eJournals lendemains 46/182-183

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2021-0017
2021
46182-183

Das Unheimliche der Roma

2021
Sidona Bauer
ldm46182-1830048
48 DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 Dossier Sidonia Bauer Das Unheimliche der Roma Mulo und Hexe in Matéo Maximoffs La Septième Fille Tu n’es pas de force à affronter une femme. Dharani (Maximoff 1982: 175) In seinem Beitrag „Zur Psychoanalyse des geschichtlich Unheimlichen: das Beispiel der Sinti und Roma“ (Maciejewski 1994) hat Maciejewski überzeugend den Antisintismus 1 aus der psychoanalytischen Untersuchung des Unheimlichen nach Freud hergeleitet. Da nur „ein Bündnis von Aufklärung und Selbstaufklärung“ in der Lage sei, „die Fälschungen im Selbstbild und im Fremdbild/ Feindbild zu korrigieren“ (ibid.: 41), wird das Unheimliche aus Eigenperspektive im Sinne eines writing back (Eder-Jordan 2015) gefasst. Das Werk La septième fille 2 des Roma-Autors Matéo Maximoff (verfasst 1957- 1958, erstmals erschienen auf Deutsch 1967 im Züricher Verlag Flamberg, 1979 auf Englisch, 1982 auf Französisch) gestattet es, das Phänomen des Unheimlichen (Maciejewski 1994: 37, id. 1996) im Kontext der Autorepräsentation zu analysieren. Die Handlung des Romans - „le plus beau de ses romans“ (Gartner 1982: 9) - spielt im Jahr 1941 in einem der zehn französischen Internierungslager für Tsiganes, dessen Name nicht näher spezifiziert wird (Maximoff 1982: 29). Der Romani-Schriftsteller und Ethnologe Maximoff (Kovacshazy 2017) richtet sein Hauptaugenmerk auf seine eigene Community, um Differenzen des Umgangs mit unheimlichen Motiven innerhalb der von ihm beschriebenen Gemeinschaft zu reflektieren. Die Gemeinschaft der internierten Roma beläuft sich auf ungefähr vierhundert (Maximoff 1982: 29) und setzt sich aus Rom Kalderash (75%) sowie Manouches/ Sinti zusammen (15%). Maximoff selbst stammt mütterlicherseits aus einer französischen Manouche-Familie, väterlicherseits von Rom Kalderash ab. Da die väterliche Abstammung ausschlaggebend ist, wird er hauptsächlich durch die Kalderash geprägt. Den vorliegenden Roman verfasste er wenige Jahre, nachdem er selbst aus einem Internierungslager im Süden Frankreichs befreit worden war (ibid.: 14). Fiktionalität und Faktualität gehen im Sinne der phantastischen Literatur ein Mischungsverhältnis miteinander ein. Maximoff stützt sich in einer gewollt authentischen Manier auf exakte Beobachtungen der Sitten und Bräuche der „tzigane kalderash“ (ibid.: 14sq.). Besonders ergiebig werden Geschlechterverhältnisse verhandelt. Dem Numinos-Unheimlichen des Weiblichen gilt im Kampf der Geschlechter der Sieg. Die „unheimliche Frau“ (Lampe 2001) in Gestalt der Hexe Dhrabarni und des intelligenten Mädchens Silenka als ihrer Doppelgängerin wird ihre Macht in Form einer verdrängten Sehnsucht des aufgeklärten Mannes nach dem Zuhause des Mutterleibs festigen. Das Werk des Unheimlichen als magisch-sakraler Raum bleibt der außergewöhnlichen Romnia vorbehalten. DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 49 Dossier Psychoanalyse des geschichtlich Unheimlichen der Sinti und Roma Maciejewski stellt die Psychoanalyse nach Freud als einen möglichen Weg zur reflexiven Auflösung der Fremdenangst dar, die zuallererst die Angst vor dem Fremden im Eigenen ist (Maciejewski 1994: 32). Das Unheimliche stellt einen Sonderfall von Fremdenangst dar. Während der Analyse wird durch Übertragung auf den Anderen das eigene Unbewusste erfahrbar an der beunruhigenden Fremdheit des Anderen (ibid.: 32). Das Unheimliche/ Heimliche/ Heimeliche als ambivalentes Urwort, das seinen Gegensinn in sich schließt (Freud [1910] 1998), ergibt sich aus der etymologischen Untersuchung des Begriffs, wonach „das Unheimliche eine Art des Schreckhaften sei, […] das auf das Altbekannte zurückzuführen sei“ (Greb 2011: 64). Alles sei unheimlich, „was im Geheimnis, im Verborgenen hätte bleiben sollen und nun zum Vorschein getreten ist“ (ibid.). Das Verborgene aber ist mit dem Verdrängten und Überwundenen zu identifizieren. Demnach unterscheidet Freud zwischen dem Unheimlichen, das sich aus der Wiederkehr des Verdrängten ergibt, und dem, das durch die Wiederkehr des Überwundenen hervorgerufen wird (ibid.: 65). Im Gefühl des Unheimlichen wird die Angst vor dem Fremden als eigentümliche Angst vor dem Vertrauten, dem fremden Eigenen, erfahren (ibid.). Freud unterscheidet zwischen vier verschiedenen Momenten: 1) das Überschreiten der Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit, 2) die Beziehung zum Tod und zu Toten, insbesondere die angebliche Wiederkehr von Toten, 3) die unbeabsichtigte Wiederholung des Gleichen, 4) die Begegnung mit sog. Doppelgängern (cf. Maciejewski 1994: 34). Weiterhin leitet Freud das Unheimliche des Erlebens von Erwachsenen aus zwei verschiedenen infantilen Quellen ab, einerseits aus dem Kastrationskomplex, andererseits aus dem Kinderglauben an die Allmacht der Gedanken, d. h. dem Animismus. Die erste Art des Unheimlichen werde erlebt, wenn verdrängte infantile Komplexe wiederbelebt werden, die zweite Spielart des Unheimlichen, wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen (ibid.: 35). Während des Porajmos/ Samuradipen 3 wurden ausschließlich Juden und Roma & Sinti aus rassischen Gründen verfolgt und vernichtet. Wenngleich eine Aufklärung der psychischen Mechanismen des Samudaripen angesichts des Zivilisationsbruches nicht gelingen konnte, so sind doch Elemente psychosozialer Strukturen und Wirkweisen hervorzuheben. Es gilt im psychoanalytischen Ansatz, psychosoziale Strukturen der Minderheit ins Licht zu heben sowie die darauf bezogenen Vorurteilsstrukturen seitens der Mehrheitsbevölkerung (ibid.: 39). Maciejewskis These zufolge müsste die spezifische Figuration des geschichtlich Unheimlichen der Roma dechiffriert werden können, indem die Fremdartigkeit der Sinti und Roma näher bestimmt wird. Diejenigen Motive sind zu eruieren, die auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft Gefühle des Un- 50 DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 Dossier heimlichen auslösen und dergestalt zur Wiederbelebung verdrängter infantiler Komplexe und/ oder zur Bestätigung überwundener primitiver Überzeugungen führen (ibid.). Zu einem globaleren Verständnis, das historisch ausgerichtet ist, führt der Autor die Geschichte der mitteleuropäischen Gesellschaften seit dem 15. Jahrhundert ins Feld. Die mittelalterliche Gesellschaft, in die die ersten Sinti im 14. Jahrhundert einwandern (ab 1399 nach Böhmen), ist von bäuerlich-feudalen Strukturen geprägt (ibid.: 44). Doch die höfische Gesellschaft befindet sich im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Mit dem Aufkommen des Geldes als Gesellschaftsinstrument wird die Zivilisation umstrukturiert. Die Triebstruktur der einzelnen Gesellschaftsmitglieder wird insofern umgestaltet, als während des Übergangs von der Agrarzur Kapitalwirtschaft die im Geiste des Kapitalismus sich formierende Arbeits- und Disziplinargesellschaft die Aufopferung der Libido im Sinne einer Bindung großer Mengen Triebenergie an entfremdende Arbeit verlangt (ibid.: 45). Gerade aber die ökonomische und soziale Entfremdung des Individuums durch Arbeits- und Wohnbedingungen in der industrialisierten Großstadt, integriert in das kapitalistische Wirtschaftssystem generell, führen im 19. Jahrhundert zu einer zunehmenden Diskrepanz zwischen den Bürgern und Arbeitern der Mehrheitsgesellschaft und sich entfremdender Arbeit entziehenden Sinti und Roma (cf. Meyer 2020), die größtenteils den umfassenden handwerklichen und künstlerischen Berufen treu bleiben, ohne sich ihrer selbst zu entfremden (cf. Bataillard 1867). Der Raum des Unheimlichen verlagert sich in das Innere des modernen Menschen, ein Innen, das „in Bezug auf Projektion und Introversion keine Grenzen“ kennt (Vidler 2002: 23). Der Modernisierungsschub wird alsbald zur Tragödie der Sinti und Roma (cf. Meyer 2020). Sinti behalten, nebst artisanaler und artistischer Arbeit, ihre traditionelle Kultur in Form einer „vorhochkulturellen Gesellschaft“ (Maciejewski 1994: 43) bei. Diese besitzt ihren institutionellen Kern im Verwandtschaftssystem, regelt ihre soziale Organisation vorpolitisch über die Primärrollen von Alter und Geschlecht und devalorisiert im Falle von traditionell ökonomisch bedingter Mobilität (beweglicher Wirtschaftsweise) die feste Ordnung von Besitz/ Privateigentum. Das Geschlechterverhältnis gleicht einem nach innen gestülpten Matriarchat, d.h. die herrschenden Männer sind ihrer psychosexuellen Struktur nach nicht Väter, sondern Muttersöhne (ibid.). Das Alter, mit inbegriffen der Frau, steht ranghöher - beispielsweise in Form der weisen alten Frau (puri dai) - als die reine Geschlechterhierarchie innerhalb der patriarchalen Romani-Gesellschaft. Sinti und Roma tendieren dazu, seit Beginn der Moderne die untergehende Welt des Mittelalters zu verkörpern (ibid.: 46), die von Magie und Aberglauben angefüllt war, von einer nomadisierenden Zentralgewalt ausging, deren Patriarchat wenig diszipliniert war und die zumindest in Bezug auf das Adelsgeschlecht die Muße wertschätzte - im Gegensatz zum bürgerlichen Wertesystem, das insbesondere in Deutschland nach Luther durch das protestantische Arbeitsethos geprägt wurde (Solms 2006: 119). Indem Sinti zu Vertretern der zum Untergang verdammten feudalen Lebenswelt werden (Maciejewski 1994: 46), nimmt die Mehrheitsgesellschaft DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 51 Dossier Abschied von der Akzeptanz der realen Sinti, um Schritt für Schritt die ,Zigeuner‘ zu erfinden (Bogdal 2011). ,Zigeuner‘ sind, dieses psychosozialen Mechanismus zufolge, ein Konstrukt der Mehrheitsgesellschaft. Sinti werden zu denjenigen Fremden, die das Altvertraute, nunmehr Verdrängte, in die Gegenwart transportieren. Somit bietet die psychosoziale Struktur der Sinti die Bedingung für das Auftauchen des Unheimlichen als Rückkehr eines (überwunden geglaubten bzw. verdrängten) Vertrauten. Die Roma befinden sich in der Rolle des unheimlichen Doppelgängers, des verdrängten Alter Ego, der „Gewünschtes und Verwünschtes, Ersehntes und Verpöntes leb[t]“ (Maciejewski 1994: 46) und damit dokumentiert, dass ein anderes Leben jenseits der in der Moderne vorherrschenden sozialen Normen möglich wäre (ibid.: 46). Die Struktur der Libido, die das Lustprinzip dem Realitätsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft gegenüberstellt, wird zur Figuration des Unheimlichen. Insofern handelt es sich um die Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Mehrheitsbürger und dem Gefremdeten. Das Ego erkennt im Alter Ego sein verdrängtes Unbewusstes wieder (cf. Moussa 2020), um erst infolge dieser projektiven Identifikation zunächst in Angst und dann in Hass zu verfallen (Maciejewski 1994: 41). Psychoanalytisch bewertet, baut das Ego eine Übertragungsbeziehung auf, in der auf den realen, als Alter Ego wahrgenommenen Fremden, die Projektion des eigenen Verdrängten und überwunden Geglaubten projiziert wird. Auf diese Weise formiert sich in der Umbruchszeit eine projektive Repräsentation des ‚Zigeuners‘, der, durch die realen Sinti angestoßen, seinen von ihnen abgelösten Verlauf nimmt und immer weiter den Bezug zur realen Gemeinschaft von Sinti verliert, um als imaginäres Bild des ,Zigeuners‘ eine kulturelle Repräsentation desselben auszubauen. Unter projektiver Identifikation kommt es zu einem Wechselspiel von Ich und Außenwelt (ibid.: 36). Im Antisintimus wird durch verschiedene Elemente das Bild des Archaischen wachgerufen (nicht-territoriales Volk, wahrgenommenes Nomadentum, Unterbewertung von Besitz, Bedeutung der Familie, eigene schriftlose Sprache, magische Praktiken, musische Kultur, cf. ibid.: 40), weshalb ihre (vorhochkulturelle) Kultur zu einem unzivilisierten Naturvolk herabgesetzt wird (ibid.: 44). Dazu drängt sich das matriarchalische Element auf, das die Differenz der Geschlechter innerhalb der Mehrheitsgesellschaft deutlich werden und die mögliche Macht der Frau ins Licht treten lässt. Die Unterscheidung von Natur versus Kultur wird in patriarchalen Gesellschaften den Geschlechterdifferenzen zugeordnet. Gemeinhin steht die Frau für Natur, also für Sexualität, der Mann für Wissen und Aufklärung. Im Antisintismus sticht mithin der Hass gegen das Weibliche und somit auch gegen das Reich der Mütter und der guten (starken) Muttersöhne hervor (ibid.: 48). In der Repräsentation der ,Zigeuner‘ tritt in der Spannung zwischen Romantisierung/ Verehrung und Verachtung die so auch von Bogdal und Franz ins Zentrum gerückte Affektambivalenz zutage (zwischen Faszination und Verachtung [Bogdal 2011], zwischen Liebe und Hass [Franz 1992]). Der Pol des abstoßend Unzivilisierten verbindet sich mit seinem Gegenpol, dem gegenzivilisatorischen Wunsch eines hedonistisch-subversiven Genusses (Maciejewski 1994: 48). Sinti wird auf diese Weise die Rolle des unheimlichen Doppelgängers oktroyiert. Die Tiefenstruktur der 52 DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 Dossier Vorurteile (cf. End 2013) verweist, in Betreff auf die Geschlechterdifferenzen, auf eine mütterliche Linie. Insofern verwundert es nicht, dass die Figur der Bohémienne (cf. Auraix-Jonchière/ Loubinoux 2006), wie insbesondere durch die fiktive Figur Carmen (Mérimée, Bizet, Saura) sinnfällig geworden, einer besonderen Faszination ausgesetzt ist. Der Antisintismus wird aus den psychosozialen Dramen der eigenen Zivilisation geboren und ist auch innerhalb dieser aufzuarbeiten und abzuschaffen (cf. Maciejewski 1994: 48). Das Unheimliche der Roma Kommt dem Unheimlichen in der Beziehung zwischen Gadje 4 und Sinti und Roma eine Schlüsselfunktion zu, so ist andererseits das Unheimliche innerhalb der Kultur der Roma vorhanden. Im Kontext des Samudaripen erreicht die Verachtung der Rom-Völker ihren Höhepunkt und gipfelt in der Massenvernichtung. Die Katastrophe von Auschwitz zeigt die monströse Gewalt aggressiver Energien, die gegen Feindbilder freigesetzt werden und die (ohnehin nur projizierte) Relation von Zivilisiertheit und Unzivilisiertheit in ihr Gegenteil verkehren. Doch nicht diese Umkehrrelation, die aufgrund des Krieges einen grundlegenden Angstzustand hervorruft (Vidler 2002: 26), da die Welt nicht mehr als Heimat erfahren und insofern ,unheimlich‘ wird, interessiert Maximoff, wenn er in La Septième Fille die Roma-Gemeinschaft eines Internierungslagers beschreibt. Vielmehr geht es Maximoff um Elemente des Unheimlichen innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Maximoff zentriert sein Sujet um das Unheimliche im Erleben von erwachsenen Roma, das aus dem Glauben an die Allmacht der Gedanken, d.h. dem Animismus erwächst. Unheimliches wird ins Werk gesetzt, wenn überwundene (primitive) Überzeugungen wieder bestätigt scheinen. Somit illustriert Maximoff den Übergang innerhalb seiner Roma-Community von sog. primitiven Weltauffassungen hin zu aufgeklärten Lebensanschauungen und damit verbundenen Ethoi. Darüber hinaus konfrontiert Maximoff seine Protagonisten auch mit der Art des Unheimlichen, das beim Wiedererleben verdrängter infantiler Komplexe zutage tritt. Dieses hat mit der Macht der Frau und nicht zuletzt mit der weiblichen Sexualität und Fruchtbarkeit zu tun. Die Frau in Gestalt der Hexe/ Dhrabarni bildet dabei einen femininen „sozialen Raum“ aus (cf. Lefebvre [1974] 2000), in welchen der männliche Protagonist eindringt, den er jedoch nicht unmittelbar zu dechiffrieren und somit nicht zu beherrschen weiß. Das Weibliche oszilliert, mit inbegriffen in seinen räumlichen Konkretisationen, zwischen Furcht und Anziehung und rückt in das Spannungsfeld zwischen Unheimlichem und Numinosem (cf. Otto 2001). Das Unheimliche tritt vielgestaltig als Unheimliches des Erlebten in der Kalderash- Gemeinschaft auf und wird auf Ebene des Textes in ein ästhetisches Unheimliches transformiert. Als Ethnologe verkettet Maximoff eine Reihe von Elementen des Unheimlichen, die sich um das zentrale Motiv des mulo drängen. Mulo ist der Tod und im Sinti-Romanes nach Philomena Franz bedeutet das Adjektiv mulo „tot“: ko hi mulo = „er ist gestorben“. DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 53 Dossier Insofern haftet dem mulo nichts Übernatürliches an. In der Erzählkultur der Roma hingegen erlangt der mulo als Untoter, als Avatar und Doppelgänger Funktionen des Grauenerregenden (Blandfort 2015: 309sqq.). Tantchi (Vater): Der unheimliche mulo Das Geschehen des Romans wird topographisch angeordnet um das Zelt (tsera/ tseri) des Familienoberhaupts Tantchi (SF: 37, 50). Tantchi ist quasi homophon zu Tatchi zu lesen, im Sinti-Romanes einer Koseform, die ‚Papi‘ entspricht und welche die Kinder dem Vater gegenüber verwenden. Tatsächlich tritt Tantchi hauptsächlich in der Rolle des Vaters in Erscheinung. Vater ist er zumal einer siebten Tochter, der vierjährigen Silenka sowie ihrer sechs Schwestern und sieben Brüder (SF: 18). Während seine Frau Marona einen schwachen Charakter zeigt, wird Silenkas älteste, bereits zwanzigjährige und wegen ihrer Pflegefunktion noch immer unverheiratete Schwester Yovana bereits eingangs mit einer Tiefendimension ausgestattet (SF: 19). Durch die schwere Krankheit Tantchis und der Schwäche der Mutter übernimmt sie die Verantwortung für die Familie. Wenn im Mittelpunkt der Handlung räumlich einerseits das Totenzelt (tsera mortuaire) Tantchis innerhalb des Internierungslagers (campement) steht, in dem er stirbt bzw. getötet wird, stehen als Figuren die beiden Frauen Dharani und Silenka im Mittelpunkt, eng verwoben mit ihren männlichen Counterparts Voso, einem älteren unverheirateten Rom und Geschichtenerzähler, sowie Stervo, dem ältesten Sohn Tantchis, der bereits selbst neues Familienoberhaupt ist. Maximoff zeichnet durch die Stimmen des auktorialen Erzählers (SF: 43, 53, 64sqq.), Vosos (SF: 40, 62, 119-123) und der Drabarni selbst (SF: 84-90) ein Tableau der Bräuche der traditionellen abergläubischen (SF: 65, 83) Gemeinschaft der Rom Kalderash in Bezug auf die Rolle der mulos und der Hexe (sorcière/ Drabarni, SF: 27). Als ihre männlichen Gegenspieler fungieren der kinderlose Voso und der Erstgeborene Tantchis, Stervo, die als Männer jedoch der Macht der Drabarni unterworfen bleiben. Die Rollen der Drabarni, Silenkas und teilweise Yovanas unterlaufen die abgesehen vom Genannten patriarchalische Gemeinschaftsstruktur der Rom Kalderash, in welcher die Frau dem Mann unterworfen sowie auf die Rolle als Mutter fixiert ist (SF: 141). Der mulo oder Tote bzw. Sterbende steht als anwesender Abwesender im Mittelpunkt der Handlung sowohl in Bezug auf die Figurenkonstellation als auch in Betreff auf die intradiegetische Topographie. Seine tsera mortuaire wird der zentrale Schauplatz der Handlung, an dem alle Fäden zusammenlaufen. Die binnentopographische Anordnung ist die einer Theaterbühne, auf der die beinahe hundertjährige Hexe das letzte und wichtigste Œuvre ihrer Kunst inszeniert hat (SF: 160). Sie wird geradezu als Regisseurin eines Dramas (SF: 128; „mise en scène“, SF: 121) mit Wirklichkeitscharakter dargestellt, das Lager bekommt den Anschein eines teatrum mundi. Gleichwohl wird wie in einem Wechsel des Bühnenbildes auch Einblick in zwei weitere Zelte gegeben: diejenigen Vosos und Dharanis. Als untergeordneter Raum spielt die tsera Stervos eine Rolle, die an das Totenzelt angrenzt. Das campement 54 DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 Dossier zeichnet sich mithin durch eine Binnentopographie aus, die durch die signifikanten Bewegungen der Protagonisten im konkreten Raum einen sozialen Raum ausbildet. Der soziale Raum zeigt durch die Versetzung der Figuren Stervos, Vosos und Silenkas eine Bedeutungsverschiebung in Richtung des Zeltes der Dhrabarni, dem eigentlichen topologischen Zentrum der Macht. Das Zelt des Vaters (Kapitel 2, 24sqq.) wird somit dem Zelt der Hexe als symbolischer Mutter untergeordnet. Wie wir oben bereits sahen, ist laut Maciejewski die patriarchalische Gesellschaft der Roma in erster Linie ein „nach innen gestülptes“ Matriarchat, in dem die Männer ihrer psychosozialen Struktur nach Muttersöhne bleiben. Die Analyse wird zeigen, dass Voso eigentlich der Muttersohn der kinderlosen Drabarni und somit dem Unheimlichen der Frau trotz seiner Aufklärung unterworfen bleibt. Das Zentrum der vordergründigen Macht des Vaters wird schon zu Beginn der Geschichte gestürzt. Und zwar ist der Aberglaube schuld an der den Vater entthronisierenden Geste (SF: 56). In einem der freud’schen Urszene vergleichbaren Patrizid (SF: 59) töten die Söhne Stervo und Vadia vor den Augen der vierjährigen Silenka ihren Vater (SF: 55sq.). Der Patrizid ist jedoch nicht gewollt, sondern beruht auf der abergläubischen Vorstellung der Rom-Gemeinschaft, der mulo sei der Wiedergänger des Verstorbenen, ein Untoter, der erneut getötet werden müsse, um endgültig (Maximoff 1982: 53sq.) Frieden zu finden. Wie Franz erklärt, verweilt anderen Communities zufolge der mulo als Seele so lange unter den Lebenden, bis diese bereit sind, ihn loszulassen. Erst dann tritt die Seele des mulo (des Toten) in das Paradies ein bzw. erscheint vor dem Gericht. Für die Hinterbliebenen bedeutet die räumliche Trennung zugleich eine psychische Ablösung und Gesundung, sich von der Person des Verstorbenen zu lösen sei Zeichen der Resilienz. Der Verstorbene verweilt so lange bei den Seinen, wie diese ihn an ihrer Seite benötigen. Der Aberglaube der beschriebenen Rom-Kalderash-Community („les Roms, tous plus ou moins superstitieux, croient au surnaturel, au mulo, aux innombrables légendes fantomatiques qui se racontaient presque chaque soir autour du feu“, SF: 82) unterscheidet sich signifikant von dem Glauben der katholischen Sintizza. Die unaufgeklärte Position der Roma in La Septième Fille lässt zwei Ausnahmen zu: Die Hexe und Silenka. Das Wissen der Hexe begründet ihre Macht als Außenseiterin der Gruppe (SF: 86). Ihre Intelligenz ist der der anderen Romnia weitaus überlegen (SF: 136). Einzig Silenka als außerordentlich intelligentes Mädchen (SF: 82) verstrickt sich nicht in den Aberglauben, sondern deutet mit Klarsicht die Geste ihrer Brüder als Vatermord (SF: 55). Sie allein erkennt die Stimme ihres realen Vaters, der lebendig in seinem Sarg liegt und versucht, sie zu sich hochzuheben. Während der Vater mit Liebe auf seine Kinder blickt, begegnen ihm die Söhne mit Hass, der Motor ihres Handelns wird (SF: 55). Silenka empfindet keine Angst, die abergläubische Gemeinschaft indessen wird durch Angst gelenkt und gefügig („La peur“, SF: 54, 45). In der tsera mortuaire erwacht nach drei Tagen Koma Tantchi: Lentement, comme un automate, à la force de ses reins, Tantchi, le mort, s’était dressé sur son séant, à l’intérieur de son cercueil. Était-il un mort ou un vivant? DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 55 Dossier Était-il un revenant ou un homme qui renaissait? Était-il un réincarné ou un mulo? (SF: 46) Die Figur des mulo vereint Elemente des Unheimlichen nach Freud. Zunächst erlebt Tanchi das aus seiner Perspektive Unheimlichste überhaupt: scheintot begraben zu werden („Manche Menschen würden die Krone der Unheimlichkeit der Vorstellung zuweisen, scheintot begraben zu werden“, Freud 2012: 50). Der mulo ist ein ebensolcher Scheintoter. Für die ungebildeten Roma jedoch bedeutet seine Erscheinung eine intellektuelle Verunsicherung. Für sie wird im Auftauchen des mulo aus den Roma-Märchen die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit aufgehoben. Ein Toter kehrt in ihren Augen wieder, der nun beseitigt werden muss, um ihre Angst zu bannen. Die Grenze zwischen belebter und unbelebter Person verschwimmt durch den Vergleich mit einem ‚automate‘. Die Naivität der Auffassung wird noch unterstrichen, als zu einem späteren Zeitpunkt die Wiederkehr des Onkels Vastari erneut als eine Rückkehr des mulo gedeutet wird: „Est-ce ma faute si Vastari ressemble tant à son frère Tantchi? “ (SF: 107). Dieses Quiproquo entfaltet eine komische Wirkung, wenn die Roma des Lagers zu allen Seiten fliehen (SF: 106). Dharbarni/ Hexe: die unheimliche Frau Wenn das Unheimliche des mulo vermittels der Perspektive Silenkas zumindest für die Leser_innen als Aberglauben der Roma entlarvt wird, so unterstreicht Maximoff das Unheimliche der Romnia als Frau und deutet es als Instrument der Macht, deren numinose Gewalt in die Sphäre des Sakralen rückt. Das Numinose erzeugt ebenfalls eine Mischung aus Faszination und Angst (Greb 2011: 115). Der Eigenname der alten Hexe ist, anders als derjenige der jungen Silenka, ihrer Nachfolgerin, unbekannt. Sie erhält innerhalb ihrer Gemeinschaft die beiden Namen Dharani und Drabarni, Bezeichnungen für „femme maléfique“ (SF: 85). Als eines der Synonyme von maléfique ist fatal zu nennen. Hier schließt sich der Kreis der Argumentation Vosos. Die wunderschöne Hexe („‚Vers vingt ans, elle sera une très belle fille, comme moi je l’ai été à cet âge“, SF: 86) wird auch innerhalb der Romanis disqualifiziert durch ihre unheimlichen Mächte („‚Les Roms la mépriseront‘“, SF: 86). In den Fremdrepräsentationen nimmt die sorcière die Rolle der femme fatale à la Carmen ein. Aufgrund ihrer Intelligenz, ihres Genies, ihrer Schönheit und ihrer physischen Kraft („‚À cent ans, elle aura encore le corps physique de cinquante ans, tout en conservant intégralement sa mémoire“, SF: 86) wird sie solcherart in eine doppelte Außenseiterposition gedrängt. Maximoffs Geste ist gewagt. Erstmals stellt sich ein Rom mit seiner Eigenperspektive den jahrhundertealten fremdkulturellen Repräsentationen von Romnia als Hexen (Auraix-Jonchière 2020, Brittnacher 2012: 233sqq.). Maximoffs detaillierte Beschreibung der Dhrabarni als sorcière trägt zur Psychologisierung der prominenten Gestalt bei. Mit der Dharani finden die Leser_innen eine Autorepräsentation der Hexe durch einen Rom vor, obzwar auch dieser Blick keine reine Innensicht darstellen kann, da 56 DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 Dossier der Betrachter ein männlicher ist. Demgemäß lässt Maximoff polyphon einerseits den aufgeklärten Voso sprechen, andererseits Dharani aus Binnenperspektive gleich zweimal über sich und die Rolle der Hexe berichten. Zum ersten Mal offenbart Dharani sich dem jungen von ihr hypnotisierten Stervo, mit der Absicht, ihm Einblick in Silenkas Schicksal zu verschaffen (Kapitel 1, SF: 82-90); zum zweiten Mal vertraut sie sich Voso an (Kapitel 5, SF: 116-123), in einer Art wahrhaftigen Beichte, die ihren Tod (Kapitel 7, SF: 195-200, Ende) antizipiert. Drabarni verfügt über psychologisches Wissen, das ebenfalls in der Psychoanalyse verwendet wird. In der Tat eröffnet Maximoff seinen Roman mit einer Diskussion über das Unbewusste, die am Totenbett Tantchis stattfindet, während die Männer Totenwache halten (Kapitel 2, SF: 25). Während Silenka als furchtlos charakterisiert wird (ibid.), weil sie als Vierjährige in einen Abgrund zu einer feuchten Grotte gestiegen ist, um Pilze zu suchen, gilt das Interesse der Männer der Hexerei und der Magie (SF: 27), als kulturelle Praktiken, in die auch Voso Einblick gewonnen hat und die sie nun beginnen, der jungen Silenka zu attribuieren, da sie diese als mit übernatürlichen Kräften ausgestattet erleben (ibid.). Eine Hexe oder ein Hexer („sorcière“/ „sorcier“, SF: 40) war zu Beginn, erklärt Voso, ein/ e Heiler_in („guérisseuse“, ibid.), die per Zufall pflanzliche Heilmittel („simples“, cf. Auraix-Jonchière 2020: 57-59) fand, die zur Heilung Verletzter der Kriege dienten. Das Wissen um die pflanzlichen Heilmittel wurde von Generation zu Generation weitergegeben und vertieft, wobei ebenfalls ein großes Wissen um den menschlichen Körper entstand. Eine Legende erzählt, dass eine Mutter jeder ihrer beiden Töchter jeweils die Hälfte ihres heilkundigen Wissens vermachte. Durch ihre Eifersucht versuchten diese beiden nun, sich gegenseitig zu schaden und trugen anstelle der Heilmittel im Sinne des antiken ambivalenten pharmakon Gifte in die Welt, die Körper zerstörten. Aus der Eifersucht seien die Praktiken geboren, die den Namen der Hexerei und der Magie trügen und zu denen Verhexungen, Gifte, Liebestränke und Verzauberungen gehörten. Das Wissen müsse durch lange Studien erworben werden („un très long apprentissage“, SF: 40). Sodann kann die Hexe zwischen dem guten und dem bösen Wirken der hermetischen Wissenschaft (SF: 41) wählen. Darüber hinaus kann es Hexen geben, die besonders begabt sind („qui ont reçu le don“, SF: 40) und den herkömmlichen von Geburt an überlegen sind, zu diesen gehöre Dharani/ Drabarni. Dharani/ Drabarni kann Hellsehen („a le pouvoir de la clairvoyance“, SF: 41). Den „don“ erhalte, dem Aberglauben zufolge, die siebte Tochter einer siebten Tochter, mithin Silenka: „la dernière naît sorcière“ (ibid.). Das Mädchen wird also nicht nur von Drabarni ausgewählt und initiiert, sondern ihr steht von ihrer Anlage her ein besonderes Talent, eine besondere Intelligenz zur Verfügung. Signifikanterweise handelt es sich um die Gabe, den Aberglauben der anderen als solchen zu durchschauen, um ihm von Beginn an nicht unterworfen zu sein, sondern ihn für sich nutzen zu können. Diese Informationen vermittelt Voso im Vorspann zum blutigen Auftakt des Sujets. Im weiteren Verlauf charakterisiert die Protagonistin Dharani implizit das Leben einer Hexe und beispielhaft ihre eigene Biographie und DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 57 Dossier Kunst. Durch ihr Agieren bietet sie zudem explizit Beispiele für ihre Kunst der Hypnose und der Telepathie (SF: 181). Sie erscheint insofern dem/ der impliziten Leser_in unheimlich, da Hypnose, ebenso wie Telepathie, auf das „Überspringen seelischer Vorgänge“ von einer Person auf die andere verweist (Freud 2012: 34) und auf eine kindliche Vorstellung von der Allmacht der Gedanken zurückzuführen ist. Letztendlich handelt es sich um Demonstrationen der Negation des eigenen Todes, die integriert sind in den Glauben an die unsterbliche Seele (nach Freud den „erste[n] Doppelgänger des Leibes“, ibid.: 35), der „eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs“ (ibid.) darstellt. Die Romanis glauben, so die Hypothese Vosos (SF: 25), an die Reinkarnation der Seele. Die Seele sei unabhängig vom Körper und könne vor der aktuellen Inkarnation in anderen Körpern gelebt haben (ibid.). Zugleich könne bei der Praktik der Hypnose die Magierin von ihrer Seele auf eine fremde Seele einwirken und sie beispielsweise einschläfern, sie aber auch dominieren, insbesondere diejenige eines Kindes. Voso setzt in seiner Ausführung die Seele mit dem Unterbewussten gleich („subconscient“, SF: 25). Dieses transportiere Erinnerungen, bevor ein Kind - wie Silenka - bewusste Erinnerungen produzieren könne (SF: 27). In ihrem Unterbewusstsein werde Silenka durch die Drabarni nachhaltig geprägt (SF: 134). Die zu Beginn angeführte Methode wird im drittletzten Kapitel durch Dharani expliziert (SF: 180): Peu importait que Silenka comprit ou non, son éducation avait déjà commencé. Plus tard, quand elle serait en âge de raison, elle se souviendrait de chaque mot, de chaque geste que Dharani lui aurait inculqué. Son subconscient, peut-être encore endormi, se réveillerait un jour et éclairerait le cerveau de la petite […][,] elle s’apercevrait qu’elle n’est pas une femme normale, mais supérieure à toutes les autres, dominatrice de leurs corps, de leurs vies, de leurs âmes (SF: 180). Dans quelques jours, quand le moment sera venu de nous séparer, je fermerai ce coffre-fort qu’on appelle le subconscient, et alors je t’en remettrai la clé [: ] […] la magie que des femmes comme moi gardent depuis des dizaines de siècles, et de tout cela tu hériteras un jour. Tu auras la clé (SF: 182). Indem die Dharbarni ihre Kunst in Silenka fortleben lässt, macht sie das Mädchen zu einer Doppelgängerin ihrer selbst, zu einer neuen Hexe. Sie verkörpert die Schöpfung einer Verdopplung - der neuen Hexe - zur Abwehr gegen die Vernichtung ihres eigenen Selbst. Sie strahlt eine „uneingeschränkte Selbstliebe“ aus (Freud 2012: 35), einen primären Narzissmus, welche ihr Seelenleben beherrscht, die jedoch alles andere als kindlich und primitiv erscheint. In ihrer Prophezeiung, Silenka werde eine neue Hexe (SF: 180), führt Drabarni das „Moment der Wiederholung des Gleichartigen“ an, das für den Mann Voso zur Quelle eines unheimlichen Gefühls wird. Die weibliche Leserin hingegen wird die Lektüreerfahrung genießen können, der Fortführung der Macht und Kraft ihres eigenen Geschlechts beizuwohnen, das über die Männer erhaben ist, mit inbegriffen der Aspekt des Wissens um die weibliche Sexualität. So verkörpern Drabarni wie Silenka den Archetypus einer Frau, welcher als „erstes Heim“ der Leib der Mutter ist, der im reiferen Mann verdrängt wurde und nun 58 DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 Dossier als Unheimliches wieder auftaucht - in der Form von Topologien. Zugleich demonstriert Maximoff eine auch männliche Sehnsucht, die gleichwohl nostalgisch bleiben muss. Der Wunsch, in den Mutterleib zurückzukehren, ist unmöglich zu erfüllen (Vidler 2002: 14). Gleichwohl findet diese unheimliche Sehnsucht, die die Frau zugleich erhebt und als furchterregend ausweist, ihre räumliche Ausprägung. Die Vorstellung vom „verlorenen Geburtsort“ (ibid.: 15) ist den Gadjé in der Nachkriegsgesellschaft ebenso präsent wie den entwurzelten Roma des Internierungslagers im Jahr 1941. Gaston Bachelard hat in seiner Topo-analyse die intimen Dimensionen des Hauses ausgelotet, vom Nest bis zum Keller (Bachelard 1957). Nun entbehren die Roma des Lagers jedoch gerade sowohl des festen Hauses als auch der sie umgebenden Natur, aufgrund der Ausgangsperre. Allein der nahe gelegene Friedhof ist für die Beerdigung zugänglich sowie eine an das auf einem Plateau gelegene Lager angrenzende Schlucht („ravin“, SF: 169, 198, „gouffre“, ibid.: 198), in deren Tiefe eine Grotte („grotte“, ibid.: 197) eingelassen ist, die jedoch durch ein Eisengitter („grille“, ibid.: 198) abgesperrt ist. Wohnstätte der Roma und wenigen Sinti sind ca. fünfzig tseri und, für die betuchteren Insassen, Wohnwagen („roulottes“, ibid.: 30). Einige haben sich aus Holzbrettern aus dem nahe gelegenen Wald Baracken gebaut. Das Lager befindet sich 3500 m vom Dorf entfernt gelegen, 500 m neben einer Chemiefabrik (ibid.). Der Boden ist im Winter, während der wenigen Nächte, in denen die Handlung spielt, schlammig aufgeweicht (ibid.). Ein Fluss findet sich in ungefähr 2 km Entfernung (ibid: 192), er fließt durch den Wald (ibid.: 196). Lager, Fluss und Wald werden durch dichtes Buschwerk (ibid.) voneinander getrennt, durchzogen von Trampelpfaden. Während die Binnentopographie einen sozialen Raum im Sinne Lefebvres ausbildet, der Machtfragen verhandelt, Zentren und Peripherien ins Licht rückt, verweist im bachelard’schen Sinne die Außentopologie auf eine psychoanalytische Katabasis, in der die Architektur die Bedeutung des menschlichen Körpers einnimmt und damit Heimat symbolisiert. Der Abstieg in die Schlucht mithilfe von Seilen kommt einer Annäherung an das weibliche Geschlecht nahe (SF: 169). In der „Mutter Erde“ wird zu guter Letzt Tantchi beerdigt, damit sein Kadaver und die Seelen der Söhne Ruhe finden. Die Erdspalte ist jedoch kein räumlicher Endpunkt. Im Gegenteil gelingt es Stervo und Vadia, geführt vom alten Geschichtenerzähler Voso, dessen mutigsten Akt diese Handlung darstellt, das Eisentor zu öffnen (SF: 112). Dass sie nicht die ersten sind, sondern sie nun das Terrain Dharanis und Silenkas betreten, ist ihnen zunächst noch nicht bekannt. In der Art unterirdischer Hölle („une sorte d’enfer“, SF: 198), in der ihnen unheimlich wird („lugubre“, SF: 112), entdeckt Voso eine Architektur, die der weiblichen Anatomie entspricht. Vom Hauptgang zweigen zwei weitere Gänge („couloirs souterrains“, SF: 114) links und rechts ab. Jeder endet in einer Art gerundetem Saal oder Höhle. Im tiefsten Gang, der anatomisch dem Uterus entspricht, findet Voso Indizien der Dharbarni (SF: 114), so dass er diese Räumlichkeiten mit ihr zu identifizieren weiß. Die Hexe hat zu diesen Örtlichkeiten freien Zugang („il existe une autre entrée non verrouillée“, ibid.). Die Wände der weiblichen Höhlung sind feucht („parois humides“, ibid.), jemand hat Feuer gemacht und eine Schnur hinterlegt: „C’était la corde avec laquelle Silenka DOI 10.24053/ ldm-2021-0017 59 Dossier avait été attachée“ (SF: 115). Die „corde“ nimmt die symbolische Bedeutung der Nabelschnur an und stellt die Verbindung zwischen weiblichem Genital und Außenwelt des Lagers dar. Die sterile Hexe (SF: 175) hat in beiderlei Einverständnis Silenka als ihre spirituelle Tochter adoptiert und seit ihrer Geburt erzogen („moi, sa mère spirituelle“, SF: 85). Als andern Tags die Dhrabarni tot in der Grotte entdeckt wird, befindet Silenka sich weinend neben dem Kadaver: Elle est morte, dit-elle simplement en pleurnichant. […] N’aie pas peur, ma petite, c’est moi, ton oncle Voso. Viens, ta mère veut te voir. Ma mère, sanglotta Silenka, c’est elle […] C[’est…] la mort d’une sorcière… […] Et la naissance d’une autre (SF: 199sq.). Doch nicht nur Silenka ist durch die (Nabel-)Schnur mit ihrer spirituellen Mutter Dhrabarni verbunden, die sie direkt zum weiblichen Unterbewussten und somit zum Kraftzentrum des Weiblichen geführt hat, dem Uterus, das tatsächlich unsterblich sein wird, solange es Kinder geben wird. Auch Voso, der einst Dhrabarnis mütterliche Liebe ablehnte, 5 perpetuiert die Linie der Dharani, die Schnur zeitweilig in der Hand haltend (SF: 123), hingegen unter anderem Vorzeichen: der Wahl für den Humanismus: „Toute ma vie, Dharani, je l’ai consacrée à l’humanité. […] Car tout homme, Rom ou pas, est mon semblable“ (SF: 177). Insofern bleibt zu hoffen, dass der Schaden, den Silenka frühkindlich durch den gewaltsamen Tod ihres Vaters und den frühen Tod ihrer geistigen Mutter erlitt, durch den einem universellen Humanismus verpflichteten Voso als emanzipierten Erzieher gelindert werden kann, wenngleich er sich der weiblichen Zauberkraft unterlegen zeigt. Die Untersuchung des Unheimlichen der Sinti und Roma zeigt einen Verlauf von der Fremdrepräsentation seit der Moderne hin zur Eigenrepräsentation des 20. Jahrhunderts auf, in der Elemente des Unheimlichen im Wohnen einer Kalderash-Gemeinschaft im Jahr 1941 in einem französischen Internierungslager in den Blick rücken. Während kulturell geprägte Figuren wie der mulo und die Hexe besonders durch den Aberglauben der Romani-Gemeinschaft den Charakter des Unheimlichen bewahren, stellt Maximoff in La Septième Fille emanzipatorisch, indem er auf die Romani- Tradition der Magierin zurückgreift, den geheimnisvollen Raum des weiblichen Körpers als universell überdauernde, numinose Kraft dar, der sich der Mann unterwirft. Auraix-Jonchière, Pascale, „De l’hétéroreprésentation à l’autoreprésentation: nature et simplicité dans l’œuvre de Philomena Franz“, in: Marina Ortrud Hertrampf / Kirsten von Hagen (ed.), Ästhetik(en) der Roma, München, AVM, 2020, 51-65. 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