eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 25/49

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0003
2022
2549 Dronsch Strecker Vogel

Cherchez l’homme! Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1. Korinther 11,2-16

2022
Moisés Mayordomo
Cherchez l’homme! Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1.-Korinther 11,2-16 1 Moisés Mayordomo 1 Methodische Hinführung Mit dem Aufkommen der feministischen Exegese in den 1960er Jahren hat eine intensive Erforschung von Frauen im frühen Christentum eingesetzt, die bis in die Gegenwart methodisch reflektiert und sehr differenziert die verschütteten Erfahrungen, unterdrückten Geschichten und kulturellen Trivialisierungen von Frauen sichtbar gemacht hat. Gender-Fragen in Bezug auf ‚Männer‘ wurden in der neutestamentlichen Forschung, insbesondere in der deutschsprachigen, bisher weitgehend ausgeblendet. Eine derartige Limitierung läuft jedoch Gefahr - und darauf hat die feministische Exegese seit ihrem Aufkommen hingewiesen - das Männliche als das Natürliche, Gegebene und Ungeschlechtliche zu betrachten und das Weibliche als das Problematische und das ‚eigentlich‘ Geschlechtliche. 2 Die Forderung, „dass Geschlecht als soziale Kategorie neben der Kategorie Klasse im Zentrum von historischer Forschung stehen muss,“ 3 ist daher erst eingelöst, wenn Männlichkeitsdiskurse mit einbezogen werden. Eine geschlechtergeschichtliche Annäherung an das Phänomen ‚Männlichkeit‘ sucht jedoch nicht nach dem ‚ewig Männlichen‘ oder rekonstruiert schlicht die Geschichte von Personen mit einem Y-Chromosom. Sie fragt vielmehr nach den sozialen Konstruktionen von Männlichkeit im historischen Wandel. 4 Damit 1 Ich danke Ute Eisen und Julia Müller-Clemm für eine Reihe wertvoller inhaltlicher Anregungen. 2 In diesem Sinne ist das Männliche in der Forschung häufig unsichtbar geblieben; vgl. Michael S. Kimmel, Invisible Masculinity, in: Ders., The History of Men, New York 2005, 3-15. 3 Luise Schottroff, Auf dem Weg zu einer feministischen Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums, in: Dies. u. a., Feministische Exegese. Forschungsbeiträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995,173-248, hier 176. 4 Die Unterscheidung zwischen biologischem und sozial konstruiertem Geschlecht ( sex / gender ) hat der Forschung wichtige Impulse gegeben; sie erweist sich jedoch dann als wenig produktiv, wenn das ‚Natürliche‘ als das Unveränderbare verstanden wird und Aspekte der sozialen Konstruktion des Biologischen dadurch unbeachtet bleiben. Vgl. Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte (Historische Einführungen 8), Frankfurt / New York 2010, 11-18. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 46 Moisés Mayordomo knüpft sie an Fragestellungen der feministischen Kritik und Gender Studies an und begibt sich in das weite Feld der Sozial- und Kulturwissenschaften. 5 In diesem Kontext wird nicht nach dem ‚Wesen‘ des Männlichen gefragt, sondern ‚Männlichkeit‘ wird betrachtet als „eine Position im Geschlechterverhältnis; die Praktiken, durch die Männer und Frauen diese Position einnehmen, und die Auswirkungen dieser Praktiken auf die körperliche Erfahrung, auf Persönlichkeit und Kultur.“ 6 Die neutestamentliche Wissenschaft hat sich erst relativ spät diesem Themengebiet zugewandt. 7 Die stärksten Anstöße dazu kommen aus den Nachbardisziplinen der klassischen Philologie und Altertumswissenschaft. 8 Hier hat sich gezeigt, dass die antiken Quellenbestände einen sehr klaren Blick für die soziale Konstruktion von Männlichkeit haben: 9 Männlichkeit war in der Antike ebenso umstritten wie umkämpft. Öffentliches Ansehen, körperliche Präsenz, Redegewandtheit, Kontrolle und Macht waren konstitutive Elemente hegemonialer Männlichkeit. 10 Umgekehrt gehörten Vorwürfe der ‚Unmännlichkeit‘ zu den polemischen Allgemeinplätzen, um Gegner zu disqualifizieren. Die Kate- 5 Vgl. den Forschungsüberblick in Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (Geschlecht und Gesellschaft 8), Wiesbaden 4 2015, 47-94. 6 Connell, Mann, 124. 7 Zur Forschung vgl. Peter-Ben Smit, Masculinity and the Bible (Brill Research Perspectives), Leiden 2017; Eric C. Stewart, Masculinity in the New Testament and Early Christianity, BTB 46/ 2016, 91-102. Wichtige Beiträge: Stephen D. Moore / Janice Capel Anderson (Hg.), New Testament Masculinities (SBL Semeia Studies 45), Atlanta 2003; Susanna Asikainen, Jesus and Other Men. Ideal Masculinities in the Synoptic Gospels (BINS 159), Leiden 2018; Colleen Conway, Behold the Man. Jesus and Greco-Roman Masculinity, Oxford 2008; Brittany E. Wilson, Unmanly Men. Refigurations of Masculinity in Luke-Acts, Oxford 2015. 8 Vgl. Lin Foxhall / John Salmon (Hg.), Thinking Men. Masculinity and its Self-Representation in the Classical Tradition, London 1998; Dies. (Hg.), When Men were Men. Masculinity: Power and Identity in Classical Antiquity, London 1998; Maud W. Gleason, Making Men. Sophists and Self-Presentation in Ancient Rome, Princeton, NJ 1995; Erik Gunderson, Staging Masculinity. The Rhetoric of Performance in the Roman World, Ann Arbor, MI 2000; Meriel Jones, Playing the Man. Performing Masculinities in the Ancient Greek Novel, Oxford 2012; Myles McDonnell, Roman Manliness. Virtus and the Roman Republic, Cambridge 2006; Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer, Im Zeichen des Phallus. Die Ordnung des Geschlechtslebens im antiken Rom, Frankfurt a. M. 1995; Kelly Olson, Masculinity and Dress in Roman Antiquity, London 2017; Ralph M. Rosen / Ineke Sluiter (Hg.), Andreia. Studies in Manliness and Courage in Classical Antiquity (MnS 238), Leiden 2003; Thomas Späth, Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt a. M. 1994; Craig A. Williams, Roman Homosexuality, Oxford 2 2010. 9 Vgl. den Überblick in Moisés Mayordomo, Art. Man. Greco-Roman Antiquity, in: EBR 17 (2019), 647-650. 10 Zum wichtigen Begriff der hegemonialen Männlichkeit s. Connell, Mann, 9-18.129-135. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1.-Korinther 11,2-16 47 gorien des Männlichen und des Unmännlichen bildeten somit einen kulturellen Subtext, der nur selten explizit zur Sprache gebracht werden musste. Für die neutestamentliche Exegese stellt sich damit die Aufgabe erkennbar zu machen, in welchem Ausmaß dieser Subtext in den frühchristlichen Texten wirksam ist. 11 2 1Korinther-11,2-16 als Testfall In der langjährigen Diskussion um die Rolle von Frauen im frühen Christentum ist 1Kor 11,2-16 eine erhöhte Aufmerksamkeit zugekommen. 12 Diese Konzentration der Forschung hat - was häufig der Fall ist - zu mehr und nicht zu weniger Dissens geführt. Einigkeit besteht nur darin, dass die Argumentation 11 Dies habe ich in einer Reihe von Arbeiten versucht: Moisés Mayordomo, Konstruktionen von Männlichkeit in der Antike und in der paulinischen Korintherkorrespondenz, EvTh 68/ 2008, 99-115; Ders., „Act Like Men! “ (1 Cor 16: 13). Paul’s Exhortation in Different Historical Contexts, CrossCurrents 61/ 2011, 515-528; Ders., Jesu Männlichkeit im Markusevangelium. Eine Spurensuche, in: Ute E. Eisen / Christine Gerber / Angela Standhartinger (Hg.), Doing Gender - Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam (WUNT I/ 302), Tübingen 2013, 359-379; Ders., Eunuchen im Horizont der Gottesherrschaft (Mt 19,12), in: Irmtraud Fischer / Uta Poplutz (Hg.), Sexualität ( JBTh 33/ 2018), Göttingen 2020, 85-106; Ders., Männliches Sterben am Kreuz? Frühchristliche Gender-Variationen zum Sterben Jesu, in: Angela Berlis u. a. (Hg.), Die Geschlechter des Todes. Theologische Perspektiven auf Tod und Gender, Göttingen 2022 (im Druck). 12 Die Literatur zu dieser Stelle ist unüberschaubar. Eine aktuelle Aufarbeitung der Forschungsdiskussion bietet Torsten Jantsch, Einführung in die Probleme von 1Kor 11,2-16 und die Geschichte seiner Auslegung, in: Ders. (Hg.), Frauen, Männer, Engel. Perspektiven zu 1Kor 11, 2-16 (BThS 152), Neukirchen-Vluyn 2015, 1-60; für eine ausführliche Bibliographie s. Jacob Brouwer, Gott, Christus, Engel, Männer und Frauen. Chronologisch-thematische Bibliographie zu 1Kor 11,2-16, in: Jantsch, Frauen, 187-210. Prof. Dr. Moisés Mayordomo studierte Theologie in Gießen, London, Heidelberg und Bern. Nach Promotion (1997) und Habilitation (2004) in Bern, arbeitete er dort als Dozent für Neues Testament und antike Religionsgeschichte. Seit 2014 ist er Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Matthäusevangelium, Paulinische Argumentation, literaturwissenschaftliche Methoden, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments und historische Genderforschung DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 48 Moisés Mayordomo des Paulus ausgesprochen verworren ist. 13 Das Interessante an der Diskussionslage ist jedoch, dass die Kategorie des Männlichen wenig Beachtung erhält. In vielen Bibelübersetzungen und Kommentaren lenkt die Überschrift über diesen Abschnitt von der Tatsache ab, dass der Text auch Aussagen über die Konstruktion von Männlichkeit macht. 14 Das Wort ‚Frau‘ ( gynē ) kommt zwar 16-mal vor, aber vom ‚Mann‘ ( anēr ) ist immerhin 14-mal die Rede. Die Annahme, dass Paulus vom Mann hier nur hypothetisch rede, ist a priori wenig plausibel. 15 Im Gegenteil: Dieser Abschnitt eignet sich bestens dazu, Fragen der Männlichkeitskonstruktion zur Diskussion zu stellen. 16 2.1 Der Mann als ‚Kopf‘: Ursprung und Relationalität a) Die Kopf-Metapher : Paulus leitet seine Argumentation mit einer grundsätzlichen Aussage ein (11,3): „Die kephalē eines jeden Mannes ist Christus, die kephalē der Frau ist der Mann und die kephalē des Christus ist Gott.“ Im wörtlichen Sinne bezeichnet kephalē den ‚Kopf.‘ An keiner bisher bekannten Stelle vor Paulus wird dieser Begriff metaphorisch für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern benutzt. 17 Paulus hat offensichtlich diesen Gebrauch hier einge- 13 Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther, Bd. 2: 1Kor 6,12-11,16 (EKK 7), Neukirchen-Vluyn 1995, 524: „Paulus in der Klemme.“ Klaus Thraede, Art. Frau, in: RAC 8 (1972), 197-269, 232 spricht von einer „recht gezwungenen Beweisführung.“ Die vereinzelten Vorschläge, den Text insgesamt oder teilweise Paulus abzusprechen, folgen eher dem Wunsch, den Apostel von einer problematischen Stelle zu entlasten. 14 Z. B. „Vom Verhalten der Frauen beim Gottesdienst“ (Gute Nachricht, rev. 2000), „Die Frau im Gottesdienst“ (Luther, rev. 1984), „Der Schleier der Frauen“ ( Jerusalemer Bibel, 1968), „Verhalten der Frauen im Gottesdienst“ (Hoffnung für alle, 1996), „Über die rechte Haartracht für Frauen im Gottesdienst“ (Schrage, Korinther, 487). 15 Dieter Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 355: „So erwähnt er den Fall der Männer wohl nur des Kontrastes wegen; man braucht ihn nicht zu konkretisieren.“ Ähnlich Archibald T. Robertson / Alfred A. Plummer, The First Epistle of St. Paul to the Corinthians (ICC), Edinburgh 2 1914, 229; J. Delobel, 1 Cor 11,2-16: Towards a Coherent Interpretation, in: A. Vanhoye (ed.), L’Apôtre Paul (BEThL 73), Leuven 1986, 369-389, 379 f.; Gordon D. Fee, The First Epistle to the Corinthians (NIC), Grand Rapids 2 2014, 557; John P. Meier, On the Veiling of Hermeneutics (1 Cor 11: 2-16), CBQ 40/ 1978, 212-222, 218; Helmut Merklein / Marlis Gielen, Der erste Brief an die Korinther, Bd. 3: Kapitel 11,2-16,24 (ÖTK 7), Gütersloh 2005, 53 f.; Luise Schottroff, Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth (ThKNT 7), Stuttgart 2013, 199; Gerd Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (FRLANT 131), Göttingen 1983, 164. Zur Kritik an diesen Positionen vgl. Gillian Townsley, The Straight Mind in Corinth. Queer Readings across 1 Corinthians 11.2-16 (Semeia Studies 88), Atlanta 2017, 52-62. 16 Die folgenden Überlegungen sind einseitig auf Fragen antiker Männlichkeitsdiskurse ausgerichtet. Daher übergehe ich die Frage nach den konkreten Praktiken, die Frauen in diesem Text untersagt werden, ebenso wie die Auslegung von 11,10. 17 Eph 5,23 gehört bereits zur Rezeptionsgeschichte dieser paulinischen Verwendung. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1.-Korinther 11,2-16 49 führt, weil es um ein Problem geht, das mit dem Kopf und der Haartracht zu tun hat. Dadurch kann er mit der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung von kephalē spielen. Die ausführliche Diskussion um die Bedeutung von kephalē 18 hat gezeigt, dass die Kopf-Metapher nicht zwingend (vielleicht auch nicht in erster Linie) hierarchisch im Sinne von ‚Haupt / Anführer‘ zu verstehen ist, sondern häufig im übertragenen Sinne von ‚Quelle, Ursprung, Vorrang‘ Verwendung findet. 19 Diese Diskussion krankt allerdings an der Isolierung eines Wortes von seinem literarischen und kulturellen Verwendungskontext. Denn selbst wenn die Metapher nicht hierarchisch zu verstehen ist, setzt die paulinische Argumentation einen hierarchischen Rahmen voraus. 20 11,3 ist nicht Thema, sondern Ausgangspunkt der Argumentation. 21 Der weitere Gedankenverlauf in 11,4f. zeigt, in welche Richtung sich die Metapher bewegen soll: Die Kopf-Relation wird gedeutet als eine, in der öffentliche Verhaltensweisen Einfluss auf die Ehre des ‚Kopfes‘ haben; also: von christusgläubigen Männern auf ihren ‚Kopf ‘ (Christus) und von christusgläubigen Frauen auf ihren ‚Kopf ‘ (Mann). 22 b) Ehre und Schande : 23 Paulus versucht durch das affektive Steuerungsinstrument von ‚Ehre und Schande‘ in die symbolische Darstellung von Männern und Frauen in Korinth einzugreifen. Er setzt damit ein Überzeugungsmittel ein, das 18 Vgl. Norbert Baumert, Antifeminismus bei Paulus? (FzB 68), Würzburg 1992, 96-102; Linda L. Belleville, ΚΕΦΑΛΗ and the thorny issue of head covering in 1 Corinthians 11: 2-16, in: Trevor J. Burke / J. Keith Elliott (Hg.), Paul and the Corinthians. Studies on a Community in Conflict. FS Margaret Thrall (NT.S 109), Leiden 2003, 215-231; Richard S. Cervin, Does κεφαλή (‚Head‘) mean ‚Source‘ or ‚Authority‘ in Greek Literature? A Rebuttal, Trinity Journal 10/ 1989, 85-112; Joseph A. Fitzmyer, Another Look at κεφαλή in 1 Corinthians 11.3, NTS 35/ 1989, 503-511; Wayne Grudem, The Meaning of κεφαλή (‚head‘): A response to recent studies, Trinity Journal 11/ 1990, 3-72; Heinz Külling, Die Ordnung der Liebe. Zum Begriff Haupt in der Beziehung von Mann und Frau. Eine Auslegung zu 1. Korinther 11,2-16 und Epheser 5,21-33, Zürich 2011, 18-30; A. C. Perriman, The Head of a Woman. The Meaning of κεφαλή in I Cor 11: 3, JThS 45/ 1994, 602-22; Anthony C. Thiselton, The First Epistle to the Corinthians (NIGTC), Grand Rapids 2000, 812-822. 19 Christus ist Ursprung des Mannes (als Schöpfungsmittler), der Mann ist Ursprung der Frau (im Sinne des zweiten Schöpfungsberichts) und Gott ist Ursprung Christi. 20 Schottroff, Korinth, 199. Überhaupt leidet die Auslegung von 1Kor 11,2-16 m. E. an der Polarität ‚Hierarchie-oder-Egalität‘; vgl. dazu Francis Watson, The Authority of the Voice. A Theological Reading of 1 Cor 11.2-16, NTS 46/ 2000, 520-536. 21 David S. du Toit, Status und Anstand als Schlüssel zum Verständnis von 1Kor 11,2-16. Argumentationslogische und sozialgeschichtliche Überlegungen, in: Jantsch, Frauen, 61-96, 74f. 22 Die Kopf-Metapher lässt in ihrer Vieldeutigkeit natürlich eine Deutung zu, in der es auch um die eigene Ehre (also um den eigenen ‚Kopf ‘) geht (so deutlich in 11,10); vgl. Jill E. Marshall, Women Praying and Prophesying in Corinth. Gender and Inspired Speech in First Corinthians (WUNT 2/ 448), Tübingen 2017, 167f. 23 Aus der reichhaltigen Literatur besonders informativ Carlin A. Barton, Roman Honor. The Fire in the Bones, Berkeley 2001. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 50 Moisés Mayordomo nach der antiken Rhetorik im Bereich des ‚Pathos‘ (also der Gefühlsregung) zu verorten ist. 24 Das semantische Feld von ‚Ehre und Schande‘ ist in kaum einem anderen neutestamentlichen Text so reich wie hier: Bestimmte Handlungen entehren oder beschämen eine andere Person (11,4f.: kataischynō ). 25 Der Kahlschnitt einer Frau ist hässlich oder schändlich (11,6: aischros ). 26 Paulus appelliert an die Urteilsfähigkeit der Gemeinde (vgl. 10,15) im Hinblick auf das, was sich für eine Frau ziemt oder gehört (11,13: prepon estin ). Wieder wird die öffentliche Wahrnehmung ins Spiel gebracht, denn was sich ziemt und was nicht, wird an ein gesellschaftliches Urteil geknüpft, das mit diesem Text zugleich auch entworfen wird. 27 Dass es Haarformen gebe, die mit öffentlicher Schande verbunden seien, leitet Paulus aus der Natur ab (11,14f.: physis , atimia ). Der Hinweis auf die moralisch bindende Unterweisung der ‚Natur‘ soll in diesem Zusammenhang auf soziale Konventionen verweisen. 28 Paulus konstruiert damit eine gesellschaftliche Realität, in der bestimmte Symbole für Gender-Differenzen als etwas ‚Na- 24 Aristoteles widmet der Scham einen langen Abschnitt seiner Rhetorik ( Retorica 2,6,1- 27 / 1383b12-1385a15). Nach logischen Maßstäben sind solche affektiven Argumente Trugschlüsse; vgl. zum Stichwort ‚appeal to shame‘ T. Edward Damer, Attacking Faulty Reasoning, Belmont, CA 6 2008, 112-114. 25 In TestJud 12,5 beschämt Tamar den Patriarchen Juda dadurch, dass sie die Pfandstücke, die er ihr zurückgelassen hatte, im Geheimen zurückgibt. 26 Das Adjektiv ist nicht charakteristisch für die Sprache der Septuaginta; es erscheint im NT weiterhin noch in 1Kor 14,35; Eph 5,12 und Tit 1,11. Frederick W. Danker (Hg.), A Greek-English Lexicon of the New Testament and other Early Christian literature, Chicago 4 2021, 26: „A term esp[ecially] significant in honor-shame oriented society; gener[ally] in ref[erence] to that which fails to meet expected moral and cultural standards [opp. καλός]) pert[aining] to being socially or morally unacceptable, shameful, base.“ Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund (Kahlschnitt von Frauen als soziale Schande) vgl. Max Küchler, Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen (NTOA 1), Göttingen / Fribourg 1986, 79-82. 27 Es handelt sich um keinen Begriff der alttestamentlichen Ethik. Vgl. Eph 5,3; 1Tim 2,10; Tit 2,1; 1Makk 12,11; 3Makk 7,13; Epiktet, Dissertationes 1,22,1; Platon, Hippias maior 1,294a; Philo, De specialibus legibus 3,48.172; De ebrietate 194 (was sich für die einen ziemt ist für die anderen unschicklich). 28 Ein Zusammenhang zwischen Biologie und Moral ist im Falle von Haarwachstum absurd. Vgl. zur Verbindung von Natur und Konvention Demosthenes, Über den Kranz , Oratio 18,275 (die physis verordnet durch ungeschriebene Gesetze und der menschlichen Gewohnheit); Cicero, De re publica 3,5,6 (Schmach und Schande werden vermieden nicht aus Angst vor Strafe, sondern „durch Zurückhaltung, die die Natur ( natura ) dem Menschen […] gegeben hat,“ übers. Rainer Nickel in Der Staat, De re publica, Lateinisch- Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel [Sammlung Tusculum], Mannheim 2010, 220 f.). Helmut Köster, Art. φύσις, in: ThWNT 9 (1973), 246-271, 266 verweist zurecht darauf, dass Paulus hier populärphilosophisch (etwa stoisch) argumentiert und so das Schickliche mit der Natur begründet. Der Vorwurf, Paulus verwechsle Natur und Konvention (Theißen, Psychologische Aspekte, 179 sieht darin eine „intellektuelle Fehlleistung“), erscheint mir unbegründet. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1.-Korinther 11,2-16 51 türliches‘ betrachtet werden. Dies unterstreicht er, indem er sich am Ende seiner Argumentation auf die ‚Gewohnheit‘ (11,16: synētheia ) beruft. 29 c) Schöpfungsnarrativ : Von hier aus lässt sich der Verweis auf die Schöpfung in 11,7-9 einordnen. Dahinter steht nicht eine feste Schöpfungs theologie , sondern eher eine etwas eigensinnige und auf das Argumentationsziel des Textes zugespitzte Lektüre der beiden Schöpfungserzählungen. Paulus liest nämlich Gen 1,27 („Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; als männlich und weiblich schuf er sie“) im Sinne der zweiten Schöpfungserzählung. 30 Daraus folgert er, dass ‚der Mann‘ zuerst als Bild Gottes geschaffen wurde. Paulus spricht ‚der Frau‘ damit nicht ab, dass sie auch ‚Bild Gottes‘ ist (so steht es ja deutlich in Gen 1,27), nur erwähnt er es im Rahmen dieser stark soziokulturellen Argumentation nicht. 31 Das ‚Kopf-Sein‘ des Mannes wird deutlich im Sinne eines chronologischen Vorrangs gedeutet: Der Mann wurde zuerst geschaffen, die Frau wurde aus ihm und wegen ihm geschaffen. Die Frau ist nach paulinischer Interpretation also von der Schöpfung her ganz dem Mann zugeordnet. Es geht daher nicht um das ‚Bildsein‘ ( eikōn ), sondern um die ‚Ehre‘ ( doxa ); ein Begriff, der in Gen 1-2 nicht benutzt wird und der im Zusammenhang mit 11,3-5 zu verstehen ist: 32 Das öffentliche Verhalten des Mannes bringt seinem ‚Herrn‘ Ehre oder Schande und das öffentliche Verhalten einer Frau bringt nicht ihr selbst oder Christus Ehre oder Schande, sondern dem Mann. 33 Paulus argumentiert ganz im Rahmen des antiken Ordnungsdiskurses 29 Häufig wird die ‚Gewohnheit‘ auf die spezifische Haarsitte der Frauen (und Männer) bezogen. Wenn mit der ersten Person Plural Paulus und seine Mitarbeiter gemeint sind, dann bezieht sich ‚Gewohnheit‘ eher auf die Streitsucht, mit der ein doch sekundäres Problem aufgebauscht und diskutiert wird. Vgl. Troels Engberg-Pedersen, 1 Cor 11: 16 and the Character of Pauline Exhortation, JBL 110/ 1991, 679-689, 684-687. 30 Schrage, Korinther, 509; L. Ann Jervis, ‚But I Want You to know…‘: Paul’s Midrashic Intertextual Response to the Corinthian Worshipers (1 Cor 11: 2-16), JBL 112/ 1993, 231-246, 242f. 31 Der Text sagt nicht, dass die Frau von Gott weiter entfernt ist, weil sie nur Abbild des Bildes Gottes ist. Dazu müsste in 11,7 beide Male eikōn stehen. 32 Griech. doxa ist daher nicht einfach synonym für ‚Bild‘ ( eikōn ); gegen Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 1969, 219. Das Wort kann zudem nur schwer ‚Abglanz‘ oder ‚Abbild‘ bedeuten; vgl. André Feuillet, L’homme ‚gloire de Dieu‘ et la femme ‚gloire de l’homme‘ (1 Cor 11,7b), RB 81/ 1974, 161-182. 33 Vgl. die Septuaginta-Version von Spr 11,16 (LXX Deutsch): „Eine liebenswürdige Frau weckt für (ihren) Mann Ansehen ( andri doxan ). (Thron)sitz von Unehre ( thronos atimias ) aber ist eine Frau, die das Gerechte hasst.“ Conzelmann, 1Kor, 219 f.; Anm. 53 verweist auf eine Grabinschrift (CIJ Nr. 135): „(Hier liegt) die Ehre ( doxa ) des Sofronias, die gesegnete Loukilla.“ DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 52 Moisés Mayordomo und verwendet Ehre und Schande als die treibenden Faktoren seiner Überzeugungsversuche. 34 d) Noch einmal ‚Kopf ‘ : Der Argumentationszusammenhang zwischen 11,3 und 11,4f. zeigt, dass die Kopf-Metapher nicht dadurch verständlich gemacht werden kann, dass jede metaphorische Einzelverwendung von kephalē enzyklopädisch durchgeackert wird. Es ist Paulus selbst, der (als erster? ) das metaphorische Feld in kreativer Weise ausweitet, um ein hierarchisches Ehr-Verhältnis zum Ausdruck zu bringen. Überraschend ist dabei nicht, dass das öffentliche Verhalten von Frauen das männliche Kapital an Ehre vermehrt oder verringert. 35 Überraschend ist, dass Paulus das öffentliche Verhalten von Männern ebenfalls auf die Ehre einer höher gestellten Größe ausrichtet. Damit stehen Männer nicht an der obersten Schaltstelle der öffentlichen Aushandlung von Ehre. Christus nimmt als ‚Kopf ‘ diese Position ein und verweist damit letztendlich auf Gott selbst. 2.2 Der Kopf des Mannes: Haare und öffentliche Performanz a) Was ist das Problem? Die Frage, welche konkreten Überschreitungen zu einem Ehrverlust des ‚Kopfes‘ führen, lässt sich anhand des Textes nicht sicher beantworten. Angesichts der vielen exegetischen Leerstellen erscheint die Gewissheit, mit der manche Vorschläge sich präsentieren, kaum angemessen. 36 Ganz allgemein geht es darum, dass ein bestimmter Entwurf von Geschlechterrollen durch ihre symbolische Darstellung (wie Kleidung oder Haartracht) eingehal- 34 Die kulturanthropologische Bedeutung dieses Diskurses ist für die Auslegung von 1Kor 11,2-16 wenig ausgewertet worden; vgl. jedoch Judith M. Gundry-Volf, Gender and Creation in 1 Corinthians 11: 2-16. A Study in Paul’s Theological Method, in: Jostein Ådna u. a. (Hg.), Evangelium - Schriftauslegung - Kirche. FS Peter Stuhlmacher, Göttingen 1997, 151-171, 153-155; Halvor Moxnes, Social Integration and the Problem of Gender in St. Paul’s Letters, Studia Theologica 43/ 1989, 99-113, 99f.107; James W. Thompson, Creation, Shame and Nature in 1 Cor 11: 2-16. The Background and Coherence of Paul’s Argument, in: John T. Fitzgerald u. a. (Hg.), Early Christianity and Classical Culture. FS Abraham J. Malherbe (NT.S 90), Leiden 2003, 237-258. 35 Ekkehard W. Stegemann / Wolfgang Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, Stuttgart 2 1997, 318f.: „Die Ehre des Mannes kann durch die Frau verletzt werden. […] Frauen müssen - soweit es eben möglich ist - im Hause bleiben; denn sie sind die ‚repositories‘ der männlichen Ehre.“ 36 So findet z. B. Troy Martin, Paul’s Argument from Nature for the Veil in 1 Corinthians 11.13-15. A Testicle Instead of a Head Covering, JBL 123/ 2004, 75-84 die definitive Lösung in der Übersetzung von peribolaion in 11,15 mit ‚Hoden‘ (vgl. kritisch dazu Jantsch, Probleme, 56-59). Preston T. Massey, The Meaning of καταλύπτω and κατὰ κεφαλῆς ἔχων in 1 Corinthians 11.2-16, NTS 53/ 2007, 502-523 gelangt zu so eindeutigen semantischen Zuordnungen, dass aus seiner Sicht nur eine Auslegung möglich ist, die von einer textilen Verschleierung ausgeht. Vgl. zur Kritik Townsley, Straight Mind, 9-14. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1.-Korinther 11,2-16 53 ten werden sollen. 37 Paulus deutet diese im Sinne einer strikten Opposition zwischen männlicher und weiblicher Repräsentation. Die Auslegung, die von einer stofflichen Kopfbedeckung ausgeht (Schleier), hat eine sehr lange Tradition und kann sich auf sprachliche Elemente berufen, insbesondere auf das Adjektiv ‚unverhüllt‘ (11,5a.13b: akatakalyptos ) und auf das Verb ‚(sich) verhüllen‘ (11,6f.: katakalyptesthai ). Andererseits gebraucht Paulus das Nomen für Schleier / Kopfbedeckung ( kalymma ) nicht, obwohl er es in 2Kor 3,13-16 gleich mehrfach in Bezug auf die Bedeckung des Mose am Sinai verwendet. In 11,14f. ist vom Tragen langer Haare ( komaō , komē ) und in 11,6 vom Abschneiden der Haare ( keirasthai ) die Rede. Eine Praxis der Verschleierung in Korinth ist weder durch Texte noch durch Artefakte belegt. 38 Die Vorstellung, Paulus führe in Korinth eine jüdische oder orientalische Praxis ein, hat angesichts der starken Betonung von Ehre und Schande wenig für sich. 39 Es gibt daher eine Reihe von Argumenten für die These, dass es Paulus um Fragen der Haartracht von Frauen und Männern geht. 40 Meine weiteren Überlegungen orientieren sich an dieser Hypothese. 37 Wayne A. Meeks, The Image of the Androgyne. Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, History of Religions 13/ 1974, 165-208, 201-203; Theißen, Psychologische Aspekte, 173. 38 Die Sammlung von korinthischen Portraits in Cynthia L. Thompson, Hairstyles, Head- Covering, and St. Paul. Portraits from Roman Corinth, Biblical Archaeologist 51/ 1988, 99-115 zeigt mehrheitlich Frauen mit hochgestelltem Haar und ohne Schleier. Einen schönen Überblick über römische Frauenfrisuren auf Münzen bietet Horst Blanck, Einführung in das Privatleben der Griechen und Römer, Darmstadt 1976, 74. Vgl. weiterhin Elizabeth Bartman, Hair and the Artifice of Roman Female Adornment, American Journal of Archaeology 105/ 2001, 1-25 und (kritisch zur Verbindung von Schleier und pudicitia ) Lisa A. Hughes, Unveiling the veil. Cultic, status, and ethnic representations of early imperial freedwomen, Material Religion: The Journal of Objects, Art and Belief 3/ 2007, 218-241. Zur Schleierpraxis in einem kulturell griechischen Kontext vgl. Lloyd Llewellyn-Jones, Aphrodite’s Tortoise. The Veiled Woman of Ancient Greece, Swansea 2003. 39 Anders z. B. Peter Lampe, Paulus und die erotischen Reize der Korintherinnen (1 Kor 11,2-16), in: Reiner Knieling / Andreas Ruffing (Hg.), Männerspezifische Bibelauslegung. Impulse für Forschung und Praxis, Göttingen 2012, 196-207, der annimmt, Paulus versuche in Korinth eine Sitte einzuführen, die ihm aus Tarsus vertraut war. Eine jüdische Verschleierungspraxis ist für das erste Jahrhundert schwer nachweisbar; vgl. David E. Blattenberger III, Rethinking 1 Corinthians 11: 2-16 through Archaeological and Moral-Rhetorical Analysis (SBEC 36), Lewiston, NY 1997, 46-55. 40 Vgl. Jerome Murphy-O’Connor , Sex and Logic in 1 Corinthians 11: 2-16, CBQ 42/ 1980, 482-500; Ders., 1 Corinthians 11: 2-16. Once Again, CBQ 50/ 1988, 265-274; beide wieder abgedruckt (mit Nachträgen) in: Ders., Keys to First Corinthians. Revisiting the Major Issues, Oxford 2009, 142-181; Marlis Gielen, Beten und Prophezeien mit unverhülltem Kopf ? Die Kontroverse zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde um die Wahrung der Geschlechtsrollensymbolik in 1Kor 11,2-16, ZNW 90/ 1999, 220-249 (wieder abgedruckt in: Paulus im Gespräch. Themen paulinischer Theologie [BWANT 186], Stuttgart 2009, 159-186); Schrage, Korinther, 491-494. Vgl. die differenzierten Überlegungen DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 54 Moisés Mayordomo Nach 11,4 gilt: „Jeder Mann, der betet oder prophetisch redet 41 kata kephalēs echōn , bringt Schande über seinen ‚Kopf ‘.“ Die griechische Wendung kata kephalēs echōn ist in dieser Form (ohne direktes Objekt) vor Paulus nicht nachweisbar. 42 Das lässt Raum für zwei Deutungsrichtungen: a) „Etwas (z. B. eine textile Kopfbedeckung) auf dem Kopf haben.“ Dass in der Antike Männer zum Gebet den Kopf mit dem Oberteil ihres Gewandes bedeckten, ist vielfach belegt. 43 Wenn dies aber so gewöhnlich war, warum betrachtet Paulus dies als öffentliche Schande? In der Folge müsste für Paulus auch die Bedeckung des Mose als Schande gelten, was dem Text in 2Kor 3,13-16 nicht zu entnehmen ist. b) „Etwas vom Kopf herabhängen haben“ also: „mit langem Haar.“ 44 Der Vorteil dieser Deutung liegt in der direkten Bezugnahme zu 11,14. Es bleibt sonst unklar, warum Paulus am Ende seiner Argumentation auf die Haarlänge des Mannes zu sprechen kommt. Ähnlich ist auch die Anweisung in 11,7 zu verstehen. Was den Frauen Zucht und Anstand gebietet (11,5f.), ist den Männern aus gleichen Gründen untersagt: „Ein Mann soll sich den Kopf nicht ‚verhüllen‘ ( ouk opheilei katakalyptesthai tēn kephalēn ).“ Sprachlich eindeutiger heißt es gegen Ende (11,14): „Lehrt euch nicht die Natur selbst, dass es für einen Mann eine Schande ist, langes Haar zu haben ( anēr men ean koma atimia autō estin )? “ 45 von Torsten Jantsch, Die Frau soll Kontrolle über ihren Kopf ausüben (1Kor 11,10), in: Ders., Frauen, 97-144, bes. 99-123. 41 Wahrscheinlich stehen die Verben ‚beten‘ (Kommunikation mit Gott) und ‚prophetisch reden‘ (Kommunikation zueinander) stellvertretend für alle Gottesdienstaktivitäten (vgl. 1Kor 14,26). 42 Die wenigen Texte, die zur Vereindeutigung angeführt werden (z. B. Plutarch, Moralia 266c3f.), haben ein direktes Objekt. 43 Vgl. Plautus, Curculio 389 und weitere Texte in Georg Strecker / Udo Schnelle (Hg.), Neuer Wettstein, Bd. 2, Berlin 1996, 340-343; Richard E. Oster, When Men Wore Veils to Worship. The Historical Context of 1 Cor 11.4, NTS 34/ 1988, 481-505, bes. 493-502; David W. J. Gill, The Importance of Roman Portraiture for Head-Coverings in 1 Corinthians 11: 2-16, Tyndale Bulletin 41/ 1990, 245-260, bes. 246-251. Eine differenziertere Diskussion bietet Valérie Huet, Le voile du sacrifiant à Rome sur les reliefs romains. Une norme? in: Florence Gherchanoc / Valérie Huet (Hg.), Vêtements antiques. S’habiller, se déshabiller dans les mondes anciens, Paris 2012, 47-62. 44 So verstand Johannes Chrysostomus diesen Text ( In epistulam i ad Corinthios argumentum et homilae 26,1 = PG 61,213). Vgl. Alan Padgett, Paul on Women in the Church. The Contradictions of Coiffure in 1 Corinthians 11.2-16, JSNT 20/ 1984, 69-86, 70; Andreas Lindemann, Der erste Korintherbrief (HNT 9,1), Tübingen 2000, 240f. 45 Der Frau hingegen ist das lange Haar anstelle eines peribolaion gegeben. Das Wort kann sich schwerlich auf einen ‚Schleier‘ beziehen (Liddell / Scott / Jones, 1369 notiert zu 1Kor 11,15 ‚woman’s headgear‘). In der Septuaginta werden damit die unterschiedlichsten Kleidungsstücke, die über anderen Kleidern getragen werden, bezeichnet: Decke, Mantel, Königsgewand, Schal, Mantel oder Kopfbedeckung (Ex 22,27; Dtn 22,12; Ri 8,26 [Alexandrinus]; Hiob 26,6; Ps 101[=102],26; Jes 50,3; 59,17; Hes 16,13). Vielleicht bezieht sich Paulus hier auf das typische Gewand des Mannes, das dieser benutzte, um sich in DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1.-Korinther 11,2-16 55 b) Zum kulturgeschichtlichen Kontext : Der Eingriff des Apostels in die öffentliche Performanz des Männlichen lässt sich kulturgeschichtlich einordnen. Der öffentliche Körper war in den antiken griechischen wie römischen Gesellschaften ein komplexes Zeichensystem, das Auskunft über den Charakter eines Menschen gibt. 46 Zugleich erlauben Elemente wie Kleidung, Behaarung, Stimme, Gang, Gestik, Haltung usw. Zuordnungen auf einer relativ fluiden Skala von Gender-Kategorien. 47 In diesem Sinne bietet der öffentliche Raum des Gottesdienstes in Korinth ausreichend dazu Gelegenheit, die Körper der prophetisch redenden und betenden Männer wie Frauen kulturellen Missverständnissen auszusetzen. Wie sich aus 1Kor 14,23f. deutlich ergibt, ist für Paulus die Wirkung bestimmter Praktiken im Gottesdienst auf Außenstehende ein wichtiger Faktor in der Entscheidungsfindung; insbesondere dann, wenn diese Praktiken Anlass zu falschen Schlussfolgerungen geben. 48 Ähnlich sind wohl auch die kommunikativen Signale der Haartracht für Paulus missverständlich. Das damit verbundene öffentliche Irritationspotential lässt sich kulturell sowohl jüdisch als auch römisch einordnen. Die jüdisch-hellenistische Moralschrift Pseudo-Phokylides (1. Jh. n. Chr.) 210-214 rät: „Bei Knaben (soll man) nicht Locken wellen am Langhaar; nicht sollst du das Scheitel(haar) flechten oder Zöpfe zu Haarknoten (winden). Nicht schickt sich’s für Männer, langes Haar zu tragen, vielmehr nur für die schmucken Frauen. Behüte die Jugendblüte eines wohlgestalten Knaben; denn viele sind gierig nach Männer-Liebesgenuss.“ 49 Ähnlich beschreibt Philo die Knaben bei den Gastmählern der Reichen: „Sie schminken sich und untermalen die Augen; das Haupthaar flechten sie sehr sorgfältig und binden es zusammen. Sie haben nämlich dichtes, langes Haar, das ihnen entweder gar nicht geschnitten wird oder nur vorn an der Stirn an den Spitzen, damit die Haare dort gleich werden und genau die Form einer Kreisbahn annehmen.“ 50 Seneca, einem religiösen Kontext den Kopf zu bedecken. Die Frau hat stattdessen ihr langes und öffentlich hochgestelltes Haar. 46 Die antiken Physiognomisten haben sich ausführlich mit dem Zusammenhang von Körper und Seele beschäftigt; vgl. dazu Mayordomo, Konstruktionen, 103 f. und die dort angeführte Literatur. 47 Vgl. Kelly Olson, Masculinity, Appearance, and Sexuality. Dandies in Roman Antiquity, Journal of the History of Sexuality 23/ 2014, 182-205; Thorsten Fögen / Mireille M. Lee (Hg.), Bodies and Boundaries in Graeco-Roman Antiquity, Berlin / New York 2009. 48 Gemäß Paulus würden Außenstehende aus der Praxis der unübersetzten Zungenrede zu dem Ergebnis kommen, die Christusglaubenden in Korinth sind „(ekstatisch) von Sinnen“ (14,23: mainesthe ). 49 Übers. Nikolaus Walter, Fragmente jüdisch-hellenistischer Epik: Philon, Theodotus ( JSHRZ IV/ 3), München 1983, 215. 50 Philo, De vita contemplativa 50 f. (übers. K. Bormann, Über das betrachtende Leben, in: Leopold Cohn u. a. [Hg.], Philo von Alexandria: Die Werke in deutscher Übersetzung, DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 56 Moisés Mayordomo der Ältere, klagt über die jungen Männer, die u. a. durch „Lockenkräuseln“ und „unzüchtigen Putz“ sich verweichlichen. 51 Ovid bekennt gleich in der Einleitung seiner Liebesgedichte ( Amores ), dass sein Thema nicht Krieg ist, sondern die Liebe zu einem „Knaben oder Mädchen, das Haar kunstvoll geordnet und lang.“ 52 Demgegenüber rät der gleiche Autor dem sexuell aktiven Mann: „Nicht aber soll’s dir gefallen, mit Eisen die Haare zu kräuseln; kratziger Bimsstein reibe nicht die Schenkel dir glatt. Das lass jene nur tun, die die kybeleische Mutter ansingen mit dem Geheul phrygischer Weisen im Chor.“ 53 Aus diesen Texten ist etwas vorschnell der Schluss gezogen worden, dass die langen Haare Zeichen von Homosexualität sind. 54 Abgesehen von dem anachronistischen Charakter dieser Kategorie geht es eher um eine Frage der Performanz von Männlichkeit. Es ist bedeutsam, dass aus römischer Perspektive besonders die korinthischen Männer im Ruf standen ‚unmännlich‘ in ihrem Auftreten zu sein: 55 In einem Spott-Epigramm wettert Martial gegen Charmenion: „Da du dich als Landsmann der Korinther rühmst, Charmenion, was keiner bestreitet, weshalb nennst du mich dann ‚Bruder,‘ wo ich doch von Keltiberern stamme und Bürger des Tagus bin? Sehen wir uns etwa im Gesicht ähnlich? Du läufst pomadisiert mit onduliertem Haar Bd. 7, Berlin 1964); s. a. De specialibus legibus 3,37. 51 Seneca der Ältere, Controversiae I, praef . 1,8f. (übers. Otto Schönberger / Eva Schönberger, Lucius Annaeus, Seneca der Ältere. Sentenzen, Einteilungen, Färbungen von Rednern und Redelehrern, Würzburg 2004); in 5,6,1 diskutiert er einen Prozessfall von einem jungen Mann, der in Frauenkleidern und einer weiblichen Haartracht im Forum umhergeht. 52 Ovid, Amores 1,1,20: aut puer aut longas compta puella comas. 53 Ovid, Ars amatoria (vgl. Liebeskunst. Ars amatoria, Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Niklas Holzberg [Sammlung Tusculum], Berlin 5 2011) 1,505-508. Mit dem „Geheul“ an die „kybeleische Mutter“ sind die Eunuchen-Priester des Kybele-Kultes gemeint. Vgl. weiterhin Musonius, Frg. 21; Epiktet, Dissertationes 3,1,24-36; Strabo, Geographica 10,3,8; Clemens von Alexandria, Paedagogus 3,15,1; Belege aus den Papyri in Peter Arzt-Grabner, u. a. 1. Korinther (PapKNT 2), Göttingen 2006, 382-386. Zur kommunikativen Bedeutung von Behaarung vgl. Maud W. Gleason, The Semiotics of Gender. Physiognomy and Selffashioning, in: David M. Halperin u. a. (Hg.), Before sexuality. The Construction of Erotic Experience in the Ancient Greek World, Princeton 1990, 389-415, 401f. 54 Murphy-O’Connor, Keys, 145.159. 55 Vgl. Michael Brinkschröder, Sodom als Symptom. Gleichgeschlechtliche Sexualität im christlichen Imaginären - eine religionsgeschichtliche Anamnese (RVV 55), Berlin 2006, 493-495; Hans Peter Obermayer, Martial und der Diskurs über Männliche ‚Homosexualität‘ in der Literatur der frühen Kaiserzeit (Classica Monacensia 18), Tübingen 1998, 119, Anm. 104. Allgemein zur römischen Verknüpfung von Hellenisierung und ‚Verweiblichung‘ vgl. Catharine Edwards, The Politics of Immorality in Ancient Rome, Cambridge 1993, 92-97. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1.-Korinther 11,2-16 57 herum, ich widerspenstig mit meinem spanischen Schopf; du glatt von der täglichen Enthaarungsprozedur, ich mit stachligen Beinen und Wangen; dein Mund lispelt, und schwach ist deine Zunge, bei mir reden kräftiger selbst die Gedärme noch: ‚So unähnlich ist nicht die Taube dem Adler oder die flüchtende Gazelle dem grausamen Löwen.‘ Hör’ daher auf, mich ‚Bruder‘ zu nennen, sonst nenn’ ich dich, Charmenion, ‚Schwester‘! “ 56 Ähnlich spottet Juvenal: „Vielleicht magst du die unkriegerischen Rhodier und das parfümierte Korinth mit Recht verachten: was könnten dir schon die enthaarte Jugend und die glatten Beine des ganzen Stammes anhaben? “ 57 Der stoische Philosoph Epiktet hält einem Schüler, der mit auffällig kunstvoller Frisur und besonders elegant gekleidet zu ihm kommt, eine Rede über die Schönheit ( Diatr . 3,1). Dabei hält er ihm vor, dass er „lieber ein Weib als ein Mann sein“ wolle (3,1,29, übers. Muecke) und schlägt ihm ironisch vor: „Du magst, wenn du so denkst, ein Bürger von Korinth werden, du taugtest vielleicht dort zum Bürgermeister oder Jugendvorsteher oder Stadthauptmann oder Kampfrichter.“ 58 Historisch erscheint es mir plausibel, dass Paulus im Gottesdienst eine Praxis unterbinden will, die er als typische Ausdrucksform von korinthischem Hochmut und moralischer Dekadenz auffasst. Es geht dabei offensichtlich um die symbolische Darstellung von Männlichkeit in einer deutlichen Polarität zu 56 Martial, Epigrammata 10,65 (vgl. Epigramme, Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Paul Barié und Winfried Schindler [Sammlung Tusculum], Berlin 3 2013). Der erotisch-derbe Subtext ist klar erkennbar, wenn man in frater den aktiven und in soror den passiven Sexualpartner bezeichnet sieht; vgl. (unter Hinweis auf Martial 2,4,3; 8,81,6; 12,20) Obermayer, Martial, 247 f. Amy Richlin , The Garden of Priapus. Sexuality and Aggression in Roman Humor, Oxford 2 1992, 137 sieht hinter diesem Text „a threat of anal rape.“ Zu weiteren Invektiven gegen verweiblichte Männer siehe Martial 2,29; 3,63; 5,41. 57 Juvenal, Satirae 8,113-120 (vgl. Satiren. Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Joachim Adamietz [Sammlung Tusculum], Mannheim 1993); s. a. Juvenal, Satirae 2,96-98. 58 Cicero , De re publica 2,7-9 lässt sich darüber aus, dass Hafenstädte sittlich leichter verrohen und führt Karthago und besonders Korinth als Beispiel dafür an. Die geographische Bedeutung von Korinth im Eselsroman von Apuleius ( Metamorphoseon , insbes. in Buch X) ist darauf zurückzuführen, „that Corinth traditionally represented a kind of ‚Vanity Fair‘, known for its loose morals and perversities“ (Maaike Zimmerman, Apuleius Madaurensis Metamorphoses, Book X. Text, Introduction and Commentary, Groningen 2000, 18). Bruce W. Winter, After Paul left Corinth. The Influence of Secular Ethics and Social Change, Grand Rapids, MI 2001, ixx und 132 f. verweist auf die Gefangenenfassade in der Agora von Korinth, in der die korinthischen Kriegsgefangenen mit langem Haar unmännlich dargestellt werden. Vgl. allerdings die neue Deutung von Volker Michael Strocka, Die Gefangenenfassade an der Agora von Korinth. Ihr Ort in der römischen Kunstgeschichte (Eikoniká, Kunstwissenschaftliche Beiträge 2), Regensburg 2010, der die Fassade im Zusammenhang mit Neros Krönung des Tiridates im Jahre 63 auslegt. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 58 Moisés Mayordomo Weiblichkeit. Vor dem Hintergrund römischer Polemik, ist Paulus zwar recht zurückhaltend, aber er sieht deutlich eine ‚natürliche‘ Anstandsregel verletzt. 2.3 Ambivalenzen und Brüche in der Argumentation Trotz der dominanten Funktion von Ehre und Schande in der Argumentation von 1Kor 11,2-16 gibt es auch destabilisierende Elemente. Denn in den Versen 11 f. leitet Paulus mit der adversativen Partikel plēn eine einschränkende Korrektur ein. 59 Er erinnert an die Existenz der Christusglaubenden „im Herrn,“ an das neue Sein. Daraus zieht er den Schluss, dass Männer und Frauen in gleicher Weise aufeinander bezogen sind. Es klingt wie eine Erinnerung an die Taufformel in Gal 3,28 („…nicht männlich und weiblich“). 60 Interessanterweise kann Paulus auch diese Form von Interdependenz mit einer natürlichen ‚Ordnung‘ in Verbindung bringen (11,12): Der Mann wird von einer Frau geboren. Damit stellt der Text gleich mehrere Ursprungsgeschichten nebeneinander: In der einen ist die Frau einseitig dem Mann zugeordnet, weil er ihr Ursprung ist. In der anderen entstammt der Mann aus der Frau, so dass beide „im Herrn“ aufeinander bezogen sind. Schließlich kommt „alles von Gott.“ Der Text bietet demnach nicht nur einen normativen Begründungsversuch, sondern problematisiert seine Wirkmechanismen. 61 Wenn es nämlich mehrere Ursprünge gibt und wenn sich diese nicht so einfach miteinander korrelieren lassen, dann lassen sich entweder alternative Normen oder gar keine Normen begründen. Vielleicht liegt darin nicht nur die Schwäche, sondern letztendlich auch die Stärke dieses Textes, dass er relativ ungeschützt diesen Normenkonflikt freilegt. Konsequenterweise überlässt es Paulus den korinthischen Männern und Frauen, eine eigene mündige Entscheidung zu treffen. In Vers 10 gesteht er ein, dass die Frau ‚Autorität, Macht‘ ( exousia ) über ihren Kopf hat; 62 in 11,13 appelliert er an ihre Urteilsfähigkeit (vgl. 10,15) und gleich zu Beginn lobt er sie für ihre grundsätzliche Treue zur Überlieferung (11,2). Auch wenn Paulus u. a. mit der Verletzung männlicher Ehre argumentiert, sind nicht die Männer dafür zu- 59 Zeller, 1Korinther, 352. 60 Marshall, Women Praying, 176. Lässt Paulus das Gegensatzpaar ‚männlich / weiblich‘ in 1Kor 12,13 ( Jude / Grieche, Sklave / Freier) aus strategischen Gründen aus? 61 Vgl. zu dieser Spannung Daniel Boyarin, Paul and the Genealogy of Gender, Representations 41/ 1993, 1-33, hier 15f. 62 Früher ist diese Stelle meist passiv interpretiert worden: Die Frau hat sich den Kopf zu bedecken als Zeichen, dass sie unter der Autorität des Mannes steht. Philologisch ist diese Auslegung unmöglich, weil exousia sich immer auf die aktive Freiheit und Autorität bezieht. Das steht spätestens seit der Studie von Morna D. Hooker, Authority on her Head. An Examination of 1 Cor 11,10, NTS 10/ 1974, 410-416 fest. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003 Überlegungen zum paulinischen Männlichkeitsdiskurs anhand von 1.-Korinther 11,2-16 59 ständig, das öffentliche Verhalten ihrer Glaubensschwestern zu regulieren. 63 Sie sind als christliche Subjekte moralisch für ihr eigenes Handeln verantwortlich. 3 Zum Schluss In den korinthischen Gottesdiensten senden die Körper (insbesondere die Haare) der prophetisch redenden und betenden Frauen und Männer in der Wahrnehmung des Paulus ambivalente Signale aus. Was vielleicht für die betreffenden Akteure als kreativ-pneumatischer Freiheitsraum erlebt wurde, möchte der Apostel kritisch hinterfragen. Dabei ist es kaum belanglos, dass er als Mann und ‚Vater‘ der Gemeinde spricht. 64 Seine Argumentation ist bestimmt von einer männlich dominierten und strikt auf Gott bezogenen Abfolge von Ehre-und- Schande-Relationen: Das öffentliche Verhalten von Frauen hat Folgen für die Ehre des Mannes. Entsprechend wird das öffentliche Verhalten von christlichen Männern mit der Ehre Christi verknüpft. In seinem Bemühen um argumentative Gründe verbindet Paulus Ursprung und Normativität, Natur und Konvention und greift dabei völlig selbstverständlich auf die kulturellen Anerkennungsmechanismen seiner Zeit zurück. Dazu gehören auch Grenzmarkierungen zwischen akzeptablen und nicht-akzeptablen Repräsentationen des Männlichen. Wie sein Ausschluss der ‚Weichlinge‘ ( malakoi ) aus der Gottesherrschaft in 1Kor 6,9 zeigt, drängt Paulus dazu, sich den Ausdrucksformen hegemonialer römischer Männlichkeit in der Öffentlichkeit anzupassen. Indem er in 1Kor 11,7-9 einem konventionellen Argument einen schöpfungstheologischen Rahmen gibt, ‚naturalisiert‘ er Normen, die für viele Juden und Römer gesellschaftlich anerkannt waren. Gleichzeitig nimmt er damit Ambivalenzen und Brüche in Kauf. Denn ‚im Herrn‘ sind die Geschlechter in einer deutlichen Interdependenz aufeinander bezogen und Frauen sind eigenständige moralische Entscheidungssubjekte. 65 Das Geschlechterverhältnis gerät damit in Bewegung: Nach außen entspricht es den Ansprüchen männlicher Performanz und Dominanz, nach innen jedoch stehen eigenständige Subjekte in einem Interdependenz-Verhältnis zueinander, das ganz auf die Ehre Gottes ausgerichtet ist. 66 63 Dass verletzte Ehre schnell in Zorn und Rache übergehen konnte, zeigt der enge Zusammenhang zwischen pudor (Scham) und ira (Zorn); vgl. dazu Barton, Honor, 265f. 64 Zu Paulus als Vaterfigur vgl. Trevor J. Burke, Paul’s role as ‚father‘ to his Corinthian ‚children‘ in socio-historical context (1 Corinthians 4: 14-21), in: Burke / Elliott (Hg.), Paul and the Corinthians, 95-113. 65 Wie 1Kor 7,3f. eindrücklich zeigt. 66 Vgl. zur Interdependenz der Geschlechter Watson, Authority. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0003