eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 25/49

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0007
2022
2549 Dronsch Strecker Vogel

Feministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch

2022
Meltem Kulaçatan
Feministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch Meltem Kulaçatan Ein feministisches Gegenhalten auf dystopische Zugriffe Ein persönlicher Rückblick auf den eigenen Werdegang kann dabei unterstützen, die Dinge zu ordnen, zu verstehen oder zu verwerfen. Ich beziehe mich in den folgenden Abschnitten deshalb auf Fragen und mögliche Antworten, die sowohl einen retrospektiven als auch einen perspektivischen Überblick offenhalten - und die, das sei an dieser Stelle betont, keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Ausdifferenzierung erheben. Vielmehr sollen hier Impulse gesetzt werden, die das große Potenzial intersektionaler Zugriffe (siehe auch die Beiträge von Ute Eva Eisen und Claudia Janssen in diesem Heft) anzeichnen. Der folgende Beitrag bildet weniger eine Replik auf den vorangegangenen Beitrag von Ute Eva Eisen, als vielmehr die Fortführung eines fachlichen und persönlichen Diskurses zweier Wissenschaftlerinnen, die sich, ausgehend von feministisch-theoretischen Ansätzen und Zugriffen, sowohl im Austausch als auch in der Zusammenarbeit befinden. Die Philosophin Amia Srinivasan merkt in ihrer jüngst auf Deutsch erschienen Publikation Das Recht auf Sex in ihrer Einleitung an, Feminismus beginne dort, wo eine Frau erkenne, dass sie einer Geschlechterklasse angehöre. Srinivasan zeichnet in diesem Zusammenhang das Potenzial des Feminismus an: „Der Feminismus fragt: Wie sähe die Welt aus, wenn wir der politischen, gesellschaftlichen, sexuellen, wirtschaftlichen, psychischen und physischen Unterordnung von Frauen ein Ende setzen? Er antwortet: Wir wissen es nicht; probieren wir es aus! “ 1 Ich nehme Srinivasans „let us try and see“ (im Original) zum fortlaufenden Anlass, neue Beobachtungen und Überlegungen anzustellen, auch in diesem Beitrag. Ich habe Ute Eva Eisen als Rednerin und Gästin während der Tagung „Horizonte in der Islamischen Theologie“ im Jahr 2014 an der Goethe-Universität Frankfurt kennengelernt. Unsere gemeinsame Kollegin Naime Çakır-Mattner und ich waren die Veranstalterinnen des Panels „Gendersensible islamische 1 Amia Srinivasan, Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2022, 11. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 96 Meltem Kulaçatan Theologie im europäischen Kontext - Gleichwertig oder gleichberechtigt? “ 2 Seit diesem Zeitpunkt befinden wir uns im Kontext unterschiedlicher Forschungsprojekte im Austausch. Vorweg: Ich bin keine Theologin, sondern Religionspädagogin mit dem Schwerpunkt Islam sowie Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin. Ich forsche und arbeite empirisch zu Gegenwartsfragen im Kontext des Islams mit den Schwerpunkten Jugend, Bildung und gendersensiblen Fragestellungen. Eine konstante Wegbegleiterin meiner universitären Ausbildungen und Forschungsprojekte waren und sind die feministische Theoriebildung und die feministisch orientierte Praxis. In diesem Rahmen ist auch dieser Beitrag entstanden. Ist-Zustand anstelle einer Hinführung Mein Weg in die Wissenschaft war von Hindernissen und fehlenden Selbstverständlichkeiten geprägt. Der Wechsel von der Hauptschule auf eine katholische Mädchenrealschule galt dabei als erster ‚Sprung‘ zum Ziel Abitur. Dort lernte ich, vornehmlich durch meine Deutsch-Lehrerinnen, dass Emanzipation ein Versprechen sei, für das es sich lohne zu lernen - für alle Mädchen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft oder der Herkunft ihrer Eltern. Das spätere Wirtschaftsgymnasium entpuppte sich dann als Mittel zum Zweck: Ich wollte die allgemeine Hochschulreife und schlug mich drei Jahre lang mit Fächern wie BWL und VWL herum. Mir war damals schon nicht so klar, weshalb die Inhalte dieser Fächer gelehrt werden, obwohl doch das System, in dem sie zum Einsatz kommen, bereits zu dem Zeitpunkt bewies, dass es nicht funktionierte: Ein neoliberales Wirtschaftssystem und eine gerechte Verteilung, gar Umverteilung, schließen sich quasi aus. Das humanistische Gymnasium, auf das ich eigentlich wollte, blieb mir indes verwehrt - mein Realschulabschluss war zwar gut, aber nicht sehr gut, um einen Wechsel auf ein entsprechendes Gymnasium ‚schaffen‘ zu können. In der Sprachregion, aus der ich komme, bedeutet das Verb ‚schaffen‘ sowohl gelingen, als auch arbeiten. Für mich persönlich bedeutete das, dass trotz meiner Bereitschaft zu arbeiten, ein Gelingen ausgeschlossen war. Ähnlich dem Verhältnis von Neoliberalismus und gerechter Verteilung. Aus der sogenannten Gastarbeiter: innen-Generation stammend, also als Gastarbeiterkind, waren jedoch weder der Realschulabschluss noch das Abitur - geschweige denn ein Weg in die Wissenschaft - vorgesehen, sondern die 2 https: / / www.uni-frankfurt.de/ 49018245/ Panel_2__Gendersensible_islamische_Theologie_im_europ%C3%A4ischen_Kontext___Gleichwertig_oder_gleichberechtigt (letzter Zugriff am 02.03.2022). DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Feministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch 97 Rückkehr in ein mutmaßliches Herkunftsland. Von dieser Rückkehr verstand ich damals wenig. Wohin auch zurückkehren? Weshalb sollte ich aus dem Land, in dem ich geboren wurde und lebte, in ein Land zurückkehren, das nichts mit meiner Lebensrealität und meinem Alltag zu tun hatte? Für diejenigen, die die Rückkehr appellativisch forderten, formierten sich diese Länder rund um das Mittelmeer vermutlich als diffuses, anachronistisches ‚Etwas‘. Rückblickend mag meine Unwissenheit für mich erleichternd gewesen sein; denn Unwissenheit hat schließlich auch einen (be)schützenden Effekt. Aus meiner nunmehr gegenwärtigen Perspektive und Position als Wissenschaftlerin kann ich nur nüchtern feststellen, wie ambivalent zuweilen der Gedanke eigentlich ist, dass wir geblieben sind und diesem Land und seinem Bildungssystem nicht den Rücken zugekehrt haben. Das mag nun etwas trotzig klingen, ohne das zu beabsichtigen. Denn für viele von uns ist ‚(Zurück)gehen‘ schon lange keine Option mehr, außer vielleicht als Dr. Meltem Kulaçatan studierte Islamische Religionslehre und Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Nahost an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, wo sie auch promovierte. Ab September 2015 wechselte sie an die Goethe-Universität Frankfurt in den Fachbereich Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam. Seit dem Sommersemester 2022 ist sie Vertretungsprofessorin für „Sozialpädagogik in der Migrationsgesellschaft“ an der Carl-von-Ossietzky Universität in Oldenburg. Im Herbstsemester 2016/ 2017 war sie als Gastprofessorin für Islamische Bildung und Theologie an der Universität Zürich am Religionswissenschaftlichen Seminar tätig. Sie war Projektleiterin (2017-2021) im Teilprojekt „Religiöse Selbstentwürfe junger Muslim: innen in pädagogischen Handlungsfeldern“ im Loewe Projekt „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ sowie Projektleiterin im Verbundprojekt „Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung“ (2017-2021). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Jugend, Religion mit Schwerpunkt Islam, Migration; Frauen- und Geschlechterstudien, Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, jüdisch-muslimische Gegenwartsbeziehungen mit Schwerpunkt Gender sowie islamistische Radikalisierung und Radikalisierungsprävention in Deutschland. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 98 Meltem Kulaçatan Exit-Option, die aus Drohkulissen und rechtsextremen Gewalttaten an unseren Kindern, Kolleg: innen und Freund: innen resultieren. Schließlich werden wir nach wie vor mit dem Aspekt des unfreiwilligen Gehens konfrontiert; das ‚Gehen‘ obliegt dann jedoch nicht mehr unserer eigenen Entscheidung und Deutungshoheit. In Aussagen etwa, dass eine SPD-Politikerin wie Aydan Özoğuz in ‚Anatolien entsorgt‘ gehöre - oder dass wir gejagt werden. 3 Aussagen, die nicht irgendwo geäußert wurden, sondern im Deutschen Bundestag, im Parlament im Jahr 2017. Nun, einige Jahre später, zeigte sich die Bundesversammlung wie eine Revanche, genesen aus einer Szene aus Dantes Inferno: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland waren so viele Trotzallem-Deutsche und Auch- Deutsche in die Bundesversammlung eingeladen. 4 Obgleich meines Bewusstseins darüber, dass Diversity-Mainstreaming ein ‚Geschäft‘ ist, zumal auch noch ein lukratives mit Feigenblattfunktion, dachte ich nur an eines: Anatolien und der Balkan sind gekommen, um zu bleiben! Entsorge dich doch selbst! Was die demokratische Kraft im Parlament im Jahr 2017 und auch der Rechtsstaat nicht vermochten (das Verfahren wegen Volksverhetzung wurde im Mai 2018 eingestellt) erledigte Corona recht effizient: Ein ungültiger Testnachweis und die Ablehnung eines Testangebots vor Ort führen eben zum Ausschluss aus der Bundesversammlung. Und Aydan Özoğuz ist seit 2021 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Der Wechsel an die Universität gestaltete sich schwierig für mich. Ich fühlte die große Orientierungslosigkeit, mit der ich in einer Einrichtung wie der Universität umgehen musste. Um mich herum saßen überwiegend Studentinnen und Studenten, die sich mit einer gewissen Leichtigkeit durch das System bewegten. Sie waren selbstsicher und vor allem frohsinnig. Ich hingegen fühlte mich verunsichert. Ich verstand nicht, wie ich mich orientieren und vor allem meinen Stundenplan zusammenstellen sollte. Sie hatten Zeit, ich hatte keine, da ich BaföG erhielt und mich sofort einfinden musste. Das BaföG galt nur für die Regelstudienzeit, die ich am Ende um drei Semester überschreiten sollte. Plötzlich gab es kaum mehr jemanden, die oder der aus dem Gastarbeitermilieu stammte - die Minderheit von Mitgliedern aus dem Arbeitermilieu ging einher mit der Minderheit von Professorinnen. 3 Özoguz-Beleidigung Ermittlungen gegen Gauland eingestellt, in: der Spiegel 17.05.2018 (https: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ beleidigung-von-aydan-oezoeguz-ermittlungen-gegen-alexander-gauland-eingestellt-a-1208250.html; letzter Zugriff am 02.03.2022). 4 https: / / www.bundestag.de/ resource/ blob/ 878348/ d16d3f44982897f88444ef21d5321cdb/ mitglieder_bv_2022-data.pdf (letzter Zugriff am 02.03.2022). DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Feministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch 99 Denn nicht nur soziale Herkunft prägt das deutsche Bildungssystem, sondern auch Geschlecht. Nach wie vor bewegt sich der Anteil von Professorinnen in Deutschland auf einem problematisch geringen prozentualen Niveau: Bei 26 %, und zwar allen ‚Fördermaßnahmen‘ zum Trotz, die das Ziel haben, dem Grundsatz der Gleichberechtigung nachzukommen. Um diese Fördermaßnahmen gibt es seit Jahren auch entsprechende Auseinandersetzungen. Sie werden vor allem von Männern in Frage gestellt: Ihre Argumentationen resultieren aus dem Neosexismus, da rein rechtlich die Gleichheit der Geschlechter ihrer Perspektive nach doch erreicht sei und es nun bei den Frauen selbst liege, sich die Stellen nach dem (neutralen) Leistungsprinzip zu erarbeiten. Andererseits beschränkt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz insbesondere die Karrieren von Frauen in der Wissenschaft, zumal sie nach wie vor die Hauptlast in der Care-Arbeit tragen. Die Corona-Pandemie hat daran nichts geändert, im Gegenteil: Die Situation für Frauen verschärfte sich wieder bei gleichbleibendem Druck, intensiv zu forschen, Drittmittel einzuwerben und einen entsprechenden wissenschaftlichen Output zu produzieren. Hinzu kommt die Unabwägbarkeit einer Karriere in der Wissenschaft. Auch ist eine so genannte Work-Life-Balance schwer realisierbar. Und die ‚Vereinbarkeit‘ von Beruf und Familie mit Kind(ern) ist nur unter enormen Anstrengungen möglich. Seit einigen Jahren beobachte ich zunehmend, wie deshalb ein Teil meiner Doktorandinnen oder Mitarbeiterinnen frühzeitig aussteigen. Falls sich diese Entwicklung als Querschnittsentwicklung stabilisieren sollte, ist ein Rückgang des Anteils an Professorinnen in Deutschland zu erwarten. Hinzu kommt, dass das Milieu, aus denen Professor: innen stammen, weitgehend homogen ist. Es gibt kaum Professor: innen, die aus dem Arbeitermilieu kommen, was Rückschlüsse auf sozioökonomische und habituelle Gelingensbedingungen zulässt und das Zusammendenken von diskriminierenden, institutionell bedingten Faktoren zwingend macht. 5 Die Problematik, weshalb 5 Siehe dazu Julia Reuter / Markus Gamper / Christina Möller / Frerk Blome (Hg.), Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft, Bielefeld 2020; siehe dazu auch https: / / taz.de/ Buch-Vom-Arbeiterkind-zur-Professur/ ! 5697522/ (letzter Zugriff am 21.03.2022): „Von 100 ‚Erstakademikern‘ aus ‚bildungsschwachen Familien‘ schafft es nur 1 Person bis zur Promotion, während von 100 Kindern aus AkademikerInnenhaushalten es 10 bis zum Doktor bringen. Bis zur Professur ist es dann noch ein steinigerer Weg; erneut liegt am Ende die Rate bei 1 zu 10, denn 90 Prozent aller ProfessorInnen stammen aus bildungsnahen Haushalten. Die wenigen professoralen ArbeiterInnenkinder sind zudem überproportioniert auf Fachhochschulen anstatt Universitäten zu finden; in Letzteren wiederum landen sie häufiger auf unbezahlten außerplanmäßigen Professuren anstatt auf Lehrstühlen mit Finanzausstattung und BeamtInnenstatus. Auf Juniorprofessuren, als Sprungbretter zu vollen Professuren, machen ArbeiterInnenkinder lediglich 7 Prozent aus. Auch in prestigeträchtigen Fächern wie Medizin, Jura und Musik bleiben ErstakademikerInnen eine große Ausnahme, während Disziplinen wie Mathematik oder DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 sich die klientelistische Ausrichtung an den Universitäten hartnäckig und stabil hält, besteht trotz vielfältiger professionell ausgerichteter Lösungsoptionen also noch immer. Huntingtongate In meinem Erststudium belegte ich das Fach Politikwissenschaft auf Diplom mit dem Schwerpunkt Moderner Vorderer Orient. Die Inhalte der einzelnen Teilbereiche hätten konträrer nicht sein können. Einerseits lernte ich beispielsweise im Teilbereich Internationale Politik den differenzierten Umgang mit Stereotypen, insbesondere in der Wahrnehmung von Zäsuren und historischen Ereignissen, die sich außerhalb Europas befanden. Im Teilbereich Politische Systeme wiederum galt Samuel P. Huntingtons The Clash of Civilizations im Jahr 1998 und in den Nullerjahren als eine Art Bibel junger Politikwissenschaftsdozenten. Huntingtons Thesen, insbesondere zum Islam, wurden in meinem ‚Proseminar‘ unkritisch rezipiert. Ich konnte keinen Widerspruch formulieren, weil ich viel zu sehr an einem Gedanken hing, der mich blockierte: Wie konnte es sein, dass wir einfache Schablonen, die meinen, die Welt und die Auseinandersetzungen auf diese Weise erklären zu können, auch noch gutheißen? Weshalb wurde die Reduktion des Islams auf eine rein destruktiv orientierte Entität nicht hinterfragt? Ich fühlte mich nicht diskursfähig. Letztendlich war ich es auch nicht, weil ich einen Fehler beging, der mir erst sehr viele Jahre später klar wurde: Ich langweilte mich. Mich langweilten die Argumentationen in meinem von überwiegend männlichen Studierenden besuchten Seminar. Wir waren nur einige wenige Studentinnen und vor allem eines: still. Diese Langeweile führte zu Unaufmerksamkeiten - und schließlich in die fehlende Diskursfähigkeit. Die vorgetragene Sympathie des Dozenten für Huntingtons Schablonen und seine Antipathie gegen die Heterogenität in der islamisch geprägten Welt frustrierten mich als junge Studentin. Hinzu kam ein mir bis dato unbekanntes Schamgefühl: Sollte ich mich als Kritikerin outen, dann wäre ich als Muslimin markiert (wenngleich Religion damals für mich persönlich eine untergeordnete Rolle spielte), die gegen Samuel P. Huntington poltert. Der Dozent stellte dann denjenigen Studenten aus dem Seminar als Hilfskraft ein, der Huntingtons Erziehungswissenschaften deutlich offener gegenüber der sozialen Herkunft sind“; zum strukturellen Rassismus an deutschen Hochschulen siehe „Nur tagsüber sind Universitäten weiße Institutionen“ (www.tagesspiegel.de/ wissen/ struktureller-rassismus-an-deutschen-hochschulen-nur-tagsueber-sind-universitaeten-weisse-institutionen/ 26730214. html, 18.12.2020; letzter Zugriff am 20.02.2022). 100 Meltem Kulaçatan DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Thesen eins zu eins wiedergeben konnte und damit die Vorlieben seines Vorgesetzten teilte. Später ging er, der Dozent, an die Central European University (CEU) nach Ungarn, von wo aus die CEU verbannt werden sollte. Die zum jetzigen Zeitpunkt dort angestellten Wissenschaftler: innen stehen vor der Situation, dass sie zwar in Wien angestellt sind, aber in Gebäuden in Budapest unterrichten - und diese ihnen qua Regierungserlass entzogen werden sollen oder zum Teil schon entzogen wurden. Diese Effekte illiberaler Politiken haben vor allem unmittelbare Auswirkungen auf Wissenschaftler: innen mit Kindern, die ihren Lebens- und Arbeitsalltag in gewachsenen Strukturen und vor allem Betreuungsstrukturen gestalten müssen. Beugen sie sich der erzwungenen Migration, verlieren sie ihr soziales Netzwerk. Darunter leiden ihre Forschungsarbeiten, ihre Lehre und die Betreuung von Qualifikationsarbeiten, wenn sie nicht ganz verhindert werden. In fünf bis zehn Jahren wird es vermutlich Forschungsarbeiten dazu geben, wie mitten in Europa Frauen aus der Präsenz in der Wissenschaft und Geschichte verschwunden sind - im 21. Jahrhundert. Ich selbst machte mich nach meinem persönlichen „Huntington-Gate“ auf die Suche. Ich entdeckte Edward Saids Replik und Vorlesung „The Myth of ‚The Clash of Civilizations‘“ aus dem Jahr 1998 auf Huntingtons Thesen, 6 die zu einem deutlich späteren Zeitpunkt auch auf Youtube nachzusehen war. Allerdings spielte Edward Said in diesem Seminar keine Rolle, er wurde nicht einmal erwähnt - weder als Experte, noch als Wissenschaftler, der sich kritisch mit Huntington auseinandersetzte. Edward Said sollte ich erst zu einem späteren Zeitpunkt in einem Seminar zum Nahost-Schwerpunkt kennenlernen. Zugleich erlebte ich, wie die einseitige Fixierung auf überwiegend männliche Autoren und Wissenschaftler meinen Blick problematisch formen sollte: In meiner Ausbildung an der Universität lernte ich nicht, wie wichtig es ist, Autorinnen und Wissenschaftlerinnen zu zitieren und ihre Quellen zu verwenden. So wurde die vermeintliche Unsichtbarkeit oder Nichtwahrnehmung von Wissenschaftlerinnen und Autorinnen reproduziert und ihre Leistungen sowie ihr Wissen als bedeutungslos eingestuft. Die Beachtung von Wissensbeständen, die Frauen produzieren und erarbeiten, sind nach wie vor keine Selbstverständlichkeit und bilden eben kein Relikt aus dem Ende der 1990er und Nullerjahren. Die Soziologin Franziska Schutzbach stellt in diesem Zusammenhang kritisch fest, dass Frauen als aktiv Schreibende und Forschende in der Geschichtsschreibung vielfach ignoriert werden. Das, so Schutzbach, führe dazu, dass jede Generation 6 Media Education Foundation, Edward Said, The Myth of ‘The Clash of Civilizations,’ 2005 (https: / / www.mediaed.org/ transcripts/ Edward-Said-The-Myth-of-Clash-Civilizations-Transcript.pdf; letzter Zugriff am 02.03.2022). Feministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch 101 DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 102 Meltem Kulaçatan von Frauen stets ähnliche Schritte unternehmen müssten, die bereits andere vor ihnen gegangen sind, um ihre Geschichte(n) und folglich ihre Wertigkeit zu suchen sowie zu finden: „Immer wieder müssen sie auf erschöpfende Weise erneut beweisen, dass sie Subjekte sind, und darum kämpfen, als solche ernst genommen zu werden.“ 7 Nur, wie kommen wir als Wissenschaftlerinnen, die zu Religion forschen, hin zu einer aufmerksamen Verfolgung und Überwindung der Unsichtbarmachung entsprechender Wissensrepertoires und ihrer Verfasserinnen? Wo obliegt es uns, genau hinzuhören und wie gehen wir mit dieser Art des Hinhörens um? Chawwah - Ḥawwā: Nur eine Frau? Im September 2020 gab ich einen Workshop für eine Gruppe junger jüdischer Frauen, deren religiös-ästhetische Praktiken von orthodox bis liberal reichten. Sie alle waren Jüdinnen diverser Herkunft. Das Thema meines Workshops, den ich für Laiinnen durchführte, konzentrierte sich auf Überlegungen zu den Menschenbildern im Judentum und im Islam, die sich nicht auf die Geschlechterbinarität fokussieren, sondern auf die Tatsache, dass adam / Mensch als adam / Mensch erschaffen wurde. Ich beobachtete, dass ich einige Irritationen mit diesem Zugriff auslöste. Prompt meldete sich eine Teilnehmerin zu Wort und fragte kritisch, wie sie sich das denn nun vorstellen soll, ohne Mann und Frau oder Adam und Eva? Ich befand mich in einem Dilemma: Zum einen bewegen wir uns als Religionsforscherinnen im ständigen Spannungsverhältnis zwischen patriarchalischen, misogynen Quellen und Praktiken sowie den Befreiungspotenzialen, welche genau diese religiösen Quellen aufweisen. Zum anderen konnte ich meine ganz persönliche Anfrage angesichts besagter Irritationen kaum wegschieben: Der Schöpfungserzählung lässt sich mit der Evolutionsgeschichte schließlich nicht so gut beikommen, vielen gegenteiligen Argumenten zum Trotz. Was mich hier bewegt ist die folgende Überlegung: Die Spezies Mensch könnte man ja auch als ein Ereignis betrachten, das der Welt gleichsam versehentlich zugefallen ist und dessen Verweilen auf dem Erdenrund in seiner jetzigen Form begrenzt und endlich ist. Mir ist natürlich das provokante Konfliktpotenzial eines solchen Gedankens klar. Wir können aber in unserer Forschung zu religiösem Orientierungsverhalten junger Musliminnen sehr stabil nachzeichnen, dass etliche von ihnen sich genau solche existenziellen Fragen stellen, ihnen aber eine fachlich versierte Anlaufstelle bisher noch fehlt, die sich ihrer unvor- 7 Franziska Schutzbach, Wider die weibliche Verfügbarkeit. Die Erschöpfung der Frauen, München 2021, 89f. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Feministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch 103 eingenommen annehmen könnte: Ein intellektuell versierter schulischer Islamunterricht könnte es vielleicht, die Moscheen können es noch nicht, und die akademische Islamtheologie ist noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sich für die spirituelle Lebensweltorientierung von jungen Menschen an der Schnittstelle von Glauben und Kritik, von Zugehörigkeit und Distanz oder von Zutrauen und Zweifel in das eigene religiöse System interessieren würde. Dabei hat dieser Gedanke der Spezies Mensch als kosmischer Unfall auch etwas Hoffnungsfrohes: Er stimmt insofern tröstlich, als er bedeuten kann, dass sich der Mensch als Spezies auch aus der Imagination eines Daseins danach oder einer numinosen Präsenz höherer Ordnung - Gott also - zu einer besseren Spezies entwickeln kann (die unbestrittene Relevanz des Gewissens als Repräsentanz höherer Ordnung einmal ausgenommen). Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass die Anlage des Menschen, sich spirituell und religiös zu orientieren und sich damit moralisch, ethisch, sinnlich und ästhetisch zu rahmen, ihm qua Beschaffenheit mitgegeben zu sein scheint: Religion ist die Ausdruckform nicht nur eines Bedürfnisses, sondern auch einer Fähigkeit und einer Befähigung - und über diesen anthropologischen Zugang kommt man vielleicht weiter. Ein G’tt ohne Frauen und Männer oder ein Allah ohne Frauen und Männer - mit dem Aspekt auf dem reinen undeklinierten Menschsein - diese theologische Akzentuierung, die vor allem für egalitär und feministisch orientierte Theologinnen wichtig ist, drohte den Workshop zu kippen: Hier verlaufen eingeübte Demarkationen zwischen Glauben und Unglauben. Rückblickend wäre es vielleicht sinnvoller gewesen, sich auf Genesis 2 und 3 zu konzentrieren und diese Kapitel konkret theologisch-egalitär-feministisch zu analysieren. Denn diese Kapitel müssen nicht abwertend hinsichtlich Frauen gelesen werden, betont doch Gen 3 eher ihren Drang nach Erkenntnis und Wissen, ausgehend von einer typologisierten Frau: Chawwah , oder: Ḥawwā , oder: Eva. Insofern hätten wir reflektieren können, weshalb Eva in den späteren Narrationen so negativ gewendet wird. Zudem besitzen sowohl das Judentum als auch der Islam nicht die Zuschreibung der ‚Sündhaftigkeit‘ an Eva. 8 Erst in Gen 4 kommt das Sündenvokabular im Zusammenhang mit dem Bruderkonflikt zwischen Kain und Abel ins Spiel. Dennoch finden sich auch in Gen 3 Missklänge, denn die ‚Frau‘ wird zumindest der Herrschaft des Mannes unterstellt. Die Texte bleiben in ihren Botschaften ambivalent. Die 90 Minuten an einem Samstagmorgen, überdies noch mitten im Schabbat und damit ohne Schreibutensilien, reichten nicht aus, das zu erarbeiten. 8 Siehe dazu ausführlich Judith Plaskow, The Coming of Lilith. Essays on Feminism, Judaism, and Sexual Ethics 1972-2003, Boston 2005. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 104 Meltem Kulaçatan Meine Teilnehmerinnen wiederum besaßen feine Antennen: Sie hörten meinen Versuch einer egalitären Lesart, spürten aber den Ungleichheitsaspekt und die normative Kraft dieser Narrationen, die ihr (religiöses) Leben zuweilen bis in die Gegenwart dominierten und ihre Entfaltungsmöglichkeiten in der Gemeinde beschränkten. Eine organisierte Repräsentanz in herkömmlichen Strukturen geschieht nur dort, wo Frauen entsprechende Positionen besetzen, auf denen sie Entscheidungs- und Gestaltungsmacht haben. Das gilt für Musliminnen ebenso wie für Jüdinnen und auch für Christinnen. 9 So entspann sich eine Diskussion, die mir auch von meinen muslimischen Studentinnen und Seminarteilnehmerinnen vertraut ist: Wie schaffen wir es, unserer Religion unter diesen Bedingungen nachzukommen, ohne uns einsam zu fühlen? Diesen Wunsch äußerten die jungen Frauen im Konsens, unabhängig davon, welcher religiösen Ausrichtung sie angehörten. Wir diskutierten im Folgenden über patriarchale Bedingungen und die Instrumentalisierung von religiösen Übergriffen gegen Frauen und Minderheiten. Worin liegt also das Ressourcenpotenzial religiöser Sichtbarkeiten und gesellschaftlicher Besser- Gestaltungen, ausgehend von einem feministisch orientierten Ansatz, der sich für die Überwindung von Ungleichheiten einsetzt, Wissen produziert und vor allem weitergibt? Die christliche Theologin Ulrike Auga, die zu Wissenskategorien, epistemischer Gewalt und Geschlecht forscht, unterstreicht die Chancen in theologischen und religionskritischen Diskursen: „[D]enn religiöses Wissen sprengt die Dichotomie in ‚westliches‘ und ‚nichtwestliches‘ Wissen. Religiöses Wissen und deren Praktiken und Bewegungen brechen die falsche Dichotomie zwischen ‚wissenschaftlichem Wissen‘ versus ‚Erfahrungswissen‘ und ‚aktivistischem Wissen‘ bzw. ‚vernünftigem‘ versus ‚Körperwissen‘ auf.“ 10 Ulrike Auga sieht einen engen Zusammenhang zwischen Gewalt und essentialisierenden Zuschreibungen sowie Interpretationen, die auch und vor allem das Menschenbild im Christentum betreffen. Meines Erachtens lassen sich Augas Kritiken und Vorschläge, wie Essentialisierungen aufgelöst werden können, auch auf die Geschlechterdiskurse und Geschlechterfragen im Islam und im Judentum übertragen. Auch hier tut eine intersektionale Analyse und Koopera- 9 Ich beziehe mich auf die monotheistischen Religionen, weil ich ausschließlich in diesem Segment forsche und nicht zu Geschlechterfragen in anderen Religionen. 10 Ulrike Auga, Geschlecht und Religion als interdependente Kategorie des Wissens. Intersektionalitätsdebatte, Dekonstruktion, Diskursanalyse und die Kritik antiker Texte, in: Ute E. Eisen / Christine Gerber / Angela Standhartinger (Hg.), Doing Gender - Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam, Tübingen 2013, 27-74, 60. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Feministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch 105 tion not, fußend auf feministischen Theoriebildungen im Zusammenhang von Religion und Theologie. Im Kontext islamrelevanter Disziplinen hat sich die Frage nach Gender und Geschlechterkategorien mittlerweile erfreulicherweise etabliert. Noch vor knapp zehn Jahren, als einige Kolleginnen und ich zu diesem Thema anfingen zu forschen und einzuladen, war diese Thematik in Deutschland kaum im Blick. Das heißt aber nicht, und hier greife ich Augas Erweiterungen zur Wissenskategorie auf, dass es bis dato keine Musliminnen gegeben hätte, die in diesen Bereichen aktiv gewesen wären. Unsere Forschungen und unsere Aktivitäten fußen schließlich auf den Vorarbeiten von früheren Generationen und sind ohne den internationalen Kontext nicht denkbar. Das Wissen der betreffenden Musliminnen floss jedoch nicht in akademische Wissensbestände ein, sondern wurde unter dem Dach der sozialen Arbeit von Migrantinnen in der Zivilgesellschaft subsummiert. Infolgedessen galt ihr Wissen als ‚aktivistisches Wissen‘ oder ‚Erfahrungswissen,‘ dessen Qualität aus akademischer Perspektive subordiniert wurde und leider immer noch wird. Nun hat sich ein ganzes Genre dazu entwickelt. Publikationen, Tagungen und Ringvorlesungen zu den Themen Gender, Sexualität und Islam sind ein fester Bestandteil der Wissensproduktion. Ich selbst bin als Wissenschaftlerin und Autorin Teil dieser Entwicklung. Seit den Zehnerjahren gibt es auch Bestrebungen unter Wissenschaftlerinnen, feministische Theoriebildung, feministisch ausgerichtete Theologien und laufende Forschungsprojekte unter Kolleginnen aus den drei Theologien (muslimisch, jüdisch, christlich) stärker zu vernetzen und auch im Kontext der pluralen Migrationsgesellschaft zu diskutieren. Das sollte weiter ausgebaut werden. Die islamische Theologie und ihre anverwandten Fächer bleiben aber nach wie vor die Antwort schuldig, wie die islamische Theologie auf gesellschaftliche Diskurse, Zäsuren und Entwicklungen reagieren soll und wie sie als Theologie in die Gesellschaft hineinsprechen will. Dazu gehören selbstverständlich auch die Fragen zur Geschlechterpolitik und Gender als gesellschaftliche Querschnittsthemen, intersektionale Verbindungen und Analysekategorien. Da es noch nicht genug religionsübergreifende Synergien unter feministischen Theologinnen und anverwandten Vertreter: innen und Forscher: innen gibt, stellt sich mir abschließend die Frage, ob es uns in den kommenden Jahren gelingen wird, unabhängig von temporär befristeten Projekten, eine breite Fachkultur in diesen Segmenten zu etablieren - fußend auf Intersektionalitätskonzepten. Nur dadurch kann weiterer Diskriminierung und dem Vergessen und Verdrängen von Wissensbeständen aus den Perspektiven von Frauen entgegengewirkt werden. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007