eJournals lendemains 46/182-183

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2021-0016
2021
46182-183

Revisionen und Subversionen

2021
Marina Ortrud M. Hertrampf
ldm46182-1830028
28 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier Marina Ortrud M. Hertrampf Revisionen und Subversionen Literarische Roma-Darstellungen im Spannungsfeld von Faktion und Fiktion bei Simonnot, Rodrigue und Pireyre Vivre vrai, c’est leur secret. Jacques Prévert (1996: 661) 1. Stereotype Roma-Darstellungen à rebours Literarische Inszenierungen von Roma avancierten (nicht nur) in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu einer regelrechten Mode, vermag die romaneske Repräsentation der vermeintlich fremden Anderen im eigenen Land doch die Faszination am Exotischen und Fremden par excellence zu bedienen. 1 Dem Prinzip des Stereotypenkreislaufs 2 folgend perpetuierten Autoren der Mehrheitsgesellschaft sämtliche Bilder und Motive, die sich letztlich schon mit der Ankunft der Roma im frühneuzeitlichen Europa herausgebildet haben und die den Selbstbildern wie den realen Lebensbedingungen der Mitglieder der diasporischen Gemeinschaft kaum ferner sein könnten. Gerade bei der literarischen Inszenierung junger Romnja überwiegen stark romantisierende Darstellungen zutiefst anmutiger Frauen, die mit ihren erotisch-verführerischen Künsten mitunter auch zu Verderb bringenden femmes fatales werden können (cf. Carmen-Mythos). Auffällig ist, dass heterostereotype Roma-Darstellungen zwischen romantisierender Idealisierung eines freiheitlichen, naturverbundenen Lebens in Bewegung, voll Musikalität und anmutigen Tanzes einerseits und pejorativer Diskriminierung der Gemeinschaft als betrügerische Wahrsagerinnen, unheilbringende Verführerinnen und stehlende Kriminelle andererseits oszillieren. Ob nun aber verklärt oder verteufelt, mehrheitsgesellschaftliche Heterostereotype dominieren bis heute einen Großteil öffentlicher und politischer, aber auch literarischer Diskurse. Parallel zu dieser quasi ungebrochenen Persistenz stereotyper Vorstellungen manifestieren sich aktuell vor allem in der Richtung der (nicht nur frankophonen) Gegenwartsliteratur ganz bewusste Brechungen dieser Festschreibungen, die sich den „territoires de la non-fiction“ (Gefen 2020) annähern, die Grenzen zwischen Faktion und Fiktion auflösen und soziale Realitäten aus einer soziologisch-ethnographischen Perspektivierung heraus in einer nicht normativ-wertenden Weise quasi dokumentarisch darstellen. Mit Blick auf die französische Literaturproduktion erfreut sich die auf den New Journalism zurückgehende Strömung des journalisme narratif sowie die der v. a. auf Pierre Bourdieu fußenden soziologisch ausgerichteten écriture documentaire (cf. v. a. François Bon, Didier Eribon, Annie Ernaux oder Éduard Louis) DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 29 Dossier seit einigen Jahren immer größerer Beliebtheit (cf. Séry 2021). Keiner Gattung eindeutig zuzuordnen, oszillieren diese Schwellentexte in unterschiedlichen Graden zwischen den Polen Faktion und Fiktion einerseits und Expositorik und Narrativik andererseits: „Car, en définitive, ce que produit le journalisme narratif, ce sont bien des fictions, mais des fictions d’un genre particulier: des fictions du réel“ (Pélissier/ Eyriès 2014). Dabei rücken in diesen m. E. deutlich systemkritischen Revisionen sozialer Realitäten der ganzen Breite der französischen Gesellschaft vielfach gerade die sozialen Ränder ins Zentrum des Interesses, so etwa auch die Roma. 3 Am Beispiel dreier rezenter Beispiele solcher fictions du réel bzw. fictions documentaires (Pireyre 2007) wird im Folgenden herausgearbeitet, wie die Nicht-Roma- Autorinnen Dominique Simonnot, Valérie Rodrigue und Emmanuelle Pireyre im Spannungsfeld von Faktion und Fiktion literarische Fremddarstellungen von Roma inszenieren, die zum einen kaum oder gar nicht bekannte Seiten der Lebensrealitäten in Frankreich lebender Roma präsentieren und dabei zum anderen Klischeebilder von Roma zwar aufrufen, aber letztlich à rebours darstellen und somit stereotype Festschreibungen revidieren, ja mitunter sogar subvertieren. Hinsichtlich ihrer ästhetischen Machart und ihres Literarizitätsgrades unterscheiden sich die ausgewählten Texte recht deutlich voneinander: So ist Dominique Simonnots 2018 erschienenes Buch Amadora mit dem Untertitel Une enfance tzigane versehen und verdeutlicht damit, dass es sich um einen biographischen Bericht handelt. Wie Dominique Simonnot ist auch Valérie Rodrigue Journalistin und legt mit Rien ne résiste à Romica (2016) einen récit journalistique vor, der ebenfalls die Biographie einer Romni erzählt, dabei aber sehr viel stärker in Richtung Biofiktion geht. Emmanuelle Pireyres Chimère (2019) hingegen erscheint zwar vordergründig als autofiktionaler Bericht, weist aber im Verlauf des Buches immer deutlichere Züge einer romanesken Dystopie auf und entfernt sich damit sehr viel stärker vom storytelling des journalisme narratif von Dominique Simonnot und Valérie Rodrigue. Gleichwohl sich die drei im Weiteren näher untersuchten Prosatexte hinsichtlich ihrer Poetizität und Literarizität also durchaus unterscheiden, ist allen drei Werken gemein, dass sie im Zusammenhang mit (journalistischen) Recherchen über das Leben von Roma in Frankreich entstanden. Der enge persönliche Kontakt zu Mitgliedern der Minderheit und die intensive Beschäftigung mit ihnen ermöglichte es den Autorinnen, eigene, unmittelbare und ungefilterte Einblicke in Lebenswelten zu erhalten, die Mitgliedern der Dominanzgesellschaften in der Regel verborgen bleiben. Dieser Perspektivwechsel ist es auch, der zuweilen dazu führt, dass die eigene Fremdperspektive zugunsten der Selbstdarstellung der jeweils betroffenen Romni in den Hintergrund tritt. In allen drei Fällen stellen die Autorinnen Roma (und insbesondere Romnja) in ebenso polyphoner wie polyperspektivischer Weise dar und setzen der longue durée tradierter Stereotype so ganz bewusst ein Ende. 30 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier 2. Amadora oder die (Auto-)Biographie einer Unbekannten Die Journalistin Dominique Simonnot schreibt für die Tageszeitung Libération sowie die satirische Wochenzeitung Le Canard enchaîné. Das besondere Interesse der Rechtskolumnistin gilt dabei juristischen Fragestellungen um die Themen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit im französischen Staats- und Gesellschaftssystem. Aufgrund ihres engagierten journalistischen Einsatzes, der sich in zahlreichen Recherchen und Untersuchungen zu mitunter sehr brisanten Themen spiegelt, erhielt Dominique Simonnot 2020 auf den Vorschlag von Emmanuel Macron das Amt der Contrôleuse générale des lieux de privation de liberté übertragen. Das Buch Amadora: une enfance tzigane veröffentlichte Dominique Simonnot nach einer dreijährigen Recherchearbeit über die Lebensbedingungen aus Osteuropa nach Frankreich migrierter Roma in dem für seine sozialen Brennpunktviertel ,berühmten‘ Département Seine-Saint-Denis. Bei ihrer Feldforschung lernte Dominique Simonnot das Roma-Mädchen Anamaria Lingurar kennen, das im Alter von vier Jahren mit ihren Eltern aus Rumänien gekommen war und in ,ihrem‘ Lager in Saint-Denis als Übersetzerin fungierte. Dominique Simonnot ihrerseits wird in Amadora: une enfance tzigane zur ,Interpretin‘ der jungen Romni. Im Gegensatz zu vielen anderen Roma-Texten, die mittels Ko-Autorenschaft in Mehrheitssprachen verschriftlicht wurden, 4 ist dies in diesem Fall aber weniger auf die mangelnden Französischkenntnisse des Mädchens zurückzuführen, als vielmehr der Tatsache geschuldet, dass die erzählende Protagonistin noch ein Kind ist. Als Sprachrohr nutzt Dominique Simonnot indes freilich auch ihr soziales Prestige und journalistisches Renommee, um einer Unbekannten eine Stimme zu verleihen. Dieser Aspekt ist bezüglich der Rezeptionsbreite in der Mehrheitsgesellschaft nicht zu unterschätzen, ist die Strahlkraft des bei dem renommierten Seuil-Verlag erschienenen Werkes doch ungleich größer als etwa Anina Ciucius ebenfalls in Ko-Autorenschaft mit einem französischen Journalisten ( Frédéric Veille) entstandener autobiographischer Bericht Je suis Tzigane et je le reste (2013), der in einem kleinen, kaum bekannten Verlag erschien. 5 Trauen mehrheitsgesellschaftliche Leser einem Mitglied der Minderheit kaum zu, literarisch qualitativ wertvoll tätig zu sein, so wird dies von Autoren der Dominanzgesellschaft schlichtweg angenommen. Diese latent diskriminierende Realität verdeutlicht sich auch darin, dass es auf dem Klappentext heißt, dass Dominique Simonnot das Porträt der jungen Romni zeichnet. De facto werden die insgesamt 41 Kapitel jedoch mal aus der autodiegetischen Perspektive Anamarias, die von allen Amadora genannt wird, mal aus der autodiegetischen Perspektive ihrer Mutter Romina, mal aus der homodiegetisch vermittelten Perspektive Dominique Simonnots präsentiert. Dass dabei Amadora als Erzählerin und Protagonistin im Zentrum steht, verdeutlicht sich neben der Titelgebung darin, dass das „Je m’appelle Amadora“ übertitelte erste Kapitel das Buch mit einer Selbstvorstellung der Protagonistin eröffnet, bei der das Schreiben der eigenen Biographie aus dem Moment heraus wie in einer mündlichen Präsentation als Prozess eines noch nicht abgeschlossenen performativen Aktes beschrieben wird: DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 31 Dossier Depuis presque trois ans, j’écris un livre avec Dominique, une journaliste […]. Personne ne m’avait jamais proposé d’écrire un livre avant et c’est très dur, il faut beaucoup de concentration et faire très attention, sinon, il peut arriver que je dise une chose et Dominique comprenne l’inverse. Je m’appelle Amadora, j’aurai 12 ans le 3 avril 2018, je suis une Tzigane, née en Roumanie, et je suis arrivée en France en 2010 avec mes parents, Craï et Romina, et mon petit frère Craï-Abel, qui a neuf ans maintenant. Depuis qu’on est ici, j’ai eu un frère et une sœur (Simonnot 2018: 7). Insgesamt basiert die Narration stark auf Dialogizität und mündlichen Erzählstrategien, wodurch die Interviewsituationen des Entstehungsprozesses des Buchs einerseits und in den zahlreichen von Amadora und ihrer Mutter erzählten (mal amüsantunterhaltsamen, mal erschütternd-schockierenden) Anekdoten die traditionell orale Erzähltradition der Roma andererseits gespiegelt wird. In die direkt oder indirekt vermittelten Selbstdarstellungen von Amadora und Romina flicht Dominique Simonnot immer wieder auch Hintergrundinformationen ein. Dabei markiert sie deutlich, dass sie nicht auf heterostereotype Verallgemeinerungen und Allgemeinplätze setzt, sondern allein aus eigener Anschauung berichtet und auf dieser Grundlage Mutmaßungen („il paraît“) anstellt: Au temps de campement, chaque mercredi Romina avait visite de deux femmes, Témoins de Jéhovah, qui tentaient par tous les moyens de s’attirer les bonnes grâces des habitants de ce petit coin roumain de Saint-Denis. Il paraît que pas mal de Roms ont été évangélisés, entre autres, par les Jéhovah. Craï et Romina, d’ailleurs, fréquentaient alors une église évangéliste, de Seine-Saint-Denis (ibid.: 141). In guter journalistischer Manier gibt sich Dominique Simonnot aber nicht mit den eigenen Beobachtungen zufrieden, sondern verarbeitet auch ihre fundierten Hintergrundrecherchen. So gewährt sie Einblicke in den (Über-)Lebensalltag in (illegalen) Lagern und klärt über die vor allem im Pariser Raum verbreitete Praxis der mitunter jahrelangen Unterbringung Wohnungsloser in Hotels (‚hôtel social‘) auf (cf. ibid.: 185-188). In dem Kapitel „Tzigane, mon amour…“ gibt sie in einer Art Faktencheck nicht nur ein Panorama romophober Äußerungen über Roma in öffentlichen und privaten Diskursen wieder, 6 sondern integriert auch die Analysen von Henriette Asséo, einer der führendsten Roma-Spezialistinnen in Frankreich. Auf diese Weise erfahren die Leser nicht nur von dem konkreten Schicksal der Roma-Familie Linguar, sondern auch von der ebenso langen wie leidvollen (Exklusions-)Geschichte der Minderheit wie von dem Pariser Cirque Romanès (cf. ibid.: 67-71) oder der von Roma-Aktivisten initiierten Roma-Pride-Parade (cf. ibid.: 33-35). Der Grad des (sprachlich) gestaltenden Eingriffs der Autorin in die mündlich präsentierten Selbstdarstellungen der Mitglieder der fokussierten Roma-Familie variiert zwischen den unterschiedlichen Kapiteln. Während Dominique Simonnot in dem Kapitel „Si tu le veux, ce sera pour la vie…“ das Zwiegespräch von Amadoras Eltern als sprachlich adaptiertes Transkript des Dialogs wiedergibt, belässt sie in „Sivouplé“ 32 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier die Marker der schlichten gesprochenen Alltagssprache und reproduziert - zumindest partiell - auch die sprachlichen Inkompetenzen, wodurch der témoignage- Bericht authentisch und durch den ganz selbstverständlich verwendeten, deautomatisierend wirkenden Begriff ,Sivouplé‘ besonders eindrücklich wirkt: Quand je vois les filles faire les sivouplé, ça me rend très, très triste, elles sont là pour l’argent, je l’ai fait aussi. Oui, à la gare de Pierrefitte, en 2010. On venait d’arriver en France, il fallait acheter une voiture pour mon mari, Craï, pour la brocante, on n’avait rien de tout. Oui, c’est très dur et très honteux, on est jeunes, capables de travailler et on fait la manche. […] Je ne savais pas parler le français, seulement dire: „Sivouplé, sivouplé, y a lézenfants, y a pas dou manger, y a pas dou lait.“ (ibid.: 57) Die Scham, die Romina hier bzgl. ihres Bettelns artikuliert, widerspricht dem verbreiteten Stereotyp, dass Roma sich bewusst nicht in die geregelte Arbeitswelt der Dominanzgesellschaft integrieren wollen bzw. ohnehin arbeitsscheu seien und das Betteln als etwas ganz Normales betrachten. Die durch Dominique Simonnot vermittelten Selbstdarstellungen bringen ein ganz anderes Bild zum Ausdruck: Amadoras Eltern migrierten nach Frankreich, um dort für ein besseres Leben arbeiten zu können. Welch großen Stellenwert für sie die reguläre Arbeit innerhalb des mehrheitsgesellschaftlichen Systems einnimmt, zeigt das beharrliche Bemühen der Mutter, Arbeit zu finden: Souvent, c’est très raciste, avec nous, les Roms, les gens croient qu’on est tous des voleurs. Mais je continuais à chercher, je disais tout le temps, partout: ,Tout ce que je veux, c’est un travail‘“ […] Et ça y est! Des heures de ménage, d’entretien des espaces verts pour la régie de quartier à Stains! J’ai dansé comme une folle, j’étais si contente! (ibid.: 61) Für Roma gestaltet es sich allerdings nicht nur in den explizit romophoben Ländern (Süd-)Osteuropas schwer, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzukommen: Während der latente Mangel ungelernter Dienstleistungstätigkeiten in westeuropäischen Ländern Romnja wie Romina immer wieder Möglichkeiten eröffnet, legal zu arbeiten, haben es Männer - insbesondere, wenn sie sich wie Amadoras Vater mit dem Französischen nicht so leicht tun - weitaus schwerer (cf. ibid.: 66). Oftmals sind es also gerade die Frauen, die ihre Familien ernähren, was dem gängigen Klischeebild der in Roma-Kulturen unterdrückten Frau diametral entgegensteht. Am Beispiel der Familie Lingurar wird weiter deutlich, dass eines der Probleme von pejorativ-stereotypen Fremdwahrnehmungen in reduktionistisch-generalisierenden Pauschalisierungen liegt, etwa wenn es um das Thema Kinderehe geht: „Je sais que, chez nous, les filles se marient à 13 ans, c’est notre tradition, et mes parents quand ils veulent m’embêter ils me disent: ,Attention Amadora, si tu n’est pas gentille, on te marie à 13 ans! ‘ Mais je sais que c’est faux! Ils le feront jamais! “ Elle avait raison, car ses parents parlaient souvent de cette affaire de mariage, chaque fois pour assurer que, „jamais, jamais“, leurs filles ne seraient autorisées à épouser quiconque avant leur majorité (ibid.: 100). DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 33 Dossier Amadoras Eltern sind zwar streng, aber ihr Augenmerk liegt vor allem darauf, dass ihre Töchter schulisch erfolgreich sind und zu selbstbewussten und emanzipierten jungen Frauen heranwachsen. Vor diesem Hintergrund verwundert es dann auch nicht, dass Amadora in der Schule den Wahlkurs Boxen belegt (cf. ibid.: 108). So wie Amadora feststellt, dass die Kinderehe tatsächlich (bis heute) Teil traditioneller Lebensformen eines Teils der Minderheit ist, so werden auch andere Klischeebilder durchaus affirmativ präsentiert, dabei aber mit einer Nuance versehen, die nicht mit dem Fremdbild kongruent ist. Romina bestätigt beispielsweise die Affinität von Roma zu Gold, meint damit aber nicht den Hang, sich dieses unrechtmäßig anzueignen, sondern betrachtet es vielmehr als finanziellen Notanker: Oui, je dis LA OR, parce qu’il est tellement beau! Et moi j’adore LA OR. Nous, les Gitans, on aime beaucoup la or. C’est très, très utile. Quand je n’ai pas d’argent, je porte mon or chez ceux qui prêtent de l’argent, et je rembourse tous les mois pour le reprendre (ibid.: 190). Wenn es um das Stereotyp des Kinderklauens geht, wird das Heterostereotyp regelrecht gegen den Strich präsentiert, zeigt sich doch, dass Roma dieselbe Angst gegenüber Nicht-Roma hegen: 7 Quand j’étais bébé, nous étions en Italie […]. Mes parents m’ont raconté que nous avions dû partir tellement ils avaient peur qu’on me vole, parce qu’en Italie beaucoup de gens s’approchaient de moi et regardaient ma mère me donner le sein, en disant que j’étais très jolie. […] Mes parents ont pensé qu’elles allaient me prendre, et comme ils ne parlaient pas l’italien et ne connaissaient personne, sauf les Tziganes, là-bas ils n’auraient rien pu faire pour les empêcher de me kidnapper. Je crois que ça arrive souvent avec les enfants roms, en tout cas c’est ce qu’on raconte toujours chez nous (ibid.: 9). Auch das Stereotyp, dass Roma Müll sammeln und mit diesem Handel treiben, wird hier zur Sprache gebracht; dabei zeigt sich jedoch, dass es sich hierbei vor allem für irreguläre Roma angesichts ihrer prekären ökonomischen Situation zwangsläufig weniger um ein Bild denn um gelebte Realität handelt; um eine Realität allerdings, die Simmonet dadurch zu einer besonders beschämenden Tatsache werden lässt, dass sie geradeweg ,dankbare‘ und ,zufriedene‘ Stimmen der Roma ertönen lässt, die nicht anklagen oder sich beklagen, sondern ihre Ausgrenzung erdulden: Pour nous Roms, disait son père, la poubelle c’est comme un magasin, on en sort à manger, des vêtements, des chaussures, des livres et plein d’autres choses encore! Beaucoup de Roms se sont fait une vie meilleure, grâce aux poubelles de France (ibid.: 23). Ähnlich beklemmend wirkt Amadoras unbeirrter Umgang mit der ihr gegenüber offen artikulierten Diskriminierung: „Même si des élèves étaient méchants, avec tous ceux qui criaient ,la Gitane, tu pues! ‘“ (ibid.: 18) - ihr Wille zur Teilhabe an Bildung ist stärker als rassistische Ausgrenzung. Durchaus bemerkenswert ist dabei, dass die Liebe zur französischen Heimat und der Wunsch nach assimilierter Integration trotz der wenig gastlichen Aufnahme und den mitunter massiven Erfahrungen rassistischer Diskriminierung ungebrochen ist, wie in einem Interview mit Anamaria Lingurar 34 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier eindrücklich zum Ausdruck kommt: „Je trouve que la France c’est bien. Il y a des gens très sympas et ils accueillent beaucoup de gens, même s’ils ne sont pas Français. […] Je voudrais faire soit avocate, soit policière, soit médecin“ (FranceInfo 2018). 8 Amadora mag als Ausnahme erscheinen - und in gewisser Weise ist dieses junge Mädchen auch eine ganz besonders willensstarke Persönlichkeit -, allerdings liegt Dominique Simonnot daran, an diesem einen Beispiel exemplarisch aufzuzeigen, dass sich hinter den pejorativen Stereotypen zahllose weitere Amadoras verbergen, 9 die entgegen der nicht zuletzt durch Nicolas Sarkozy geschürten Vorurteile eben gerade keine grundsätzliche ,Belastung‘ und ,Gefahr‘ der französischen Zivilgesellschaft darstellen, wird ihnen nur die Möglichkeit der Partizipation an den Grundrechten gewährt, die mit dem Egalitätsgedanken an erster Stelle des republikanischen Staatsmodells Frankreichs stehen (sollten). Damit liegt die sozial engagierte Zielsetzung des Buches - wie der Klappentext explizit hervorhebt - darin, eine Neuperspektivierung der Roma zu ermöglichen: „[…] voici les Roms comme on ne les a jamais vus“ (ibid., Quatrième de couverture). Ein Ziel, das in der Kritik als erreicht bewertet wurde: „Après cette lecture, nous ne pouvons plus voir de la même manière ces personnes que nous appelons Roms“ (Diot 2019). 3. Rien ne résiste à Romica: Die Biofiktion einer Unsichtbaren Als Journalistin schreibt Valérie Rodrigue vor allem für Frauenzeitschriften und auch als Schriftstellerin schreibt sie über Frauen, wobei sie vor allem Frauen in physischen und psychischen Extremsituationen und starke Persönlichkeiten (oft sozialer Randgruppen) in den Blick nimmt. Dabei eröffnen ihre stets zwischen témoignage und Fiktion oszillierenden Erzähltexte neue Sichtweisen oder machen gesellschaftlich Unsichtbare sichtbar. Während sie sich in La peau à l’envers (1989), Poupée paradis (1996) und Lettre à une jeune affamée (2009) dem Thema Anorexie und Bulimie widmet, zeichnet sie in Salut, Princess Erika! (2001) ihr Bild von Erika Dobong’na, einer der ersten Reggae-Sängerinnen in Frankreich. In dem in Ko-Autorschaft mit Anne-Sophie Mathis entstandenen Je me bats dans la vie comme sur le ring (2010) steht das ungewöhnliche Leben der englischen Boxweltmeisterin im Spannungsfeld von alleinerziehender Mutter und Profikampfsportlerin im Zentrum. Vor dem Hintergrund von Nicolas Sarkozys „Discours de Grenoble“ ( 30.07.2010) und den darauf folgenden Zwangsräumungen illegaler Lager und den Massen- Abschiebungen von Roma in den Balkan beginnt Valérie Rodrigue, sich für nach Frankreich migrierte Roma und ihre Lebensbedingungen zu interessieren: „L’aide aux devoirs auprès des enfants roms, c’est le discours de Grenoble qui m’en a donné l’idée. Je ne pouvais pas rester sans rien faire et dire après ,je ne savais pas‘“ (Rodrigue 2016a: 15). Mit dem Ziel, sich jenseits all der Stereotype ein eigenes Bild zu machen, engagiert sie sich beim Secours catholique und erhält so Zugang zu einem village d’insertion de Roms 10 in Saint-Denis. Damit erhält sie nicht nur eigene Einblicke über das staatliche Versuchsprojet der villages d’insertion, die mit ihren DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 35 Dossier Eingangs- und Ausgangskontrollen letztlich viel mehr Ähnlichkeiten mit Lagern als mit Dörfern haben, sondern sie kommt auch unmittelbar mit den Bewohnern, ihren Sorgen, Nöten und Träumen in Kontakt: „C’est au contact des familles et des enfants que j’ai pu comprendre la réalité de leur vie, leur culture et leurs aspirations, ce dont on ne parle jamais, nulle part“ (Rodrigue 2016b). Für die Thematik sensibilisiert, nimmt sie nun auch ihr eigenes Lebensumfeld in Paris anders wahr und spricht 2012 eine junge schwangere Romni an, die vor der Post bettelt: „Romica faisait la manche devant la poste principale depuis quatre ans et je venais tout juste de remarquer sa présence“ (Rodrigue 2016a: 12). Aus dieser Selbstkonfrontation mit dem alltäglich Präsenten, aber (un-)bewusst Verdrängten entsteht schließlich eine Freundschaft, von der Valérie Rodrigue in Rien ne résiste à Romica erzählt. Während die autodiegetische Erzählerin tatsächlich Valérie Rodrigue ist, ist Romica zwar keine fiktive Figur, ist aber auch nicht identisch mit Dora, der 25-jährigen rumänischen Romni, die Patin für Romica stand. Durch die Verschmelzung von realen biographischen Erfahrungen, recherchierten Hintergrundinformationen zu Geschichte und Lebensbedingungen von Roma und die Fiktionalisierung der Protagonistin entsteht schließlich ein biofiktionaler Text, der von der ersten Kontaktaufnahme der Erzählerin mit der ebenso dickköpfigen wie intelligenten Romica über die Anfreundung bis hin zu dem gemeinsamen Kampf um Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe erzählt. Darüber hinaus verschiebt sich der biofiktionale Charakter zuweilen dadurch in Richtung des Autobiographischen, dass Valérie Rodrigue die Exil-Geschichte ihrer Familie in die Erzählung einflicht 11 und dabei die gesellschaftliche Exklusion der Roma mit der der algerischen Sephardim in den 1960er Jahren gleichsetzt. Die Überblendung der Ausgrenzungserfahrung aus Rumänien exilierter Roma-Kinder mit der ihren als Tochter jüdischer pieds-noirs unterstreicht die longue durée der Ungleichheit als paradoxer Widerspruch zum französischen Selbstverständnis als Land der Menschenrechte: Je me revois au même âge, porteuse d’une autre histoire, celle des Sépharades débarqués en France en 62, après l’indépendance de l’Algérie, histoire qu’il fallait fourrer sous le tapis. ‚S’intégrer‘: on parlait déjà comme ça. Intégration, nom commun qui veut dire tout et n’importe quoi. Nous, Juifs d’Algérie, étions français depuis 1870. Et il nous fallait nous ‚intégrer‘? J’ai tout appris, les Gaulois, le Moyen-Âge, les rois, tout. Pour autant, j’en ai entendu, des vertes et des pas mûres, sur les Espagnols, les Portugais, les Juifs, les ceci, les cela, tous montrés du doigt, comme Alina aujourd’hui en entend des vertes et des pas mûres de la part des autres gosses, sur le chemin de l’école. Les décennies se superposent, s’entassent, le mécanisme du rejet, le culte du boc émissaire, rien n’a changé (ibid.: 50). Der überwiegend (auto-)biographische und dokumentarische Charakter weicht zuweilen einer prägnanteren Literarizität. Besonders deutlich tritt die poetische Mehrdeutigkeit in der Übertitelung des dritten Teils der Narration mit „Le papillon“ hervor. Während die Titel der ersten beiden Teile, „La manche“ und „L’espoir“, auf zentrale inhaltliche Momente hinweisen, bezieht sich der Schmetterling zum einen auf ein konkretes Ereignis, das von den Roma als Glücksbote interpretiert wird: „Il faisait beau ce matin-là, c’était encore l’hiver mais un papillon s’était quand même posé sur 36 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier le rebord de la fenêtre. Anda avait ouvert, le papillon était venu sur sa main, signe de bonne fortune“ (ibid.: 66). Und in der Tat widerfährt Romica Glück (Arbeit, Ausbildung, Wohnung). Zum anderen bedient Valérie Rodrigue hier aber auch die Metapher der zum Schmetterling werdenden Raupe, um die Metamorphose Romicas zu beschreiben, ihre charakterliche Entwicklung zu einer besonnenen Frau, die nunmehr frei und unbeschwert leben kann: „Tôt ou tard, sa colère s’envolait et Romica deviendrait un beau papillon“ (ibid.: 60). Die Narration erzählt in jeweils kurzen anekdotischen Episoden von dem langen und steinigen Weg Romicas und ihrer ,Mitstreiterin‘ vom Lager in ein HLM , vom Betteln zur Berufsausbildung als Pflegekraft. Wie in einer Art literarischem Road Movie durchkreuzen die beiden Frauen dabei alle Teile von Paris und sämtliche Behörden und Instanzen des Verwaltungsdschungels. Wenngleich zahlreiche Episoden traurig oder wütend machen, überwiegt doch die optimistisch-heitere Grundstimmung. Angesichts der geradezu grotesken Absurditäten französischer Bürokratie fühlt sich auch die heute gesellschaftlich fest verankerte Erzählerin immer wieder wie in dem sprichwörtlichen Kampf gegen Windmühlen: „Nous avons parcouru en tous sens la banlieue parisienne, avons été Don Quichotte face à l’administration, nous nous sommes disputées, réconciliées, nous avons enfin tenu le bon bout […]“ (Rodrigue 2016b). Dass der Kampf um Anerkennung und Partizipation schließlich gelingt und Romica und ihrer Familie den Weg zu gesellschaftlicher Integration öffnet, ist indes einzig und allein der Tatsache geschuldet, dass Romica eine engagierte und unermüdliche Fürsprecherin aus der Mehrheitsgesellschaft hat. An Intelligenz, Ehrgeiz und Träumen mangelt es nicht, doch die Tradition der Kinderehe - im Gegensatz zu Amadora wurde Romica als 14-jähriges Mädchen verheiratet und bekam früh Kinder - sowie der gesellschaftlich verwehrte Zugang zu Bildung zwangen und zwingen bis heute tausende Romnja, hinter ihren Möglichkeiten zu bleiben: 12 À peine pubères, les petites Roms sont mariées. C’est une habitude liée à la pauvreté et à l’exclusion. Enceintes dans la foulée, elles enfilent les grossesses. Elles obéissent à la bellemère qui s’est payé là une bonniche et se venge de ce que sa propre belle-mère lui a fait subir. Il n’y a dans la vie d’une fille rom d’accès ni à l’éducation ni à l’instruction. La manche, la maternité, la lessive, la cuisine. Même pas les regrets, pour avoir des regrets, il faut avoir eu des rêves, comme Romica qui se voyait médecin ou écuyère (Rodrigue 2016a: 92). Damit macht die Dokufiktion unmissverständlich deutlich, dass gelingende Integration ohne die Mithilfe der französischen Bevölkerung letztlich kaum möglich ist: „Tout seul, en France, on ne s’en sort pas“ (Lemoine 2016). Überhaupt, so der Tenor des Buchs, kann eine funktionierende postmigrantische Gesellschaft nur durch wechselseitige Anstrengungen entstehen: „Nous, privilégiés, avions à apprendre de cette aptitude à l’exil et à perpétuer la famille, quoi qu’il arrive. Eux, ils avaient à apprendre à vivre avec nous et pas à côté de nous“ (Rodrigue 2016a: 54-55). Nicht nur die französische Dominanzgesellschaft muss sich zur Diversität als integraler Teil der francité bekennen, auch die in Frankreich lebenden Roma müssen ihre bewusste DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 37 Dossier kulturelle Abgrenzung (nous Roms) von der Dominanzgesellschaft (eux gadjé 13 ) auflösen, um das identitätszerstörende Phänomen der ingroup-Exklusion nach erfolgter Überwindung der outgroup-Exklusion zu verhindern, das auch Romica fürchtet: Le travail, pour l’argent, la dignité et la liberté. Elle se sentait tiraillée entre un monde et l’autre, le platz et les maisons. „Si je travaille, si je parle bien et si j’écris en français, je deviens gadji, celle qui renie les siens.“ (ibid.: 95) Die stark exklusive Gruppenkohäsion und die damit einhergehende bewusst ablehnende Abgrenzung von Nicht-Roma wird hier als Autostereotyp bestätigt, allerdings gerade nicht in seiner problematischen, d. h. verabsolutierenden Verallgemeinerung: „,J’ai pas confiance en vous les gadjé, ni en votre médicine, mais j’ai confiance en vous, mon amie.‘“ (ibid.: 58). Interessanterweise hat allerdings Romica die pejorativen Heterostereotype dermaßen verinnerlicht, dass ihr Selbstwertgefühl davon massiv eingeschränkt wird. In einem nicht unironischen turn ist es gerade die Nicht- Roma, die das Vorurteil der notorischen Arbeitsscheu und freiwilligen Bettelei dekonstruiert: Elle donnait raison aux mauvaises langues qui disaient qu’être rom, c’est mendier, c’est être illettré. […] Je lui rappelais aussi que bien des noms roms font référence à un corps de métier, puisque les Roms ont toujours travaillé (longtemps comme des esclaves) avant qu’on ne les balance à la périphérie des villes et qu’on ne les pousse à la mendicité. Les Kalderash, les Lautari, les Lovari…chaudronniers, musiciens, maquignons, etc. (ibid.: 59). Valérie Rodrigue ist nicht nur beim Thema Betteln (cf. ibid.: 61sq.) darum bemüht, die gängigen Meinungen zu dekonstruieren und durch Fakten richtigzustellen. Ähnlich korrigiert sie das Stereotyp des Fahrenden Volks: En Roumanie, les Roms sont sédentaires depuis des siècles. Ils n’ont pas la culture de la caravane. S’ils en ont une, c’est qu’ils l’ont achetée ici, aux épavistes ou au gens de voyage, pour avoir un toit. […] Il a été dit en 2013, sous un gouvernement de gauche: „Ces populations ont des modes de vie extrêmement différents des nôtres et qui sont évidemment en confrontation.“ Ils se font des cabanes, faute de mieux. Ils n’ont pas la culture de la cabane. Ils sont déplacés, de bretelle d’autoroute en terrain vague. Déplacés, repoussés, rejetés, cela ne veut pas dire „goût pour l’itinérance“ (ibid.: 22). Wie viele politische Diskurse insistieren auch die Medien auf Problemen und perpetuieren die jahrhundertealten pejorativen Bilder; die (positiven) Realitäten hingegen bleiben medial verborgen und gelangen damit nicht in das kollektive Bewusstsein der breiten Bevölkerung: Qui s’intéressait à Romica? À toutes les Romica qui se battent pour s’en sortir, pour tirer leur famille et leur communauté vers le haut? La réussite, la volonté, le chemin parcouru, c’est 38 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier moins sensationnel que le trafic de cuivre, de carburant, la prostitution, les vols à l’arraché ou les cambriolages (ibid.: 151). Zu welchen paradoxen Wendungen dies führen kann, zeigt die Erfahrung, die Romica bei ihrer ersten Arbeitsstelle als Haushaltshilfe bei einer älteren Dame der gehoben Pariser Gesellschaft machen muss: „Elle me parle des campements roms, du problème rom, de la mafia, des voleurs, faut dire, à la télé, ils montrent que ça, les problèmes.“ […] La vieille dame se plaignait des Roms à Romica, comme si dans son quartier chic elle avait à souffrir de la présence d’un bidonville à proximité, comme si la misère, c’était elle qui avait à en souffrir. Elle parlait de la „nuisance rom“ à sa femme de ménage rom dont elle attendait la visite avec impatience, sa dame de compagnie payée au prix d’une femme de ménage, 8 euros nets de l’heure, tandis qu’elle, la vieille, avait son train de vie, coiffeur, manucure, taxis, et pareil pour le chien (ibid.). Wie auch Dominique Simonnot versucht Valérie Rodrigue, mit der Präsentation einer Beispielbiographie ein Exempel zu setzen und eine breitenwirksame Neuperspektivierung der Roma zu ermöglichen. Die zahlreichen Informationen und Fakten erfüllen dabei durchaus pädagogische Absichten. Dominique Simonnot und Valérie Rodrigue setzen beide auf die Verbindung des klassischen delectare et prodesse und zielen mit ihren engagierten Büchern auf ein Umdenken in der französischen Gesellschaft. 4. Romaneske Verkehrungen: Roma helfen der Mehrheitsgesellschaft Im Gegensatz zu den Journalistinnen Dominique Simonnot und Valérie Rodrigue ist Emmanuelle Pireyre Schriftstellerin. Ihre teils multimedialen Arbeiten, in denen sie sich vorwiegend mit der zeitgenössischen Welt in ihren ebenso vielfältigen wie widersprüchlichen Dimensionen auseinandersetzt, oszillieren zwischen Prosa und Poesie einerseits und Roman und essayistischer Zeitkritik andererseits. Einem breiteren Publikum bekannt wurde Emmanuelle Pireyre mit ihrem 2012 erschienenen Buch Féerie générale. Das mit dem Prix Médicis ausgezeichnete Werk präsentiert die französische Gegenwartsgesellschaft in einer Art Collage von pastichisierten öffentlichen Diskursen zur Kopftuchaffäre, zur Rolle des Geldes, des ökologischen Glücks und der Entmilitarisierung Europas. Auch der mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis für zeitgenössische Literatur ausgezeichnete Roman Chimère (2019) präsentiert eine ebenso kritische wie unterhaltsame Zeitdiagnose, stellt dabei aber - wie der Titel andeutet - Fragen der ethischen Möglichkeiten und Grenzen gentechnischer Manipulationen in den Mittelpunkt und verknüpft diese mit der Frage staatsbürgerlicher Mitsprache- und Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Europäischen Union. Indem sie die Bürgerkonferenz (conférence des citoyens) als ein Instrument partizipativer Politikberatung auf DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 39 Dossier europäischer Ebene imaginiert, gleitet die Narration immer stärker in ebenso surrealistische wie dystopische Bereiche. Ebenso verwischen die Grenzen zwischen fiktionalisierten und fiktiven Personen. Dies gilt neben der Ich-Erzählerin Emma 14 insbesondere für Wendy, bei der unklar bleibt, bis zu welchem Grad sie tatsächlich Züge einer realen Person trägt. Im Unterschied zu Dominique Simonnots Amadora und Valérie Rodrigues Rien ne résiste à Romica steht hier also vordergründig eine ganz andere Thematik im Zentrum dieser ungewöhnlich experimentellen fiction documentaire, die trotz der Verankerung der Diegese in der realen Welt (Erstellung einer Reportage über gentechnisch veränderte Organismen) sowohl romaneske als auch märchenhafte Züge aufweist. 15 Mit letzteren setzt der Roman auch ein, wenn er wie ein Märchen beginnt und zunächst Wendy als eine der zentralen Protagonistinnen einführt: „Dans les Yvelines, il y avait une Manouche qui voulait aider les gadjé, les rendre heureux, leur faciliter la vie“ (Pireyre 2019: 7). Dieser Auftakt wirkt auf den Leser zweifelsohne befremdlich, denn ganz abgesehen von ihrem Namen scheint Wendy so gar nicht dem hetereostereotypen Bild einer Romni zu entsprechen: Wendy ist blauäugig und blond (cf. ibid.: 59), geschieden und nicht nur als allein erziehende Mutter voller Selbstbewusstsein, sondern auch als Vertreterin Europas größter Minderheit. Sie ist alles andere als ein Opfer mehrheitsgesellschaftlicher Exklusion, sondern ganz im Gegenteil von einem unerschütterlichen Stolz über ihre Alterität erfüllt. Just dieses für Nicht-Roma erstaunliche Gefühl der Stärke und Überlegenheit verkehrt auch die Kontaktsituation mit Vertretern der Mehrheitsgesellschaft, die hier nicht als mitleidige Helfer agieren, sondern aus der - freilich von Emmanuelle Pireyre konstruierten - Selbstperspektive der Romni als Hilfsbedürftige dargestellt werden. Als Opfer ihres eigenen Handelns erscheinen sie Wendy als kranke und degenerierte Wesen schlichten Gemüts, als paysans, wie sie sie mitleidig bis despektierlich nennt: Wendy pensait qu’on n’a pas le droit de laisser les paysans au bord de la route, sachant que ce sont aussi des créatures de Dieu. Puisque le Seigneur a souhaité leur présence sur Terre, même si on ne comprend pas très bien ce qu’il voulait faire avec ça, on doit les respecter et les protéger: peu importait que les gadjé fussent différents, les Gitans devaient apprendre à les tolérer et si possible à les aimer (ibid.: 7sq.). Ausgehend von dem Faktum, dass ein Großteil der Roma heute charismatischen evangelikalen Strömungen angehört, subvertiert Emmanuelle Pireyre das mehrheitsgesellschaftliche Denken von überlegenem Selbst und untergebenem Fremden. Dieser Perspektivwechsel versucht die andere Seite insofern besser zu verstehen, als die Erzählerin damit klar macht, dass Nicht-Roma auch aus der Sicht der Roma ,anders‘ und fremd sind. Wie viele Nicht-Roma den Kontakt mit Roma meiden, so gilt dies auch andersherum. Die Erzählerin erklärt damit auch das Vorurteil, dass Roma-Kinder mehrheitsgesellschaftliche Schulen meiden und dekonstruiert dadurch essenzialistische Erklärungen einer vermeintlich grundsätzlichen Bildungsferne: 40 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier Non que les enfants gitans ne veuillent rien apprendre, mais ils redoutent d’être mêlés aux petits paysans et séparés de leurs frères, sœurs et cousins avec lesquels ils ont l’habitude de jouer ou s’endormir sous un duvet bien chaud (ibid.: 41). Die selbstbewusste und resolute Wendy, die als Angehörige der seit Jahrhunderten in Frankreich lebenden Manouches die französische Staatsbürgerschaft besitzt, will die Welt verbessern. Ihr Augenmerk gilt zum einen den aus Rumänien nach Frankreich migrierten Roma, für deren Rechte sie gegenüber dem diskriminierenden Verhalten seitens französischer Sicherheitskräfte beherzt eintritt (cf. ibid.: 108-113). Zum anderen will sie aber die ,kranken‘ Nicht-Roma heilen. Mit ihrem ,Helfersyndrom‘ den Nicht-Roma gegenüber stellt Wendy innerhalb ihrer Community allerdings eine Ausnahmepersönlichkeit dar, will sich die Mehrheit doch durch interne Exklusion ganz bewusst von den (verachteten) Nicht-Roma abgrenzen. So reagiert etwa ihr Ex-Mann Tschavalo wenig begeistert auf ihr Engagement für die ,armen‘ Nicht-Roma und warnt: „Ne fais pas profiter les autres de notre richesse qui doit demeurer secrète“ (ibid.: 7). Aber Wendy bleibt hartnäckig: „Nous ne pouvons plus nous satisfaire de l’isolationnisme égoïste pratiqué par les Gitans durant les siècles“ (ibid.: 8). Damit vertritt Wendy innerhalb ihrer Gemeinschaft letztlich just die versöhnliche und zu Toleranz aufrufende Position, die ,normalerweise‘ sozial engagierte Nicht-Roma einnehmen, um zur Inklusion von Roma in die Mehrheitsgesellschaft aufzurufen. Auch Emma will Wendy gegenüber ihre verständnisvolle Achtung der Roma und ihrer kulturellen Eigenheiten zum Ausdruck bringen, tappt dabei aber in die Falle vieler ‚Gutmenschen‘ und bewirkt gerade das Gegenteil: Für ein hippes Paleo-Buffet bereitet Emma gegrillten Igel, ohne sich der Tatsache bewusst zu werden, dass sie die gruppeninterne Bedeutung des niglo als traditionelles Mahl der Manouches durch diesen kulturellen Aneignungsprozess ignoriert. Diese Grenzüberschreitung empfindet selbst die Nicht-Roma gegenüber so aufgeschlossene Wendy als Beleidigung und pocht auf die Achtung der eigenen Alterität: „Manouche est mystère et doit rester mystère“ (ibid.: 123). Die Verkehrung des in der Mehrheitsgesellschaft dominanten Verständnisses von Macht und Superiorität von den reichen Nicht-Roma und den armen Roma zu den reichen Roma und den armen Nicht-Roma basiert indes auf dem Selbstbild des eigenen immateriellen kulturellen Kapitals, das einen universellen und natürlichen Reichtum darstellt, der jeden vermeintlich ,zivilisierten‘ Reichtum der Nicht-Roma weit überlegen ist und diese ,arm‘ erscheinen lässt: Pauvres paysans avec leur terrorisme, leurs petites cartes bleues emballées dans du papier alu pour éviter de déclencher le paiement sans contact, pauvres gadjé avec leurs cancers, leurs algorithmes, leurs embryons congelés, leurs google lunettes et leurs génocides, pauvres gadjé enfermés tout seuls comme des poules dans leurs maisons toutes dures, à jamais coupés du murmure du vent dans les arbres, des étoiles dansant au firmament, des fleurs de sureau au large disque, du parfum enivrant de l’églantier, des bambous sauvages derrière le Brico, du clapotis et de l’obscurité enchantée des bois (ibid.: 9). DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 41 Dossier Nach dieser Sicht kranken die Nicht-Roma letztlich an der von Jean-Jacques Rousseau beschriebenen Selbst-Entzweiung: Während die Roma die wahre Natur des Menschen durch ihr Interesse an der Selbsterhaltung im Naturzustand wahren, deformieren die Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis die ,zivilisierten‘ Nicht- Roma. Konkurrenz und Rivalität treiben das Selbsterhaltungsinteresse des einzelnen über den natürlich notwendigen Umfang hinaus und entzweien schließlich nicht nur den Menschen mit sich selbst, sondern auch die Menschen untereinander. Die durch den technischen und digitalen Fortschritt unaufhaltsame Entfremdung vom Natürlichen und Ursprünglichen, all die imaginär erdachten und gentechnisch realisierten Chimären führen den Prozess moralischer und ethischer Entgrenzung immer weiter in Richtung einer beängstigenden Dystopie. Aus der Sicht eines evangelikalen ,Öko-Spiritualismus‘ heraus sieht Wendy den Grund für die zahlreichen Krisen der Welt in der verabsolutierten Technik- und Rationalismusgläubigkeit der Nicht-Roma. Die globalen ökologischen Probleme, die ihrer Meinung nach die konsequente Folge eines kapitalistisch-materialistischen Lebensstils sind, werden am Jüngsten Tag zur existenziellen Krise, denn während die Roma zum erwählten Volk gehören, haben sich die Nicht-Roma den Weg zum ewigen Leben selbst verstellt: Quand Jésus reviendra sur Terre, ils ne seront pas prêts. […] Après des siècles d’attente, Jésus sera enfin là, mais quel affligeant spectacle Il aura sous les yeux! Fatigué de Son long voyage, Il verra des paysans poussant leur caddie au supermarché, des paysans prenant un rail de coke dans le vestiaire, certains réalisant des fusions-acquisitions, d’autres en train de s’insulter au volant, de se balancer des missiles, de glisser la main qui dans la caisse, qui dans un jean, et d’onduler des hanches sur une plage en string brésilien. Ce sera supergênant, expliquait Wendy, lorsqu’Il découvrira l’état du monde qu’Il nous a confié (ibid.: 51). Dass purer Rationalismus, wie ihn etwa die Erzählerin vertritt („Obsédée depuis le berceau par le tracé d’une frontière séparant l’irrationnel du rationnel, je suis philosophie des lumières et anti-superstition. […] La raison avant tout“, ibid.: 14sq.), nicht verfängt, zeigt sich allein daran, dass Emma auf Wendy trifft; dies erkennt auch Emma, die nicht zuletzt durch diese Begegnung ihr eigenes Denken kritisch zu hinterfragen beginnt: Autant dire qu’il y avait statistiquement peu de chances que je la rencontre, que ma route croise celle d’une femme qui veillait la nuit en écoutant les chouettes et guettait dans la nature un signe lui indiquant la voie à suivre. Cependant les statistiques ne font pas tout. Et son entêtement fit le reste (ibid.: 8). Im Gegensatz zu den in Amadora und Rien ne résiste à Romica präsentierten prekären Lebensverhältnissen erscheint das Leben von Wendy als „sédentaire en caravane“ (ibid.: 77) als ,geerdet‘, ja geradeweg als bukolisch-beschaulich: Wendy habitait une caravane sur un paisible terrain bordé de peupliers au pied desquels coulait une rivière. Deux fois par semaine elle allait vendre des robes sur les marchés des 42 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier environs, à Trappes, Guyancourt ou Marly-le Roi; les autres jours elle contemplait le paysage, marchait dans l’eau sur les cailloux […] (ibid.: 7). Emmanuelle Pireyre rekurriert damit auf das romantische Klischeebild des selbstgewählten, naturnahen Nomadenlebens der fils du vent, hier speziell der in Frankreich lebenden Manouches. Das immer wieder bediente Stereotyp der kategorischen Ablehnung und Nicht-Anpassung an das sesshafte Leben der Mehrheitsgesellschaft spiegelt sich überdies u. a. auch darin, dass Wendy bei der conférence des citoyens mit ihrem Caravan anreist und in ihrem eher widerwillig bezogenen Hotelzimmer zunächst einmal eine „dégadjisation“ vornimmt: „[Elle] ôta les draps du lit, mit à la place la parure offerte par sa cousine et se précipita sous la couette ainsi dégadjisée“ (ibid.: 64). Auch manch andere befremdliche Selbstausgrenzung erklärt Emmanuelle Pireyre mit einer tiefen Verbundenheit der Roma mit den Elementen und wirbt damit implizit für ein breiteres Verständnis normabweichenden Verhaltens: Wendy avait passé le séjour sur un transat au bord de la piscine, ne pouvant se tremper dans l’eau de paysans qui confondent amont et aval des rivières, quand les Tsiganes, eux, obéissent à des règles strictes, buvant en amont, lavant en aval (ibid.: 160). Emmanuelle Pireyre belässt es aber auch nicht schlicht bei der Perpetuierung von Stereotypen, sondern relativiert das Klischeebild des beschaulichen Lebens in Freiheit und im Einklang mit der Natur mit einem kritischen Seitenhieb auf die französische Bürokratie: On croit que la vie voyageuse consiste à rêver insouciant en regardant le paysage défiler par la fenêtre, mais pas du tout. L’essentiel du temps pour le pasteur manouche, tandis que Violetta amusait les enfants, était consacré à la gestion de la paperasse de sous-préfecture. Il sollicitait pour le groupe des autorisations de séjour auprès des communes plusieurs mois à l’avance, classait ses courriers en trois piles sur la table du camping-car, fermait des enveloppes, copiait des adresses, photocopiait des documents (ibid.: 46). Mit der Formulierung „on croit“ hebt die Erzählerin hervor, dass auch sie die romantisierende Pauschalannahme lange als ,wahr‘ annahm und erst durch den Kontakt und Austausch mit Vertretern der Minderheit eines Besseren belehrt wurde. Damit wird das heterostereotype Bild der Naturverbundenheit also letztlich insofern nurmehr au deuxième degré evoziert, als dieses nicht dem Selbstzweck romantisierender Evasion dient, sondern als Anlass zum Umdenken. Emmanuelle Pireyre gewährt nicht nur Einblicke in das Leben der französischen Roma, die trotz ihrer französischen Nationalität ,anders‘ behandelt werden, sondern zeigt auch die massiven Diskriminierungen auf, denen die vom Balkan nach Frankreich migrierten Roma ausgesetzt sind: Bien que les Roms aient depuis 2015 le droit de circuler comme tout Européen et ne soient plus expulsables, ce gradé versaillais expulsait de plus belle. En toute illégalité, il démantelait les campements, vidait les squats, gazait les récalcitrants, mettant la gomme avant que la Cour européenne des droits de l’homme ne lui tombe dessus (ibid.: 112). DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 43 Dossier Der heute rechtlich nicht (mehr) legitimierte Umgang Frankreichs mit den Roma spiegelt letztlich in nuce die Unfähigkeit, den europäischen Gedanken von Gleichheit und Toleranz aller Menschen tatsächlich zu leben. Eine Fähigkeit, die den Roma als ,natürliche‘ Europäer zu eigen ist, wie Wendy - der intern fokalisierten Vermittlung der heterodiegetischen Erzählerin zufolge - bereits als Kind intuitiv erfasst hatte: Une fois calmée, la maîtresse avait décrit, ce jour-là, le processus de construction européenne à partir du traité de Rrom l’instituant en 1957. Wendy avait eu un choc en entendant de la bouche d’une paysanne la confirmation de son intuition enfantine que les Rroms étaient les piliers de l’Europe, seuls véritables Européens vivant indifféremment dans tous les pays et passant de l’un à l’autre sans égard pour les frontières, comme chacun devrait le faire en Europe. La maîtresse avait retrouvé sa bonne humeur, éclaté d’un long rire, puis rectifié avec douceur. Rome était une ville italienne donnant son nom à un traité n’ayant aucun rapport avec les Rroms, avait expliqué Cristelle, tapotant plusieurs fois de son index avec sa jolie bague aux reflets noirs la botte italienne sur la carte, à la petite Wendy qui regardait ses baskets Winnie l’ourson (ibid.: 112). Die Szene wirkt komisch auf den mehrheitsgesellschaftlichen Leser und doch steckt viel Wahrheit dahinter, wie Günther Grass in unterschiedlichen Reden vor Gremien der Europäischen Union hervorhob und die hier deutlich durchklingen: 16 Schließlich sind die in Europa lebenden zwanzig Millionen Roma und Sinti von ihrer Tradition her grenzüberschreitend, an kein Land ausschließlich gebunden. Sie sind geborene und gelernte, mithin mustergültige Europäer. […] Als geborene Europäer sind sie aus jahrhundertealter Erfahrung in der Lage, uns zu lehren, Grenzen zu überschreiten, mehr noch, die Grenzen in uns und um uns aufzuheben und ein nicht nur in Sonntagsreden behauptetes, sondern erwiesen grenzenloses Europa zu schaffen (Grass 2000: 80, 93). Als „geborene Europäerin“ und Teil des „peuple élu de Dieu“ (Pireyre 2019: 78) ist es für Wendy mit ihrem ,Helfersyndrom‘ eine Selbstverständlichkeit, für die Rettung des Projektes Europa einzutreten. Sie tut dies im Rahmen ihrer Partizipation bei der conférence des citoyens, indem sie sich mit ihrer (sicher nicht nur für die rationale Emma) absurd anmutenden „candidature divine“ für die Belange der ,verlorenen‘ Nicht-Roma-Europäer direkt an Gott wendet: „Elle voulait améliorer le sort européen en intercédant auprès de Dieu: comme les villes se portent candidates à l’organisation d’événements sportifs, nous monterions un dossier destiné à Dieu pour que l’Europe devienne son peuple élu“ (ibid.). Wie in Amadora und Rien ne résiste à Romica fungiert auch Emma als Schreiberin, steht dabei aber ,im Dienst‘ der dominanten Romni. Dabei ist es nicht allein Wendys übernatürlicher Gabe zu verdanken, dass sie Emma für dieses tolldreiste Projekt als ihre ,Schreiberin‘ gewinnen kann, denn letztlich steckt in Emma insofern auch ein wenig von Wendy, als sie in den Roma Vorbilder sieht für eine kritische Hinterfragung der Auswüchse der globalisierten digitalen Welt, die in Genmanipulationen und KI die Zukunft sieht und damit den Blick für das Lokale und Natürliche, das Menschliche und Mitmenschliche verliert. 17 In diesem Kontext ist es auch zu verstehen, dass die Erzählerin den Begriff ,paysan‘ zunehmend selbst verwendet, 18 um ,degenerierte‘ 44 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier Menschen zu bezeichnen, die gegen die Interessen eines von Toleranz und Achtung geprägten friedlichen kollektiven Lebens agieren. Auraix-Jonchière, Pascale / Loubinoux, Gérard (ed.), La Bohémienne. 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Simonnot 2018: 76-78), verdeutlicht sie, dass romophobe Vorurteile über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg und unabhängig vom Bildungsniveau gleichermaßen stark präsent sind. 7 Das Stereotyp findet sich auch in Rien ne résiste à Romica (2016: 49). 8 Cf. auch Brut 2018. 46 DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 Dossier 9 So ja beispielsweise die bereits genannte, ebenfalls als Kind aus Rumänien nach Frankreich migrierte Romni Anina Ciuciu, die sich schließlich den Zugang zu einem Jurastudium an der Sorbonne erkämpfte. Der mehrheitlich vollkommen unrealistische Wunsch, eines Tages an der legendären Sorbonne zu studieren, findet sich indes auch bei Valérie Rodrigue (2016a: 93). 10 Mit der staatlich initiierten Einrichtung sogenannter villages d’insertion de Roms ab 2007 sollten die illegalen bidonvilles mit ihren prekären Lebensbedingungen kontrollierten und sozial betreuten Lebensräumen für rumänische und bulgarische Roma weichen. Doch während die bidonvilles flächendeckend geräumt wurden, wurden nur ausgewählte Roma- Familien in die villages d’insertion de Roms aufgenommen. Dabei sind auch die villages d’insertion de Roms letztlich als non-lieux, als temporäre Transiträume konzipiert, von denen aus Roma entweder abgeschoben werden oder (mit viel Glück) Zugang zu Sozialwohnungen erhalten; cf. Legros 2010-2013. 11 Valérie Rodrigue erzählt in fünf Kapiteln (I,9; I,15; I,17; II,3; II,15) ausschließlich von der Exil-Geschichte ihrer Familie. 12 Als Romica ihre Prüfung zur Pflegekraft besteht, merkt die Erzählerin an: „Et là j’ai pensé, cette fille, on l’aurait laissée aller au collège, au lycée, à la fac, elle serait devenue chirurgien ou cardiologue“ (170). 13 Romanes für ,Nicht-Roma‘. 14 Dass die Erzählerin Emma mit der realen Autorin Emmanuelle Pireyre autobiographische Parallelen aufweist, zeigt u. a. folgender werkimmanenter intertextueller Selbstverweis: „[Il] se trouvait là Batoule, fille d’une de mes amies voilée dès l’adolescence contre l’avis de ses parents, qui figurait déjà dans mon livre précédent Féerie générale“ (Pireyre 2019: 59). Und doch ist Emma nicht Emmanuelle, sondern ihr fiktionalisiertes Alter Ego: „La dose d’autobiographie est assez faible. Quelques éléments réels sont mêlés à beaucoup de fiction. Ce qui est le plus réaliste en ce qui concerne mon personnage, je pense que c’est le ton. Un réalisme d’ailleurs lui-même un peu recomposé et frelaté, car il ne s’agit pas exactement de mon Je privé, mais plutôt du Je que j’ai développé au fil des années dans les performances que je fais en public. C’est ce ,Je‘ qui s’adresse au public que je déplace dans le livre, qui est en partie moi, mais pas complètement“ (Daoud 2019). 15 Chimère ist damit auch auf der Ebene der écriture eine Chimäre zwischen Poesie, Fiktion und Faktion: „De l’écriture poétique, Emmanuelle Pireyre garde la fantaisie et la rigueur, doublées d’une capacité à déboulonner les représentations et expressions toutes faites. De la fiction, elle fait une formidable machine à incarner les délires, qui lui permet de donner corps à des aberrations pour les pousser juste au-delà du vraisemblable“ (Zenetti 2019). Die Vielschichtigkeit spiegelt sich auch darin wider, dass das Buch auf den Auswahllisten thematisch entsprechend unterschiedlicher Literaturpreise stand: So wurde Chimère für den Prix du roman d’écologie, den Prix Institut Jacques Delors Mieux comprendre l’Europe sowie den Grand Prix de l’Imaginaire vorgeschlagen. 16 Ohne sich explizit auf Günter Grass zu beziehen, verdeutlicht die Autorin in einem Interview, dass sie bei ihrer Einarbeitung in das Thema auf den Gedanken der Roma als „mustergültige Europäer“ (Grass 2000: 80) gestoßen ist: „Et en faisant mes recherches, je suis tombée sur cette info géniale qui explique que les tziganes sont le seul peuple qui vit vraiment à l’échelle européenne. Les frontières, pour eux, n’ont pas d’importance… Ils devraient, en fait, être notre modèle. On devrait tous vivre à cette échelle-là. Eux sont ,obligés‘ d’être rattachés à des pays pour des contrariétés administratives un peu désuètes. J’ai DOI 10.24053/ ldm-2021-0016 47 Dossier trouvé que ce peuple, qui est souvent mis de côté, et laissé pour compte… pourrait être notre modèle. Cela m’a semblé une idée passionnante“ (Kusy 2019). 17 Cf. Pireyre 2019: 70: „,Pourriez-vous m’aider et écrire à ma place? ‘ Incroyable. Quel prodigieux instinct lui avait-il soufflé que j’en étais à l’écrivain public? De plus, dans ma petite enfance on me surnommait Manouche, diminutif d’Emmanuelle, et elle me demandait si j’avais bien compris d’être l’écrivaine publique d’une Manouche“. 18 Zugleich ist in der Anspielung auf ihre Herkunft aus dem rural geprägten, rückständigen Massif Central aber auch ein durchaus selbstironisches Augenzwinkern zu sehen.