eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 25/49

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0008
2022
2549 Dronsch Strecker Vogel

Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart

2022
Claudia Janssen
Hermeneutik und Vermittlung Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart Claudia Janssen Zeitschrift für Neues Testament 25. Jahrgang (2022) Heft 49 1 Intersektionalität als Analysekategorie Intersektionalität ist ein Ansatz, der als Analysemodell aktuell den meisten kontextuellen Forschungsansätzen im Bereich der Genderstudies zugrunde liegt. Seine Ursprünge hat er im Black Feminism und in der Critical Race Theory . 1 Bereits in den 1970er Jahren machten afroamerikanische Feministinnen darauf aufmerksam, dass es einer Theoriebildung bedürfe, die nicht allein die Erfahrungen weißer 2 Frauen* in den Fokus stelle. Eine Besonderheit ist es, dass der Begriff zunächst im juristischen Bereich geprägt wurde, dann in den Sozialwissenschaften weiterentwickelt und auch in der Theologie rezipiert wurde. In der Exegese ermöglicht er es, die Komplexität der den Texten und der Auslegung zugrundeliegenden Situation analytisch erfassen zu können. 1 Zum Folgenden vgl. Katharina Walgenbach, Intersektionalität - eine Einführung, in: Portal Intersektionalität, 2012 (www.portal-intersektionalität.de; letzter Zugriff am 30.07.2021). 2 Ich verwende hier die Kursivierung bzw. Großschreibung, um deutlich zu machen, dass „Weiß“ und „Schwarz“ soziale Konstruktionen sind. Aus diesem Grund sind die Bezeichnungen „Frau“ bzw. „Mann“ mit einem Gender-Sternchen versehen. Die Schreibweise folgt der deutschen Übersetzung des Aufsatzes von Kimberlé Crenshaw: Kimberlé Crenshaw, Das Zusammenrücken von Race und Gender ins Zentrum rücken. Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken (1989), in: Natasha A. Kelly (Hg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster 2019, 145-186. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0008 108 Claudia Janssen Die Prägung des Begriffs Intersektionalität (engl. intersectionality ) geht auf die afroamerikanische Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw zurück, die ihn 1989 entwickelte, um die verschiedenen Kategorien, die Ausgrenzung und Diskriminierung begründen, zusammen schauen und deren Wechselwirkungen analysieren zu können. 3 Zunächst standen im Theoriekonzept der Intersektionalität vor allem Gender, race und class im Fokus. Kimberlé Crenshaw untersuchte Fälle, die vor US-amerikanischen Gerichten verhandelt wurden, in denen es um Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und race ging. Dabei stellte sie fest, dass die Gerichte keine rechtlichen Grundlagen hatten, Verbindungen zwischen den beiden Kategorien herzustellen: Frauen* konnten entweder aufgrund von Sexismus diskriminiert werden oder aufgrund von race . In einem Verfahren wurde einer Schwarzen Klägerin sogar abgesprochen, im Namen aller Frauen* sprechen zu können, da sie weiße Arbeiterinnen nicht repräsentieren könnte. Eine besondere Diskriminierung als Schwarze Frauen* konnte das Gericht nicht feststellen. Crenshaw zeigt, dass Sexismus und Rassismus jedoch häufig zusammen auftreten und die Betroffenen in mehrfacher Weise diskriminieren. Sie fordert deshalb eine Theoriebildung, die diese Strukturen nicht eindimensional wahrnimmt, sondern in ihren Verflechtungen. Denn Gesellschaftstheorien und Rechtsauffassungen, die diese Komplexität der Erfahrungen ausblendeten, führten ihrer Auffassung nach dazu, dass strukturelle Phänomene als Probleme Einzelner verstanden und Veränderungen erschwert würden. Von seinen Ursprüngen an war das Konzept der Intersektionalität im Kontext der (US-amerikanischen) Bürger: innenrechtsbewegung verortet, weil es als Instrument verstanden wurde, um gesellschaftliche Ungerechtigkeit analysieren und überwinden zu können. Hinter dem Begriff „Intersektionalität“ steht die Metapher einer Straßenkreuzung ( intersection ), an der die verschiedenen Diskriminierungserfahrungen zusammentreffen und sich gegenseitig verstärken. 4 Diese von Crenshaw gewählte Metapher umfasst verschiedene Bedeutungsebenen, die strukturelle und individuelle Erfahrungen verbindet. Grundlegend für diese ist die Überschneidung von Rassismus und Sexismus und die Frage nach den strukturell tragenden Kräften von Herrschaft und Ungleichheit. Der Blick richtet sich zugleich auch auf die Positionierung der von Marginalisierung betroffenen Subjekte: 3 Vgl. Crenshaw, Das Zusammenrücken von Race und Gender; vgl. auch dies., Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics, The University of Chicago Legal Forum 1/ 1989, 139-167. 4 Zum Folgenden vgl. auch die Ausführungen auf der Website des Gunda-Werner-Instituts zum Themenschwerpunkt Intersektionalität: https: / / www.gwi-boell.de/ de/ intersektionalitaet (letzter Zugriff am 08.02.2022). DOI 10.24053/ ZNT-2022-0008 Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart 109 Auf Schwarze Frauen*, aber auch auf andere mehrfach diskriminierte Gruppen, die sich an einem spezifischen Kreuzungspunkt befinden, dem Schnittfeld von Alltagspraxen, Identitätskonzeptionen, sozialen Strukturen und symbolischen Repräsentationsformen. Die Metapher der Straßenkreuzung und die Positionierung in deren Mitte verweist auf das Unfallrisiko, auf die Verletzbarkeit und Schutzbedürftigkeit dieser Menschen, deren Situation nicht auf eindimensionale Gründe oder schuldhaftes Verhalten zurückgeführt werden können. In der Weiterentwicklung des ursprünglichen Ansatzes von Kimberlé Crenshaw wurden weitere Kategorien wie Ethnizität, Alter, sexuelle Identität, Behinderung etc. einbezogen, die ebenfalls nicht isoliert voneinander wirken, sondern in ihrer Bedeutung und ihren Konsequenzen eng miteinander verwoben sind. Auf Deutsch wird intersectionality auch mit den Begriffen „Überkreuzungen“ oder „Verwobenheit“ wiedergegeben. Der Fokus liegt dabei auf dem gleichzeitigen Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten, die sich in ihren Auswirkungen oftmals potenzieren. Die Erziehungswissenschaftlerin Katharina Walgenbach versteht Intersektionalität aufgrund dieser Komplexität als Paradigma, als eigenständigen Forschungsansatz, der als Orientierungsrahmen fungiert und neue Perspektiven und Lösungsansätze bietet: „Unter Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren ‚Verwobenheiten‘ oder ‚Überkreuzungen‘ ( intersections ) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Prof. Dr. Claudia Janssen studierte Evangelische Theologie in Kiel und Marburg. Sie lehrte von 2004 als außerplanmäßige Professorin für Neues Testament an der der Philipps- Universität in Marburg. Von 2016 bis 2020 war sie W1-Professorin für Feministische Theologie, Theologische Geschlechterforschung und Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Seit 2020 ist sie dort Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung. Sie forscht schwerpunktmäßig zu den Schriften des Paulus, vor allem zum Brief an die Gemeinde in Rom. Ein weiteres aktuelles Projekt ist ein Studienbuch zum Thema Kontextuelle Bibelauslegung. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0008 Foto: © Sandra Schildwächter 110 Claudia Janssen Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen. “ 5 Damit einher geht der Verzicht auf eine übergreifende Kategorie, die das Benachteiligungs- und Unterdrückungsverhältnis dominant bestimmt. Die verschiedenen Kategorien konstituieren sich wechselseitig und müssen deshalb auch in ihrer Interdependenz analysiert werden. So gilt es, auch im Blick auf Gender die vielfältigen Verwobenheiten mit sozialen, kulturellen und weiteren Faktoren wahrzunehmen. 2 Intersektionalität in der biblischen Exegese Auch die meisten aktuellen Entwürfe zu gendertheologischen Fragen beziehen sich auf Intersektionalität als zentrale theoretische Grundlage für die Analyse gesellschaftlicher Probleme. Die Erforschung von Unterdrückungs- und Marginalisierungsstrukturen spielt in der Feministischen Theologie und Exegese von Anfang an eine zentrale Rolle, zunächst unter dem Stichwort „Patriarchatskritik“, das später zu „Kyriarchatskritik“ modifiziert und in Auseinandersetzung mit aktuellen intersektionalen und postkolonialen Theorien weiterentwickelt wurde. 6 Bereits in den 1980er Jahren hat die römisch-katholische Neutestamentlerin Elisabeth Schüssler Fiorenza in ihren hermeneutischen Grundlegungen auf die Bedeutung der Verflechtung verschiedener struktureller Kategorien hingewiesen, die sie im Kontext der römisch-hellenistischen Gesellschaft analysierte. Nach ihrer Analyse ist das antike Kyriarchat durch die Herrschaft von freien, besitzenden Männern* über Frauen*, Versklavte und Menschen eroberter Länder, den „Barbaren“, gekennzeichnet. Zu diesem dualistisch konstruierten Hierarchiekonzept gehört ebenso die Herrschaft über Natur, Ökonomie, Militär etc. „Das Patriarchat als eine männlich bestimmte, abgestufte Pyramide von Unterdrückung und Ausbeutung spezifiziert die Unterdrückung von Frauen gemäß der Klasse, der Rasse, der ethnischen oder nationalen Herkunft und der Religion der Männer, zu denen wir gehören.“ 7 So beschreibt Elisabeth Schüssler Fiorenza das Zusammenwirken von komplexen Herrschaftsstrukturen antiker Gesell- 5 Walgenbach, Intersektionalität - eine Einführung; vgl. auch dies., Heterogenität - Intersektionalität - Diversity in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2014, 54f. 6 Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel, Fribourg 1988; dies., Weisheitswege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation, Stuttgart 2005; Luise Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 1994. 7 Schüssler Fiorenza, Brot statt Steine, 15. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart 111 schaften, die nach ihrer Sicht maßgeblich auch für die Abfassung biblischer Texte gewesen seien. Ausgehend von ihrer grundlegenden Patriarchatsbzw. Kyriarchatskritik kommt sie zu dem Schluss, dass sich die Form des Textes und dessen androzentrische Sprache nicht von den Inhalten trennen lassen. Diese konstruiere Wirklichkeit in einer Weise, die es Frauen* unmöglich mache zu erkennen, ob sie angesprochen seien oder nicht. So könne es in der Bibel keine unmittelbar für Frauen* befreienden Traditionen geben. Sie sei bereits bei der Abfassung und dann in der Auslegungsgeschichte als politisches Instrument gegen deren Befreiungsbestrebungen eingesetzt worden. 8 Grundlegend für die Entwicklung feministischer Exegese, die auf diesen Einsichten basierte, waren die hermeneutischen Schritte, die Elisabeth Schüssler Fiorenza auf der Basis ihrer Kyriarchatsanalyse entwickelt und in vier Aspekten dargestellt hat: 1. Hermeneutik des Verdachts; 2. Hermeneutik der Verkündigung; 3. Hermeneutik des Erinnerns; 4. Hermeneutik der kreativen Aktualisierung. 9 Insbesondere die Hermeneutik des Verdachts fand im deutschsprachigen Bereich große Resonanz. Biblische Texte und vor allem auch die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte wurden kritisch dahin untersucht, ob sie sexistische, rassistische oder in anderer Weise zerstörende Wertungen transportieren. Als weitere Strukturkategorie neben Gender, race , und class wurde in der feministischen Intersektionalitätsdebatte schließlich die Kategorien Körper und Heteronormativität eingeführt. 10 Im deutschsprachigen Bereich entwickelte sich das Intersektionalitätsparadigma zunächst im Zusammenhang feministischer Theoriebildung weiter und wurde dann auch im weiteren Kontext theologischer Geschlechterforschung aufgenommen. 11 Die systematische Analyse der „Überkreuzungen“ wurde vor allem durch Intervention jüdischer, rassismuskritischer, lesbischer, schwuler, queerer und körperbehinderter Theolog: innen angeregt. 12 Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung, dass sie oftmals als „die Anderen“ wahrgenommen werden und sich von einem verallgemeinerten „Wir“ der weißen , deutschen, heterosexuellen, nicht behinderten, in akademischen Kreisen verorteten Theolog: in- 8 Vgl. Schüssler Fiorenza, Brot statt Steine, 199. 9 Schüssler Fiorenza, Weisheitswege, 19. 10 Einen guten Überblick und grundlegende Literatur bietet der Artikel von Ute E. Eisen / Christine Gerber / Angela Standhartinger, Doing Gender - Doing Religion. Zur Frage nach der Intersektionalität in den Bibelwissenschaften. Eine Einleitung, in: diess. (Hg.), Doing Gender - Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam (WUNT I/ 302), Tübingen 2013, 1-33. 11 Zum Folgenden vgl. Claudia Janssen, Gender (NT), in: WiBiLex 2020 (https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 48903/ ; letzter Zugriff am 08.02.2022). 12 Einen Überblick über diese Ansätze bieten Eisen / Gerber / Standhartinger, Doing Gender - Doing Religion, 9-14. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 112 Claudia Janssen nen vereinnahmt fühlen. Die Kritik lautet, dass sich diese vor allem auf die Gender-Frage fokussieren und Geschlecht somit als die maßgebliche identitäre soziale Kategorie verstehen, andere jedoch ausblenden oder als weniger bedeutsam bewerten. Damit werde Geschlecht, so die deutsche Theologin Ulrike Auga, „letztlich meistens (auch ungewollt) als binär und heteronormalisierend essentialisiert.“ 13 Sie macht in diesem Zusammenhang auf die latente Gefahr der Essentialisierung aufmerksam, die nach ihrer Auffassung grundlegend im Konzept der Intersektionalität angelegt sei. Diese betreffe nicht nur die Kategorie Gender, sondern ebenso Klasse oder race etc., wenn diese als gegeben und stabil verstanden und damit festgeschrieben werden. Damit werde vernachlässigt, dass es sich um soziale Konstruktionen handelt. Das Ziel sollte also sein, solche Essentialisierungen zu vermeiden. Intersektionalität kann in diesem Zusammenhang als Instrument verstanden werden, um Identitäten differenziert verstehen zu lernen, scheinbar feststehende Gruppenidentitäten herauszufordern und die Gründe und Konsequenzen von Diskriminierungen zu analysieren. So die norwegische Neutestamentlerin Marianne Bjelland Kartzow: „it may be employed in order to understand difference in general and how identities are negotiated.“ 14 Das Verständnis auch für das eigene Verwobensein in diese Strukturen und das Bewusstsein dafür, dass es sich um soziale Konstruktionen handle, erwachse aus Begegnungen, in denen Identitäten ausgehandelt werden. So können neue Fragen auch für die exegetische Arbeit angeregt und kritische Perspektiven auf die eigene Wissensproduktion geworfen und Widersprüchlichkeiten sichtbar werden. Die Instrumentarien, die eine intersektionale Hermeneutik bereitstellt, können helfen, Marginalisierungen, Privilegierungen und Hierarchisierungen und die sie hervorbringenden Diskurse aufzuzeigen, zum anderen aber auch, „das ‚Doing‘ derselben in ein ‚Undoing‘ zu überführen. Denn intersektionale Analyse deckt nicht nur komplexe Diskriminierungspraktiken auf, sondern zielt auch auf Auswege daraus.“ 15 Auf den Aspekt einer verändernden Praxis im Konzept der Intersektionalität, auf das „Undoing“, verweist die chinesisch-amerikanische Alttestamentlerin Gale A. Yee. Sie beschreibt Intersektionalität als wichtige hermeneutische Kategorie, die es ermöglicht, verschiedene Ebenen von Machtbeziehungen innerhalb biblischer Texten sichtbar zu machen und zugleich auch 13 Ulrike Auga, Geschlecht und Religion als interdependente Kategorien des Wissens. Intersektionalitätsdebatte, Dekonstruktion, Diskursanalyse und Kritik antiker Texte, in: Eisen / Gerber / Standhartinger, Doing Gender - Doing Religion, 37-74, hier 45. 14 Marianne B. Kartzow, Art. Intersectional Studies, in: Julia O’Brien (Hg.), The Oxford Encyclopedia of the Bible and Gender Studies. Bd. 1, Oxford 2015, 383-389, hier 384. 15 Eisen / Gerber / Standhartinger, Doing Gender - Doing Religion, 29. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart 113 die Kontexte der Exeget: innen in den Blick zu nehmen. Denn auch diese würden durch verschiedene miteinander verbundene Systeme von Unterdrückung und Privilegien unterschiedlich beeinflusst. 16 Als Interpretationsmethode ermögliche Intersektionalität, die jeweilige soziale Verortung, die jeweils unverwechselbaren Verwobenheiten von Geschlecht, race , class usw. sichtbar zu machen, die die Auslegung biblischer Texte beeinflussen. Dieses Vorgehen eröffne auch jeweils neue Perspektiven, um bisher unbeachtete Aspekte innerhalb der biblischen Texte aufzudecken: „It encourages us to think beyond the familiar boundaries of biblical studies to expose the diverse power relations of inequality in the text and uncover subjugated voices that were previously invisible or unheard.“ 17 So könne die intersektionale Analyse als Instrument zur Veränderung von Zusammenhängen, die als ungerecht verstanden werden, dienen. Deshalb versteht sie Intersektionalität dezidiert als gerechtigkeitsorientierten Ansatz, der soziales Engagement fordere und theoretisch begründe: „It should not be depoliticized simply as a general abstract theory, as it has been in some learned sectors, neutralizing its political edge and its potential for social justiceoriented change. It is this activist element of intersectionality that impels my work toward disrupting dominance and challenging systemic inequality in today’s world.“ 18 Es sei eine Herausforderung und zugleich eine Ermutigung, die eigenen methodischen Zugänge zum biblischen Text „intersektional“ zu denken, denn es gehe nicht allein um die Auslegung der biblischen Texte und Traditionen. Intersektionale Exegese sei nicht vom Kontext der Exeget: innen und deren jeweiliges Eingebundensein in Macht- und Dominanzstrukturen loszulösen. Intersektional zu denken sei eine Einladung, die Hauptannahmen und Paradigmen theologischer Arbeit zu überdenken, um die Zusammenhänge verschiedener Formen von Macht aufzudecken. Sie umfasse sowohl die wissenschaftliche Arbeit als auch den Einsatz für Veränderungen in der Gegenwart. Die asiatisch-amerikanische Juristin Mari J. Matsuda hat für die Analyse der Verwobenheiten in den aktuellen Kontexten eine Methode entwickelt, die sie „Die-andere-Frage-stellen“ nennt. Diese unterstütze das Anliegen, sowohl nach offensichtlichen als auch nach den verborgenen Herrschaftsverhältnissen zu suchen: 16 Vgl. Gale A. Yee, Thinking Intersectionally. Gender, Race, Class, and the Etceteras of Our Discipline, JBL 139/ 2020, 7-26. 17 Yee, Thinking Intersectionally, 7. 18 Yee, Thinking Intersectionally, 12. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 114 Claudia Janssen „When I see something that looks racist, I ask, ‚Where is the patriarchy in this? ‘ When I see something that looks sexist, I ask, ‚Where is the heterosexism in this? ‘ When I see something that looks homophobic, I ask, ‚Where are the class interests in this? ‘ Working in coalition forces us to look for both the obvious and non-obvious relationships of domination, helping us to realize that no form of subordination ever stands alone.“ 19 In Weiterentwicklung ihres eigenen Ansatzes bezieht auch Elisabeth Schüssler Fiorenza das Konzept der Intersektionalität in ihre exegetische Arbeit ein. Eine kritische, intersektionale, entkolonialisierende, feministische Analytik verstehe Kyriarchat als ein heuristisches Konzept, „mit dessen Hilfe sich die multiplikativen Interaktionen von Gender, ‚Rasse‘, Klasse und imperialen Strukturen ebenso erforschen lassen wie ihre diskursiven Ein- und ideologischen Fortschreibungen.“ 20 Ziel kritisch-feministischer Interpretationen sei es, die Bibel als Ressource für gesellschaftlich-politische Veränderungsprozesse zu erschließen und zur Veränderung ungerechter Bedingungen in Gesellschaft, Kirche und Theologie beizutragen, soziale Transformationsprozesse anzuregen und (spirituell) zu begleiten. 3 „Andere Fragen“ an Gal-3,28 Gal 3,28 ist ein zentraler Text, der herangezogen wird, um die Bedeutung von Intersektionalität im Neuen Testament aufzuzeigen: „Es gibt nicht mehr jüdisch und griechisch, nicht mehr versklavt und frei, nicht mehr männlich und weiblich: denn alle seid ihr ‚einer‘ - einzig einig - im Messias Jesus.“ 21 Die galatische Taufformel nimmt zentrale Kategorien zur Festlegung des gesellschaftlichen Status in der römischen Gesellschaft auf - Herkunft / Ethnizität ( race ), sozialen Status ( class ) und Geschlecht (Gender) - und setzt diese zum Sein „in Christus“ in Beziehung. Intersektionale Hermeneutik leitet nun dazu an, die komplexe soziale Umwelt der Antike zu analysieren und neutestamentliche Aussagen dahingehend zu untersuchen, ob sie deren Macht- und Herrschaftsstrukturen übernehmen oder Gegenentwürfe zu diesen bieten. Oft werden in der Ausle- 19 Mari J. Matsuda, Beside My Sister, Facing the Enemy. Legal Theory out of Coalition, Stanford Law Review 43/ 1990, 1183-1192, hier 1187. Vgl. auch Yee, Thinking Intersectionally, 12. 20 Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zwischen Bewegung und Akademie. Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert, in: dies. / Renate Jost (Hg.), Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert (Die Bibel und die Frauen 9,1), Stuttgart 2015, 13-29, hier 24. 21 Übersetzung nach Bibel in gerechter Sprache (https: / / www.bibel-in-gerechter-sprache. de/ die-bibel/ bigs-online/ ? Gal/ 3/ 28-/ ; letzter Zugriff am 08.02.2022). DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart 115 gung die verschiedenen Kategorien separat behandelt, Intersektionalität leitet dazu an, sie in ihrer Verwobenheit wahrzunehmen. Und so folgt Marianne B. Kartzow der Methode von Mari J. Masuda „andere Fragen zu stellen“, um das komplexe Netz sozialer Kategorien, die in Gal 3,28 reflektiert werden, zu analysieren: „What gender or social class could Jews or Greeks have? “ 22 Sie stellt acht hypothetische Kombinationen für die in Gal 3,28 genannten Kategorien fest, die neue Fragestellungen ermöglichen: 1. jüdischer Sklave (männlich); 2. jüdische Sklavin (weiblich); 3. jüdischer freier Mann*; 4. jüdische freie Frau*; 5. griechischer Sklave (männlich); 6. griechische Sklavin (weiblich); 7. griechischer freier Mann*; 8. griechische freie Frau*. Freie sind im römischen Denken Versklavten hierarchisch übergeordnet, Männer* stehen über Frauen*. Für das Gegensatzpaar „jüdisch-griechisch“ stellen sich weitere Fragen: Sind es ethnische Kategorien, religiöse oder betreffen sie die Kategorie race ? Ist die Zuordnung eines Geschlechts für Versklavte in ihrer hierarchischen Zuordnung überhaupt relevant oder betrifft diese nur Freie? 23 Sind hier soziale oder biologische Dimensionen angesprochen? Versklavte gehörten zu den Besitztümern, auch männliche Sklaven galten im Diskurs hegemonialer Männlichkeit nicht als „Mann“ (lat. vir ). 24 Auch die Kategorie „weiblich“ sei weniger eindeutig als gedacht, so Kartzow, wenn sie in Relation zur Frage des sozialen Status und der ethnischen Herkunft betrachtet werde: Wurden Sklavinnen als „weiblich“ verstanden? In die Analyse müsse die Bedeutung von Frauen* für den patriarchalen Haushalt einbezogen werden. Hier waren ausschließlich freie Frauen* im Blick, denn nur sie konnten legitime Kinder zur Welt bringen: „Only freeborn women were considered part of the ideal gender system: they could marry and were expected to follow proper standards for women, keep their bodies intact until their husbands needed them for reproducing legitimate children, follow the orders of the head of the household in which they lived, either their own husband or another male relative. These gender roles were obviously not applied for female slaves.“ 25 22 Marianne B. Kartzow, „Asking the Other Question.“ An Intersectional Approach to Galatians 3: 28 and the Colossean Household Codes, BibInt 18/ 2010, 364-389, hier 376. 23 Zu dieser Fragestellung vgl. Kartzow, Asking the Other Question, 382. Zur Zuordnung von Frauen und Versklavten zur Kategorie „non-man“ vgl. Sean D. Burke, Queering the Ethiopian Eunuch. Strategies of Ambiguity in Acts, Minneapolis 2013, 71. 24 Zur Diskussion um hegemoniale Männlichkeit in der römischen Antike vgl. Thomas Späth, Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt / New York 1994; Moisés Mayordomo, Konstruktionen von Männlichkeit in der Antike und der paulinischen Korintherkorrespondenz, EvTh 2/ 2008, 99-115. 25 Kartzow, Asking the Other Question, 384. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Ein wichtiges Ergebnis ihrer Analyse der komplexen gesellschaftlichen Zuordnungen, die in Gal 3,28 reflektiert werden, ist, dass die intersektionale Perspektive eine Vielzahl neuer Forschungsfragen generiert, die bisher nicht untersucht wurden. Sie richten sich auf die Funktionsweisen hierarchischer Strukturen, die in unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten jeweils anders sind. Eine weiterhin wichtige Unterscheidung sei in diesem Zusammenhang die von sex und Gender. „Bodies in antiquity were not only considered to be male and female; they were also categorized according to social status and ethnic/ religious background.“ Die Körper seien der Ort, an dem Intersektionalität stattfinde. 4 Der äthiopische Eunuch (Apg-8,26-40) Der Körper des äthiopischen Eunuchen in Apg 8,26-40 ist in den letzten Jahren insbesondere in der gender-theologischen und queeren Exegese unter Berücksichtigung intersektionaler Aspekte der Erzählung in den Blick gekommen. In 8,27 wird Folgendes über ihn ausgesagt: Er ist ein äthiopischer Mann, Eunuch, Mächtiger der äthiopischen Kandake, der über alle ihre Finanzen gesetzt ist ( anēr aithiops eunouchos dunastēs Kandakēs basilissēs aithiopōn hos ēn epi pasēs tēs gazēs autēs ). Auffällig ist, dass er namenlos bleibt. Er wird vor allem über seine Eigenschaft als Eunuch ( eunouchos ) charakterisiert, die Bezeichnung kommt insgesamt fünfmal vor (V. 27.34.36.38.39). Im Folgenden sollen diese Angaben anhand der Kategorien sozialer Status ( class ), Herkunft / Ethnizität ( race ), und Geschlecht (Gender) geordnet und anschließend in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf unterschiedlichen, oftmals kontroversen Einschätzungen in der aktuellen exegetischen Literatur. Sozialer Status Als derjenige, der über alle Finanzen der Kandake, der äthiopischen Königin oder Schwester des amtierenden Königs gesetzt war, hatte der eunouchos eine bedeutende Stellung am äthiopischen Königshof inne. Die Beschreibung der weiteren Details: Wagen, Schriftrolle, Bildung weist auf großen Luxus und Reichtum hin. Dieser Aspekt hat vermutlich die Wiedergabe des Wortes eunouchos mit „Kämmerer“ besonders beeinflusst, die vor allem in deutschen Bibelübersetzungen üblich ist. 26 Sie wird oft mit Verweis auf Septuaginta-Stellen (hebr. saris ) begrün- 26 So Luther 2017; Einheitsübersetzung 2016; Elberfelder Bibel; anders: Bibel in gerechter Sprache, Neue Zürcher Bibel: Eunuch. Zur Frage der Übersetzungen vgl. Peter-Ben Smit, Der „Kämmerer aus Mohrenland“ oder der äthiopische Eunuch? , in: Julia Koll / Jantine 116 Claudia Janssen DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 det, da eunouchos nicht in allen Fällen einen „Verschnittenen“, also kastrierten Mann*, meine, sondern einfach einen hohen Beamten bezeichne. Sean D. Burke hat in seiner Studie zu Apg 8,26-40 die entsprechenden Stellen untersucht und dargelegt, dass diese Frage nicht in allen Fällen philologisch zu klären ist. Doch müsse gefragt werden, welche Bedeutung in der Griechisch sprechenden hellenistisch-römischen Welt „gehört“ wurde. Die von ihm untersuchten Belege aus diesem Umfeld zeigen, dass unter eunouchos immer ein Kastrat verstanden wurde. Er plädiert deshalb dafür, die Übersetzungsmöglichkeit „Beamter“ aus den Griechischlexika zu streichen. 27 Ulrich Wiedemann versteht den Eunuchen als Außenseiter in mehrfacher Hinsicht. Er geht davon aus, dass eunouchos auf seinen Status als Sklave, auf sein abweichendes Geschlecht und seine Rolle als Ausländer verweist und versteht ihn als gesellschaftlich marginalisierte Person: „In the Acts of the Apostles (8,27) a black eunuch who belongs to a female ruler illustrates how Christianity embraces all human society to its social as well as geographical margins.“ 28 Martin Leutzsch kommt in seinem sehr materialreichen Artikel zur Frage der Intersektionalität in Apg 8,26-40 zu einer anderen Einschätzung hinsichtlich der Frage der Versklavung. Er führt aus, dass es historisch für Äthiopien bzw. Nubien 29 nicht eindeutig zu klären ist, ob es sich tatsächlich um einen „Verschnittenen“ handelt, der Gewalt und Diskriminierung erlitten hat. Sollte es der Fall gewesen sein, sei er als Eunuch jedoch nicht sozial ausgegrenzt gewesen - wie seine hohe Stellung im Finanzwesen zeige. Sean Burke argumentiert anders. Er geht vom lukanischen Kontext der Lesenden / Erzählenden im römischen Kontext aus - hier verbindet sich nach seiner Analyse der Begriff eunouchos mit Erfahrungen von Kastration, öffentlicher Erniedrigung und sozialer Entmännlichung. Daran habe auch eine hohe Stellung im Beamtenapparat und finanzieller Luxus nichts geändert. 30 Nierop / Gerhard Schreiber (Hg.), Diverse Identität. Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität, Hannover 2018, 47-54. 27 Burke, Queering, 38. 28 Thomas Wiedemann, Slavery (New Surveys in the Classics 19), Oxford 1987, 44. 29 „Äthiopien“ im Text bezeichne ein Land, dessen Eigenbezeichnung Nubien lautet, das mit dem biblischen Kusch identifiziert wird, vgl. Martin Leutzsch, Eunuch und Intersektionalität. Ein multiperspektivischer Versuch zu Apg 8,26-40, in: Eisen / Gerber / Standhartinger, Doing Gender - Doing Religion, 405-430, hier 410-415. 30 Vgl. Burke, Queering, 37, 108; er verweist hier insbesondere auf eine Passage bei Philo von Alexandrien: „Deshalb bin ich (…) ein Eunuch (1Mose 40,1.2), dem die Zeugungsorgane der Seele ausgeschnitten sind, ausgetreten aus der Männergesellschaft, geflohen aus der Gemeinschaft der Weiber, weder ein männliches noch ein weibliches Wesen, ohne Samen spenden noch empfangen zu können, von beiden Seiten angefeindet, zu keiner von beiden gehörend, eine Fehlprägung der Münze Mensch, ohne Anteil an der Unsterblichkeit.“ De somniis II, 184 (Übersetzung nach Philo von Alexandria, Die Werke Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart 117 DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 118 Claudia Janssen Gender Sollte die Einschätzung zutreffen, dass in der römisch-hellenistischen Umwelt Eunuchen ihre Männlichkeit abgesprochen wurde, so zeigt Apg 8,27, dass der Text einen besonderen Standpunkt in der Diskussion um die Geschlechtszugehörigkeit des Eunuchen bezieht. Er wird „Mann“ ( anēr ) genannt, eine Zuordnung, die Eunuchen in anderen Quellen verwehrt wird. Die Offenheit des Geschlechterkonzepts, das seine Gestalt in der Erzählung der Apostelgeschichte verkörpert, wird in aktuellen, vor allem in englischsprachigen Auslegungen thematisiert. Sean Burke nennt ihn eine queering figure , eine Gestalt, die herrschende Identitätsmuster unterläuft. Die Figur des Eunuchen habe deshalb das Potenzial, antike Männlichkeitskonstruktionen zu dekonstruieren und zu denaturalisieren. Brittany E. Wilson bezeichnet den Eunuchen in Apg 8 als einen gender-liminal character - als einen Charakter, der die Grenzen von Geschlecht und Ethnizität überschreitet. 31 Vor allem in der queeren Exegese wird dieser Aspekt besonders herausgestellt und der Eunuch als Figur jenseits herrschender Geschlechternormen verstanden. Queere Theologien markieren den Prozess des Nachdenkens darüber, was die unterschiedlichen Konstruktionen von Gender, sexueller Orientierung und für die Exegese und gegenwärtige kirchliche Praxis bedeutet. Der Begriff eunouchos beinhalte eine Vielzahl sexueller Minoritäten, die heute als LGBTIQ oder queer bezeichnet werden, so Mona West im „Queer Bible Commentary“: „Like the Ethiopian Eunuch, we have struggled to make sense of scripture, to find our place in it, when others would use to condemn us. The good news for us is that there have been those ‘Philipps’ who have interpreted scripture in ways that have been empowering for the queer community.” 32 Ethnizität-/ -race Der Eunuch wird als „äthiopischer Mann“ bezeichnet: anēr aithiops . Gemeint ist damit das antike Nubien, das Reich Napata-Meroe, das in etwa dem heutigen Sudan entspricht. In Apg 8,26-40 wird auf die Hautfarbe nicht explizit Bezug genommen, sie ist aber mit der Benennung „Äthiopier“ den antiken Lesenden / Hörenden präsent. Martin Leutzsch erläutert, dass er aus römischer Perspektive als Angehöriger eines fremden Volkes wahrgenommen wird, doch in deutscher Übersetzung, Leopold Cohen u. a. [Hg.], Bd. 6, Berlin 1962, 256 f.); vgl. auch Lukian, Eunuchus . 31 Brittany E. Wilson, „Neither Male nor Female“. The Ethiopian Eunuch in Acts 8,26-40, NTS 60/ 2014, 403-422. 32 Mona West, The Story of the Ethiopian Eunuch, in: Daryn Guest u. a. (Hg.), The Queer Bible Commentary, London 2006, 572-574, hier 573. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart 119 verbinde sich damit anders als heute kein Rassismus, in der Antike sei im Blick auf unterschiedliche Hautfarben vielmehr von „somatischer Distanz“ zu sprechen. Die eigene Hautfarbe werde zwar als Norm gesetzt und andere Hautfarben in Nähe oder Distanz wahrgenommen - sie werden aber nicht zwangsläufig mit negativer Bewertung und gesellschaftlicher Abwertung verbunden. 33 Im äthiopischen (meroitischen) Kontext wäre Schwarzsein kein Marginalisierungsfaktor, ebenso wenig wie die Abhängigkeit von einer Frau als Regentin. Die These vom marginalen Status gewinne Plausibilität, wo Schwarze Hautfarbe und das Dienstverhältnis zu einer Herrscherin qua Geschlecht als Abweichung von sozialen Normen bewertet werde und „Eunuch“ mit „Sklave“ gleichgesetzt werde. Dies sei besonders im Blick auf die oft rassistische Wirkungsgeschichte der Erzählung wichtig. 34 „Andere Fragen“ Intersektionale Exegese setzt da ein, wo die verschiedenen (in der Exegese zum Teil bereits bearbeiteten) Aspekte miteinander in Beziehung gesetzt werden und in ihren Wechselwirkungen zueinander betrachtet werden. Daraus ergeben sich neue Fragestellungen und möglicherweise Infragestellungen bisher gängiger Forschungspositionen. Im Blick auf den Eunuchen stellen sich eine Vielzahl von Fragemöglichkeiten: • Der Eunuch wird als Hofbeamter der Kandake eingeführt, der über alle ihre Finanzen eingesetzt war. Grundlegend sollte geklärt werden, was unter einem eunouchos in den verschiedenen Kontexten (römisch, jüdisch, äthiopisch / meroitisch) verstanden wird. Welche Rolle spielt die Kastration / „Verschneidung“ von Männern? Ist eine gewalttätige Handlung vorauszusetzen oder nicht (wenn eunouchos als Beamtentitel verstanden wird)? Welche Genderrolle wird der Bezeichnung eunouchos zugeschrieben? • Was bedeutet es, eunouchos und ein „Mächtiger“ ( dunastēs ) zu sein? - wie ist der soziale Status zu beschreiben? Welchen Unterschied macht es, in dem Eunuchen einen Sklaven oder einen Freien zu sehen? Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang ein nicht eindeutiges Geschlecht? • Welche Bedeutung hat es für einen „Mächtigen“ einer Herrscherin unterstellt zu sein? Wird die Kandake als „weiblich“ wahrgenommen? Welche Bedeutung spielen Geschlecht, sozialer Status und ethnische Herkunft im Blick auf ihre Person / Rolle und davon abgeleitet für das Verhältnis von Eunuch und Kandake? 33 Leutzsch, Eunuch, 420-423, mit Bezug auf Studien von F. Snowden und L. Thomson. 34 Leutzsch, Eunuch, 413. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 120 Claudia Janssen • Wie ist mit den möglicherweise jeweils unterschiedlichen Antworten umzugehen, die sich aus römischer, äthiopischer / meroitischer oder jüdischer / lukanischer Perspektive ergeben? 35 • Was bedeutet die Notiz, dass der Eunuch nach Jerusalem gefahren ist, um „anzubeten“ (V. 27, vermutlich ist hier sinngemäß zu ergänzen: den Gott Israels) für die Frage nach seiner ethnischen / religiösen Identität? Wie verhalten sich die Aspekte: Ethnie, Gender und sozialer Status jeweils zur Frage der (nicht-) Zugehörigkeit zum Judentum? Welche Bedeutung hat die Herkunft des Eunuchen (Äthiopien) für die lukanische Gemeinde? Welche sein Geschlecht? Im Blick auf die Bedeutung für die Gegenwart ist an die jeweiligen Auslegungen die Frage zu stellen, wie diese im Blick auf die aktuellen Fragen nach Gender, race und class involviert sind und welche Macht- und Gesellschaftsstrukturen den jeweiligen Hintergrund für die eigenen Fragen und Ausführungen bilden. Queere Exegese macht ihren Kontext sichtbar, in dem sie den Eunuchen als literarische Gestalt versteht, die eine Vielzahl sexueller Minoritäten, die heute als LGBTIQ oder queer bezeichnet werden, repräsentiert. Welche aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen stehen hinter anderen Auslegungen, die den Aspekt der geschlechtlichen Uneindeutigkeit nicht thematisieren oder abwehren? Es wird nicht auf alle Fragen erschöpfende Antworten geben. Die Ambiguität der Gestalt des Eunuchen, seines Körpers und der sozialen Rolle wird sich nicht auflösen lassen. Er gehört auf der einen Seite durch seine mächtige Funktion zu den in Äthiopien Herrschenden, aus römischer Perspektive gehört er zu den unterlegenen Völkern, den Barbar: innen. 36 Er ist zugleich durch seinen möglicherweise vorausgesetzten sozialen Status als Versklavter sozial freien Menschen unterlegen, anderen Versklavten und armen (freien) Menschen jedoch übergeordnet. Seine (vermutlich nach lukanischen Verständnis vorausgesetzte) Identität als Kastrat ermöglicht es ihm auf der einen Seite, eine hohe Position im äthiopischen Königshaus, der Kandake zugeordnet, zu übernehmen, zum anderen ordnet ihn diese im Zusammenhang hegemonialer Männlichkeit anderen Männern* unter. Eine intersektionale Exegese von Apg 8,26-40 ermutigt dazu, sich der Komplexität und ggf. auch den Widersprüchlichkeiten zu stellen und die Erzählung als offenen Text wahrzunehmen, der dazu herausfordert, eigene Fragen zu stellen und die eigene Positionierung zu reflektieren. 35 Beispielhaft ist hier auf den Aufbau des Artikels von Leutzsch, Eunuch, zu verweisen. 36 Vgl. Augustus, Res gestae 26 und die Darstellungen des äthiopischen Volkes im Sebasteion in Aphrodisias. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007 Intersektionale Bibelanalyse und Gegenwart 121 5 Fazit Intersektionale Hermeneutik ermöglicht es, die Komplexität der den biblischen Texten zugrundeliegenden historischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen sowie deren literarische Strategien zu analysieren und neue Forschungsfragen zu generieren. Sie ermutigt dazu, Ambiguität und Widersprüchlichkeit zuzulassen und den Blick auf die Prozesshaftigkeit von Identitäten und Zuschreibungen zu richten. Sie entzieht sich eindeutigen Zuschreibungen, sei es solchen, die biblische Texte generell als befreiend oder solchen, die sie generell als unterdrückerisch für Frauen*, Menschen uneindeutigen Geschlechts oder andere marginalisierte Gruppen verstehen. Indem intersektionale Hermeneutik darauf abzielt, verschiedene Ebenen von Machtbeziehungen innerhalb biblischer Texte sichtbar zu machen, weist sie auch auf die Verwobenheit der einzelnen Subjekte innerhalb der hierarchischen Systeme hin. Oftmals zeigt es sich, dass Menschen aufgrund einzelner Aspekte zu dominanten Gruppierungen gehören und aufgrund anderer zu marginalisierten. Als Interpretationsmethode fordert Intersektionalität dazu heraus, auch die eigene soziale Verortung, die eigenen Überkreuzungen von Gender, race , class , Alter, (dis-)ability sichtbar zu machen, die die Exeget: innen in der Auslegung biblischer Texte beeinflussen. Intersektionalität ermutigt dazu „andere Fragen“ zu stellen und sich auf neue, möglicherweise unbequeme Antworten einzulassen. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0007