrtätigkeit (Apg 18,24- 26) wird z. B. von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim in De nobilitate et praecellentia foeminei sexus (1529) benannt. In der umfassenden Enzyklopädie „Die Bibel und die Frauen“ ist ein der Querelle des Femmes gewidmeter Band vorgesehen. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments 9 nicht auch in der Gegenwart einen Beitrag zur Kultur leisten können? Zeigen nicht die Prophetinnen, dass Frauen auch religiöse Führungsrollen einnehmen können? Oder gibt es mit der Bibel begründbare Geschlechterordnungen und Reglementierungen, die den Ausschluss von Frauen aus einigen oder vielen Handlungsräumen begründen, etwa das neutestamentliche Lehrverbot und das Schweigegebot für Frauen im Gottesdienst? Legt die Bibel eine hierarchische Geschlechterordnung fest oder nahe? Oder gibt es Optionen, die egalitäre Beziehungen favorisieren? Streitpunkt sind Fragen der Gleichheit und Gleichberechtigung der Geschlechter. Es geht um gesellschaftliche Teilhabe und Mitgestaltung. Die Textgattung der aufzählenden Liste macht Frauen und ihre Leistungen sichtbar und ermöglicht die Bildung von frauenfokussierter Tradition. Genderaspekte in Diskursen um die Kompatibilität von Moderne und Christentum Die Querelle des Femmes wurde in der bürgerlichen und adligen Welt der Vormoderne öffentlich geführt. Auch Theologen waren daran beteiligt, doch auf Lehre und Forschung der Universitätstheologie hatte diese Debatte keinen Einfluss. Das gilt auch für die zweite Debatte, die seit dem 19. Jahrhundert von Akteur*innen geführt wird, die das Christentum teils ablehnen, teils befürworten. Diese Debatte hat keinen Namen und ist auch so gut wie nicht erforscht. Sie bildet einen Teil der Diskurse, die die Identitätskrise des Christentums in der Moderne artikulieren. Die Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts warf die Fragen nach der Vereinbarkeit von Vernunft und Religion, nach dem Wert oder Unwert, nach der Tauglichkeit oder Schädlichkeit von Religion auf. Die Aufklärungstheologie bemühte sich um den Nachweis, dass das Christentum die beste der vorhandenen Religionen sei. Wichtig sind die Behauptungen, das Christentum verfüge über den besten („höchsten“, „reinsten“) Gottesbegriff und die höchststehende Ethik und bringe die wertvollsten Kulturgüter hervor. Bald spielen zusätzliche Fragen eine Rolle: Werden gesellschaftlich benachteiligte Gruppen durch eine Religion gefördert oder beeinträchtigt? Mit welchen Mitteln wird Religion realisiert, aufrechterhalten und verbreitet? Prof. Dr. Martin Leutzsch studierte Evangelische Theologie in Erlangen und Bonn. Er lehrte Biblische Theologie an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit Dresden (1994-1998) und am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn (1998-2022). Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Jesusvorstellungen der Neuzeit, Rezeptionsgeschichte der Bibel, Bibelübersetzung DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 10 Martin Leutzsch In diesem Diskurs tauchen seit Anfang des 19. Jahrhunderts Frauen als kulturelles Argument auf. Die Debatte um das Verhältnis von Christentum und Sklaverei hatte schon vorher begonnen. Später kommen die Fragen hinzu, wie kinderfreundlich, schwarzenfreundlich, behindertenfreundlich - oder, jeweils, -feindlich - das Christentum sei. Die Christentumsapologetik behauptete, dass die Benachteiligung dieser Gruppen im Christentum aufgehoben werde oder dass die benachteiligten Gruppen im Christentum am besten aufgehoben seien. Die Christentumskritik bestritt das. Sie arbeitete dabei oft mit dem Verfahren des historischen Vergleichs und griff dabei auf vorchristliche Kulturen zurück, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts als neue Leitkulturen aufgebaut wurden, in Konkurrenz zum problematisierten Christentum, etwa das antike Griechenland oder die Germanen. Wo der Umgang einer Religion mit Frauen als kulturelles Argument verwendet wurde, lautete die These der Kritiker*innen, dass das Christentum die Freiheit z. B. der griechischen Frau oder das Ansehen der Germanin radikal eingeschränkt und ihre Unterdrückung produziert habe. Diesem Niedergangsmodell stellte die Christentumsapologetik ein Fortschrittsmodell gegenüber. Einig waren sich beide Gruppen darin, dass das Judentum für die Benachteiligung sozialer Gruppen in hohem Maß verantwortlich gemacht werden könne - eine Facette des kulturellen Antisemitismus, die jüdische Gegenreaktionen hervorrief. 3 3 Beispiele: Das Christentum sei mit Frauen besser umgegangen als die Germanen: Philipp Veit laut Martin Spahn, Philipp Veit (Künstler-Monographien 51), Bielefeld / Leipzig 1901, 74. Das Christentum sei mit Frauen schlechter umgegangen als die Germanen: Georg F. Daumer, Pan und Madonna. Ausgewählte Schriften (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 210), Bonn 1988, 67-69 (Erstpublikation 1847). Das Christentum sei mit Frauen besser umgegangen als die Griechen: Anonyme Glosse in Eduard Duller (Hg.), Phönix. Frühlingszeitung für Deutschland 1835. Zweites Halbjahr (1. Juli bis 31. Dezember), Frankfurt 1835, 1147. Das Christentum sei mit Frauen schlechter umgegangen als die Griechen: Ludwig Heydemann (laut Berlinische Nachrichten, 13. Februar 1843, vgl. Cécile Lowenthal-Hensel / Lucius Grisebach / Horst Ludwig, Preußische Bildnisse des 19. Jahrhunderts. Zeichnungen von Wilhelm Hensel, Berlin 1981, 129). Im Christentum hätten Frauen es besser als im antiken Israel und im Judentum: Luigi Chiarini, Théorie du Judaïsme, appliquée à la reforme des Israélites de tous les pays de l’Europe, et servant en mème temps d’ouvrage préparatoire a la version du Thalmud de Babylone, Bd. 1, Paris 1830, 178; Franz Delitzsch, Christentum und jüdische Presse. Selbsterlebtes, Erlangen 1882, 30; Belege für die USA bei Jonathan D. Sarna, The Debate over Mixed Seating in the American Synagogue, in: Jack Wertheimer (Hg.), The American Synagogue. A Sanctuary Transformed, Cambridge u. a. 1987, 363-394, hier 369. Das Judentum gehe mit Frauen nicht schlechter um als das Christentum: Grace Aguilar, The Women of Israel, Bd. 1, New York 1851 (zuerst London 1845), 8 f.; dies., The Women of Israel; or, Characters and Sketches from the Holy Scriptures, and Jewish History, illustrative of the past history, present duties, and future destiny of the Hebrew females, as based on the Word of God, Bd. 2, London 1845, 421-423. Eine postchristliche projüdische Dekonstruktion christlicher Überlegenheitsrhetorik bietet Nahida Remy, Das jüdische DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments 11 Parallel zu diesen Debatten wurde auch der Umgang des Christentums mit Männern zum Problem. Männer waren zwar nicht als benachteiligte soziale Gruppe zu klassifizieren. Doch behaupteten humanistische und aufklärerische Christentumskritiker, das Christentum habe Männer darin behindert, ihr gesellschaftlich gebrauchtes Potenzial zu entfalten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beklagten christliche Publizisten, das Christentum sei zu einer Religion geworden, in der Frauen im Mittelpunkt stünden und für Männer kein spiritueller Ort sei, wenn nicht die Feminisierung der Religion gebremst und Männer stärker in den Mittelpunkt gestellt würden. 4 Solche Thesen wurden pro und contra oft pauschal vorgetragen und in aller Regel ohne aufwendige Belege und Begründungen. In vielen Fällen machten sie sich aber auch an einer Figur der christlichen Bibel fest. In der Intellektuellenkultur der westlichen Moderne trat die traditionelle Zuschreibung der Gottessohnschaft an Jesus zurück. Stattdessen wurde und wird er als Mensch idealisiert (oder kritisiert) und als Vorbild für gegenwärtiges Handeln empfohlen (oder in Frage gestellt). Dieser Jesus der Moderne, auf den kulturelle Bedürfnisse jeder Art projiziert werden, ist Reformator oder Revolutionär, er wird vom König zum Proletarier, er ist Philosoph, der erste oder beste Kommunist, Sozialist, Anarchist, Vegetarier, Antisemit, Arier, Esoteriker usw. - oder er ist es nicht und dann für die kulturellen Projekte der Moderne ebenso untauglich wie die Religion, die sich auf ihn bezieht. Dies gilt auch für Genderthemen: Jesus der Frauenfreund oder Frauenbefreier gehört ebenso zu diesen Jesuskonstruktionen Weib, Leipzig 1891 (dazu Maria Japs, Nahida Lazarus-Remy und „Das jüdische Weib,“ Diss. Paderborn 2019). Zu deutschkatholischen Konstruktionen einer Überlegenheit des Christentums mit der Stellung der Frauen als Argument und zu jüdischen Entgegnungen vgl. Dagmar Herzog, Intimacy and Exclusion. Religious Politics in Pre-Revolutionary Baden, Princeton 1996, 98-101. Erforscht sind Ausschnitte der Rezeption und Transformation von Bachofens Matriarchats- und Patriarchatsthesen, vgl. Helga Laugsch, Der Matriarchats-Diskurs (in) der Zweiten Deutschen Frauenbewegung. Die (Wider)Rede von der ‚anderen‘ Gesellschaft und vom ‚anderen‘ Geschlecht. Genese, Gesichte, Grundlagen, Positionen, Probleme, Implikationen, Ideologien, München 1995; Georg Dörr, Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule (Epistemata 588), Würzburg 2007; Cynthia Eller, Gentlemen and Amazons. The Myth of Matriarchal Prehistory, 1861-1900, Berkeley / Los Angeles / London 2011; Meret Fehlmann, Die Rede vom Matriarchat. Zur Gebrauchsgeschichte eines Arguments, Zürich 2011. 4 Vgl. Martin Leutzsch, „Jesus der Mann“ im Prozess der Differenzierung und Transformation der Männlichkeitsideale 1863-1945, in: August H. Leugers-Scherzberg / Lucia Scherzberg (Hg.), Genderaspekte in der Aufarbeitung der Vergangenheit (t.g.B 8), Saarbrücken 2014, 33-54; ders., Männlichkeiten im entstehenden Christentum. Probleme ihrer Erforschung, in: Laura-Christin Krannich / Hanna Reichel / Dirk Evers (Hg.), Menschenbilder und Gottesbilder. Geschlecht in theologischer Reflexion, Leipzig 2019, 111-136. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 12 Martin Leutzsch der Moderne wie Jesus der Mann oder der neue Mann - und die Gegenteile wie der weltfremde, lebensuntaugliche, unmännliche Jesus Friedrich Nietzsches. An diesen Diskursen waren überwiegend Laien und Laiinnen beteiligt. Geistliche Männer meldeten sich hier selten zu Wort. Die Diskussionen um die Männertauglichkeit des Christentums scheinen bis in die 1970er Jahre nur unter Männern geführt worden zu sein. Debatte um Frauenordination Seit der sukzessiven Zulassung von Frauen zum Hochschulstudium seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gab es auch Frauen, die evangelische Theologie studierten. Einige schlossen das Studium mit einer Promotion ab. Für den Zugang zum Pfarramt war ein abgeschlossenes Theologiestudium notwendige Voraussetzung; Theologinnen war dieser Zugang zunächst verwehrt. Seit den 1920er Jahren - ich beschränke mich auf die deutsche Entwicklung - wurde zwischen evangelischen Geistlichen in der Kirchenleitung und in der Universitätstheologie und durch ein Theologiestudium qualifizierten Laiinnen diskutiert, ob Frauen auch pfarramtliche Funktionen ausüben können. Im Pro und Contra um die Frauenordination spielten neutestamentliche Texte eine Rolle: Lehrverbote und Schweigegebote für Frauen und Texte, die eine Unterordnung von Frauen unter Männer thematisieren. Es ging um Fragen der Interpretation, Geltung und Gegenwartsrelevanz der entsprechenden Normen in einigen neutestamentlichen Texten. 5 Der Gang der deutschen Entwicklung zeigt, dass nach 1945 zunächst zögernd, dann verstärkt Frauenordination ermöglicht und bis Mitte der 1970er Jahre auch die rechtliche Gleichstellung mit männlichen Amtsträgern durchgesetzt wurde. Die im Mittelpunkt der Debatte stehenden neutestamentlichen Bezugstexte wurden von den Entscheidungsgremien nicht mehr als Verunmöglichung dieser kirchenrechtlichen Neuregelungen verstanden. Themen, Problemstellungen, Verfahrensweisen und Diskurskonstellationen aus den hier skizzierten Debatten begegnen in der feministischen Exegese seit den 1960er Jahren und den daran anschließenden Entwicklungen zum Teil wieder. Für künftige Forschungen tun sich hier mehrere Forschungsfelder auf: (1) Bibelbezug und Bibelinterpretation in der Querelle des Femmes sind bislang nicht ansatzweise auf einer breiten Quellenbasis systematisch untersucht. Eine 5 Vgl. Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen 1994; Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen, „Darum wagt es, Schwestern …“ Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland (HTSt 7), Neukirchen-Vluyn 1994; Dagmar Herbrecht / Ilse Härter / Hannelore Erhart (Hg.), Der Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche. Quellentexte zu ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg, Neukirchen-Vluyn 1997; Dagmar Herbrecht, Emanzipation oder Anpassung. Argumentationswege der Theologinnen im Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche, Neukirchen-Vluyn 2000, 75-142. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments 13 solche Untersuchung würde zugleich einen Beitrag zu der schon weit fortgeschrittenen Erforschung der seit der Spätantike belegbaren Bibelauslegung von Frauen leisten. (2) Die Debatten um die behaupteten oder bestrittenen Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen und Männern im Christentum sind angesichts der umfangreichen und komplexen Quellenlage, der bislang nur teilweise untersuchten Geschichtsnarrative und Leitkulturkonstruktionen am besten interdisziplinär zu erforschen. (3) Die Rolle der Bibel in den Debatten um die Frauenordination könnte, was die deutsche Entwicklung angeht, zeitgeschichtlich mit den Rekursen auf die Bibel in theologischen Debatten um die Reform des Familienrechts in den 1950er Jahren korreliert werden und in den größeren internationalen Zusammenhang analoger Debatten in anderen evangelischen Kirchen, in den anglikanischen Kirchen, im Altkatholizismus und im Spektrum der Freikirchen gestellt werden. 2 Zur feministischen Exegese des Neuen Testaments Im Kontext der zweiten Frauenbewegung organisierten sich seit den frühen 1970er Jahren kirchliche Frauenbewegungen, deren Ziel (neben dem der Gesellschaftsreform) vor allem eine Kirchenreform war, die gleiche Teilhabemöglichkeiten einschließlich der Teilhabe an Leitungspositionen für Frauen bieten würde. In diesem Zusammenhang wurden auch die herrschenden Theologien kritisch in Frage gestellt: die herrschende Marginalisierung von Frauen im Blickwinkel der biblischen und historischen Theologie und die Männer- und Männlichkeitszentriertheit systematisch-theologischer Topoi der Gotteslehre, Christologie, Anthropologie, Ekklesiologie und Eschatologie. Von Anfang an war christliche feministische Theologie ein ökumenisches und bald auch ein interreligiöses Projekt; beispielhaft zeigt sich das in der Entwicklung der European Society of Women in Theological Research (ESWTR). Die konfessionell unterschiedlichen Handlungsspielräume und Teilzielsetzungen der Beteiligten zeichneten sich in der Formierungsphase feministischer Theologie schnell ab: Evangelische Theologinnen konnten in vielen Kirchen zum Pfarramt ordiniert und den männlichen Pfarrern rechtlich gleichgestellt werden; das ebnete den Weg zu evangelischen Bischöfinnen. In den anglikanischen Kirchen kam dieser Prozess zögernder und mit erheblich größerem Widerstand in Gang, aber auch hier gibt es Priesterinnen und mittlerweile auch Bischöfinnen. Die altkatholische Kirche weiht seit den 1990er Jahren Priesterinnen und sieht die Möglichkeit einer Weihe zur Bischöfin vor. Die römisch-katholische Glaubenskongregation unterband solche Entwicklungen durch die Erklärung Inter insigniores (15. Oktober 1976), in der behauptet wird, dass Frauen deshalb DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 14 Martin Leutzsch zum Priesteramt nicht zugelassen werden könnten, weil Christus männlich gewesen sei und nur Männer die erforderliche Ähnlichkeit hätten, Christus im Gottesdienst zu repräsentieren. Im Rahmen der innerkatholischen Debatte um Inter insigniores erschien 1977 der Sammelband „Women Priests,“ in dem US-amerikanische katholische Theologinnen und Theologen versuchten, das Dokument der Glaubenskongregation zu problematisieren und einen Revisionsprozess anzustoßen. Der Band enthielt einen kurzen Aufsatz von Bernadette J. Brooten mit dem Titel „‚Junia … Outstanding among the Apostles‘ (Romans 16: 7).“ Brooten zeigt, wie im westlichen Christentum seit dem Spätmittelalter vereinzelt und in der Neuzeit verstärkt männliche Theologen daran zweifelten, dass der Apostel Paulus tatsächlich eine Kollegin gegrüßt haben könnte. Sie änderten daher den Text und wandelten den Frauennamen Iunia um in Iunias. In den griechischen Textausgaben des Neuen Testaments genügte für die Geschlechtsumwandlung die Verlagerung eines Akzents (von Iounían auf Iouni-n ). Nur: In der Antike ist ein Männername Iunias nicht belegt. Kein Wunder, dass die Theologen und kirchlichen Amtsträger der Antike und des Mittelalters davon ausgingen dass Paulus hier eine Apostelin grüßt. Brootens Aufsatz schließt mit den Worten: „In light of Romans 16: 7 then, the assertion that ‚Jesus did not entrust the apostolic charge to women‘ must be revised. The implications for women priests should be self-evident. If the first century Junia could be an apostle, it is hard to see how her twentieth century counterpart should not be allowed to become even a priest.“ 6 Dieses Argument und viele weitere vermochten die Leitungsinstanzen der römisch-katholischen Kirche nicht umzustimmen. Die innerkatholische Debatte verlagerte sich auf die Zulassung von Frauen zum Diakonat. Dass katholische feministische Theologinnen weder Diakonat noch priesterliches Amt ausüben dürfen, während ihre evangelischen, anglikanischen, altkatholischen Kolleginnen in ihren jeweiligen Kirchen als Pfarrerinnen, Priesterinnen oder Bischöfinnen fungieren können - diese Differenz hat sich bis heute nicht verändert. Immerhin können katholische Hochschultheologinnen heute männliche Pries- 6 Bernadette J. Brooten, „Junia … Outstanding among the Apostles“ (Romans 16: 7), in: Leonard Swidler / Arlene Swidler (Hg.), Women Priests. A Catholic Commentary on the Vatican Declaration, New York 1977, 141-144, 143. Rolle und Einfluss der Bibelübersetzungen bei der Geschlechtsumwandlung Iunias bedürfen noch gründlicher Erforschung. Martin Luther las in Erasmus’ Ausgabe des griechischen Texts in Röm 16,7 einen Frauennamen, schrieb in seine Übersetzung aber einen Männernamen. Die kirchenamtliche Revision der Lutherbibel von 1984 deutet in einer Fußnote zaghaft an, dass im griechischen Text möglicherweise auch von einer Frau die Rede sei. Erst die folgende Revision von 2016 korrigiert Luthers Geschlechtsumwandlung. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments 15 teramtskandidaten lehren und prüfen. Das Lehrverbot 1Tim 2,12 wird nicht eingesetzt, um dies zu verbieten. An Iunias Wiederentdeckung zeigen sich einige grundlegende Probleme, die bei der historischen Rekonstruktion der Lebenswirklichkeit von Frauen zur Abfassungszeit der neutestamentlichen Texte zu bedenken sind: (1) Die Identifizierbarkeit von Frauen als Frauen in (Bibel-)Handschriften, späteren Quellen und wissenschaftlichen Editionen: Iunia ist nicht der einzige Frauenname des Neuen Testaments, dem eine Geschlechtsumwandlung widerfuhr. Salome (Mk 15,40; 16,1), Prisca (Röm 16,3f. u. ö.), Apphia (Phlm 2) wurden gelegentlich ebenfalls als Männernamen verstanden und an solche angeglichen (Priskas, Iulias, Aphias). Erwin Nestle vollzog die Umwandlung des Frauennamens Iunia in einen Pseudo-Männernamen 1928 in der 9. Auflage des von seinem Vater Eberhard begründeten Novum Testamentum graece . Brootens Intervention stieß weder in der 26. Auflage (1979) noch in der 27. (1993) auf Widerhall. Erst die 28. Auflage 2012 hat das korrigiert. Die textuelle Rehabilitierung Iunias in Textausgaben und Bibelübersetzungen ist ein politischer Erfolg. Neutestamentliche Spezialwörterbücher, Grammatiken und Konkordanzen und Bibelübersetzungen weltweit, die nicht auf der 28. Auflage des Novum Testamentum graece basieren, transportieren „Iunias“ weiter. (2) Die Wahrnehmung der Führungsrollen von Frauen: Frauen, denen in antiken Texten Führungsrollen zugeschrieben werden, sind in androzentrischen Hermeneutiken der Moderne nicht selten diese Führungsrollen abgesprochen worden. Es handle sich um reine Ehrentitel ohne tatsächliche Machtausübung oder um den Transfer einer Funktionsbezeichnung, die dem (hypothetischen) Ehemann real zukomme, auf dessen Ehefrau. Hier hat die feministisch inspirierte Erforschung der hellenistischen und kaiserzeitlichen Antike und des antiken Judentums gezeigt, dass Frauen in politischen und religiösen Kontexten sehr wohl reale Führungsrollen, zum Teil in Spitzenpositionen (wie die Kandake Apg 8,27), ausüben konnten. Für das antike Christentum sind die biblischen und außerbiblischen Quellen zu Apostelinnen, Prophetinnen, Diakoninnen, theologischen Lehrerinnen, Presbyterinnen, Witwen, Bischöfinnen, Oikonominnen umfassend zusammengestellt und analysiert. 7 Das Sichtbarmachen von Frauen in Führungsrollen ist Teil eines größeren Projekts, die in neutestamentlichen Texten erwähnten Frauen generell in Erinnerung zu rufen, ihre Teilhabe an der Jesusbewegung und dem entstehenden Christentum und ihre Beiträge dazu zu dokumentieren. Das geht einher mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen, die die Möglichkeiten ausloten, aus dem 7 Vgl. Ute E. Eisen, Amtsträgerinnen im frühen Christentum. Epigraphische und literarische Studien (FKDG 61), Göttingen 1996. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 16 Martin Leutzsch Eigennamen und aus weiteren Angaben (Verfügung über ein Haus, Erwerbsarbeit, Zugang zu und Umgang mit Ressourcen) Rückschlüsse auf den sozialen Status und kulturelle Eingebundenheiten zu ziehen. Einen wichtigen Zwischenstand dieser prosopographischen Arbeit jüdischer und christlicher Wissenschaftler*innen bietet das Lexikon „Women in Scripture.“ 8 Von den fast 600 Seiten sind 130 den namentlich genannten Frauen gewidmet. Viele Figuren, die in biblischen Texten erwähnt werden, tragen keinen Namen. 430 Seiten sind den nicht namentlich benannten Frauen gewidmet. Auf weiteren 50 Seiten listet das Lexikon weibliche Gottheiten und Personifikationen. Die Literaturhinweise zu den einzelnen Einträgen dokumentieren die Intensität feministisch-exegetischer Forschung. „Women in Scripture“ berücksichtigt nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Gruppen von Frauen. Die Anzahl der Artikel hätte sich stark erhöht, wenn grammatisch maskuline Pluralformen sozialer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller und religiöser Rollen- und Gruppenbezeichnungen einbezogen worden wären - Bezeichnungen, bei denen gesichert oder wahrscheinlich ist, dass diese Rollen auch von Frauen übernommen wurden oder dass Frauen in diesen Gruppen präsent waren. Die Präsenz von Hirtinnen, Großhändlerinnen, Ärztinnen, Athletinnen, Steuereinnehmerinnen, Pharisäerinnen, Königinnen in den für die neutestamentlichen Texte relevanten Kulturen schiebt die Beweislast jenen zu, die poimenes , emporoi , iatroi , hoi en stadio trechontes , telonai , Pharisaioi , basileis als exklusiv auf Männer bezogen verstehen und übersetzen wollen. Dass es hier nicht selten bei Wahrscheinlichkeitsurteilen bleiben muss, stellt für gendersensible Bibelübersetzungen eine Herausforderung dar. Wie sind die neutestamentlichen Befunde zu Präsenz und Abwesenheit, Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen von Frauen in den Texten und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, auf die sich diese Texte beziehen, in Rekonstruktionen der geschichtlichen Entwicklung einzubetten? In der Anfangszeit der Forschung gängige Narrative sind von der feministischen Geschichtswissenschaft und der feministischen Theologie bald problematisiert worden. Dies gilt für Konstruktionen von Frauengeschichte als Opfergeschichte oder als Auflistung von prominenten Inhaberinnen von Spitzenpositionen - zwei Konstruktionen, die oft komplementär auftreten (Opfer als Regel, Prominenz als Ausnahme). Abgesehen davon, dass die wenigen Texte, die für die ersten Generationen der Jesusbewegung als Quellen nutzbar sind, als Belege für einfache, einlinige, generalisierende Geschichtsnarrative jeder Art unzureichend 8 Vgl. Carol Meyers / Toni Craven / Ross S. Kraemer (Hg.), Women in Scripture. A Dictionary of Named and Unnamed Women in the Hebrew Bible, the Apocryphal / Deuterocanonical Books, and the New Testament, Grand Rapids / Cambridge 2000. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments 17 sind, werden Machtgefälle und höchst unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen innerhalb der qua Geschlecht homogenisierten Gruppe ausgeblendet. Auf der Ebene der Forscherinnen ist das Machtproblem durch die womanistische Kritik an weißen eurozentrischen Feminismen zum Vorschein gebracht worden. 9 Neben dem Opfer- und dem Prominentennarrativ bieten auch das Niedergangs- und das Fortschrittsnarrativ Probleme. Niedergangsnarrative setzen eine Anfangsphase als Norm, der gegenüber Weiterentwicklungen einschließlich der schlechten Gegenwart als Abfall gewertet werden; Reform wird als Rückkehr zum Anfang verstanden. Was aber, wenn eine gendergerechte discipleship of equals nicht klar nachweisbar ist? Das Fortschrittsnarrativ behauptet, dass das entstehende Christentum (trotz aller Einschränkungen, Fehl- und Rückentwicklungen) gegenüber dem Judentum und den paganen Kulturen und Religionen die gendergerechtere Religion sei. Solche christentumsapologetische Fortschrittsnarrative gehen so gut wie immer zu Lasten des Judentums, dem das Gegenteil dessen, was im Christentum erreicht worden sei, oder das Defiziente, Vorstufenhafte, Partikulare zugeschrieben wird. Entsprechende feministischtheologische Geschichtsnarrative sind dank der Intervention jüdischer Theologinnen und der Bereitschaft christlicher Theologinnen zur Selbstkritik in einer frühen Phase problematisiert worden. Gegenüber den paganen Religionen der Antike, die über eine Lobby nicht verfügen, sind christliche Fortschrittsnarrative nicht grundsätzlich überprüft worden. Insgesamt hat die feministische Exegese, nicht zuletzt dank des hohen Vernetzungsgrads der Forschenden, innerhalb kurzer Zeit neben dem bereits erwähnten Lexikon weitere wichtige Forschungsprodukte hervorgebracht: Zu den Evangelien und der Apg, zum Corpus Paulinum, zu 1Petr und Apk existieren monographische Untersuchungen. Es gibt Kompendien, die das NT komplett, oft als Teil der ganzen christlichen Bibel(n) und mit Überschreitung traditioneller Kanongrenzen, feministischen Lektüren unterziehen (The Women’s Bible Commentary; Searching the Scriptures; Kompendium Feministische Bibelauslegung), vielbändige Reihen wie die „Feminist Companions“ zu einzelnen biblischen Büchern oder die die Auslegungsgeschichte systematisch einbeziehende Enzyklopädie „Die Bibel und die Frauen“) und Hermeneutiken, Forschungs- 9 Bei womanistischen Bibellektüren liegt der Schwerpunkt auf Texten der jüdischen Bibel; doch vgl. Renita J. Weems, Just a Sister Away. A Womanist Vision of Women’s Relationships in the Bible, San Diego 1988, 39-50 (zu Lk 10,38-42) und 113-126 (zu Lk 1f.). Vgl. jetzt auch Shanell T. Smith, „She did That! “ Female Agency in New Testament Texts - A Womanist Response, in: Dunning (Hg.), New Testament, Gender, and Sexuality, 157-175. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 18 Martin Leutzsch berichte und Projekte inklusiver Bibelübersetzung einschließlich deren wissenschaftlicher Diskussion. 10 3 Gender Studies und die Erforschung von Sexualitäten Die feministische Forschung zu Frauen in der Jesusbewegung und zur Repräsentation von Frauen in neutestamentlichen Texten erkannte bald, dass für die Rekonstruktion historischer Wirklichkeit und für die Diskursanalyse der Quellentexte der Forschungsgegenstand auf Männer und Männlichkeiten ausgeweitet werden müsse. Wesentliche Impulse für die Untersuchung von Geschlechterverhältnissen und Genderordnungen in den Texten des NT gingen daher von feministischen Exegetinnen aus. Werden diese Texte als Positionierungen in Verhandlungen von Sex und Gender verstanden, stellt sich die Genderfrage auch auf der Ebene der Textproduktion. Mindestens für Mk, Lk, Joh, Apg, Hebr, 1Joh, Apk rechnen einzelne Exegeten und Exegetinnen mit der Möglichkeit, dass diese Texte von Autorinnen stammen könnten. Die methodologischen Probleme der Erschließbarkeit des Gender der Autor*innen anonymer und pseudonymer biblischer (und anderer) Texte und der Beziehungen von Gender und Genre bedürfen einer umfassenderen Aufarbeitung, die vorgetragenen Hypothesen einer gründlicheren Überprüfung, als dies bislang in wenigen wichtigen Aufsätzen möglich war. Auch die Frage, wie damit umzugehen ist, dass vermutlich bei den meisten Texten hier keine genügend große Wahrscheinlichkeit, geschweige denn Eindeutigkeit zu erreichen ist, hängt damit zusammen. Auf der Ebene der Erstrezeption wäre es lohnend, jedes neutestamentliche Buch systematisch daraufhin zu untersuchen, welche Botschaften es jeweils für Frauen, Männer und andere Formen von Gender enthält. (Z. B.: Was bedeutet 1Kor 6,12-20 für die Männer der korinthischen Gemeinde, was für Frauen? ) Zur Frage von Status, Rollen und Beziehungen zwischen Frauen und Männern gibt es zu einigen Textkomplexen Monographien. Forschungsprodukte und -projekte, die sich in Kommentarreihen, Lexika, Hermeneutiken niederschlagen, existieren bisher noch nicht. Das hängt auch mit dem Stand der neutestamentlichen Masculinity Studies zusammen: Sie haben sich bislang stärker an der Analyse der Diskurse als an der Rekonstruktion männlicher Lebenswirklichkeiten abgearbeitet. Das könnte mit einem selten eingestandenen Faktor zusammenhängen, der sich hier als Problematik erweist: Als Mann bin ich bei solchen Forschungen in einer grundsätzlich anderen Position als diejenigen, die qua Geschlecht bestimmte Teilhabemöglichkeiten und Gestaltungsmöglich- 10 Vgl. Hanne Köhler, Gerechte Sprache als Kriterium von Bibelübersetzungen. Von der Entstehung des Begriffes bis zur gegenwärtigen Praxis, Gütersloh 2012. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments 19 keiten erst erkämpfen müssen. Am Mannsein festgemachte strukturelle Privilegierungen selbstkritisch zu reflektieren, bietet womöglich weniger positive Identifikationsmöglichkeiten mit dem Forschungsgegenstand. Die mögliche Einsicht, selbst an hegemonialer Männlichkeit beteiligt zu sein, wird durch die Fokussierung auf alternative oder transgressive Männlichkeiten oder auf Zusammenhänge, in denen Männer als Opfer erscheinen, an den Rand gedrängt. Jedenfalls scheinen die Lebenswirklichkeiten, insbesondere das Alltagsleben der in der Jesusbewegung und sonst im Neuen Testament begegnenden Männer als Männer bislang noch weitgehend unerforscht zu sein. Dies gilt auch für die Männer - zumindest jenseits der Eliten - der für das Neue Testament relevanten Kulturen und Gesellschaften. Mit den Gender Studies mehr oder weniger direkt verknüpft sind exegetische Forschungen zu Sexualitäten in der Bibel, parallel zu entsprechenden Forschungen in den Altertumswissenschaften. Solche Studien verdanken sich der gesamtgesellschaftlichen Enttabuisierung des Themas Sexualität seit Ende der 1960er Jahre. Sie erhielten wichtige Impulse durch die sich organisierenden Schwulen- und Lesbenbewegungen und die daraus hervorgehenden historischen Forschungen zur Geschichte der Homosexualitäten. Die schnell einsetzende Kontroverse, ob und inwieweit das moderne Konzept „Homosexualität“ geeignet ist, gleichgeschlechtliche Handlungen, Beziehungen, Orientierungen in vormodernen Gesellschaften angemessen zu erfassen, ist ein Beispiel für die emic-etic -Problematik, die grundsätzliche kulturwissenschaftliche Frage nach dem Verhältnis von Teilnehmer*innen- und Beobachter*innenstandpunkt. Dass gleichgeschlechtliche Erotik in der Antike nicht nur eine Angelegenheit zwischen Männern war - die Forschung dazu ist umfangreich -, sondern auch von Frauen, hat Bernadette Brootens Monographie eindrucksvoll sichtbar gemacht. 11 Die politische Dimension exegetischer Erforschung von Sexualitäten in der Bibel zeigt sich daran, dass es hier auch um die Legitimität oder Illegitimität des Rekurses auf wenige Sätze des Corpus Paulinum in homosexualitätsfeindlichen christlichen Diskursen geht. Welch hohen öffentlichen gesamtgesellschaftlichen Stellenwert Sexualität hat, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Jesus der letzten fünfzig Jahre außerhalb und innerhalb der Exegese wahlweise als heterosexuell, homosexuell, bisexuell orientiert konstruiert wird und ihm sexuelle Aktivität innerhalb und außerhalb einer heterosexuellen Ehe zu- oder abgesprochen wird. 11 Vgl. Bernadette J. Brooten, Love between Women. Early Christian Responses to Female Homoeroticism, Chicago / London 1996. Zu Sexualitäten in der Bibel und im antiken Judentum und deren Erforschung vgl. die zahlreichen Monographien von William Loader. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 20 Martin Leutzsch 4 Ein imaginiertes Lexikon Die Bandbreiten von Gender werden durch eine binäre Differenzierung nicht angemessen abgebildet. Wenn es ein - für die Weiterentwicklung der neutestamentlichen Männlichkeitsstudien unerlässliches - Lexikon zu namentlich genannten und anonymen Männern im Neuen Testament bereits gäbe, würde ein solches Lexikon in Verbindung mit dem bereits existierenden Referenzwerk „Women in Scripture“ keineswegs alle im Neuen Testament erwähnten Einzelwesen und Gruppen erfassen. Das Problem des generischen Maskulinplurals ist bereits oben angesprochen worden. Ist zugestanden, dass dieser Plural Frauen einschließen kann, ist damit noch nicht gesagt, dass dies automatisch und bei jeder Verwendung gilt. Hier ist eine das ganze NT umfassende minutiöse Einzelfallprüfung nötig. 12 Neben die Kategorien „Frauen“ und „Männer“ würde dabei die Kategorie „mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit sowohl Männern als auch Frauen zuzuordnen“ treten. Damit wäre ein solches Lexikon aber noch keineswegs komplett. Was ist mit Kollektivbezeichnungen wie „das ganze Judaea“ (Mk 1,5) oder die „Volksmenge(n)“ ( ochlos / ochloi )? Bilden diese Termini eine weitere Kategorie, nämlich „eindeutig gemischtgeschlechtliche Gruppen“? 13 Und was ist mit den anonymen Erzählfiguren, die als anthropos bezeichnet werden (z. B. Mk 3,1.5 14 ; 4,26; Mt 13,44; Lk 11,24)? Sie sind der Kategorie „Figuren, bei denen Gendereindeutigkeit nicht gegeben ist“ zuzuordnen. Die Komplexität der Sachlage ist mit diesen Differenzierungen nicht erschöpft. Auch ein Lexem, das von den Wörterbüchern als eindeutig gegendert verstanden wird, kann bei genauerer Betrachtung Gender-Irritation hervorrufen: Apg 17,34 erzählt, dass zu den Männern ( andres ), die sich im Anschluss an die Areopagrede Paulus anschlossen und zum Glauben kamen, Dionysios der Areopagite und eine Frau ( gynē ) namens Damaris und andere ( heteroi , maskuliner Plural) mit ihnen gehörten. Wird die Frau damit unter die Männer subsumiert? (Ist das eine Abwertung? ) Wird sie zum Mann? (Ist das eine Aufwertung? ) Oder müssen die andres als „(nicht exklusiv) Männer“ verstanden werden? Eine Entscheidung dieser Fragen ist für die Genderanalyse des luka- 12 Beispiel: Zu Mt 1f. wäre zu fragen, ob in 1,4 Judas Brüder oder seine Geschwister (inklusive Dina) gemeint sind; ob die magoi 2,1.7.16 exklusiv Männer bezeichnen oder nicht; ob die Schriftgelehrten 2,5 Frauen einschließen können (weil es Belege für torahgelehrte Frauen im antiken Judentum gibt) oder nicht (weil die Bezeichnung „Schriftexpertinnen“ für solche Frauen bislang nicht belegt zu sein scheint); ob die paides 2,16 exklusiv männliche Säuglinge und Kleinkinder oder männliche und weibliche bezeichnen. 13 Nicht immer ist die Evidenz so klar wie in Lk 11,14-36, wo die ochloi (11,14.29) teils geschlechtsneutral ( tines V. 15), teils grammatikalisch maskulin ( heteroi … peirazontes V. 16) differenziert werden und eine Frau aus dem ochlos eigens hervorgehoben wird (V. 27). 14 Die Parallele Lk 6,6-11 beginnt mit anthropos (V. 6), um dann zu anēr zu wechseln (V. 8). DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments 21 nischen Doppelwerks von großer Tragweite, zumal das Lexem anēr dort mehr als einhundertmal vorkommt. Wenn Übersetzung „Vollendung der Auslegung ist“ (Hans-Georg Gadamer), wäre dann der Hinweis in einer Fußnote sinnvoll: „Wenn Sie beim Lesen dieses Verses verunsichert sein sollten, liegt dies am Ausgangstext“? Oder würde Apg 17,34 dazu ausreichen, nicht nur die Anrede der Areopagrede ( andres Athenaioi Apg 17,22) mit „Leute von Athen“ oder „Männer und Frauen Athens“ wiederzugeben, sondern auch die anderen mit andres beginnenden Adressen der Reden in der Apg (1,16; 2,14 u. ö.)? Das Lexikon „Women in Scripture“ hatte weibliche Gottheiten und Personifikationen einbezogen. Das hier als Weiterführung imaginierte Lexikon „Gender in Scriptures“ 15 würde sich auch mit der komplexen Frage zu beschäftigen haben, ob die im Neuen Testament zentrale Gottheit selbst oder nur die Rede von ihr (teilweise) gegendert ist. 16 Für das himmlische Personal, das zum Teil mit einem Botschaftsauftrag Menschen erscheint, bieten weder das Neue Testament selbst noch dessen unmittelbar relevante Umweltkulturen eindeutige Anhaltspunkte dafür, ob diese himmlischen Wesen ungegendert oder gegendert, androgyn oder genderhybrid vorzustellen sind, ob sie für die Begegnung mit Menschen ein bestimmtes Gender annehmen (und, falls ja, ob damit auch die Fähigkeit zu sexueller Betätigung verbunden sein kann [1Kor 11,9? ]). 17 Auch ist unklar, ob hier generelle Aussagen möglich sind oder nach bestimmten Gruppen und Funktionen himmlischer Wesen zu differenzieren wäre. 18 Analoge Fragen stellen sich für die unsichtbaren Mächte, die, teils einzeln, teils als Kollektiv auftretend, als daimon , daimonion , pneuma bezeichnet werden. Und wo wäre in einem solchen Lexikon das pneuma hagion einzuordnen? Vom grammatischen Geschlecht her läge die Zuordnung einer eigenen Kategorie Neutrum nahe. Traditionsgeschichtliche Erwägungen, die pneuma als Übersetzung des bibelhebräischen, grammatisch ganz überwiegend femininen Substantivs ruach verstehen, böten auch die Möglichkeit, eine Einordnung in dem von „Women in Scripture“ abgedeckten Bereich vorzunehmen (was jenes Lexikon nicht tut). Eine umfassende Wahrnehmung der neutestamentlichen Genderdimensionen wäre aber noch nicht abgeschlossen, wenn neben der menschlichen Sphäre 15 Der Plural ist vorzuziehen, weil Umfang und Struktur von „Bibel“ je nach Religion, Konfession und deren geschichtlichen Entwicklungen variiert. 16 Das Substantiv theos kann mit dem bestimmten Artikel als männliche (so im NT) oder weibliche Gottheit charakterisiert werden. Neben gegenderten Metaphern für diese Gottheit gibt es auch nicht gegenderte Redeweisen (Abstrakta: arche , telos ; Buchstaben: to alpha, to ō ). 17 Zeitlich spätere Quellenbereiche wie gnostizistische, neuplatonische und rabbinische Texte bieten Belege für männliche, weibliche und androgyne Engel. 18 Sind thronoi , kyriotētes , archai , exousiai (Kol 1,16), dynameis (Eph 1,21) über das grammatische Geschlecht hinaus gegendert vorzustellen? DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 22 Martin Leutzsch auch die Welt himmlischer und die weiterer unsichtbarer Mächte berücksichtigt würde. Die Genderfrage stellt sich auch für Tiere. Wie wichtig sie ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Manche Opfervorschriften der Torah und anderer antiker Religionen legen neben anderen Qualifikationsmerkmalen eines Opfertiers auch dessen Geschlecht eindeutig fest (ebenso wie das der Person, die das Opfer vollzieht), andere tun dies nicht. Ist das Geschlecht der Tauben in Lk 2,22 irrelevant? Ist es das der metaphorischen Taube in den Erzählungen von Jesu Taufe? Spielt das Geschlecht des onarion ( Joh 12,14) oder des pōlos (Mk 11,1-9; Lk 19,29-40), auf dem Jesus beim Einzug in Jerusalem sitzt, eine Rolle? Spielt Gender eine andere Rolle, wenn der pōlos in Mt 21,1-9 durch das Prophetenzitat V. 5 als männliches Tier vereindeutigt und zusammen mit seiner Mutter ( onos fem.) als gemischtgeschlechtliche Reittierkonfiguration von Jesus geritten wird (V. 7)? Wie wichtig oder unwichtig sind Genderaspekte in den auf Jesus bezogenen Schafmetaphern amnos und arnion ? Und welche Rolle spielt Gender bei mythischen Monstern wie dem kētos, das Jona verschlang (Mt 12,40), 19 dem großen drakōn und der alten ophis , die in Apk 12,9 mit diabolos und satanas identifiziert werden? 5 Queere Lesarten Mit solchen Überlegungen, die ein binäres Genderkonzept als unzureichend zur Erfassung der Wirklichkeit erweisen, sind wir längst im Bereich dessen angelangt, was in den letzten fünfundzwanzig Jahren in der Exegese als queer , queere Lektüre und queering mit Hilfe von queer theories neue Impulse zu setzen beginnt. Queer konnte und kann in diesem Kontext Verschiedenes bedeuten: zunächst manchmal ein Synonym für schwul (oder schwul und lesbisch ), wurde es zunehmend erweitert, um Personengruppen einbeziehen zu können, die durch ein binäres Geschlechterkonzept nicht erfasst werden können und durch Ordnungsvorstellungen, die mit Heterosexualität als Norm oder allgemeiner mit Heteronormativität operieren, als deviant und defizitär stigmatisiert werden: Bisexualität, Transsexualität / Transgender, Intersexualität, Asexualität sind in den Queer Theories zunehmend konzeptuell wahrgenommen worden. Queer kann auch als negativ definiertes Gegenkonzept zu exkludierenden Genderideologien, Genderdiskursen, Gendernormierungen gebraucht werden, als Antithese zu den Normalismen, als Synonym für das, was solche Ideolo- 19 Die Septuaginta gibt das Maskulinum dag ( Jona 2,1.11) und das Femininum dagah ( Jona 2,2) unterschiedslos mit ketos wieder (der mittelalterliche Midrasch Jona lässt Jona von einem männlichen Fisch verschlungen werden, der nach Gottes Geheiß Jona wieder freigibt, damit er von einem weiblichen Fisch verschlungen werden kann). DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments 23 gien und Ordnungen überschreitet. Wie die zunehmend erweiterte Abkürzung LGBT+I+Q+A … ist auch die Anwendung von Queer Theories in der Bibelexegese eine explizit politische Angelegenheit: Es geht um das Sichtbarmachen derer, die mittels eines binären Genderkonzepts und alternativloser Ordnungsvorstellungen ausgegrenzt werden. Ziel ist auch, den Rekurs auf die Bibel als Ausgrenzungsinstrument zu dekonstruieren. Der bereits 2006 erschienene „Queer Bible Commentary“ 20 macht in seiner Einleitung deutlich, dass es um „Disarming Biblically Based Gay-Bashing“ 21 geht. Eine offene Frage ist, ob und wie die Wahrnehmung oder Konstruktion eines Phänomens als queer durch die Erstadressat*innen neutestamentlicher Texte plausibel zu machen ist und, falls ja, mit der heutiger Lesender vergleichbar ist. 22 Es wäre auch vorschnell, antiken Gesellschaften zu unterstellen, sie würden nur ein binäres Gendermodell kennen. 23 Der in biblischen Texten begegnende eunouchos bezeichnet einen bestimmten sexuellen Status von Männern, die seit Geburt oder durch Unfall, durch Fremdeinwirkung oder eigenen Eingriff zeugungsunfähig sind. Je nach der angewandten Genderordnung kann der eunouchos als mannweiblich, als weder männlich noch weiblich, als verweiblichter (Nichtmehr-)Mann oder als eigenständiges Gender verstanden werden. Die durch die feministische Bewegung inspirierten inklusiven Bibelübersetzungen gingen noch von einem binären Geschlechterkonzept aus. Die durch die queer studies ermöglichten neuen Einsichten stellen neue Herausforderungen für gendersensible Bibelübersetzungen dar. 6 Die Jesusfalle und das Paulusproblem Die oben angesprochene, inhaltlich flexible Idealisierung Jesu als Signatur des Christentums der Moderne hat auch (mindestens) in den ersten Phasen feministischer Exegese und exegetischer Masculinity Studies eine große Rolle gespielt. Ob Jesus als Feminist oder als erster neuer Mann benötigt wurde - immer ging 20 Vgl. Deryn Guest u. a. (Hg.), The Queer Bible Commentary, London 2006. Die exegetische Erforschung des NT mit dem Konzept queer erschließt die Bibliographie Joseph A. Marchal, Appalling Bodies. Queer Figures Before and after Paul’s Letters, Oxford 2020, 273-299. 21 Vgl. Ronald E. Long, Introduction. Disarming Biblically Based Gay-Bashing, in: Guest u.a. (Hg.), The Queer Bible Commentary, 1-18. 22 Vgl. zu dieser Frage Lynn R. Huber, Interpreting as Queer or Interpreting Queerly? , in: Joseph A. Marchal (Hg.), Bodies on the Verge. Queering Pauline Epistles (SemeiaSt 93), Atlanta 2019, 311-321. 23 Vgl. Heinz-Jürgen Voß, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld 2010. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 24 Martin Leutzsch das mit der Ausklammerung entgegenstehender Aspekte in den Evangelien einher. Meist wurde Jesus dabei explizit oder implizit „dem“ Judentum gegenübergestellt und vorteilhaft davon abgehoben. Dabei wurde die alle Generalisierungen in Frage stellende Quellenlage ignoriert: Über Jesus bieten die Evangelien nur für das letzte Lebensjahr bzw. die letzten Lebensjahre Informationen. Über mehr als 99 % aller Juden und Jüdinnen zur Zeit Jesu wissen wir schlicht nichts. Generalisierende Angaben der zeitgenössischen Quellen sind bestenfalls Mutmaßungen, deren empirische Basis jeweils sorgfältig diskutiert werden muss. Die philosophische Metaethik hat die Ableitung von Normen aus Fakten als naturalistischen Fehlschluss problematisiert. Das gilt auch hier: Als ob die politischen Ziele von Gendergerechtigkeit und umfassender Teilhabe von der Herstellung einer als normativ gewerteten Gebrauchsvergangenheit (Gabriele Jancke) abhängig wären oder hinfällig würden, wenn sie sich nicht bei einem historischen Jesus finden ließen, dessen Rekonstruktionen sich leicht als idealisierende Projektionen der Rekonstruierenden dekonstruieren ließen. Wie die Idealisierung Jesu ist auch die Problematisierung des Paulus Erbe und Folgelast der Christentumskritik der Aufklärung. Die pauschale Zuschreibung alles dessen, was am Christentum als problematisch gilt, an Paulus und seine Konstruktion als Erfinder und Verursacher dieser Übel verdankt sich einem Geschichtsbild und einem Personkonzept, das Geschichte als Wirkung und Wirkungsfeld großer Männer versteht, mögen sie gut sein (wie Jesus) oder böse (wie Paulus). Auch hier wurde in frühen Phasen feministischer Exegese und neutestamentlicher Masculinity Studies das heute kulturell weit verbreitete Stereotyp von Paulus als dem (fragwürdigen) Erfinder des (fragwürdigen) Christentums übernommen. Eine umfassende Genderanalyse des Mannes Paulus steht noch aus, zu dessen kulturellen Kontexten u. a. die pagane judenfeindliche Publizistik gehörte, die beschnittene Juden als unmännlich oder kastriert verstand. Dass Geschlecht in unterschiedlichen multikulturellen Kontexten unterschiedlich performt wird und Genderpolitiken von den Akteur*innen jeweils kontextbezogen artikuliert und praktiziert werden, ist an keiner Figur des NT so gut analysierbar wie bei dem ständigen Migranten Paulus, dessen Aktionen wir punktuell aus seinen Briefen kennen und mit dem die Apg und die paulinischen Pseudepigraphen je eigene Genderpolitiken betreiben. 7 Gender und andere gesellschaftliche Positionen: der Intersektionalitätsansatz Das 1989 aus gegenwartsbezogenem Anlass entstandene Konzept Intersektionalität hilft, gesellschaftliche Mehrfachbenachteiligungen in den Blick zu nehmen DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001 Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments 25 - Benachteiligungen etwa aufgrund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht, einer bestimmten „Rasse“, einer bestimmten Klasse. Auch Alter, körperliche, seelische und geistige Verfassung, Staatsbürgerschaft und andere Merkmale können zu positiver und negativer Diskriminierung herangezogen werden. Das Konzept Gender wird dann davon entlastet, ein totales und ausschließliches Klassifikationsinstrument zu sein. Auch bei der Lektüre der Bibel ist Intersektionalität als Konzept hilfreich. 24 Wie verhält sich die Klassifikation des Eunuchen aus Äthiopien zu seiner gleichzeitigen Charakterisierung als Finanzminister der äthiopischen Königin (Apg 8,26-40)? In Apg 12,12-17 wird von der Jerusalemer Hausbesitzerin Maria erzählt, die ihr geräumiges Haus der versammelten Gemeinde zur Verfügung stellt. Maria wird über ihren Sohn definiert, als Mutter des Johannes Markos. Zu ihrem Haushalt gehört die Sklavin Rhode, die als Türhüterin fungiert. Welche Bedeutung hat Gender für Rhode, Johannes Markos und Maria im Verhältnis zum rechtlichen Status (frei vs. unfrei), zum ökonomischen Status (Hausbesitz vs. künftiger Hausbesitz vs. Besitzlosigkeit), zum Alter (Mutter - Sohn), zu Verwandtschaftsverhältnissen usw.? Die Erforschung von Genderaspekten in der Exegese ist eine durch und durch politische Angelegenheit, und zwar einschließlich ihrer zum Teil jahrhundertealten Vorgeschichte. Dies zu betonen bedeutet keineswegs das Projekt zu desavouieren. Jede Form von Exegese ist kontextuell und politisch, auch wenn dies von den Akteur*innen geleugnet werden mag. Selbstkritische Exegese legt die ihr bewussten politischen Optionen offen. Damit macht sie sich kritisierbar und kann Diskussionen mit aktuellem politischem Bezug anregen. Die Offenlegung dieser Optionen hat zugleich den Vorteil, dass sie nicht unbewusst in die Untersuchungsobjekte projiziert werden müssen. Die Stärkung des Selbstwerts und Selbstbewusstseins auf Grund von Genderzuweisungen marginalisierter Gruppen und Einzelner, die Problematisierung unterdrückender und ausgrenzender Genderordnungen und -politiken, die Inklusion und Teilhabe der Ausgegrenzten sind wichtige Ziele. Sensibilität für gegenwärtige Genderwirklichkeiten und -konstruktionen ist Voraussetzung für eine differenzierte Erforschung von Gender im Neuen Testament. Dass solche Aktivitäten in direkte politische Konflikte führen, haben im deutschsprachigen Bereich diejenigen erfahren, die in ihren exegetischen Veröffentlichungen seit dreißig Jahren gegenüber Verlagen und Herausgebern das große I durchzusetzen versuchten. Mit dem Gendersternchen müssen nun ähnliche Hürden überwunden werden. 24 Vgl. Ute E. Eisen / Christine Gerber / Angela Standhartinger (Hg.), Doing Gender - Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam (WUNT I/ 302), Tübingen 2013. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0001