eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 25/49

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0004
2022
2549 Dronsch Strecker Vogel

Der johanneische Jesus - queer gelesen

2022
Silke Petersen
Der johanneische Jesus - queer gelesen Silke Petersen Zu Beginn der frühchristlichen Schrift mit dem Titel das Apokryphon des Johannes sitzt eben dieser Johannes auf einem einsamen Berg, sehr ratlos und erkenntnisbedürftig. Verunsichert durch Rückfragen eines Pharisäers fragt er sich, warum der Erlöser in die Welt gesandt worden sei, wer der Vater sei, der ihn gesandt habe, und wie der zukünftige Äon wohl beschaffen sein würde. Während Johannes noch über diese Fragen meditiert, öffnen sich die Himmel und die ganze Welt wird erschüttert. Johannes fürchtet sich und sieht, wie ihm eine Lichtgestalt erscheint, die während der Erscheinung ihr Aussehen und ihr Alter verwandelt. Johannes versteht dieses Wunder nicht, woraufhin die Lichtgestalt ihn anredet und sagt: „Johannes, warum wunderst du dich und fürchtest dich? (…) Sei nicht kleinmütig. Ich bin, der immer bei euch ist. Ich bin der Vater, ich bin die Mutter, ich bin der Sohn. (…) Nun bin ich gekommen, um dich zu lehren, was ist und was war und was sein wird, damit du die unsichtbaren und die sichtbaren Dinge erkennst.“ 1 Im größten Teil des folgenden Textes beantwortet und erläutert die erschienene göttliche Gestalt die Fragen des Johannes. Es geht dabei um die Entstehung der Welt und der Menschen und um deren Rettung aus ihrem weltlichen Dasein. Die langen und zum Teil komplizierten Ausführungen zu diesen Themen werden im Verlauf des Textes durch kurze Zwischenfragen des Johannes unterbrochen. Am Ende kehrt der Text noch einmal zur Rahmenhandlung zurück: Die göttliche Gestalt entschwindet und Johannes begibt sich zu den anderen Jünger*innen, um diesen das erhaltene Wissen mitzuteilen. Dabei wird die erschienene Gestalt wiederum „Erlöser“ ( sotēr ) genannt. Zudem finden sich in den Passagen, in denen Johannes seine Zwischenfragen stellt, auch die Bezeichnungen „Christus“ und „Herr“ für die Offenbarergestalt. Deutlich ist: Die sich verwandelnde 1 BG (p. 21,14-22,12) nach der koptisch-englischen Textausgabe: Michael Waldstein / Frederik Wisse (Hg.), The Apocryphon of John. Synopsis of Nag Hammadi Codices II,1; III,1 and IV,1 with BG 8502,2 (NHMS 33), Leiden u. a. 1995, 16-18; deutsche Gesamtübersetzung: Michael Waldstein, Das Apokryphon des Johannes (NHC II,1; III,1; IV,1 und BG 2), in: Ursula U. Kaiser / Hans-Gebhart Bethge (Hg.), Nag Hammadi Deutsch, Berlin / Boston 3 2013, 74-122. Alle Übersetzungen sind hier und im Folgenden meine eigenen. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 62 Silke Petersen Gestalt ist der auferstandene Christus, der seinem Jünger Johannes in einer Erscheinung göttliches Wissen mitteilt. Das Apokryphon des Johannes ist uns in mehreren koptischen Versionen überliefert, zusätzlich ist auch ein Teil in griechischer Sprache als Zitat bei dem Kirchenvater Irenäus von Lyon erhalten, der um 180 n. Chr. schrieb. 2 Der Text muss also im zweiten bis vierten Jahrhundert relativ weit verbreitet gewesen sein, er wurde in verschiedenen Sprachen gelesen und mehrfach übersetzt. Durch den Jünger Johannes als Offenbarungsempfänger steht der Text zudem in der Tradition anderer Schriften, die unter diesem Namen überliefert sind. Der im Apokryphon des Johannes erscheinende Christus ist ein instabile Gestalt, sowohl im Hinblick auf sein Alter und Aussehen als auch in seiner Geschlechtsidentität: Er stellt sich u. a. als Mutter vor, und in späteren Passagen der Schrift wird er (in einigen der erhaltenen Fassungen) mit einer weiblichen Offenbarergestalt, der Pronoia , identifiziert. Dieser Christus scheint eine im Hinblick auf sein Geschlecht multiple Figur zu sein, keine ungeschlechtliche. Dies lässt sich möglicherweise als „queer“ einordnen. Zunächst ist dazu jedoch zu klären, was „queer“ und „queere Exegese“ meinen und bedeuten kann. 1 Queere Exegese? Historisch gesehen lassen sich Queer Studies als eine Erweiterung und Verschiebung von Gender Studies verstehen. Schon die Fokussierung auf Gender als Analysekategorie bedeutete für die Frauenforschung und die feministische Exegese eine Erweiterung des Blickfeldes, da nun schwerpunktmäßig auch die Art und Weise in den Blick genommen wurde, wie die Geschlechterdifferenz konstruiert wurde und wird. Im Hinblick auf die Queer Studies verschiebt sich die Perspektive noch einmal. Explizit wird nun die Kritik an und die Dekonstruktion von heteronormativen Kategorisierungen von Sex, Gender und Sexualität. 3 Die queere Perspektive bedeutet dabei ein Sichtbar-Machen von LGBTIQ-Maginalisierungen (die Abkürzungen wechseln je nach Kontext; hier in Anknüpfung an den englischsprachigen Diskurs für: lesbian , gay , bisexual , transgender , intersexual , queer ). Das letzte Element der Reihe, also queer , wird dabei auch als zusammenfassendes Kürzel aller vorherigen verwendet. 2 Irenäus von Lyon, Adversus Haereses 1,29. 3 Hingewiesen sei auf zwei relevante Sammelbände aus dem US-amerikanischen Kontext: Deryn Guest u. a. (Hg.), The Queer Bible Commentary, London 2 2007; Teresa J. Hornsby / Ken Stone (Hg.), Bible Trouble: Queer Reading at the Boundaries of Biblical Scholarship (SemeiaSt 67), Atlanta 2011. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 Der johanneische Jesus - queer gelesen 63 Dies bietet einen Anhaltspunkt für die Bedeutung, greift aber dennoch etwas kurz, denn bei der Queer Theory handelt es sich (soweit überhaupt definierbar) um einen diskurstheoretischen (De-)konstruktivismus, der primär nicht auf der empirischen gesellschaftlichen Ebene ansetzt. Insofern gibt es eine komplementäre Sichtweise zwischen Gender Studies einerseits und Queer Studies andererseits: „Die eine Perspektive ist gut darin, empirische Prozesse wie die Konstruktion von Geschlecht zu rekonstruieren, die andere dagegen bekommt eher gesellschaftliche Machtverhältnisse in ihrer Verschränkung mit Sozialstruktur in den Blick.“ 4 Die Rolle, die die Dekonstruktion für die Queer Studies einnimmt, lässt sich dabei am besten im Blick auf das verstehen, was dekonstruiert werden soll: Zum einen geht es gegen Heteronormativität, d. h. gegen eine Voreingenommenheit, die Heterosexualität als die Norm und „das Normale“ setzt, zum anderen gegen die damit oft verbundene Annahme einer grundlegenden (oder sogar naturgegebenen) Binarität der Geschlechter, in der Zwischen- oder Übergangsformen wie Transidentität oder Intersexualität nicht gesehen werden (können und dürfen). Bei der Übertragung des theoretischen Ansatzes der Queer Studies auf die Exegese antiker Texte ergibt sich noch zusätzlich die Schwierigkeit, dass das eben von mir verwendete Vokabular in ihnen nicht vorhanden ist, und sich auch nicht voraussetzen lässt, dass unsere Modelle etwa von Gender oder Heterosexualität für antike Gesellschaften passend sind. Insbesondere bei den vermeintlich „biologischen Selbstverständlichkeiten“ ist Vorsicht geboten, da 4 So Nina Degele, Gender / Queer Studies. Eine Einführung (Basiswissen Soziologie, UTB 2986), München u. a. 2008, 19. Zu den Grundlagen vgl. auch: Annamarie Jagose, Queer Theory. Eine Einführung, Berlin 2001. Prof. Dr. Silke Petersen studierte Evangelische Theologie in Hamburg, war dort anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin und promovierte dort 1998 mit einer Arbeit über Jüngerinnen Jesus in christlich-gnostischen Schriften. Nach einem Postdoktorandenstipendium der DFG an der Universität Würzburg im interdisziplinären Graduiertenkolleg Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen folgte eine Zeit als Hochschulassistentin an der Universität Hamburg und 2005 die Habilitation mit einer Arbeit über die Ich-bin-Worte des Johannesevangeliums. Seit 2011 ist sie apl. Professorin für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 64 Silke Petersen die antike Theoriebildung zu Geschlecht und Sexualität (die es durchaus gab) anders funktioniert als unsere heutige. So ist es für antike medizinische Abhandlungen wie etwa die von Galen klar, dass Männern und Frauen genau dieselben Organe haben: Der einzige Unterschied ist, dass jene Organe, die bei den Männern außen liegen, bei den Frauen im Körperinneren zu finden sind. 5 Zurückzuführen ist der Unterschied letztlich auf einen Mangel an Wärme bei den Frauen, das bedeutet aber, dass Frauen oft als eine Art „minderwertige“ Männer konzipiert sind, und nicht als etwas fundamental Anderes als Männer. Nach Thomas Laqueur geht dem neuzeitlichen „Zwei-Geschlechter-Modell“ ein älteres „Ein-Geschlecht-Modell“ voraus, in dem Frauen sowohl biologisch wie auch sozial als unvollkommene Männer konzipiert sind. 6 Die unterschiedlichen Vorstellungen in Antike und Neuzeit belegen schon an sich den Konstruktionscharakter der Geschlechterdifferenz. „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ sind eben keine überzeitlichen Größen. Sie werden in Antike und Moderne unterschiedlich konstruiert, sowohl was ihre biologischen als auch was ihre sozialen Komponenten angeht. Beides ist darüber hinaus nur schwer zu trennen, weil auch die Biologie nach sozialen Erfordernissen gestaltet ist. 7 Nach diesen theoretischen Vorbemerkungen wende ich mich wieder dem Jesus der johanneischen Tradition zu, nun nicht in einem apokryph gewordenen Text, sondern im kanonisch gewordenen Johannesevangelium. Entsprechend der beiden Zielrichtungen der Queer Studies wird es zunächst um Heteronormativität gehen, dann um Binarität. Die Frage ist: Wie wird der johanneische Jesus im Hinblick auf diese beiden Größen dargestellt? 2 Der Jünger, den Jesus liebte Das Johannesevangelium ist nach Ausweis des Textes selbst von einem besonderen Jünger geschrieben, der allerdings durchgehend anonym bleibt. Am Schluss des Evangeliums heißt es: „Dieser ist der Jünger, der über diese Dinge Zeugnis ablegt und der dies geschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist“ 5 Galen, De usu partium, 14,6f. (Text bei Karl G. Kühn [Hg.], Claudii Galeni opera omnia, 20 Bde., Hildesheim 1821-1833 [Nachdruck Hildesheim 1964-1965], Bd. 4, 159 f.); vgl. Moisés Mayordomo, Jesu Männlichkeit im Markusevangelium. Eine Spurensuche, in: Ute E. Eisen / Christine Gerber / Angela Standhartinger (Hg.), Doing Gender - Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam (WUNT I/ 302), Tübingen 2013, 359-379; hier bes. 364. 6 Vgl. Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M. / New York 1992. 7 Vgl. zur grundlegenden Kritik an der vermeintlich neutralen Biologie: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt 1991, bes. 159-165. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 Der johanneische Jesus - queer gelesen 65 (21,24). Verfolgt man den Rückverweis „dieser Jünger“ in der Erzählung des Johannesevangeliums, so handelt es sich um „den Jünger, den Jesus liebte“ und der in Joh 21,20 damit als jener gekennzeichnet wird, der beim letzten gemeinsamen Mahl nach demjenigen gefragt hatte, der Jesus ausliefern würde. Dieser Verweis lädt uns ein, zu der entsprechenden Szene zurückzukehren: Beim letzten Mahl liegt Jesus gemeinsam mit seinen Jünger*innen zu Tisch und kündigt an, dass einer von ihnen ihn ausliefern würde. Diese sind ratlos und fragen sich, wen er meint. Es folgt der erste explizite „Auftritt“ des Lieblingsjüngers: 8 „Es lag aber einer von seinen Jünger*innen im Schoß Jesu, den Jesus liebte. Diesem nun nickt Simon Petrus zu, zu fragen, wer es wohl sei, über den er redet. Jener lehnt sich nun so zurück an die Brust Jesu und sagt ihm: Herr, wer ist es? “ ( Joh 13,23-25) Der Lieblingsjünger scheint näher an Jesus zu sein als Petrus, fragt dieser ihn doch um Hilfe bei der Lösung des Rätsels. Diese Beobachtung lässt sich durch weitere Szenen erhärten, in denen Petrus und der Lieblingsjünger in einem Spannungsverhältnis zueinander dargestellt werden. Besonders offensichtlich ist die Konkurrenz beider beim Wettlauf zum Grab, wo der Lieblingsjünger schneller ankommt, dennoch Petrus den Vortritt lässt, und letztlich nur von ihm und nicht von Petrus ausgesagt wird, er sei zum Glauben gekommen (vgl. Joh 20,2-10). Auch bei der letzten Szene des Evangeliums am See Genesaret, in welcher der Auferstandene erscheint, erkennt der Lieblingsjünger Jesus zuerst, er lässt Petrus aber an seiner Erkenntnis teilhaben. Petrus springt in seinem Enthusiasmus daraufhin in den See, um zum Ufer zu schwimmen - und kommt dort natürlich später an als die übrigen, die mit dem Boot auf dem See unterwegs sind ( Joh 21,7-11). Boote sind schneller als Schwimmer, was auch Petrus hätte wissen können. Es ist deutlich: Die Petrusdarstellung des Evangeliums ist nicht unbedingt freundlich diesem gegenüber, ganz im Gegensatz zu der Charakterisierung des Lieblingsjüngers. Letzteren finden wir auch (anders als in den synoptischen Evangelien) unter dem Kreuz stehen, wo Petrus nach der Verleugnung durch seine Abwesenheit hervorsticht, und Jesus den Lieblingsjünger zum Ersatzsohn seiner eigenen Mutter macht (vgl. Joh 19,26-27). Der Lieblingsjünger ist insgesamt an den entscheidenden Stellen der johanneischen Jesusgeschichte anwesend, er ist der Zeuge, der die johanneische Tradition verbürgt und garantiert. Er ist so sehr als Ideal gezeichnet, dass in der 8 Ich gehe mit Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 11-21 (ÖTK 4,2), Gütersloh 2 1984, 434-439, davon aus, dass Joh 13,23-25; 18,15f.; 19,26f.34f.; 20,2-10; 21,2- 8.20-24 jeweils über denselben Jünger reden. Möglicherweise hat dieser schon unter den namenlosen Erstberufenen (vor Petrus! ) in 1,37.40 seinen ersten Auftritt, was die Lesenden allerdings erst merken können, wenn sie das Evangelium mindestens einmal zu Ende gelesen haben und nach seinem ersten Auftritt suchen. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 66 Silke Petersen Forschung immer wieder diskutiert wurde und wird, ob es sich tatsächlich um eine reale Gestalt handeln könnte, und, wenn ja, ob er mit dem Zebedaiden und Jesusjünger Johannes identisch sei. Letzteres ist trotz der frühchristlichen Traditionssplitter, die den Lieblingsjünger und den Zebedaiden ab dem zweiten Jahrhundert identifizieren, schon aus Zeitgründen eher unwahrscheinlich. 9 Die Frage, ob es sich um eine symbolische Gestalt handelt, die möglicherweise erst nachträglich historisiert wurde, ist dagegen kaum sicher zu beantworten. Sie braucht uns hier auch nicht weiter zu interessieren, da es um die Darstellung der Figuren in der Erzählung des Evangeliums geht. Bei dieser ist deutlich: Jesus liebt einen Jünger, und dieser Jünger tritt rein grammatisch als eine Person im Singular Maskulinum auf. Das Lieben Jesu ist dabei mit zwei unterschiedlichen griechischen Vokabeln ausgedrückt ( agapan in 13,23; 19,26; 21,7.20 und philein in 20,2), es scheint sich um eine umfassende Liebe zu handeln. 10 Interessant ist dabei vor allem die oben zitierte Szene, in der der Lieblingsjünger „im Schoß“ Jesu liegt. In vielen Übersetzungen wird dies verschleiert (wenn er sich etwa „an seiner Seite“ befindet 11 ), die verwendete griechische Vokabel kolpos verweist jedoch auf etwas Anderes. Kolpos wird in antiken griechischen Texten auch übertragen gebraucht, so etwa für eine Meeresbucht, in die Schiffe hineinfahren können und wo sie geborgen sind (vgl. zu diesem Gebrauch etwa Apg 27,39). Im Sinne der menschlichen Anatomie heißt es jedoch Schoß - oder auch Vagina, Vulva oder Gebärmutter. Dies ist in allgemeinen altgriechischen Lexika deutlich, wird aber in speziell für das Neue Testament konzipierten gerne übergangen. 12 Anscheinend scheut man diese Betonung der körperlichen Nähe des Schoßes. Eine vergleichbare Inkonsequenz finden wir in der Luther-Übersetzung, die in ihren unterschiedlichen Varianten konstatiert, der Jünger habe „an der Brust Jesu“ gelegen. 13 Damit ergibt sich das Problem, dass sich eben der Jünger, der schon an der Brust Jesus liegt, zwei Verse später an diese zurücklehnt. Im griechischen Text werden zwei unterschiedliche Vokabeln gebraucht, zuerst kolpos , 9 Vgl. Jean Zumstein, Das Johannesevangelium (KEK 2), Göttingen 2016, 55f. 10 Im Text des Evangeliums gibt es so eine Aussage von Jesus noch einmal, dieses Mal allerdings bezogen auf mehrere Menschen: Maria, Martha und Lazarus (vgl. Joh 11,3.5). Dies hat dazu geführt, dass im Rätselraten um die Figur des Lieblingsjüngers dieser auch gelegentlich mit Lazarus identifiziert wurde. 11 Vgl. u. a.: Einheitsübersetzung 2016: „an der Seite Jesu“; Gute Nachricht Bibel: „saß neben ihm“; English Standard Version: „at Jesus’ side“; Hoffnung für alle: „Ganz nah bei Jesus.“ 12 Dies ergibt etwa ein Vergleich der Einträge zu kolpos in den verschiedenen Versionen von Liddell/ Scott/ Jones, A Greek-English Lexicon, und Bauer/ Aland, Wörterbuch zum Neuen Testament; weitere Beispiele bei Teresa Forcades i Vila, Body, Desire, and Identity. Reflections on the Notion of kolpos as Applied to the Father and the Son, in: Karlheinz Ruhstorfer (Hg.), Zwischen Progression und Regression: Streit um den Weg der katholischen Kirche, Freiburg i. Br. / Basel / Wien 2019, 245-265, hier bes. 254-256. 13 So durchgehend in der Luther-Übersetzung von 1545; 1912; 1984; 2017. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 Der johanneische Jesus - queer gelesen 67 dann stethos . Das Setting erklärt sich aus der Mahlsituation im Liegen, die dazu führt, dass die vordere Person auf der Liege quasi „im Schoß“ der hinteren liegt und sich zum Reden so auch sinnvoll an deren Brust zurücklehnen kann. Abb. 1: Zu Tisch Liegender in Ostia; © Silke Petersen 2010 Abb. 2: Zu Tisch Liegende in Rom; © Silke Petersen 2010 Während die Luther-Übersetzung im Fall von Joh 13,23.25 für zwei verschiedene griechische Worte dieselbe Wiedergabe verwendet, ist dies in einem anderen Fall genau umgekehrt: Die Vokabel kolpos gibt es noch ein zweites Mal im Evangelium, nämlich in Joh 1,18, wo vom Sohn ausgesagt wird, er sei im kolpos des Vaters, in den Luther-Versionen diesmal tatsächlich übersetzt als „in des Vaters Schoß.“ Was durch die inkongruente Wiedergabe unsichtbar gemacht wird, ist theologisch durchaus interessant: Parallelisiert wird im griechischen Text näm- DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 68 Silke Petersen lich das Verhältnis des Lieblingsjünger zu Jesus mit dem Verhältnis Jesu zu Gott. 14 Von beiden wird eine maximale, auch körperliche, Nähe ausgesagt: Der Lieblingsjünger verhält sich im Bezug auf den Schoß zu Jesus wie Jesus zu Gott. Ist die betonte Liebe Jesu zu diesem besonderen Jünger nun als queer im oben beschriebenen Sinne einzustufen? Ich zögere in diesem Zusammenhang - trotz der Betonung der körperlichen Nähe. In einem Parallelfall wird aus einigen frühchristlichen Texten über Jesus und Maria Magdalena heutzutage gerne (vor allem in populärer Literatur 15 ) abgeleitet, dieser sei mit jener liiert oder verheiratet gewesen, zum Teil werden auch gemeinsame Kinder erfunden. In jenen Texten, auf die sich solche Spekulationen beziehen, 16 ist zwar durchaus von der besonderen Liebe Jesu zu Maria Magdalena die Rede - allerdings geht es hier nicht um eine eheähnliche Beziehung, sondern darum, wer Jesu Botschaft wirklich verstanden hat und welche Figur aus dem Jünger*innenkreis sich in so großer Nähe zu Jesus befunden hat, dass sie in Jesu Abwesenheit seine Funktion übernehmen kann, und so die Weitergabe der jesuanischen Tradition garantiert. Wenn die moderne Rezeption daraus eine sexuelle Beziehung ableitet, so scheint dies eine die Sexualität übermäßig betonende Engführung. Dass dies in der modernen Rezeption eher im Falle Maria Magdalenas als in dem des Lieblingsjüngers geschieht, belegt allerdings, dass die sexuelle Engführung heteronormativ grundiert ist. Sucht man nach Beziehungen Jesu in den Evangelien, so ist jedenfalls in den kanonisch gewordenen Texten die (auch körperlich) engste Beziehung Jesu jene zu dem „Jünger, den Jesus liebte.“ Auch wenn man diese Beziehung nicht sexuell deutet, heteronormativ ist sie auf keinen Fall zu lesen. 3 Die weibliche Seite Jesu Die andere oben erwähnte Fragerichtung, nämlich jene nach der Binarität Jesu, ist sowohl komplexer als auch vielversprechender. Eben schon hatte sich im Hinblick auf den kolpos Jesu angedeutet, dass es sich um eine Vokabel handelt, die in antiken Texten (aber auch im modernen Griechisch), häufig für einen 14 Noch bei einer anderen Formulierung werden Jesus und der Lieblingsjünger parallelisiert: In Joh 1,11 kommt Jesus „in das Seinige“ ( eis ta idia ), in Joh 19,27 nimmt der Lieblingsjünger Jesu Mutter mit „in das Seinige“ ( eis ta idia ) - auch dies ist in den meisten Übersetzungen unsichtbar. 15 Vgl. u. a. Dan Brown, Sakrileg. The Da Vinci Code, Thriller, aus dem Amerikanischen von Piet van Poll, Vollständige, erweiterte Taschenbuchausgabe, Bergisch Gladbach 2006 (The Da Vinci Code 2003). 16 Es handelt sich vor allem um das Evangelium nach Maria (BG 1) und das Evangelium nach Philippus (NHC II,3); zum Ganzen vgl. Silke Petersen, Die Jüngerin, die Jesus liebte (Biblische Gestalten 23), Leipzig 3 2019. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 Der johanneische Jesus - queer gelesen 69 weiblichen Teil der menschlichen Anatomie verwendet wird, für die Vagina oder Vulva. 17 Folgt man dieser Spur im Hinblick auf die Körperteile Jesu, so lassen sich noch weitere interessante Beobachtungen in den Schriften der Johannestradition machen: In Joh 7,38 heißt es: „Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Bauch ( koilia ) fließen“ - nicht ganz klar ist, ob sich der Vers speziell auf Jesus oder auf alle Glaubenden bezieht; deutlich aber ist dies ein Bild, dass eher weiblich als männlich anmutet: Koilia wird oft auch für „Mutterleib“ verwendet, so auch an der einzigen anderen Belegstelle im Johannesevangelium (vgl. Joh 3,4). 18 In der Offenbarung des Johannes 19 erscheint Jesus als der „Menschensohn,“ von ihm wird ausgesagt, dass er einen goldenen Gürtel trägt, und zwar um oder „bei seinen Brüsten“ ( pros tois mastois , Offb 1,13). Die hier gebrauchte griechische Vokabel mastoi bezieht sich üblicherweise in biblischen Belegen auf weibliche Brüste: Bei den beiden anderen neutestamentlichen Vorkommen der Vokabel geht es ums Stillen (vgl. Lk 11,27; 23,29), ein entsprechender Sprachgebrauch ist auch in der Septuaginta breit belegt. 20 Möchte man nicht annehmen, dass die „Brüste“ aus Offb 1,13 lediglich auf das oft spezielle Griechisch dieser Schrift zurückzuführen sind, bleibt die Konsequenz, dass (zumindest der erscheinende himmlische) Christus Körperteile haben kann, die üblicherweise weiblich konnotiert sind - im Kontrast dazu gibt es keine Betonung üblicherweise männlich konnotierter Körperteile Jesu Christi im Neuen Testament. 21 Zu den genannten (potentiell) weiblichen Körperteilen passen auch spätere Aussagen bei einigen Kirchenvätern: So meint etwa Irenäus von Lyon, dass Christus sich uns, um uns nicht zu überfordern, zunächst wie Kindern als Milch gibt und uns „von der Brust seines Fleisches“ ( a mammilla carnis eius ) ernährt. 22 Und in einem bei Clemens von Alexandrien überlieferten frühen Hymnus auf Jesus Christus geht es um die „Mutterbrust des Logos.“ 23 Die späteren Texte greifen hier Vorstellungen auf, die im Neuen Testament schon angelegt sind. 17 Vgl. dazu auch Forcades, Body, 255f. 18 Vgl. u. a. Dtn 28,4.11; Ri 16,17; Hi 1,21, Rut 1,11; Mi 6,7; Lk 1,41f..44; 2,21; 11,27; 23,29. 19 Ich gehe nicht davon aus, dass die Offenbarung von demselben Autor stammt wie das Evangelium (oder die Briefe oder das Apokryphon oder die Johannesakten ), dennoch gibt es traditions- und motivgeschichtliche Berührungen aller dieser „johanneischen“ Schriften. Das moderne Autor-Konzept ist für antike Texte ohnehin problematisch. 20 Auch dort geht es ums Stillen (Hiob 3,12; Hos 9,14; Jes 66,11 u. ö.), oder um die Schönheit weiblicher Brüste (Hld 4,5.10; 7,4.8.9 u. ö.; Ez 16,7 u. ö.). 21 Zu den verschiedenen Körperteilen vgl. insgesamt: Silke Petersen, Der Körper Gottes und der Körper Jesu im Neuen Testament, EvTh 78/ 2018, 19-31. 22 Irenäus von Lyon, Adversus Haereses 4,38,1 (Übers. N. Brox, FC 8,4, Freiburg i. Br. 1997, 334 f). 23 Clemens von Alexandrien, Paedagogus 3,12,101,3 (GCS 12, Berlin 3 1972, 292; Übers. O. Stählin, BKV 2,8, München 1934, 223). Vgl. dazu auch: Silke Petersen, Die Weiblichkeit DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 70 Silke Petersen Ähnliches lässt sich auch bei der johanneischen Kreuzigungsszene beobachten, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Seitenwunde Jesu. Dem johanneischen Jesus wird, als er gerade gestorben ist, von einem Soldaten mit einem Speer die Seite durchbohrt, man könnte auch sagen: Er wird penetriert ( Joh 19,34). 24 Abb. 3: Fresco von Fra Angelico (1395-1455), San Marco, Florenz, Kreuzigungsdarstellung mit der Penetration von Jesu Seite; © The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei Aus dieser Seitenwunde Jesu fließen Blut und Wasser, die als Bestätigung dafür dienen, dass er tatsächlich schon gestorben ist. Es gibt aber auch noch weitere Bedeutungsebenen: In den Kommentierungen des Johannesevangeliums wird zu dieser Stelle meist eine Verbindung mit den Sakramenten hergestellt: Blut repräsentiert das Abendmahl und Wasser die Taufe. 25 Jesus bringt aus seiner Jesu Christi, in: Elmar Klinger / Stephani Böhm / Thomas Franz (Hg.), Die zwei Geschlechter und der eine Gott, Würzburg 2002, 97-123. 24 Zur Interpretation dieser Szene als „Penetration“ vgl. u. a. Adeline Fehribach, The Birthing Bridegroom. The Portrayal of Jesus in the Fourth Gospel, in: Amy-Jill Levine u. a. (Hg.), A Feminist Companion to John, Bd. 2, London / New York 2003, 104-129. Fehribach sieht Jesus als den messianischen Bräutigam (u. a. mit Verweis auf Joh 3,29 und die Brunnenszene in Joh 4) und kommentiert zur Kreuzigungsszene: „The penetration of the (feminzed) Jesus by the phallic spear (found only in the Fourth Gospel) constitutes the messianic Marriage. Mieke Bal has identified such a sexual role reversal in the story of Jael’s driving a tent into Sisera’s temple ( Judg 4,21f.).“ Und weiter: „Thus, by willingly embracing the female role, Jesus transforms death into life“ (122). 25 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 731 f. (weitere dort). DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 Der johanneische Jesus - queer gelesen 71 Seite somit die (johanneische) Gemeinde hervor und ernährt sie dann auch. Vor allem die Nahrungsgabe wird in vielen bildlichen Darstellungen der Kreuzigung inszeniert, in denen Engel das Blut des gekreuzigten Jesus in Kelchen sammeln, die sie u. a. unter seine Seitenwunde halten. Die Seitenwunde als eine nahrungsspendende Körperöffnung ist auch in anderen Darstellungen präsent, sehr deutlich etwa in einem Ölgemälde Francesco Vannis, in dem die heilige Katharina neben Jesus kniet und aus seiner Seitenwunde trinkt. Abb. 4: Francesco Vanni, Die heilige Katherina trinkt aus der Seitenwunde Jesu (um 1594), San Girolamo, Siena; © Mongolo1984, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons Und schließlich gibt es auch separate Darstellungen der Wunden Jesu (d. h. es werden nur die Wunden abgebildet, nicht Jesus als Gesamtperson). Diese Wunden spielten vor allem in der mittelalterlichen (Passions-)Frömmigkeit eine große Rolle, was uns heute eher befremdlich erscheint. Neben den Wunden an Händen und Füßen ist dabei die Seitenwunde zentral, sie kann als eine Art „verrutschte Vulva“ 26 dargestellt werden, so z. B. in einem Gebetbuch, angefertigt für die Herzogin von Burgund im frühen 14. Jahrhundert. 26 Vgl. Elisabeth von Samsonow, Die verrutschte Vulva. Entwurf einer neuen Organtheorie, in: Claudia Benthien / Christoph Wulf (Hg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 72 Silke Petersen Abb. 5: Die Seitenwunde als „verrutschte Vulva“: Psalter aus dem frühen 14. Jh. für die Herzogin von Burgund; © Jean Le Noir via Wikimedia Commons In dieser Darstellung, bei der es sich nicht um einen Einzelfall handelt, ist die Seitenwunde zu einem üblicherweise weiblich konnotierten Körperteil geworden. 27 Was sich an den bislang aufgeführten Beispielen zeigt, ist eine Art von Instabilität der Genderzuordnung Jesu in den johanneischen Schriften. Im Apokryphon des Johannes stellt er sich als Mutter vor, in Evangelium und Offenbarung werden ihm sonst weiblich konnotierte Körperteile zugeschrieben, und in der johanneischen Version der Kreuzigung (und nur in dieser) wird Jesus penetriert - und ernährt dadurch die Menschen, die auf der Suche nach Nahrung (rowohlts enzyklopädie), Reinbek 2001, 339-361, zu Christus(darstellungen) vgl. bes. 352-359 mit Abbildungen. 27 Vgl. zu dieser Entwicklung auch: Caroline W. Bynum, The Body of Christ in the Later Middle Ages. A Reply to Leo Steinberg, RenQ 39/ 1986, 399-439. Eine sehr spezielle Verehrung der Seitenwunde findet sich auch in späterer Zeit im Kontext des Pietismus bei der Herrenhuter Gemeinde um Graf Zinzendorf, vgl. Benedikt Bauer, A Man Is Only as Good as His Words! ? Inqueeries on Jesus’ Gender, Religion and Gender 10/ 2020, 135-154, hier bes. 142f. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 Der johanneische Jesus - queer gelesen 73 zu ihm kommen. Die verzeichnete geschlechtliche Instabilität scheint dabei in erster Linie eine Anreicherung der Jesusgestalt mit weiblicher Metaphorik und weiblichen Körperteilen zu sein, die sich durchaus als queer beschreiben lässt. Die entscheidende Rolle gerade des Johannesevangeliums für solche Vorstellungen könnte damit zusammenhängen, dass in ihm zwei Themen theologisch zentral sind, die der „Verweiblichung“ Jesu zugrunde liegen, nämlich die Nahrungsgabe und die Realität der Inkarnation. Beide Themen sind im Johannesevangelium theologisch entscheidend und zudem miteinander verbunden. Im Hintergrund steht dabei die dieses Evangelium prägende Sophia-Christologie, der ich mich deshalb in einem nächsten Punkt zuwende. 4 Jesus, Sophia und Pronoia Den johanneischen Jesus kann und soll man essen (auch dies lässt sich als queer verstehen, liest man queer im Sinne von Seltsamkeiten und Dekonstruktion). Jesus lädt uns dazu ein, ihn zu verzehren: „Wer mein Fleisch kaut und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben,“ sagt der johanneische Jesus mit sehr konkret formulierten Worten ( Joh 6,56). Im Evangelium selbst sind die Reaktionen auf diese Zusage gespalten, selbst im Kreis der Jünger*innen meinen etliche, Jesu Reden wären schockierend und wenden sich von ihm ab (vgl. Joh 6,60.66). In der Forschung hat der sogenannte „eucharistische“ Abschnitt des Evangeliums, in dem Jesus zum Essen und Kauen seines Fleisches und zum Trinken seines Blutes auffordert (6,51c-58), zu problemumgehenden oder abschwächenden Interpretationen geführt: Der Abschnitt wird dazu entweder einer prosakramentalen späteren „kirchlichen Redaktion“ zugeschrieben (also nicht dem „echten“ Evangelisten) oder lediglich übertragen gelesen, zugehörig zu jener verbreiteten Metapherngruppe, in der die Aufnahme von Nahrung das Zu-sich-nehmen von Wissen bezeichnet. In Joh 6,51c-58 ginge es dann lediglich darum, Jesu Worte und Lehren aufzunehmen, zu „verzehren“ und zu „verdauen.“ 28 Gegen eine rein metaphorische Lesart spricht jedoch schon die Beobachtung, dass Jesu Aussagen im Evangelium selbst angegriffen und problematisiert werden, was nicht für ihre Harmlosigkeit spricht, sondern dafür, die konkreten Sätze Jesu zunächst auch konkret zu lesen (was nicht heißt, dass es nicht auch hier weitere Ebenen 28 Zu Forschungsgeschichte und Interpretation des Textes vgl. Silke Petersen, Jesus zum „Kauen.“ Das Johannesevangelium, das Abendmahl und die Mysterienkulte, in: Judith Hartenstein / Silke Petersen / Angela Standhartinger (Hg.), „Eine gewöhnliche und harmlose Speise“? Von den Entwicklungen frühchristlicher Abendmahlstraditionen, Gütersloh 2008, 105-130; eine andere Einschätzung findet sich z. B. bei Jan Heilmann, Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen, Stuttgart 2014. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 74 Silke Petersen der Interpretation gibt, dass ist beim Johannesevangelium nahezu durchgehend der Fall). In Joh 6 lädt Jesus zum Essen ein und gibt sich zugleich selbst als Nahrung: „Ich bin das Brot des Lebens: Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern und wer an mich glaubt, wird niemals mehr dürsten“ ( Joh 6,35) heißt es schon vor dem „eucharistischen“ Abschnitt und im Anschluss an die johanneische Version der Brotvermehrungserzählung. Die Doppelrolle von Jesus als Nahrungsgeber und Nahrungsgabe in Joh 6 ist in der frühjüdischen Gestalt der Weisheit ( Sophia ) vorgezeichnet, die ebenfalls beide Rollen einnehmen kann. Sie lädt zum Essen ein: „Kommt, esst von meinen Broten und trinkt den Wein, den ich gemischt habe“ (Prov 9,5), gibt sich aber auch im Anschluss an die Einladung selbst als Nahrung: „Kommt zu mir, die ihr mich begehrt, und von meinen Früchten sättigt euch! Die mich essen, werden noch hungern, und die mich trinken, noch durstig sein“ (Sir 24,19.21). 29 Der letzte Satz wird in Joh 6,35 variierend aufgenommen, was zeigt, wie sehr die johanneischen Jesusdarstellung von der Weisheitstheologie geprägt ist. 30 Dies gilt auch für die Vorstellung der Präexistenz und Präsenz bei der Schöpfung von Sophia bzw. Jesus (vgl. Prov 8,22f.; Sir 24,9; Joh 1,1f.; 8,58), für die Sendung beider zu den Menschen (Sir 24,4.8; Joh 1,14) sowie für die menschliche Ablehnung, die als Konsequenz den Weggang beider hat ( Äthiopischer Henoch 42,1f. 31 ; Joh 1,10f.; 7,33f.; 20,17). Die Parallelen bewegen sich sowohl auf der strukturellen Ebene der Gesamterzählung wie auch auf der einzelner Züge und Charakterisierungen. So heißt es im Schlüsselvers des Evangeliums (1,14): „Der Logos wurde Fleisch und zeltete ( eskenosen ) unter uns“ (das „wohnte“ der meisten Übersetzungen ist eine Vereinfachung), in Aufnahme jener Sprache, die von der Weisheit gebraucht wird, die ebenfalls zum „Zelten“ in Israel in die Welt kommt (vgl. Sir 24,4.8 mehrfach mit Zelt / skene -Vokabular). 29 Bei den Weisheitstexten folge ich der Fassung der Septuaginta: Alfred Rahlfs (Hg.), Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, Stuttgart 1979. 30 Zu der hier verfolgten These vgl. u. a. Martin Scott, Sophia and the Johannine Jesus ( JSNT.S 71), Sheffield 1992, 83-173; Sharon H. Ringe, Wisdom’s Friends. Community and Christology in the Fourth Gospel, Louisville 1999; Samuel Vollenweider, Christus als Weisheit. Gedanken zu einer bedeutsamen Weichenstellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte, EvTh 53/ 1993, 290-310; Hans-Josef Klauck, „Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1Kor 1,24). Jüdische Weisheitsüberlieferungen im Neuen Testament, in: ders., Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments (NTOA 29), Fribourg / Göttingen 1994, 251-275. 31 Vgl. Siegbert Uhlig, Das äthiopische Henochbuch ( JSHRZ 7), Gütersloh 1984, 584: „Die Weisheit fand keinen Platz, wo sie wohnen konnte, da hatte sie eine Wohnung in den Himmeln. Die Weisheit ging aus, um unter den Menschenkindern zu wohnen, und sie fand keine Wohnung; die Weisheit kehrte an ihren Ort zurück und nahm ihren Sitz unter den Engeln.“ DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 Der johanneische Jesus - queer gelesen 75 Auch im Hinblick auf die Lichtmetaphorik lassen sich Parallelen konstatieren. So heißt es von der Weisheit: „Sie ist schöner als die Sonne und übertrifft jedes Sternbild. Sie ist strahlender als das Licht, denn diesem folgt die Nacht, doch über die Weisheit siegt keine Schlechtigkeit“ (Weish 7,29f.). Der johanneische Jesus bezeichnet sich entsprechend selbst als Licht: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern das Licht des Lebens haben“ ( Joh 8,12). Eine ebensolche Lichtmetaphorik findet sich nun auch in dem zu Beginn meines Artikels schon zitierten Apokryphon des Johannes . In den beiden erhaltenen längeren Fassungen dieses Textes gibt es einen Einschub mit einem Hymnus einer weiblichen Offenbarergestalt, der Pronoia , die zu den Menschen gesandt wird, um diese aus ihrem weltlichen Gefängnis zu befreien. 32 Dabei stellt sie sich insgesamt viermal selbst als „Licht“ vor, u. a. heißt es: „Denn ich bin der Reichtum des Lichtes, ich bin die Erinnerung der Fülle“ 33 und „Ich bin die Pronoia des reinen Lichtes, ich bin das Denken des jungfräulichen Geistes.“ 34 Interessanterweise ist der koptische Text mehrfach so formuliert, dass die beiden miteinander identifizierten Größen, also das sprechende „Ich“ des Textes und die Gestalt der Pronoia , beide als grammatisch weiblich gekennzeichnet werden. 35 Damit haben wir noch einen weiteren Fall von Geschlechterverwirrung, die die binäre Ordnung stört: Der erscheinende Christus, der sich selbst zu Beginn des Textes auch als „Mutter“ bezeichnet hatte, erscheint nun nicht nur in Gestalt der weiblichen Pronoia , sondern wird darüber hinaus auch noch selbst grammatisch als weibliches Subjekt behandelt. Es zeigt sich wiederum ein sehr flexibler Umgang antiker Texte mit Genderzuschreibungen. Schon Bultmann meinte im Hinblick auf vergleichbare Texte, dass das Geschlecht der Offenbarungsgottheit 32 NHC II p. 30,11-31,25 / NHC IV p. 46,23-49,6; deutsche Übersetzung in: Waldstein, Nag Hammadi Deutsch, 120f. 33 Apokryphon des Johannes , NHC II, p. 30,15f. Ich folge hier dem koptischen Text von Codex II (nach der Textausgabe in NHMS 33), da der Text in Codex IV nur mit Lücken erhalten ist. 34 Apokryphon des Johannes , NHC II, p. 31,11-13. 35 Im Koptischen steht te als Markierung im Nominalsatz nur bei femininer Kongruenz, also wenn beide Größen weiblich sind, ist eine der beiden Größen männlich, wird pe verwendet (vgl. Uwe-Karsten Plisch, Einführung in die koptische Sprache. Sahidischer Dialekt [Sprachen und Kulturen des christlichen Orients 5], Wiesbaden 1999, 45 f.). Im Paralleltext von NHC IV gibt es an einer Stelle eine Abweichung (dort steht pe , vgl. NHC IV, p. 48,15f.), womit das redende Ich sich als männlich erweist. Vermutlich hat sich hier der männliche Erlöser aus dem Kontext des Pronoia -Monologs in die Grammatik eingemischt. Das Phänomen lässt sich auch Indiz dafür lesen, dass die Einfügung des Pronoiahymnus das Apokryphon ein sekundäres Stadium der Textgeschichte ist, vgl. dazu Silke Petersen, Brot Licht und Weinstock. Intertextuelle Analysen johanneischer Ich-bin-Worte (NT.S 127), Leiden / Boston 2008, 230-237. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 76 Silke Petersen „nicht wesentlich“ sei: „In den verschiedenen Quellen wechseln männliche und weibliche Gestalten der Offenbarungsträger und erscheinen auch miteinander kombiniert.“ 36 Bultmanns Beobachtung ist sicherlich im Hinblick auf die verhandelten Texte zutreffend, über seine Aussage hinausgehend ließe sich allerdings konstatieren, dass die Tatsache, dass das Geschlecht „nicht wesentlich“ ist, an sich wesentlich ist - zumindest aus einem queeren Blickwinkel, wie er zu Bultmanns Zeiten allerdings noch nicht denkbar war. Traditionsgeschichtlich steht der johanneische Jesus zwischen weiblich benannten und konnotierten Offenbarergestalten: Einerseits der Sophia der frühjüdischen Texte, von der die Christologie des Evangeliums deutlich geprägt ist, und andererseits der Pronoia im Apokryphon des Johannes , deren Hymnus wir (vielleicht sekundär eingefügt) in einer ebenfalls unter dem Namen des Johannes überlieferten Schrift finden. Der johanneische Jesus hat gegenüber diesen beiden Gestalten allerdings auch Besonderheiten: Zunächst ist es nicht die grammatisch weibliche Sophia , sondern der grammatisch männliche Logos , der am Anfang des Evangeliums steht und dessen Inkarnation die erzählte Geschichte Jesu beginnen lässt. Die zweite Besonderheit ist eben diese Inkarnation, wie sie in aller ihrer Realität im Evangelium dargestellt ist. Das erste, also der Geschlechtswechsel von Sophia zu Logos , scheint mir ein im Kontext antiker Schriften vergleichsweise unspektakuläres Phänomen. In einer hellenistischen Weisheitsschrift mit dem Titel „Die Lehren des Silvanus“ heißt es: „[Christus] ist die Weisheit ( Sophia ). Da er die Weisheit ist, ist er auch der Logos . Er ist das Leben und die Kraft und die Tür. Er ist das Licht und der Engel und der gute Hirte. Vertraut euch diesem an, der zu allem um euretwillen geworden ist.“ 37 Auch dieser Text knüpft an Motive des Johannesevangeliums an. Unter die Betonung am Ende, Christus sei „zu allem“ geworden, lässt sich auch eine Expansion der Genderordnung subsummieren. Ein zugleich männlicher wie weiblicher Christus scheint hier kein Grund zur Irritation. Es ist eher umgekehrt: Wenn Christus nicht auch weiblich wäre, wäre er defizitär, eben nicht „zu allem“ geworden. Mit der Realität der Inkarnation allerdings haben wir etwas grundlegend anderes vor uns. Zumstein konstatiert zu der Kreuzigungsszene mit der Seiten- 36 Rudolf Bultmann, Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannes- Evangelium, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments. Ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben von E. Dinkler, Tübingen 1967, 10-35, hier bes. 30. 37 NHC VII,4 p. 106,22-30; koptischer Text: Malcolm Peel / Jan Zandee, The Teachings of Silvanus, in: Birger A. Pearson (Hg.), Nag Hammadi Codex VII (NHMS 30), Leiden u. a. 1996, 336. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 wunde: „Hier wird die Inkarnation in ihrer letzten Konsequenz dargestellt.“ 38 Vergleichbares findet sich bei den anderen antiken Offenbarergestalten nicht. Andere Offenbarer*innen bringen göttliche Botschaften, aber sie inkarnieren sich nicht und sie sterben nicht. Und ganz sicher wird ihre Körperlichkeit nicht durch eine vermittels einer Penetration entstandene Seitenwunde unterstrichen, wie wir dies in der johanneischen Kreuzigungsszene sehen. Interessanterweise ist die Inkarnation an sich noch ein weiteres Moment, an dem sich die weibliche Seite Christi festmachen lässt: Die Grenzüberschreitung vom Himmlischen zum Irdischen, vom Geistigen ( logos ) zum Körperlichen ( sarx ), ist an sich eine Grenzüberschreitung vom Männlichen zum Weiblichen, bleibt man in den Zuschreibungen der westlichen Geistesgeschichte, die durchgehend das Geistige mit dem Männlichen und das Körperliche mit dem Weiblichen verbindet. 39 Insofern wäre der johanneische Jesus in all seiner inkarnierten Körperlichkeit, die letztlich zum Kreuz führt, sogar weiblicher als Sophia oder Pronoia . 5 Schlussfolgerungen zur queeren Perspektive Der Jesus der unterschiedlichen Schriften der johanneischen Tradition ist weder eindeutig heterosexuell (noch überhaupt eindeutig sexuell festgelegt), und er ist auch nicht einfach nur männlich. Vielmehr scheint sein Körper vielfältig und wandelbar oder schlicht „divers.“ Dies ist schon im Evangelium und nicht erst in den (vermutlich) späteren apokryphen Texten der Fall. Wir finden explizit oder implizit weibliche Körperteile, wir begegnen einem Jesus, der sich selbst als Nahrung gibt und einer Christologie, für die die frühjüdische Gestalt der Sophia strukturbildend und metapherngebend ist. Ein solcher Jesus ist nicht ungeschlechtlich, sondern vielmehr im Hinblick auf das Geschlecht überdeterminiert. Moisés Mayordomo bemerkt in einem Aufsatz zur Männlichkeit Jesu: „Wer sich (…) mit antiken Konstruktionen von Geschlechtsidentität beschäftigt, kann in der Aussage, dass Jesus ein ‚Mann‘ war, nur eine grobe Vereinfachung erblicken.“ 40 Dem ist nur zuzustimmen, auch und vor allem im Hinblick auf das Johannesevangelium und mit diesem verbundene Texte. Dahinter steht die oben schon angesprochene größere Flexibilität antiker Texte im Umgang mit Genderzuschreibungen. Insofern passen antike Texte und Queer Studies letztlich 38 Zumstein, Johannesevangelium, 731. 39 So ist etwa die Rede von Männlich-Werden exemplarischer Frauen als deren Aufstieg in den geistig-männlichen Bereich zu deuten, vgl. dazu: Silke Petersen, Männlich-Werden und die Aufhebung der Geschlechterdifferenz: Rückkehr ins Paradies? , in: Outi Lehtipuu / Silke Petersen (Hg.), Antike christliche Apokryphen. Marginalisierte Texte des frühen Christentums (Die Bibel und die Frauen 3.2), Stuttgart 2020, 64-78. 40 Mayordomo, Männlichkeit, 360. Der johanneische Jesus - queer gelesen 77 DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004 78 Silke Petersen gut zusammen: Beide bewegen sich in einem Raum jenseits „normaler“ Dichotomien und Binaritäten. Im Hinblick auf eine queere Lektüre antiker Texte lässt sich aber auch sagen: „,Queer‘ is therefore more an attitude of research than a closed set of theories and methods.“ 41 Das bedeutet: Eine queere Lektüre der Texte lässt sich auf eine bestimmte Perspektive ein und kann eben durch diesen Wechsel der Perspektive mehr sehen als dies in einer mainstream-konformen und normalisierenden Lektüre möglich wäre: Die queere Perspektive erweitert das Christusbild. 41 Bauer, Man, 136. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0004