eJournals lendemains 46/182-183

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2021-0014
2021
46182-183

Einleitung

2021
Marina Ortrud M. Hertrampf
ldm46182-1830006
6 DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 Dossier Marina Ortrud M. Hertrampf (ed.) Fremd- und Selbstbilder von Roma in Literatur und Film der französischen Gegenwart Einleitung Zwischen den Welten teilt es sich ist weder Ich noch Ich Benenne Es - noch das Unerträglichste Die nirgends hingehören vereinen sich mit Ich Innen ist außen Wissen - Schmerz Nimm nicht wunder noch angst nenne dich Spring damit du nicht gestoßen wirst Es - wandelt sich und mich Marianne Rosenberg 1 Die künstlerische und literarische Darstellung von Roma, 2 Europas größter ethnischer Minderheit, 3 hat in der europäischen Literatur eine lange Tradition und erreicht in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts einen beispiellosen Höhepunkt: Zahllos sind die meist stark idealisierenden und/ oder romantisierenden Inszenierungen von (meist weiblichen) Roma, unter denen Victor Hugos Esméralda (Notre- Dame de Paris. 1482, 1831), Prosper Mérimées Carmen (Carmen, 1847) und George Sands Moréna (La filleule, 1853) zweifelsohne die berühmtesten sind. Um die Jahrhundertwende avancierte das verklärte Leben der ,vogelfreien‘ Roma auf dem Pariser Montmartre schließlich zum alternativen Künstlerideal des Bohème, ohne dass dies in irgendeiner Weise mit dem realen Leben der Roma tatsächlich in Verbindung gestanden hätte. 4 Die über Jahrhunderte in europäischen Mehrheitsdiskursen imaginativ konstruierten, oft geradezu romanesken Bilder sind dabei so stark, dass sie alternative, an den wahren Lebensrealitäten orientierte Perspektiven in den Hintergrund drängen, und so oszillieren heterostereotype Roma-Darstellungen stets zwischen romantisierender Idealisierung eines freiheitlichen, naturverbundenen Lebens in Bewegung, voller Musikalität und anmutigen Tanzes einerseits und pejorativer Diskriminierung als betrügerische Wahrsagerinnen, unheilbringende Verführerinnen und stehlende DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 7 Dossier Kriminelle andererseits. Ob verklärt oder verteufelt, die harten, von massivem strukturellem Rassismus geprägten Lebensrealitäten der per se als Ethnie extrem heterogenen Roma gerieten dabei - weder in künstlerisch-ästhetischen noch in soziopolitischen Diskursen - in den Blick. 5 Die stereotype Darstellung der von mehrheitsgesellschaftlichen Autoren immer wieder als fils du vent bewunderten Roma hält sich indes als longue durée-Phänomen auch nach den Grauen des Völkermordes und selbst in einer zumindest vermeintlich auf autobiographischen Erfahrungen basierenden Erzählung wie den Rhapsodies gitanes (1946), dem dritten Teil von Blaise Cendrars L’Homme foudroyé, mit quasi ungebrochener Persistenz: 6 „Les Gitanes 7 sont malins comme des Peaux- Rouges et comme tous les primitifs ils connaissent l’art de lire la pensée. Ce ne sont hommes de notre sphère ni de notre temps“ (Cendrars 2002: 221-222). Trotz des angeblichen Dokumentarcharakters und obwohl Roma als Phantasma der permanenten Bewegung und damit zum idiosynkratischen Zeichen des Lebens für Cendrars konstruiert werden, bedient er alle Klischeebilder, die im mehrheitsgesellschaftlichen kulturellen Gedächtnis fest verankert sind, und scheut auch nicht vor einer ,Merkmalsliste‘ zurück: 8 Les Gitanes sont: belluaires dompteurs toréadors (comme le père de Paquita) châtreurs voleurs de bestiaux dresseurs de chevaux maquignons vétérinaires rebouteux guérisseurs jeteurs de sort (cartes, astres) herboristes (simples, filtres d’amour) empoisonneurs charmeurs d’oiseaux écumeurs vanniers potiers forgerons fondeurs de métaux faux-monnayeurs voleurs recéleurs financiers occultes passeurs contrebandiers braconniers (collets, filets, nœuds et pièges) maraudeurs indicateurs (cambriolages, évasions) 8 DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 Dossier bourreaux (chiffons et friperie) assassins (vendetta politique, mutilations) tatoueurs (maquillage des cicatrices) joueurs de couteau. Ils font aussi de la musique, chantent et dansent (les Tsiganes de l’Est) et les femmes se prostituent. (Cendrars 2002: 320sq.) Auch im 21. Jahrhundert werden bekannte und bewährte Klischees perpetuiert und deutlich pejorativ konnotierte Bezeichnungen wie romanichel verwendet. Die Fortsetzung der (vielfach sicherlich fahrlässig) unreflektierten Gewohnheit eines mehrheitsgesellschaftlichen Superioritätsdenkens illustriert eine Passage in Sylvain Tessons Reisebericht Sur les chemins noirs (2016) recht eindrücklich, in der das Heterostereotyp der Anderen als nomadisierende, naturverbundene fils du vent bedient wird, ohne dabei auch nur einen kleinen Zweifel an der Freiwilligkeit des Lebens außerhalb der Gesellschaft aufkommen zu lassen: Entre Valensole et Oraison, au bord du canal de Manosque, je passai devant un campement des Gitans. Quelques femmes en fichus me regardèrent, silencieuses, flanquées de mômes qui mettaient leurs poings dans la bouche. Dans les alentours du camp, les buissons étaient glanés jusqu’à l’os. Les romanos, eux, connaissaient la valeur des trésors. Je les saluai, elles ne répondirent pas. Ces romanichels se tenaient à la marge des courants et j’éprouvais pour eux quelque chose qui ressemblait à l’admiration. Il y avait ainsi des êtres, dans la France du siècle numéro vingt et un, qui vivaient sur la bande d’arrêt d’urgence. Je n’aurais rien troqué de ma vie pour manger des soupes à l’ortie dans les caravanes des gens de voyage. Mais ils témoignaient d’un certain talent dans l’art de se tenir à l’écart sur leurs propres zones (Tesson 2016: 50sq.). Grundsätzliche Verschiebungs- und Veränderungsprozesse hinsichtlich des mehrheitsgesellschaftlichen Bildes von Roma lassen sich in Deutschland und Frankreich letztlich erst etwa ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beobachten. 9 So wurde der Völkermord an den Roma in Deutschland nach langen und sehr zähen Debatten 1982 zunächst von Helmut Schmidt anerkannt und 1985 von Helmut Kohl bestätigt. Auch die bereits 1992 von der Bundesregierung beschlossene Errichtung eines Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten europäischen Roma wurde durch heftige Debatten in die Länge gezogen, so dass das von Dani Karavan realisierte Mahnmal im Berliner Tiergarten erst 2012 eingeweiht wurde. Frankreich tat sich im Umgang mit den Roma allerdings noch schwerer: Die Regierung von Nicolas Sarkozy machte 2010 mit den gewaltsamen Zwangsräumungen illegaler Roma-Lager und den Massenabschiebungen nicht-französischer Roma international negative Schlagzeilen und geriet dabei auch mit der EU-Kommission in Konflikt. Immer wieder kommt es in den von sozialen Problemen, Armut und Kriminalität dominierten ,Roma-Ghettos‘ von Montreuil oder Montpellier oder aber in Perpignans historischem Altstadtviertel St. Jacques 10 zu Protesten und gewaltsamen Ausschreitungen. 11 Auch bei der traditionellen Maiwallfahrt in Saintes-Maries-de-la- Mer, bei der jährlich tausende Roma aus ganz Europa zu Ehren der Heiligen Sara- DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 9 Dossier la-kâli (Sara die Schwarze) zusammenkommen, lässt sich eine geradezu paradoxe Spannung zwischen der Faszination dem exotischen Anderen gegenüber und rassistisch motivierter Angst vor einer die mehrheitsgesellschaftliche Ordnung bedrohenden Roma-,Invasion‘ beobachten. 12 Dem vergleichsweise starken Ausprägungsgrad eines strukturell verankerten Rassismus gegenüber Roma 13 dürfte es auch geschuldet sein, dass sich Frankreich erst 2016 zur Mitschuld am Völkermord bekannte und sich François Hollande in einem Staatsakt für die de facto bis 1946 durchgeführten Internierungen von Roma im Lager Montreuil-Bellay entschuldigte. Von einem wirklichen Diskurswandel auf breiter Ebene kann also bis heute weder in Deutschland noch in Frankreich gesprochen werden. Roma-Sein ist und bleibt ein gesellschaftliches Stigma. Roma, die sich trotz des institutionellen Rassismus soziales Ansehen erkämpft haben - insbesondere Musiker von Django Reinhardt über Marianne Rosenberg bis Sido oder Baro Syntax - werden von der Mehrheitsgesellschaft vielfach als Ausnahmekünstler gefeiert, was einer weiteren Form des strukturellen Rassismus gleichkommt. Dennoch oder vielleicht auch gerade deshalb lassen sich bei literarischen und filmischen Darstellungen von Roma, die in den letzten Jahrzehnten im frankophonen Raum entstanden sind, neben den weiterhin bedienten Stereotypen deutliche Veränderungen und Modifikationen, Neuperspektivierungen und Revisionen erkennen. Eine ganz entscheidende Veränderung ist in der Tatsache zu sehen, dass seit den 70er Jahren immer mehr Roma Matéo Maximoff (1917-1999), 14 dem Pionier der frankophonen Roma-Literatur, folgen und die Tradition rein oraler Literatur aufbrechen, - oft Widerständen und Ablehnungen der ingroup trotzend 15 - selbst zu schreiben beginnen und damit die bis dato monolithische Fremdrepräsentation der Minderheit infrage stellen. Bis heute haben rund zwanzig französischsprachige Roma- Schriftsteller etwa dreißig Prosawerke und um die zwanzig Gedichtbände veröffentlicht. Zu den bekannten Namen zählen Miguel Haler, Sandra Jayat, 16 Jean-Marie Kerwich und Alexandre Romanès. Im Bereich des Films hat sich bislang hingegen nur Tony Gatlif einen Namen gemacht, dafür allerdings eine breite und international rezipierte Reihe an Filmen vorgelegt. 17 Die Mehrzahl literarischer Werke von Roma-Autoren weist einen Selbstbezug auf und thematisiert die traumatischen Erfahrungen während des Dritten Reichs und/ oder illustriert ein permanent von rassistisch-ethnischer Diskriminierung und Ausgrenzung geprägtes Leben. Besonders eindrücklich sind hierbei die Gedichte von Alexandre Romanès (eigentlich Alexandre Bouglione), der über seine Freundschaft mit Jean Genet und Lydie Dattas zu schreiben begann und als einziger Roma- Autor bei Gallimard publiziert. 18 Wie bei dem zusammen mit seiner Frau Délia Romanès 1994 in Paris begründeten Cirque Romanès 19 geht es ihm in seinen Prosagedichten um Ausdruck und Bewahrung der zunehmend verschwindenden Roma- Kultur. Die dabei häufig zutage tretende mitunter paradoxe Verknüpfung des durch die selbst empfundene Alterität begründeten othering von der Mehrheitsgesellschaft und dem Erleiden externer Ausgrenzung und Diskriminierung illustrieren die folgenden beiden Gedichte aus Paroles perdues (2004) recht eindrücklich: 10 DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 Dossier La grandeur, ils connaissent: décider, inventer, construire, leur chemin est sans fin. Moi, je ne suis pas de cette race. (Romanès 2004: 30) Je me souviens très bien des gens qui me montraient du doigt. Mes colères étaient intactes. Tout est fait pour qu’on nous vide De notre sang. Des vaches dans un pré. Tous ces gens qui décident, de quoi ont-ils peur? (Romanès 2004: 37) Letztlich ist Roma-Literatur immer sozial und politisch engagierte Literatur (cf. Toninato 2014). Ihre Autoren verstehen sich als Sprachrohre ihrer ungehörten Community, die das Wort - wie etwa Anina Ciuciu in Je suis tzigane et je le reste (2013) - explizit an die Mehrheitsgesellschaft richten: Ma vie et celle de mes racines furent, sont et resteront un éternel combat contre l’injustice et les préjugés […]. Et si aujourd’hui je vis en France, pays des droits de l’homme, mon combat - mon sacerdoce -, comme celui de mes proches, est quotidien, pour gommer notre soidisant différence avec les autres et pour que ce texte rédigé en 1789 par les Représentants du Peuple français soit respecté à notre égard. […] Pour eux, pour le peuple rom souvent méconnu, mais tellement décrié, j’ai donc voulu raconter mon histoire pour que tout le monde comprenne que, dans nos yeux, il y a de l’amour et de l’espoir, que nous ne voulons pas être rejetés ou plaints, mais simplement compris (Ciuciu/ Veille 2013: 17-18). Bezüglich heterostereotyper Roma-Darstellungen in zeitgenössischen Erzähltexten zeigt sich, dass ein Großteil gegenwärtiger Werke über Roma eine deutlich sozialkritische Perspektive einnimmt, um eine möglichst realistische und stereotypenfreie Repräsentation (zumindest) bemüht ist und zumeist als mehr oder weniger explizite literarische Plädoyers gegen strukturellen Rassismus zu lesen sind. Auffällig ist, dass nur selten die seit Generationen in Frankeich assimiliert lebenden Roma in den Blick geraten, die trotz ihrer francité vielfältige Stigmatisierungen erfahren, sondern fast ausschließlich die als meist irreguläre Migranten aus Osteuropa nach Frankreich eingewanderten ,neuen‘ Roma, die ganz offensichtlich zu Opfern massiver ethnischer Anfeindungen und sozioökonomischer Ausgrenzung werden. Besonders deutliche Beispiele für derart ,aufgeklärte‘ und sozialkritische Fremddarstellungen sind u. a. Alice Ferneys Roman Grâce et dénuement (1997), Lucie Lands Gadji! (2008), Julia Billets Alors, partir? (2008), Valentine Gobys (illustriertes) Kinderbuch Lyuba ou la tête dans les étoiles (2012), Jean Vautrins Roman Gipsy Blues (2014) und Xavier-Laurent Petits mit dem Grand Prix du Roman jeunesse und dem Prix des lycéens allemands ausgezeichneter Jugendroman Le fils de l’Ursari (2016), der 2019 auch in einer von Cyrille Pomès und Isabelle Merlet kreierten Comic-Adaption erschien. 20 DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 11 Dossier Im Gegensatz zur literarischen Narrativik bleibt das Thema Roma im französischen Gegenwartsfilm vergleichsweise marginal und beschränkt sich vielfach weiterhin auf die Fortschreibung alter Klischees. Dies illustriert etwa der vielfach ausgezeichnete banlieue-Film Les misérables (2019) von Ladj Ly, selbst Kind der Vorstadt. Einem Roma-Zirkus, der in der banlieue gastiert, wird darin ein Löwenbaby gestohlen. Über den Diebstahl aufgebracht machen sich die Zirkusleute auf den Weg zu dem farbigen Bürgermeister. Die brutal anmutenden Schlägertypen geraten sofort in eine hitzige Auseinandersetzung mit den (per se nicht minder aggressiven) Ortsvertretern. Dabei zeigt sich, dass die von den Polizisten ironisierend als ‚Gypsy Kings‘ bezeichneten Roma von allen Seiten (ob mit oder ohne Migrationshintergrund) als gewalttätige, verhasste Andere dargestellt werden. Daneben gibt es aber eine überschaubare Anzahl rezenter Filme, die Roma ins Zentrum rücken und dabei die gängigen Fremdbilder hin zu weniger prägnant stereotypen Darstellungen verschieben. Besonders eindrücklich ist diesbezüglich der Film Khamsa (2008) des franko-tunesischen Regisseurs Karim Dridi, der von dem von Ausgrenzung und Armut, Gewalt und Kriminalität geprägten Leben des 13jährigen Marco, der wegen des von seiner früh verstorbenen algerischen Mutter stammenden Hand-der-Fatima-Anhängers (= Khamsa ﺧ ﻣ س ) ‚Khamsa‘ genannt wird, in dem Roma-Lager Ruisseau Mirabeau im Norden Marseilles in aller ungeschönten Härte erzählt (cf. Videau 2008). Wie auch in seinen anderen Filmen fokussiert Karim Dridi in sehr authentischer Weise auf soziale Randgruppen, ohne dabei in Sozialromantik zu verfallen oder gängige Stereotype zu bedienen. Dies resultiert nicht zuletzt daher, dass Dridi während der Dreharbeiten selbst in dem Lager lebte und das Szenario von den Lebenserfahrungen der Roma-Laiendarsteller wesentlich beeinflusst wurde. Auch Jean-Charles Hues’ mit dem Prix Jean-Vigo ausgezeichneter Film Mange tes morts (2014) beschäftigt sich mit den Lebensrealitäten der als ,sesshafte Nomaden‘ 21 in Frankreich lebenden Roma. In der Art coming-of-age-Geschichte steht der 18-jährige Protagonist Jason Dorkel, der - wie Marco alias Khamsa - ,nur‘ Halb- Roma ist und daher eine gewisse Sonderstellung innerhalb der Roma-community inne hat. Auch Hues setzt Roma-Laiendarsteller ein (cf. Ferhat 2016), vermeidet so die unreflektierte Perpetuierung verbreiteter Stereotype und thematisiert zudem in der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommene Transformationsprozesse der Clan-Strukturen. So zeigt der Film am Beispiel eines von Armut und Prekariat beherrschten Roma-Lagers im Norden Frankreichs neben dem vielfach familienspaltenden Einfluss massiv erstarkender evangelikaler Strömungen 22 die durch den immer härteren Konkurrenzkampf ums Überleben zunehmende Individualisierung, die zum Zusammenbruch gruppeninterner Sozialstrukturen und damit auch zu einer ansteigenden Gewalt- und Kriminalitätsbereitschaft innerhalb der Minorität führt. In Seule à mon mariage (2018) beschäftigt sich die in Rumänien geborene, heute in Belgien lebende und arbeitende Regisseurin Marta Bergman ebenfalls mit sich wandelnden Sozialstrukturen innerhalb der (hier rumänischen) Roma, legt den 12 DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 Dossier Fokus dabei allerdings auf Roma-Frauen und das von ihnen zunehmend eingeforderte Recht auf Selbstbestimmung. Auch hier ist die Hauptdarstellerin - die renommierte Schauspielerin, Autorin und Roma-Aktivistin Alina Şerban 23 - selber Teil der Roma-Minderheit und verleiht Bergmans Fremddarstellung somit zugleich auch eine selbstdarstellende Perspektive. 24 Im Mittelpunkt steht die Anfang 20-jährige Romni 25 Pamela, die als allein erziehende Mutter einer zweijährigen Tochter in höchst ärmlichen Verhältnissen in der Bukarester Peripherie lebt. Selbstbewusst will die emanzipierte Frau ihr Leben selbst in die Hand nehmen, ihrer Tochter eine bessere Zukunft ermöglichen und geht als ,Katalog-Braut‘ die Zweck-Ehe mit dem Belgier Bruno ein. Die Themen weiblicher Selbstbestimmung und Heiratsmigration werden dabei ohne explizite Sozialkritik in Szene gesetzt und zu einem ebenso unterhaltsamen wie behutsam nachdenklich stimmenden Drama verwoben (cf. Joudet 2019). Die Darstellung von Roma in Literatur und Film beschäftigt die (frankoromanistische) Literaturwissenschaft schon seit Langem. Die überwiegende Mehrheit der einschlägigen Forschungsbeiträge untersucht die Fremddarstellung von Roma, ihren Lebensweisen, Sitten und Gebräuchen in literarischen Texten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. 26 Dabei wird seit einigen Jahren - wie etwa in den herausragenden monographischen Arbeiten aus der germanistischen Literaturwissenschaft von Klaus-Michael Bogdal (2011) und Hans Richard Brittnacher (2012) - vor allem der wertneutralen Auslotung zwischen faktischen Realien bzgl. der Lebensbedingungen von Roma wie ihren kulturellen Lebensformen und der meist pejorativen heterostereotypen Darstellung durch Nicht-Roma Interesse geschenkt. Seit nunmehr einigen Jahren rückt auch der literarische und filmische Selbstausdruck von Roma zunehmend in den Fokus literaturwissenschaftlicher Forschung: Neben den Pionierarbeiten von Beate Eder(-Jordan) (1993 und 2005) ist mit Blick auf die Frankoromanistik insbesondere Julia Blandforts Monographie Die Literatur der Roma Frankreichs (2015) hervorzuheben. 27 Die kritische und vergleichende Erforschung unterschiedlicher Gestaltungsformen von Fremd- und Selbstbildern von Roma in frankophonen literarischen und filmischen Werken des 20. und 21. Jahrhunderts stellt allerdings noch immer ein Desiderat einer kultur- und medienwissenschaftlich ausgerichteten (frankoromanistischen) Literaturwissenschaft dar. Die im Folgenden präsentierten Beiträge liefern punktuelle Einblicke in laufende Forschungen, die sich der Aufgabe der Schließung dieser Lücke verschrieben haben. Im Mittelpunkt des Beitrags „Une enquête sur la romophobie institutionnelle. Police et magistrature face à la mort d’un voyageur (Didier Fassin)“ steht mit der contre-enquête des Soziologen Didier Fassin ein doku-fiktionaler récit journalistique über die Tötung eines Roma. Cécile Kovachazy legt dar, wie der der Autor aus der kritischen Fremdperspektive eines Nicht-Roma den im Land der Menschenrechte grassierenden strukturellen Rassismus gegen die gens de voyage aufdeckt. Marina Ortrud M. Hertrampf beschäftigt sich ebenfalls mit hybriden Texten und untersucht in ihrem Beitrag „Revisionen und Subversionen: Literarische Roma-Darstellungen im Spannungsfeld von Faktion und Fiktion bei Simonnot, Rodrigue und DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 13 Dossier Pireyre“ drei Modellierungen von ,anderen‘ Fremddarstellungen von Roma(-Frauen). Am Beispiel der zwischen Faktion und Fiktion changierenden Narrationen Amadora: une enfance tzigane (2018) von Dominique Simonnot, Rien ne resiste à Romica (2016) von Valérie Rodrigue und Chimère (2019) von Emmanuelle Pireyre werden drei rezente Texte vorgestellt, die Roma-Frauen ins Zentrum rücken, ohne dabei die traditionellen Stereotype unkritisch zu perpetuieren. Die Untersuchung zeigt vielmehr, inwiefern die Darstellungen von ,Andersartigkeit‘ zwischen einer revidierenden Umschreibung und einem radikalen Bruch mit tradierten Bildern oszillieren. Sidonia Bauer widmet sich in ihrem Beitrag „Das Unheimliche der Roma. Mulo und Hexe in Matéo Maximoffs La septième fille“ dem großen Pionier der französischsprachigen Roma-Literatur. Dabei lotet sie exemplarisch anhand des Romans La septième fille die grundlegenden Ambivalenzen von Repräsentationsweisen sowohl innerhalb der Selbstdarstellungen bei Maximoff als auch in den sozialen Fremddarstellungen aus. Bei der kontrastiven Untersuchung wird dem Spannungsfeld zwischen Heimelichkeit, Heimlichkeit und Unheimlichem, in dem die unterschiedlichen Bilder zu verorten sind, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Nach Matéo Maximoff kann Sandra Jayat zweifelsohne als die bekannteste französischsprachige Roma-Autorin betrachtet werden. In „‚Mon pays... C’est partout où il y a un humain‘: Sandra Jayats La longue route d’une Zingarina (1978)“ untersucht Kirsten von Hagen, wie die Schriftstellerin den Festschreibungen stereotyper Vorstellungen eine polyphone, intermedial angelegte écriture entgegensetzt, die letztlich das Recht auf Freiheit und Entfaltung der eigenen Individualität innerhalb und außerhalb der Minderheit betont. Anne Pirwitz beschäftigt sich in ihrem Beitrag „,Chanter la liberté‘ - Musik als Raum kultureller Selbstrepräsentation und interkultureller Begegnungen in den Filmen von Tony Gatlif“ mit dem bekanntesten und einflussreichsten Roma-Filmemacher und geht dabei der Frage nach, inwiefern Gatlif aus der Innenperspektive der Minderheit heraus den stereotypisierten Fremdbildern alternative Darstellungsweisen entgegensetzt. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den Einsatz, die Bedeutung und die Funktion von Musik als zentrales kulturelles Ausdrucksmittel der oral geprägten Roma-Kultur gelegt. Asséo, Henriette, „Figures bohémiennes et fiction, l’âge des possibles 1770-1920“, in: Le Temps des médias, 14, 2010, 12-27, www.cairn.info/ revue-le-temps-des-medias-2010-1-page-12.htm (letzter Aufruf am 10.12.2021). Auraix-Jonchière, Pascale / Loubinoux, Gérard (ed.), La Bohémienne. Figure de l’errance aux XVIIe et XIXe siècles, Clermont-Ferrand, Presses Universitaires Blaise Pascal, 2006. 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Zur innerhalb der Minderheit sehr uneinheitlichen Selbstbezeichnung siehe Bergeon/ Salin 2010. Der Tatsache sehr wohl bewusst, dass namhafte Vertreter der Minderheit wie etwa Alexandre Romanès (cf. z. B.: „Nous sommes tziganes, gypsies, gitans, ce que vous voulez, mais pas ‚roms‘, ça c’est de la foutaise, une grosse connerie! “, zit. n. Simonnot 2018: 85) sowie renommierte Forscher wie etwa Henriette Asséo (2010) den Begriff ,Roma‘ ablehnen bzw. kritisch betrachten, wird im Rahmen der folgenden Beiträge die 1971 beim ersten Kongress der International Romani Union international eingeführte und heute in den Romani Studies dominante Bezeichnung ,Roma‘ als Dachbegriff für sämtliche Untergruppen verwendet (siehe hierzu z. B. Hertrampf/ Hagen 2020a: 9-11). Dabei wird hier die Form ,Roma‘ der gegenderten Form ,Rom: nja‘ allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit vorgezogen. 3 Genaue Angaben über die Roma-Bevölkerungen in den unterschiedlichen europäischen Ländern lassen sich nicht erheben, den Schätzungen des Europarates nach leben in Frankreich rund 400 000 (entspricht etwa 0,62 % der Gesamtbevölkerung) und in Deutschland rund 105 000 (entspricht etwa 0,13 % der Gesamtbevölkerung) Roma (Secretary General of the Council of Europe for Roma Issues 2012). 4 Zur Künstlerpose des Bohémien siehe z. B. Asséo 2010, Brown 1985 und Pfeiffer 2014. 5 Zu den persistenten Fremdbildern von Roma siehe z. B. Bordigoni 2013. 6 Die Titel der vier Kapitel - „Le fouet“, „Les ours“, „La Grand-route“, „Les couteaux“ - deuten dies mit ihrem Rekurs auf ,typische‘ Elemente des nomadisierenden Roma-Lebens bereits deutlich an. Für eine ausführliche Untersuchung der Roma-Darstellung cf. Williams 1989. 7 Cendrars verwendet das katalanische Pendant zum französisierten gitan. 8 Eine kritische Revision dieser Stereotypenliste liefert Bordigoni (2013). 9 Zu Perpetuierung und Veränderung tradierter Stereotype cf. auch Mihăilescu/ Matei 2020. 10 Perpignans Altstadtviertel St. Jacques ist in vielerlei Hinsicht einzigartig: Es handelt sich nicht nur zahlenmäßig um Frankreichs größte Roma-Gemeinde, sondern auch die einzige innerstädtische. Ferner sprechen die Bewohner muttersprachlich ein katalanisch beeinflusstes caló (die iberische Variante der Roma-Sprache Romanes). Für eindrucksvoll dichte Bildeinblicke siehe die Photo-Arbeit „Saint Jacques Gypsies“ von Jesco Denzel, dem offiziellen Photographen der Bundesregierung, cf. www.jescodenzel.com/ de/ portfolio/ st-jacquesgypsies#62. 11 Zur soziogeographischen Siedlungsverteilung von Roma in Europa cf. Delépine 2012. 12 Zur pèlerinage aux Saintes-Maries-de-la-Mer als touristischer Publikumsmagnet und identitätsstiftendes Gemeinschaftsritual cf. Rüthers 2012. 13 Zum racial profiling als Phänomen des strukturellen Rassismus u. a. mit Blick auf Roma (in der Schweiz) cf. Dankwa/ Naguib 2019. 14 Zu Maximoff cf. den Beitrag von Sidonia Bauer in diesem Dossier. Cf. auch Blandfort 2019. 15 In der Sprache der Mehrheit über die Sitten und Gebräuche der Roma zu schreiben galt insbesondere den älteren Generationen als Tabubruch, der mitunter auch zu Gruppenausschlüssen führte. Alexandre Romanès bringt das Dilemma interner und externer Nicht- Anerkennung literarischen Schreibens in der Mehrheitssprache in einem Gedicht zum Ausdruck: „,Tu n’es qu’un gitan! ‘ / C’est ce qu’ils pensent. / Je n’aurais peut-être jamais dû écrire. / J’ai trahi, j’avais tellement de choses à dire. / Je demande pardon à mon père, / à ma mère et à toute ma race“ (Romanès 2004: 27). 16 Zu Jayat cf. den Beitrag von Kirsten von Hagen in diesem Dossier. DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 17 Dossier 17 Zu Gatlif cf. den Beitrag von Anne Pirwitz in diesem Dossier. Für einen umfassenden Einblick in Bio- und Filmographie siehe auch die Homepage des Filmemachers: http: / / tonygatlif.free.fr/ accueil1280.htm. 18 Bei Gallimard erschienen Paroles perdues (2004), Sur l’épaule de l’ange (2010) und Un peuple de promeneurs (2011). Ferner veröffentlichte Romanès Les corbeaux sont les Gitans du ciel (2016), eine Sammlung autobiographischer Texte und Aphorismen, bei den Éditions Archipel und den Gedichtband Le luth noir (2017) bei den Éditions Lettres Vives. Zum Einfluss von Genet auf Romanès’ Schreibweise cf. Izzo 2013. 19 Mit Hilfe der Pariser Stadtverwaltung konnte der weltweit einzigartige Roma-Zirkus im Pariser 16. Arrondissement (zwischen Square Parodi und Boulevard de l’Amiral Bruix) eine feste Spielstätte finden. Aufgrund zunehmender rassistisch motivierter Angriffe, Vandalismus und mangelnder Einnahmen musste der Zirkus 2019 aufgeben. 20 2020 erschien der Roman zudem bei Klett als pädagogisch-didaktisch aufbereitete Schullektüre für den Französischunterricht. 21 Cf. Roner-Trojer (2015: 297), die vom „sesshafte[n] Nomadentum“ der Roma spricht, die „[j]ederzeit bereit [sind], diesen Platz sofort verlassen zu können, nicht gebunden an Boden oder Besitz, sondern an Familie und Kultur“. 22 Ursprünglich sind die in Frankreich lebenden Roma katholisch (cf. die beliebten Pilgerreisen von Roma insbesondere nach Saintes-Maries-de-la-Mer, Saint-Jean-de-Sauves oder Lourdes). Seit den 1990er Jahren steigt die Zahl an Konversionen zu neoprotestantischen und evangelikalen Gruppen (nicht nur bei osteuropäischen Roma) allerdings massiv an und führt mitunter zu Spaltungen der Roma-Gemeinschaften: „Les raisons de leur adhésion au pentecôtisme sont nombreuses et concernent autant la foi en elle-même (l’expression d’une foi plus positive met en valeur le fidèle plutôt qu’elle ne le condamne) que le rôle social assumé des missions évangéliques. Les pasteurs pentecôtistes sont d’ailleurs souvent tsiganes et le pastorat, facilement accessible, contrairement à l’ordination de prêtres catholiques, peut devenir une véritable affaire de famille. […] Le mouvement pentecôtiste n’est pas homogène et ses divisions internes marquent des divisions sociales parmi les Tsiganes, de la même façon qu’entre pentecôtistes et catholiques“ (Delépine 2012: 74-75). Die bereits 1958 begründete Mission Évangélique des Tziganes de France: Vie et Lumière ist mit über 200 Kultstätten die größte Roma-Pfingstgemeinde in Frankreich; zu den in Nevoy (Département Loiret) abgehaltenen Hauptversammlungen reisen jedes Jahr zwischen 10 000 et 15 000 Gläubige in ihren Caravans und Wohnwagen an. 23 Alina Şerban ist ebenfalls Hauptdarstellerin des deutschen Films Gipsy Queen (2019) von Hüseyin Tabak: Auch hier steht mit der selbstbewussten Ali eine allein erziehende rumänische Romni im Zentrum, die nach Deutschland migriert und sich dort ganz wörtlich in ein besseres Leben boxt; und damit - vielleicht ein wenig überambitioniert - die Themen weiblicher Selbstbestimmung von Romni, Migration und Exklusion mit einer impliziten Hommage an die Roma-Boxerlegende Johann Wilhelm „Rukeli“ Trollmann (cf. hierzu auch Eike Besudens Dokudrama Gibsy - Die Geschichte des Boxers Johann Rukeli Trollmann, 2012) verknüpft. 24 Seule à mon mariage ist Marta Bergmans erster Spielfilm, mit der (rumänischen) Roma- Gemeinschaft beschäftigt sie sich hingegen schon seit Jahren, so etwa in dem Dokumentarfilm La ballade du serpent, une histoire tzigane (1991). 25 ,Romni‘ ist die weibliche Form von ,Rom‘. 18 DOI 10.24053/ ldm-2021-0014 Dossier 26 Cf. z. B. Asséo 2010, Auraix-Jonchière/ Loubinoux 2006, Bauer/ Auraix-Jonchière 2019, Bauer 2017, Glajar 2008, Hagen 2009, Hagen/ Bauer 2020, Hölz 2002, Moussa 2008, Niemandt 1992. 27 Ferner sei verwiesen auf: Blandfort/ Hertrampf 2011, Hertrampf/ Hagen 2020a, 2020b, Hertrampf/ Zahova/ French 2020, Kovacshazy 2009, Toninato 2014, Wilhelm 2008.