eJournals lendemains 46/182-183

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2021-0018
2021
46182-183

„Mon pays... C’est partout où il y a un humain“

2021
Kirsten von Hagen
ldm46182-1830062
62 DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 Dossier Kirsten von Hagen „Mon pays... C’est partout où il y a un humain“ Sandra Jayats La longue route d’une Zingarina (1978) Schön waren sie, diabolisch und verführerisch zugleich, jene ,Zigeuner‘-Figuren, die seit Cervantes’ Gitanilla (1613) auch die Weltliteratur dominierten. Sie tanzten im Schein des Feuers wie Hugos Esmeralda mit goldenen Ohrringen und glitzernden Armreifen, waren häufig Hybridwesen, deren Identität erst im Verlauf der Geschichte genauer eingegrenzt wurde, waren Figuren des eigenen wie des fremden Anderen (cf. von Hagen 2006). All die Heterostereotype, die sie zu attraktiven wie bedrohlichen Figuren des fremden Anderen stilisierten, bereiteten, wir wissen es, den Porajmos, die Auslöschung der Roma mit vor. Wie geht man als Angehörige dieser verfemten und verfolgten Gemeinschaft mit diesen Mechanismen von Inklusion und Exklusion, mit den Bildern und Projektionen um? Einige Roma-Autorinnen haben ihre eigene Ästhetik entwickelt, die vor allem das Ambivalente und Hybride dieser Konstruktionen betont und im Rekurs auf die Ästhetik des magischen Realismus, der Mythenbricolage und intermediale Verfahren alternative Formen der Autofiktion herausbildet (cf. von Hagen 2020: 77-98). Eine wichtige Wegbereiterin dieser Verfahren war Sandra Jayat, die spezifisch die doppelte Marginalisierung als Angehörige der weiblichen Roma betont. Insbesondere ihr früher Roman La longue route d’une Zingarina (1978) war hier für viele andere französischsprachige Autorinnen wegbereitend, wurde in den 1980er Jahren aber auch von der Dominanzgesellschaft rezipiert, als dieser Text für die Lektüre im französischen Schulunterricht empfohlen wurde und Verkaufszahlen von mehr als 40 000 Exemplaren erzielte (cf. Blandfort 2018). Die Autofiktion schildert in der Form einer Mischung aus Poesie, oral tradierten Geschichten und Mythen und einem durch Digressionen gekennzeichneten Entwicklungsroman die schwierige Identitätssuche der jungen Romni Stellina. Diese lebt mit ihrer Familie in ihrem Winterlager am Lago Maggiore, das sie vor ihrem 15. Geburtstag und damit der Vermählung mit ihrem Cousin Zerko verlässt, da sie keine Alternative sieht, sich dieser zu entziehen. Die autodiegetische Erzählstimme berichtet gleich zu Beginn des ersten Kapitels von ihrem Entschluss fortzugehen und derart zwar der arrangierten Ehe zu entfliehen, aber um den Preis, zugleich den Schutz der geliebten Familie aufzugeben. Ihr Ziel ist Frankreich, wo sie ihre ersten Lebensjahre verbracht hat, nachdem die Familie aus Angst vor Repressionen das faschistische Italien hatte verlassen müssen. Derart findet sie sich zu Beginn in einer ähnlichen Situation der Suche nach Heimat, Akzeptanz und Anerkennung, die indes von vielen Rückschlägen, Umwegen und überraschenden Wendungen gekennzeichnet ist. Der polyperspektivisch organisierte Text schildert die schwierige Situation einer jungen Frau, die nicht nur selbst bereits zwischen den Ländern Frankreich und Italien geboren wurde, sondern die sich auch DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 63 Dossier durch ihre Entscheidung, die Familie und damit die verkrusteten Traditionen zu verlassen, selbst auf die Suche nach einer neuen Heimat und einer eigenen Identität begibt. Toninato schreibt: Jayat’s work portrays Romani women as independent characters with a strong sense of justice. They refuse to accept a subordinate role in society and take full control of their lives, regardless of the consequences. This is far removed from the stereotypical view of Romani women as victims of their own culture (Toninato 2014: 111). Ihre Identitätskonstruktion spiegelt sich in der Struktur des Textes: Sind es in dem Teil des Romans, der ihre Wanderreise nach Paris beschreibt, oftmals noch alte Roma-Lieder und Gedichte, die in den Prosatext eingebettet werden, ist es in späteren Textpassagen ihre eigene Lyrik und Reflexion, die dominiert. Wie auch andere Texte der Autorin eröffnet der intermedial ausgerichtete Text in der aktuellen Folio- Ausgabe mit einem Cover, das die Autorin selbst künstlerisch gestaltet hat. Der Roman endet mit ihrer Ankunft in Paris und einer Reflexion eben dieses Entwicklungsprozesses. In einer späteren, längeren Fassung des Romans, auf die aber nur punktuell in vergleichender Perspektive kurz verwiesen werden soll, La Zingarina ou l’herbe sauvage (2010), bricht sie nach Paris auf, um hier ihren Onkel Django Reinhardt zu treffen; in der späteren Textfassung werden auch deutlich mehr lyrische Texte der Autorin integriert. Die spätere Textfassung ist stärker als Künstlerroman zu begreifen, findet die Protagonistin doch in der französischen Hauptstadt noch andere Künstler, mit denen sie eine internationale Ausstellung von Künstlern aus Roma-Gemeinschaften vorbereitet, die auf die erste Ausstellung von Roma-Kunst, die „Première Mondiale de l’Art Tzigane“ (06.-30.05.1985) in der Conciergerie in Paris, verweist. Julia Blandfort hat auf die Vielfältigkeit der Erzähltraditionen hingewiesen, welche die noch junge Literatur der Roma prägen (Blandfort 2015: 1). Auffällig bei Sandra Jayat wie bei anderen AutorInnen ist die intermediale Ästhetik, das Spiel mit tradierten Mythen, eine Inszenierung im entre-deux, im Zwischenraum und eine écriture, die insbesondere die Interstitien, Brüche, Ambivalenzen von Selbst- und Fremdrepräsentationen, Auto- und Heteroimages betont, die charakterisiert wird durch ein „glissement de sens“ 1 und eine Polyphonie im Sinne Bachtins. Dabei entwickelt sie eine eigene Bild- und Formensprache, die gängige Stereotype subvertiert. Natur und Kultur Bereits in Fremdrepräsentationen von Roma ist auffallend häufig die Dichotomie von Natur und Kultur zentral, wobei die Natur in topischer Weise Wildheit und Barbarei beschreibt, der der Raum der Kultur als Ort der Zivilisation und Bildung gegenüber steht. Man denke nur an den Prolog, den Mérimée seiner Novelle Carmen (1845/ 47) voranstellt, indem zunächst der Contrebandier Don José in der wild zerklüfteten Bergregion von den Augen des erzählenden Archäologen gleichsam vermessen wird (cf. von Hagen 2009: 102sq.). Auch bei Sandra Jayat ist die Natur ständig präsent. 64 DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 Dossier Es ist aber nicht mehr eine wilde Natur, die wilde, ungezügelte Menschen hervorbringt, sondern eine Natur, die Stellina, der autodiegetischen Erzählerin, Schutz bietet, ihr Kraft und Nahrung spendet. Die Natur wird zunächst wie in einem mediterranen Gemälde in hellen, leuchtenden Farben entworfen. Es ist in einem polyphonen Diskurs zunächst der Großvater, der mit und von der Natur spricht. Gemeinsam mit seiner Enkelin geht er durch den Garten, der zugleich als hortus conclusus fungiert, und zeigt auf die Feigenbäume: „La nature“, so sagt er zu ihr, „n’est pas au cœur de mes préoccupations; pourtant elle m’impose la puissance de son éveil“ (Jayat 2010: 7). Geht der hortus conclusus zunächst auf das Hohelied zurück und verweist auf die Jungfräulichkeit Mariens, so lässt sich auch der Garten zu Beginn als Symbol der Lebenssituation der Protagonistin lesen. Die Bildkonstruktion ist hier aber weiterentwickelt, mischt fremde und eigene Mytheme und Vorstellungen und lässt bereits an eine häufig auch bei anderen AutorInnen zu beobachtende Mythenbricolage denken (cf. von Hagen 2020: 95). Heute, so bedeutet der Großvater Stellina, sei ihm vor allem seine Enkelin wichtig, die derart selbst zu einer Pflanze avanciert, die Wärme, Aufmerksamkeit, aber auch Zuwendung benötigt. Wie der Feigenbaum bald Früchte tragen wird, so soll auch sie Früchte tragen, sprich: die Familientradition fortsetzen und die Familie durch ihre Kinder bereichern. Der Verweis auf den Frühling ist in dem Kontext durchaus symbolisch zu verstehen. So spricht er vom Schicksal des Feigenbaums, diesen derart personifizierend, wie es auch Stellinas Schicksal ist, die Familientradition fortzusetzen. Der Text ruft zugleich Genesis 3,1-13, 22-24, den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies, als weiteren Intertext auf; zwar ist hier niemand, der die verbotenen Früchte anbietet, aber es ist doch von ihnen die Rede und vom Gewicht der Menschen, welche die Zweige brechen werden: „Bientôt le figuier sera chargé de fruits, le soleil leur donnera le sucre dont ils ont besoin et le poids des hommes fera rompre les branches“ (Jayat 1996: 7). Auch die Mauer als Begrenzung ist zentral, wird doch im weiteren Verlauf die weniger idyllische Seite geschildert, das „terrain vague“, das Niemandsland, in dem aber die farbenfrohen Wohnwagen für Licht und Hoffnung sorgen (Jayat 2010: 8). Die autodiegetische Erzählstimme spricht gleich zu Beginn von der Nostalgie des Reisens, der Hoffnung auf Aufbruch. Erst im Verlauf des Gesprächs mit dem Großvater versteht sie, dass sie, wenn sie Zerko an ihrem Geburtstag nicht heiratet, wie es die Tradition verlangt, aus dem Kreis der Familie ausgestoßen wird. Der Anfang wird somit von unterschiedlichen Teilräumen nach Lotman markiert. Die erste Grenze, die es zu überwinden gilt, ist die zwischen der Heimat der Familie am Lago Maggiore und dem angestrebten Ziel Frankreich. Die Semantisierung im Raum, die in einem Zusammenhang zu denken ist mit sprachlichen und kulturellen Überformungen, rekurriert auf kulturelles Wissen und Vorstellungen, dient der Leserlenkung und Ausgestaltung der fiktionalen Welt, wird aber auch zum Symbol unterschiedlicher Denkformen und legt derart auch ein subversives Potenzial offen (Lamberz 2010: 33). Lotman sieht eine enge Verbindung zwischen den Raum- und Weltmodellen einer Kultur bzw. eines Textes (Lotman 1993: 313). Auch er geht von einer mal permeablen, mal impermeablen Grenze zwischen unterschiedlich semantisierten Teilräumen aus DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 65 Dossier (Lotman 2012: 542). Interessant ist dabei, dass in dem Text von Jayat gleich zu Beginn die Brüchigkeit der Konstruktion offengelegt wird: Hier ist es nicht, wie bei Lotman, ein eindeutig zugewiesenes Innen zu einem Außen, sondern vielmehr ein Ort, der selbst schon Hoffnung auf Veränderung aufweist und immer nur teilweise abgegrenzt ist, wie sich an dem Bild des Gartens zeigt, der nur an einer Seite von der Mauer begrenzt wird, die aber auch einen Blick auf das Dahinter erlaubt. Angestrebt wird eine Mobilität, die beides zu verknüpfen sucht, die Idylle des Gartens und die Hoffnung auf Bewegung, die dieser ihr nicht zu geben vermag: Les tamaris, les saules, les bougainvillées, qui lancent leurs ombres contre les murs de terre rousse, n’apaisent pas mon regard anxieux. Ce coin de nature que j’ai tant aimé, à cet instant précis, ne me donne pas l’évasion que je souhaite. La réalité m’impose sa forte présence (Jayat 1996: 9). Die angedeutete Vertreibung aus dem Paradies wird somit hier rekonfiguriert, indem der Ort zwar einerseits Leben konnotiert, andererseits aber auch mit Stillstand, Tod und Mortifikation assoziiert wird. Eine eindeutige Verortung wird bewusst aufgelöst, wie der Versuch der Grenzziehung oder der territorialen Einfriedung selbst. So räsoniert die Erzählerin bei ihrer Ankunft in Frankreich, nachdem sie unter Schwierigkeiten die Grenze passiert hat: „Si les hommes parlaient tous le même langage, il n’y aurait plus de frontières et la terre serait partout la terre“ (ibid.: 92). Die Erde hat keine Grenzen und wenn sie welche hat, ist dies der Anfang von Inklusions- und Exklusionsprozessen, wie der Text sie aufzeigt. Am Ende wird sich der Raum der Sprache selbst, die solche Veränderung zeitigen kann, als Heimat herausstellen, die Sprache der Kunst in der späteren Fassung. Angestrebt ist hier das Prozesshafte nach Derrida, das Menschwerden, wie es im weiteren Verlauf der Handlung konturiert wird (cf. Derrida 2006). Auch Derrida plädiert ja für eine Sprache jenseits der (Vorstellungs-)bilder, die den nackten Menschen zeigt, und setzt dabei, wie Jayat mit der Genesis an: „Au commencement - je voudrais me confier à des mots qui soient, si c’était possible, nus. […] Je voudrais élire des mots qui soient, pour commencer, nus, tout simplement, des mots du cœur“ (ibid.: 15). Zwar zeigt die Natur im Verlauf der Wanderung Stellinas von Italien nach Frankreich, ihr Ziel, nachdem sie ihre Familie verlassen hat, auch ihre dunklen Seiten, indem Stellina etwa durchfroren oder durchnässt wird, aber sie lässt sich nicht darauf reduzieren. Stellina erfährt vielmehr eben dann Schwierigkeiten, wenn sie sich dem urbanen oder dem bestellten Raum nähert. Hier ist sie häufig Verfolgung ausgesetzt, nur von den Kindern erfährt sie unvoreingenommene Hilfe und Schutz. Als barbarisch zeigt sich der eingegrenzte, der Kulturraum. In einer Analepse wird die traumatische Erfahrung von Stellinas Familie während des Nationalsozialismus geschildert. Stellina ist markiert als doppelt Marginalisierte, da sie in einem entre-deux geboren wird, im Zwischenraum zwischen Italien und Frankreich, 1938, als sich die Familie auf Grund des italienischen Faschismus gezwungen sieht, das Land zu verlassen: „Nous sommes de nulle part... et toi, tu es encore plus de nulle part que nous tous“, bedeutet der Großvater Stellina (Jayat 1996: 17). In einem Erinnerungsdiskurs, der 66 DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 Dossier von kultureller Erinnerung, einem Erinnerungsrahmen bestimmt ist, wird die grausame Verfolgung der Familie während des Porajmos geschildert. Stellina, die zu der Zeit gerade erst zwei Jahre war, diese Erinnerungen also retrospektiv als eigene Erlebnisse darstellt, um schreibend ein Familientrauma zu überwinden, schildert dennoch autodiegetisch, als hätte sie alles bewusst erlebt, wie zunächst die Repressalien gegen die Roma zunehmen. Dabei werden gängige Heterostereotype eingebettet in einen polyphonen Diskurs, der diese zugleich als Zuschreibungen und Projektionen einer feindlich gestimmten Dominanzgesellschaft entlarvt. Signifikant ist, dass dabei der durch Mauern eingegrenzte Raum - das Haus ist gemeinhin ein Topos für Schutz, Heimat, Geborgenheit - als kühl und bedrohlich gezeichnet wird. Dies kommt insbesondere in den Szenen zum Tragen, die während der Zeit des Nationalsozialismus spielen (ibid.: 32sq.). Dabei zeigt sich eine globale Dimension des Grauens, vor dem es kein Entrinnen gibt. Die Familie Stellinas flieht aus dem faschistischen Italien nach Frankreich, nur um hier denselben Verfolgungsprozessen ausgesetzt zu sein. Bedrohliche Szenarien Interessant ist in dem Kontext, dass hier eine Umkehr tradierter Stereotype stattfindet. Aus den Augen Stellinas und ihrer Familie avancieren die deutschen und französischen Nationalsozialisten zu Barbaren. Insbesondere die Deutschen werden hier als brutal und grausam gezeichnet, werden auf Grund ihrer Uniform als „grüne Männer“ apostrophiert (ibid.: 27). Die Farbe Grün, sonst gemeinhin ein Symbol für Hoffnung, wird zu einem Sinnbild der Bedrohung. Im Text von Jayat werden diese Semantiken aber nicht einfach umkodiert, sondern es werden auch die Ambivalenzen offengelegt. So fordern die Soldaten zunächst Stellinas Tante auf, für sie die Zukunft vorauszusagen und die Karten zu legen. Als sie dies wiederholt ablehnt, wird sie auf grausame Art misshandelt. In dem späteren Roman El Romanes wiederholt sich die Szene, als der Protagonist sich weigert, für die deutschen Soldaten Gitarre zu spielen (Jayat 1986, 46sq.). Der Großvater fasst die Perspektivänderung, die hier vorgenommen wird, in die Worte: „vraiment ce sont eux les ‚civilisés‘ et nous les ‚sauvages‘! “ (Jayat 1996: 36). Die Anführungszeichen deuten auf die Macht der Projektionen und Zuschreibungen. Dabei fungiert Stellina als Verbindungsglied zwischen den Generationen: Sie, die zu der Zeit erst zwei Jahre alt ist, erzählt diese traumatischen Erlebnisse und sorgt derart für eine Weitergabe und Tradierung. Die Erinnerung ist hier aber anders konturiert als häufig in den Texten der Mehrheitsgesellschaft, indem die Dialektik von Erinnerung und Vergessen deutlicher betont wird, um die Macht, welche die Erinnerung ansonsten über das Handeln in der Zukunft gewinnen würde, zu verringern: „Le passé est un voyageur de passage, petit... Ne le laisse pas s’installer sur la route du présent… Il risquerait d’épuiser l’avenir” (ibid.: 41). „Ne sait-elle pas que notre liberté, c’est le groupe et que si le groupe se dissout, nous n’existerons plus? “, räsoniert die Erzählstimme in der späteren Fassung der DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 67 Dossier Autofiktion (Jayat 2010: 48). Die Familie, die immer nur temporär sedentär ist und die Reise und den Wandel als zentrales Lebensprinzip verinnerlicht, definiert sich über eben dieses Motto und formiert daraus eine Gruppenidentität, die allerdings bereits gegen Festschreibung gerichtet ist und den Wandel und das Prozesshafte des Daseins eigens betont: „N’oublie pas, la seule chose permanente dans la vie, c’est le changement. C’est pour cela que nous sommes nomades“ (ibid.: 149). Ihre Lebensweise zeugt zugleich von Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Wissensformen, auch wenn hier durchaus ein kritischer Blick auf die eigenen Traditionen vorhanden ist; diese werden vor allem von Familienmitgliedern repräsentiert, die der Protagonistin wenig offen begegnen, als sie sich den Bräuchen nicht fügt und versucht, aus dem engen Korsett der Traditionen auszubrechen. Jayat rekurriert erneut auf die Symbolik des Gartens vom Beginn, als sie gegen Ende der Autofiktion reflektiert: „Je voudrais lui parler comme je le faisais avec mon père qui a laissé en moi un jardin qui ne refleurira pas“ (Jayat 1996: 67). Aus genderkritischer Perspektive könnte man auch formulieren, dass insbesondere die männlichen Autoritäten, der Vater und der Großvater, diese Tradition verkörpern und sich von ihr - trotz des Wunsches, Stellina ihre Liebe zu zeigen - leiten lassen. Die Gruppe insgesamt ist aber charakterisiert durch eine Offenheit gegenüber kultureller und sprachlicher Vielfalt: „Mon pays... C’est partout où il y a un humain... Un humain libre à côtoyer. La terre est partout terre“ (Jayat 2010: 102). Die Reise und Wanderschaft fungiert als identitätsstiftendes Moment, wird aber zugleich reflektiert und durch die Selbstbeschreibung anders konnotiert. Gehört das Stereotyp der fröhlichen ,Zigeuner‘ im grünen Wagen zur Tradition von Bildern der Mehrheitsgesellschaft, man denke nur an Thomas Manns Novelle Tonio Kröger, so wird hier die deterritoriale Lebensweise positiv gewendet zu einem Kodex kultureller Mehrfachzugehörigkeit, wie sie sich nicht nur im politischen Programm verschiedener Roma-Organisationen wiederfindet, sondern auch zur Definition des globalen Weltbürgers gehört (cf. Blandfort 2015: 125sq.). Tier und Mensch - Hybridität und Mythen(bricolage) Für die Familie zählt die Tradition, diese stellt sich für Stellina zunächst als Danaergeschenk heraus. Zwar freut sie sich, dass ihre Familie den für sie bestimmten Wagen liebevoll mit Girlanden schmückt und das neue weiße Pferd striegelt, aber sie weiß auch, dass dies ihre letzte Nacht in Freiheit sein wird (Jayat 1996: 9sq.). Der Anfang der Coming-of-age-Geschichte markiert zugleich einen Wendepunkt in Stellinas Leben und stellt die eigene Tradition in Frage: Denn Stellina möchte nicht verheiratet werden, und der sie exklusiv liebende Vater, ihre Mutter und der verständnisvolle Großvater können nicht anders, als sie zu verstoßen, nachdem sie klar gemacht hat, dass sie nicht heiraten wird. Dabei erweisen sich alle als Gefangene eines Systems, eines Netzes aus Überlieferungen. Im Verlauf ihrer langen Wanderung wird Stellina zwar immer wieder von anderen Angehörigen ihrer Familie aufge- 68 DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 Dossier nommen, aber sie muss diesen Schutz immer wieder vor Anbruch des Tages verlassen, so will es, wird ihr bedeutet, der Brauch. Schutz ist hier immer nur temporär möglich, die Unbehaustheit liefert zwar Freiheit, aber auch Bedrohung. Als Metapher für diese Situation fungiert der Vogel, der gleich zu Beginn genannt wird. Dem Text vorangestellt ist ein Motto, ein Gedicht von Jayat mit dem programmatischen Titel „Laisse grandir l’oiseau“, der die Metaphorik gleich zu Beginn expliziert. Die Reise wird hier bereits vorgezeichnet, wenn es heißt: „Laisse grandir l’oiseau / Je briserai la cage / De l’enfant tragédien / Je prendrai la liberté“ und weiter: „Mon parcours sera long / Difficile solitaire invisible / Bavard ou silencieux / Mais je serai libre“ (ibid.: 5) - der Vogel im Käfig, der frei sein möchte, sich auf eine lange Wanderschaft begibt. Auch die Dialektik von Reden und Schweigen ist hier bereits präfiguriert. Wenn in Bizets Carmen-Adaptation die Protagonistin als Personifikation der Liebe mit einem „oiseau rebelle“ gleichgesetzt wird, so findet sich ein ähnliches semantisches Feld, ein Bild des Vogels, das aber deutlicher Ambivalenzen offenlegt. Denn Stellina wird zwar flügge, 2 aber sie wird mehr durch die Umstände zu dieser Freiheit gezwungen. Die Natur bietet ihr zwar Beeren und Kräuter, die sie stärken, setzt sie aber auch den Witterungen aus, die sie schwächen und vor denen sie Schutz suchen muss - und sei es temporär. Temporär ist auch die Gemeinschaft, die ihr möglich ist, Weggefährten sind die Kinder in den Dörfern und Städten, die sie passiert, und die Angehörigen der weit verzweigten Familie, die ihr auf wunderbare Weise immer wieder begegnen und ihr Mut zusprechen. Die Kinder begegnen ihr, der Fremden, noch frei von stereotypen Vorstellungsmustern und Projektionen, auch wenn diese durch die Erwachsenen der Mehrheitsgesellschaft immer wieder laut ausgesprochen werden: „Sale bohémienne! ... Voleuse d’enfants! “ (ibid.: 51). Stereotype werden hier konstruiert wie durch den Kontext subvertiert und aufgelöst. Auch hier gibt es Nuancierungen, ist doch die letzte Familie zugleich die, die sie nicht ermutigend in den Morgen entlässt, sondern ihr mit einem ironischen Lächeln bedeutet: „Tu voulais voir la France, la France est grande! “ (ibid.: 94). In dem Moment wird ihr bewusst, dass sich nichts geändert hat, die ersehnte Ankunft im für sie verheißungsvollen Land Frankreich hat nichts an ihrer Situation geändert. Die Wolken seien, so bemerkt die autodiegetische Erzählerin, immer noch dieselben. Dabei greift sie das Bild vom Leben als Reise auf, als ihr in Form eines Paradoxons bewusst wird, dass sich zwar alles verändert habe, da sie ihr Ziel erreicht habe, sich anderseits aber auch nichts verändert habe, da sie sich immer noch verfolgt fühle: „Tout a changé, car j’ai atteint mon but. Rien n’a changé, car je me sens traquée comme je le suis depuis Sesto Calende“ (ibid.: 94). Das in diesem Kontext von ihr gewählte Wort „traquée“ ist aufschlussreich, wird es doch für Mensch wie Tier gleichermaßen verwendet. Auf ihrer Reise wird sie einen Großteil von einem ihr zugelaufenen Hund begleitet, der ihr Gesellschaft leistet, Toska. Der Hund erweist sich in vielen Situationen humaner als die Menschen, denen Stellina begegnet. Der Fokus liegt auf seinem Empathievermögen (ibid.: 61). Er erscheint fast als Alter Ego der Protagonistin. Als er bei DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 69 Dossier einem seiner Ausweichmanöver vor den Pfützen, einem spielerischen Impuls folgend, von einem Laster ergriffen wird, setzt der Fahrer seinen Weg fort, ohne sich um das tödlich getroffene Tier zu kümmern. Flüchtige Gemeinschaften Jayat zeigt aber nicht den Topos der Straße, das Stereotyp des in der Mehrheitsgesellschaft dominierenden Bildes des freien und glücklichen ,Zigeuners‘, sondern sehr klar und differenziert die Mechanismen von Inklusion und Exklusion. So macht sie deutlich, dass dieses Leben in der roulotte zwar Tradition hat, aber auch verknüpft ist mit zahlreichen Verboten der Dominanzgesellschaft. Gleichzeitig birgt das Leben zwar einerseits Freiheit, offeriert Glück im Unbeständigen, macht aber andererseits auch deutlich, wie hoch der Preis ist, den die Protagonistin wie auch ihre Familie dafür bezahlen muss. Die Roma in diesem Text werden zwar in für sie typischen Tätigkeitsfeldern inszeniert - als Wahrsager, als Heiler, als Pferdehändler -, Jayat zeigt aber differenziert die Hintergründe auf. Ihr Großvater ist in der Lage zu heilen, aber er wird auch wie in den pikaresken Romanen als Held gezeigt, der die Gutgläubigkeit seiner wohlbetuchten Kundschaft teilweise zu seinen Zwecken auszunutzen versteht, wodurch eine deutliche Sympathielenkung erfolgt. So als eine Bäckersfrau ein Mittel gegen Ratten sucht und er sagt, er benötige dafür Zucker und Tabak. Dabei wird deutlich, dass er nie aus Missgunst so handelt oder wirklich gefährliche Ingredienzen für seine Heilungsversuche verwendet. Auch Stellina sieht sich später gezwungen, mit den Zollbeamten ein Spiel zu spielen und dabei listig vorzugehen wie ein Fuchs. Das gewählte Bild macht bereits deutlich, dass es dabei ums Überleben geht, ist es doch Stellina sonst nicht möglich, die Grenze zu überqueren - ihr, die keine Papiere bei sich trägt, die ihre Identität bestätigen. Wie in Bachtins Auffassung des Karnevalesken kommt es hier lediglich temporär zur Umdeutung und Umkehrung überkommener Dominanzverhältnisse. Die Reise ist als Schwellensituation zu sehen, die mit dem Aufbruch am Anfang beginnt und sich dann auf Straße fortsetzt. Bachtin begreift den Chronotopos der Schwelle als Ort der Krise und des Übergangs, sowohl kulturell als auch im Rahmen der Entwicklung einer literarischen Figur (Bachtin 1975: 375sq.). Er spricht der Schwelle auch ideologiekritisch eine herausragende Funktion in genreinnovativen Formen der Umkehrung und Grenzüberschreitung durch Formen der Karnevaleske zu (ibid.: 316). Die Schwelle erhält ihre Funktion vor allem durch das Moment des zeitlichen Vollzugs, des Über-schreitens. Im Sinne eines Genetteschen Ortes der Aushandlung kann sie auch zugleich als Explorieren von Genre-Konventionen betrachtet werden. Auch hier haben wir es mit einem Explorieren neuer Formen zu tun, einem Entwicklungsroman und Antibildungsroman, der vor allem dem Unterwegssein selbst zentrale Funktion beimisst und dem Prozess der Bildung, die sich hier aber vor allem im mündlichen Dialog und im Austausch mit der Natur und anderen Menschen auf der Reise vollzieht. Das Prozesshafte, ein Werden im Sinne Derridas, wird dabei immer wieder betont: „Nous sommes des nomades 70 DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 Dossier parce que la seule chose permanente dans la vie c’est le changement“, erklärt der Großvater (Jayat 1996: 44). Dies entspricht Derridas Forderung des Weltweit- Werdens, das als Prozess einer neuen Humanisierung gedacht ist, die als radikale Unterschiedlichkeit gedacht werden will und vorsieht, dass der Andere als Anderer ernst genommen und anerkannt wird (Derrida 2001: 11). Stellinas Vater erzählt ihr ebenfalls von einem Mann, der ihm die Wolkenkratzer und die Welt zeigte, und ihn gebeten habe, ihn im Gegenzug die Sprache der Natur zu lehren. Stellina selbst wird diese Haltung im Lauf der eigenen Entwicklung ebenfalls explorieren" wie sie aber nach der Ankunft in Frankreich agiert, wird in der ersten Fassung nicht weiter expliziert. Sie, die im Niemandsland zwischen Italien und Frankreich geboren wurde, wird zur Grenzfigur, die sowohl eine kritische Haltung gegenüber der Lebensweise der Roma-Gemeinschaft als auch der Dominanzgesellschaft entwickelt und dagegen ihre eigenen fluiden Bilder stellt. Diese Bilder lassen Raum für eigene Entwicklungen, die Protagonistin gehört unterschiedlichen Gruppen an, vertritt hybride Identitätskonstruktionen. Wie Stellina selbst Sprecherin ist, so ist sie zugleich ein Gegenstand der Autofiktion. Dieser Prozess zunehmender Hybridisierung schafft eine Figur kultureller Übersetzung und Reflexion. Das Bild der Grenze ist auffällig, ist es doch einerseits als Metapher für eine écriture sinnfällig, die sich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen Auto- und Heteroimages bewegt. Anderseits ist die Protagonistin, die im Paratext die italienische Zuschreibung „Zingarina“ als Diminutivform für eine weibliche Roma verwendet, eine Heranwachsende, die sich im liminalen Raum zum Erwachsensein befindet. Auch räumlich und zeitlich spielt der Text in einer Schwellensituation zwischen den Ländern Italien und Frankreich, im entre-deux, in dem Stellina auch geboren wurde. Bachtins Chronotopos der Schwelle ließe sich hier anführen. Mit Pratchett und Massey gesprochen, haben wir es hier mit einem dynamischen Raumkonzept zu tun, das wie folgt definiert werden kann: „interconnecting exchange of colliding and simultaneously evasive interrelations, from the micro to the macro level. As such, it takes account of space as excessive saturation, a motion of complex interstices and legal porosity“ (Pratchett 2017: 5sq.). Es geht um das prozesshafte Werden eines Raums, ein Oszillieren zwischen Imagination und Aktualisierung. Jayat macht insbesondere durch die zu Ende ihrer Autofiktion erfolgende Szene am Grenzübergang deutlich, wie Räume immer auch von Machtrelationen geformt werden. Sie selbst erweist sich hier als außerhalb des Gesetzes stehend, da sie nicht über die erforderlichen Papiere zum Nachweis ihrer Identität verfügt. Damit verknüpft ist aber auch durchaus die weiterführende Frage nach der Verantwortlichkeit für den Raum im Sinne einer modernen ökokritischen Lesart: Wer sorgt dafür, dass Schutz für alle Lebewesen gegeben ist, dass alle an den Früchten der Natur partizipieren, ohne dass diese ausgebeutet wird? Jayat lässt hier in einem interkalierten Text wie sonst auch so häufig im Sinne der Polyphonie Bachtins unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen. Sie erinnert sich an eine Geschichte, die ihr Großvater ihr immer erzählt DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 71 Dossier hat, die sie aber nun Toska, dem Hund erzählt, über einen Mann, der so lange friedlich mit seinem Esel zusammenlebt, bis er in einem Anfall von Wut die Hand gegen ihn erhebt. Der Wutanfall ist wiederum darauf zurückzuführen, dass er sich einem ökonomischen Denken der Wirtschaftlichkeit unterwirft. Er bereut seine Tat und wird daraufhin dadurch belohnt, dass nicht nur das zuvor abgerissene Ohr des Esels wieder anwächst, sondern dass ihm auch aus der versorgten Wunde Weidenruten sprießen (Jayat 1996: 77). Diese lassen sich einerseits als sichtbare Wunde interpretieren, aber auch als Geschenk, dass er künftig im Einklang mit sich, der tierischen und pflanzlichen Sphäre im Ökosystem leben kann. Wenn Deleuze über Kafka schreibt (Deleuze/ Guattari 1976: 49), es gehe um ein Tier-Werden als Ausweg, um paternalistischen und administrativen Kräften zu entkommen, so wird auch bei Jayat im Umgang der Erzählerin mit Toska immer wieder die Grenze zwischen Tier und Mensch aufgelöst. Es ist Toska, die menschlicher handelt, als die Menschen, denen Stellina begegnet: „Tout le long du chemin, entre ce chien et moi, circule une complicité. Un simple échange de regards devient un véritable mot de passe. […] Toska est ma bonne humeur. C’est un chien indépendant et pourtant il me prend entièrement en charge. Il me rend la vie possible” (Jayat 1996: 60sq.). Nomos und Logos Der Text ist ein mündlich überlieferter Text, der auf die Schwierigkeit verweist, nicht nur die eigene Stimme zu erheben, sondern auch buchstäblich zur Feder zu greifen, ist doch die Kultur der Roma von Mündlichkeit geprägt. Die Protagonistin weist bei ihrer Ankunft in Frankreich darauf hin, dass sie weder lesen noch schreiben kann. Sie ist dabei durchaus als Alter Ego der Autorin zu lesen, über die Maurice geschrieben hat, es sei erstaunlich, wie intellektuell sich ihre Gedichte lesen. Maurice, die mit der Autorin gesprochen hat, verweist auch darauf, dass diese die Schriftsprache durch das Lesen von Werbeplakaten in der Pariser Metro gelernt habe (Maurice 1973: 91). In einer der fantastischen Geschichten Jayats, Les deux lunes de Savyo, wird berichtet, wie der Protagonist, der täglich von einer Ziege begleitet wird, eines Tages den Wunsch hegt, diese möge sprechen, bis er plötzlich eben den Sinn der Sprache selbst hinterfragt: „Pourquoi faire la parole? Tant de gens ne savent que faire de la parole. Si souvent l’on dit n’importe quoi, ou l’on parle sans se comprendre, que le silence devient le maître de notre monde. Nous deux, on se regarde et on se comprend“ (Jayat 1972: 42). Dieses Plädoyer für das Schweigen ist indes immer auch ambivalent zu betrachten. So geht es in dem Text einerseits immer auch um die orale Tradierung der Mythen und Legenden, der Geschichten und Traditionen, die, wenngleich sie auch wie die Tradition der Hochzeit, zugleich kritisch betrachtet werden, immer doch auch Gemeinschaft überhaupt erst herstellen und festigen. So definieren sich die Roma in Jayats Roman nicht über ein gemeinsames Land, einen gemeinsamen Ort, sondern einen übergreifenden Raum der gemeinsamen Erinnerung und der Legenden und Traditionen. Wissen ist hier nicht (nur) in Büchern zu finden, sondern wird weitergegeben, vermittelt sich aber auch von selbst 72 DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 Dossier durch die „école de la vie“. Dieses Bild wird gleich zweimal verwendet: Zunächst als die Erzählstimme die Position des Großvaters beschreibt, der sich, anders als die alten Menschen in anderen Gesellschaften, nicht am Rand befindet, sondern das Zentrum des Familienklans bildet. Sein Meister, so führt sie aus, sei die Stille und ein Wissen, das er nicht in Büchern, sondern in der Lebensschule erworben habe (Jayat 1996: 11). Am Schluss ihrer Reise überträgt sie diese Haltung auf sich selbst, fügt aber ein zentrales Moment hinzu - die Reise selbst, was auf einen Prozess des Werdens im Sinne Derridas zu verweisen scheint: „Je ne sais ni lire ni écrire, car, chez nous, nous ne fréquentons aucune école à l’exception de l’école de la vie. La raison en est le voyage“ (ibid.: 92). Die hier skizzierte Bewegung einer ewigen Schule des Wissens, die in einer steten Bewegung beruht, ruft Derridas Nachdenken über den anderen auf, der das Prozesshafte, das Anders-Werden betont: „ni même de sujet à sujet, mais telles que le rapport de l’un à l’autre puisse s’y affirmer comme infini et discontinu? “ (Derrida, zit. nach Norris/ Roden 2003: 98). Das kulturelle Erbe wird als wichtig und identitätsstiftend, aber auch als eingrenzend und einengend empfunden, schaut man sich die Geschichte der Protagonistin an. Vielmehr scheint es um eine Dialektik von Reden und Schweigen zu gehen, wobei Reden auch die Schrift inkludiert. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Epitext mit einbezieht: Sandra Jayat hat sich, obwohl auch dies nicht der oralen Tradition entspricht, immer wieder in der Sprache der Dominanzgesellschaft zu Wort gemeldet und in einem sehr poetischen Französisch Gedichte, Geschichten und Romane verfasst. Dabei hat sie nicht nur auf die überlieferten Legenden und Mythen zurückgegriffen, sondern auch ihre eigene Biographie geschrieben, womit sie sich zugleich gegen die Familientradition gestellt hat. Maurice macht darauf aufmerksam, dass sie dafür von ihrer Familie keine Anerkennung erhielt, sondern im Gegenteil das Schreiben als Verrat an der eigenen Kultur gewertet wurde (Maurice 1973: 92). Auch hier lebt die Künstlerin in einem Zwischenraum, in einem entre-deux. Wie wir das aus anderen, (post-)kolonial geprägten, Kontexten kennen, fühlt sie sich weder der einen noch der anderen Kultur zugehörig. Im Text schlägt sich das in Form eines polyphonen Schreibens nieder, das sowohl die Fremdperspektive als auch die Perspektive des Eigenen verdeutlicht und derart versucht, Konstruktionsmuster von Stereotypen aufzuzeigen. Dies wird ebenfalls in der intermedialen Ausrichtung der Texte von Jayat deutlich. Ihre Texte empfangen die Leser jeweils schon im Bereich der Paratexte durch selbstgestaltete Buchcover. Auf La longue route d’une Zingarina ist eine nach vorne gebeugte Frau zu sehen, die auf einen Strauch mit braunen verdorrten Blättern blickt und diese mit einem nach innen gerichteten, leicht melancholisch gefärbten Blick anschaut. Sie trägt ein rotes, langes Kleid und das lange, rötlich-braune Haar fällt ihr offen über die Schulter. Über ihrem Kopf scheinen Fliegen zu schwirren, es könnten aber auch dunkle Gedanken sein, die sie beschweren, oder gar die Einengung und Ausgrenzung durch die Projektionen der Mehrheitsgesellschaft symbolisieren, die in Verfolgung kumuliert. Dies korrespondiert mit dem Text selbst, so sagt die Erzählstimme im Kontext der Zeit der Okkupation: „Parce que nous vivons dans la nature, ils nous prennent pour des sauvages! Nous n’avons même pas droit à une de leurs DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 73 Dossier misérables cartes de nourriture. Ils veulent nous faire mourir comme des mouches! “ (Jayat 1996: 28). Zwischen den braunen Blättern zeigen sich wenige, kleinere grüne Blätter. Das an Chagall erinnernde Gemälde deutet auf die Situation der Protagonistin hin, die zu Beginn den Feigenbaum erblickt, der Früchte verspricht, was auf ihre glückliche Kindheit verweist, und der verdorrt, als sie ihre Familie verlässt. Die wenigen grünen Blätter sind in dem Kontext als Signal der Hoffnung zu lesen, welche die dunklen Gedanken und Ängste bezwingen kann. Die emblematisch angeordnete Bildunterschrift „c’est ça la vie! “ scheint diese Aussage zu bekräftigen und darauf zu verweisen, wie wichtig es ist, den eigenen Lebensweg zu wählen - allen Schwierigkeiten zum Trotz, ein Symbol für Aufbruch und Leben. Dies bekräftigt auch die Rolle des Tanzes und der Musik. In dem ersten autofiktionalen Roman ist es der Tanz, der autonome Tanz, den die Protagonistin als Viaticum gegen die Hoffnungs- und Mutlosigkeit wählt, der ihr Kraft spendet. Sie erinnert sich, wie der Großvater in der Zeit der Okkupation stets nachts zur Gitarre griff, wenn er mutlos war, einige Stücke spielte und sie ermutigte zu tanzen: „Alors, j’enfilais ma robe de dentelles rouges...“ Hier wird nicht der Tanz selbst in den bekannten Stereotypen geschildert, wie in den Texten der Mehrheitsgesellschaft, man denke nur an Hugos Esmeralda, die im Schein des Feuers mit glitzernden Ohrgehängen tanzt oder Mérimées und Bizets Carmen, die einen erotischen Tanz vorführt, der im Zeichen der Exotik steht, sondern ein autonomer Tanz, der den Blick nach innen richtet und die eigene Stimmung in Worte fasst: „Aux premiers accords, seules mes épaules frémissaient et, à mesure que le rythme de la guitare s’accélérait, tout mon corps s’enflammait“ (ibid.: 30). In dem Roman El Romanes ist es der männliche Protagonist, der zum Objekt des Blicks avanciert, als die betrunkenen deutschen Offiziere ihn immer wieder auffordern, auf den Tisch zu steigen und für sie zu spielen: „Allez gitans de malheur, debout sur la table et jouez, jouez“ (Jayat 1986: 28). Auch hier geben die beiden Jungen nach, da sie Repressionen fürchten, erkennen aber zugleich, dass dies die reine Musik als Medium des Ausdrucks zerstört: Wie in El Romanes die Improvisationen des Gitarristen, der diese nicht für die Zuschauer noch einmal aufführen kann und will, da er sich nicht zum Instrument, zur Projektion der Mehrheitsgesellschaft reduziert sehen will, ist auch in der frühen Autofiktion Jayats der Tanz Medium einer Innerlichkeit, einer Expression der eigenen Stimmungen und Gefühle. Cécile Kovacshazy erkennt in den Texten Sandra Jayats eine an Chagall erinnernde Traum-Atmosphäre, die sich zugleich im paratextuellen Titelbild zeigt und ihre écriture kennzeichnet (Kovacshazy 2015: 133). So wird die Geschichte immer wieder von Versen, Liedern, Weisheiten des Großvaters und träumerischen Szenen unterbrochen, die in der späteren Textfassung noch deutlicher konturiert werden. Einige Textstellen erinnern derart an den magischen Realismus, wo Markierungen zwischen Traum und Realität aufgehoben sind. Dabei zeigt sie die poetische Kraft der mündlich tradierten Geschichten auf, die im Sinne einer Ökokritik durchaus auch als Plädoyer für einen anderen Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen gelesen werden kann. 74 DOI 10.24053/ ldm-2021-0018 Dossier Jenseits der Bilder Aufschluss über die Ambivalenz der Sprache, die Dialektik von Reden und Schweigen gibt der Roman El Romanes, der ebenfalls die Zeit der faschistischen Besatzung, das Verhältnis der Roma zur jeweiligen Dominanzgesellschaft verhandelt, in Form einer eingeschobenen Geschichte, die hier indes nicht der Protagonist selbst erzählt, sondern ein deutscher Kriegsberichterstatter, Karl Fuller. Dieser erkennt in dem begabten Gitarristen eben den jungen Rom, den er vor vielen Jahren als zwölfjährigen Jungen auf Menorca gesehen hat und von dessen Schönheit er wie geblendet war (Jayat 1986: 32, 39). Als er ohne Erlaubnis des Familienältesten die Familie fotografiert und sich verabschiedet, wird ihm plötzlich klar, warum die Familie nicht fotografiert werden möchte. Er erzählt nun Jahre später dem Jungen und seinem Freund, wie der Großvater ihm erzählte, dass die Familie Fotos liebe, selbst Ansichtskarten kaufe und sich daran erfreue, aber vor einigen Jahren schlechte Erfahrungen gemacht habe, als sie ebenfalls fotografiert wurden: Seulement, ces hommes qui nous parlaient amitié, avaient de fâcheuses initiatives; ils vendaient leurs photos, soi-disant le produit de leur travail, avec de fausses légendes, à certains journalistes. Savez-vous combien coûte le moral de celui qui a mal? Pendant des jours, nous avons subi un interminable défilé de curieux. Tous ces gens étaient venus au monde pour colporter le mensonge (ibid.: 40). Es sind also vor allem die stereotypen Vorstellungen und Projektionen, die ihn stören, und die Lügen, die damit verknüpft werden. Es ist die Festschreibung bestimmter Vorstellungen, die für Ausgrenzung und Verfolgung sorgt, gegen die hier eine polyphone, intermedial angelegte écriture angeht, die insbesondere die Stereotype und Brüche, die Ambivalenzen und Interstitien betont. Bachtin, Michail, Voprosy literatury i estetiki. Issledovanija raznych let, Moskau, Khudoǰestvennaja literatura, 1975. Blandfort, Julia, Die Literatur der Roma Frankreichs, Berlin, de Gruyter, 2015. —, „Sandra Jayat“, www.romarchive.eu/ de/ collection/ p/ sandra-jayat (publiziert 2018, letzter Aufruf am 22.12.2021). Deleuze, Gilles / Guattari, Félix, Kafka: Für eine kleine Literatur, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1976. Derrida, Jacques, Die unbedingte Universität, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2001. —, L’animal donc que je suis, Paris, Galilée, 2006. Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (ed.), Raumtheorie. 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