eJournals lendemains 46/182-183

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2021-0019
2021
46182-183

„Chanter la liberté“

2021
Anne Pirwitz
ldm46182-1830076
76 DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 Dossier Anne Pirwitz „Chanter la liberté“ Musik als Raum kultureller Selbstrepräsentation und interkultureller Begegnungen in den Filmen von Tony Gatlif 1. Einleitung Der 1948 in Algerien als Sohn eines Kabylen und einer Roma geborene Tony Gatlif, der im Alter von 12 Jahren nach Paris kam, gilt heute als bekanntester und einflussreichster Roma-Filmemacher. Dadurch kommt ihm die Rolle als Sprachrohr einer Minderheit zu, die aufgrund der prioritären Stellung der Mündlichkeit gegenüber der Schriftlichkeit in ihrer Kultur eher selten in Literatur und Film als Autor in Erscheinung tritt. Roma-Figuren 1 hingegen tauchen in den Werken von Nicht-Roma-Autor*innen immer wieder auf und werden hierbei häufig stereotypisiert als Zigeuner dargestellt, die sowohl Faszination als auch Bedrohung auslösen können. Der umstrittene Begriff des Zigeuners bezeichnet nach Herbert Uerlings „ein Bild, ein Stereotyp, eine klischeeartige Vorstellung von ‚Anderssein‘“ (Uerlings 2011: 1). Insbesondere die Figur der Carmen avancierte, wie Kirsten von Hagen darlegt, „zum Mythos der verführerischen aber auch dämonischen Zigeunerin“ (von Hagen 2011: 52), die als femme fatale mit Exotik und Erotik aufgeladen ist. Auch in Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris, der mehrfach verfilmt wurde, finden sich typisch zigane Motive und Figuren wie Esmeralda und Quasimodo. Ein anderes stereotypisiertes Bild, das sich auch in aktuelleren Filmen noch wiederfindet, ist das Bild eines nomadischen, unzivilisierten, ungebildeten und kriminellen Volkes. In den 80er Jahren vollzog sich durch die Bürgerrechtsbewegungen der Sinti und Roma und ihre Anerkennung als europäische Minderheit und Verfolgte des Nationalsozialismus ein Umbruch in der filmischen Repräsentation der Roma (Uerlings 2011: 2). Aber auch Filme, die versuchen stereotypisierte Bilder aufzubrechen und ein authentischeres Roma-Bild zu zeichnen, greifen nicht selten auf altbewährte Motive zurück. Dina Iordanova, die sich in verschiedenen Publikationen mit Roma- Darstellungen im Film auseinandersetzt, betont die besondere Rolle von Roma- Figuren: „While in many respects Romani representation is similar to other minorities, no other group has provided so much ‚metaphoric material‘ for drama as the Romanies, and no other group has been so excessively exoticised“ (Iordanova 2003: 8). Den klassischen Verlauf eines Gypsy films beschreibt Iordanova wie folgt: The typical ‚Gypsy‘ film is a melodrama, with a plotline usually evolving along inter-racial romance (of which Carmen is the prototype). The story usually revolves around a pure and spontaneous liaison between a Romani girl and a man from the main (‚white‘) ethnic group whose relationship quickly gains mainstream disapproval and comes under attack, sometimes leading to tragic consequences. Occasionally, it is an audacious Gypsy man who DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 77 Dossier ‚steals‘ the ‚white‘ woman’s heart and mind; or the lovers are both Romanies, in which case they are often extremely vulnerable, usually because the woman has stuck to her Gypsy lover and refused to accept the advances of a powerful ‚white‘ man interested in her (ibid.: 8). Inwiefern sich die filmischen Darstellungen auf die realen sozialen Gruppen der Roma beziehen, ist nach Uerlings allerdings schwer zu entscheiden: „Der Film entsteht im Kopf des Zuschauers, deshalb wird letztlich hier darüber entschieden, ob Stereotype auf wirkliche Menschen übertragen, ob aus Zigeunern Roma werden und umgekehrt“ (Uerlings 2011: 1). Filme senden bestimmte Codes, die dazu führen, dass eine Übertragung der Bilder und Figuren auf die außerfilmische Wirklichkeit nahegelegt und erwünscht wird, oder, dass das Werk als reines künstlerisches Produkt wahrgenommen wird und Bezüge zur Wirklichkeit möglichst ausgeschlossen werden. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Roma-Darstellung in Gatlifs Werken und fragt danach, ob und inwiefern die Roma-Bilder in seinen Filmen den klassischen, stereotypisierten Bildern und Narrativen gegenüberstehen und ob durch Gatlifs Zugehörigkeit zur Roma-Kultur alternative und realistischere Darstellungsweisen angeboten werden, die eine Übertragung der filmischen Bilder durch die Zuschauer*innen auf die außerfilmische Wirklichkeit nahelegen. Hierbei werden die Filme Liberté (2009) und Gadjo Dilo (1997), die sehr unterschiedliche Darstellungsweisen bieten, genauer besprochen. Bei der Analyse wird das für die von Oralität geprägte Kultur der Roma bedeutsame Ausdrucksmittel der Musik in den Filmen besonders fokussiert und nach deren Funktion in einigen ausgewählten Szenen der beiden Filme gefragt. Nach Gräf et al. fungiert Musik als Kommunikationssystem, durch das Bedeutungen und Informationen vermittelt werden können (Gräf et al. 2017: 250). Sie kann als Musik im Film, also intradiegetisch (on-screen) oder als Filmmusik, also extradiegetisch (off-screen) zum Einsatz kommen (ibid.: 259). Musik kann dramaturgisch oder spannungsgenerativ eingesetzt werden, sie kann Emotionen wecken und das Gefühl für den dargestellten geografischen oder sozialen Raum unterstützen (ibid.: 262-271). Durch Musik können Emotionen und innere Vorgänge wie beispielsweise Trauer, Angst, Verliebtheit oder Wut ausgedrückt werden, die mit normalsprachlichen Mitteln schwer oder gar nicht darstellbar wären (ibid.: 279). So vielfältig wie die verschiedenen Gruppierungen der Roma ist auch ihre Musik, weshalb sich auch nicht verallgemeinernd von der Roma-Musik sprechen lässt. Gemeinsam haben die verschiedenen Roma-Kulturen jedoch ihre besondere Beziehung zu Musik: „Musik ist nichts Festgeschriebenes, sondern immer Improvisation. Sie wird, als lebendiger Teil der Alltagskultur [der Roma], im Moment des Spiels mit großer Kreativität wieder erschaffen und ist offen gegenüber allem Neuen“ (Glaeser/ Wogg 2008: 9). 2 Gatlif selbst geht sogar so weit zu behaupten: „Music is the only authentic document that the Roma have“ (Siberok 1997: C2, zit. n. Naficy 2001: 99). Die besondere Bedeutung von Musik und ihre Rolle als Raum kultureller Selbstrepräsentation der Roma und als interkultureller Begegnungs-Raum in Gatlifs Werken soll in diesem Artikel untersucht werden. Dass Musik nicht nur in Gatlifs Darstellungen der Roma-Kulturen zentral ist, wird deutlich durch den Blick auf seine Werke, 78 DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 Dossier die sich mit Mitgliedern anderer Minderheiten auseinandersetzen und sich dabei ähnlicher Motive bedienen wie die besprochenen Roma-Filme. Um generelle Aussagen über den Einsatz und die Rolle von Musik in Gatlifs Werken treffen zu können, folgt eine Analyse der Filme Exils (2004) und Djam (2017). 2. Roma und ihre Musik in Liberté und Gadjo Dilo - realistische Darstellung oder ein Spiel mit Stereotypen? Gatlifs Filme sind geprägt von seinem Hintergrund als Dokumentarfilmemacher und zeichnen sich aus durch lange Einstellungen, eine einfache mise en scène, die Zusammenarbeit mit Laiendarsteller*innen sowie den Verzicht auf Spezialeffekte (Homer 2006: 188). Wenngleich ihnen damit eine gewisse realistische Wirkung zukommt, handelt es sich bei den hier untersuchten Filmen klar um Spielfilme, die somit, so realitätsnah ihr Ansatz auch sein mag, stets Wirklichkeitskonstruktionen und keine Abbildungen von Wirklichkeit sind. Sie bedienen sich bestimmter narrativer Strukturen und Motive und erschaffen eine Geschichte, die mehr oder weniger realistisch wirkt. So tragen nach Guido Kirsten, der sich in seinem Werk Filmischer Realismus mit realistischen Lektüremodi von Spielfilmen beschäftigt, eine „der Alltagswelt homologe Diegese“ und „wirklichkeitsnahe Figuren, Probleme und Geschichten“ zu einer realistischen Lektüre eines Filmes bei (Kirsten 2013: 28). Gatlifs Film Liberté aus dem Jahr 2009 liefert solche Merkmale insbesondere dadurch, dass im Vorspann erwähnt wird, dass dieser Film von wahren Begebenheiten inspiriert ist, und im Abspann auf die reale Roma-Familie verwiesen wird, deren Geschichte Gatlif zum Dreh des Films veranlasste. Während es über die Judenverfolgung im Nationalsozialismus zahlreiche dokumentarische und fiktionale Aufarbeitungen gibt, ist das Schicksal der verfolgten Roma filmisch kaum verarbeitet worden. Liberté kommt damit eine besondere Rolle als Zeitdokument zu. Der Film erzählt von einer Manouches-Familie, die während der deutschen Besatzungszeit in ein französisches Dorf kommt, wo sie bereits zuvor immer wieder bei der Ernte half. Ein neues Gesetz besagt, dass sie ihre nomadische Lebensweise nicht weiter ausleben dürfen. Da sie ihren Lebensstil nicht aufgeben möchten, werden sie deportiert. Der Bürgermeister und eine Lehrerin, die sich sehr für die Roma-Familie einsetzen, befreien sie aus dem Lager, indem sie ihnen ein Haus überschreiben, wodurch sie nicht länger festgehalten werden dürfen. Doch die scheinbare Freiheit, die ihnen damit geschenkt wird, stellt für die Familie eine neue Gefangenschaft dar. Sie möchten sich nicht mit der sesshaften Lebensweise arrangieren und das Leben innerhalb der Häusermauern macht ihnen Angst. Sie flüchten, was zu einer erneuten Deportation der Familie und der Ermordung des Familienmitgliedes Taloche führt. Die hier präsentierte Roma-Familie wird als liebevoll und fürsorglich inszeniert. Obwohl sie arm sind, nehmen sie den französischen Waisenjungen Claude bei sich auf und geben ihm von dem wenigen Essen, das sie haben. Die Roma üben eine so starke Faszination auf den jungen Franzosen aus, dass dieser, obwohl er beim Bürgermeister ein neues Zuhause fand, die Roma-Familie immer wieder besuchen DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 79 Dossier kommt, sich bei ihnen versteckt und am Ende sogar mit ihnen flieht. Während ein Familienmitglied noch versucht, den Polizisten zu erklären, dass das Kind nicht zu ihnen gehöre, um ihm das Leben zu retten, weicht Claude bis zum Schluss nicht von ihrer Seite. Die Roma-Familie wird als friedlich und unabhängig präsentiert. Ihren Lebensstil möchte sie sich von niemandem verbieten lassen. „C’est votre guerre. Nous, on n’a jamais fait la guerre“ (Liberté 0: 12: 33) entgegnet ein Familienmitglied, als der Bürgermeister ihnen erklärt, dass aufgrund des Krieges ein Gesetz erlassen wurde, das Nomadismus verbietet. Dadurch wird darauf verwiesen, dass die Roma völlig unbeteiligt am Krieg sind und ihm doch neben den Juden am stärksten zum Opfer fallen. Eine besondere symbolische Funktion kommt der Figur des Taloche zu. Der junge Roma-Mann wird als naiv, unbedarft, ungebildet, aber interessiert und insbesondere naturverbunden dargestellt. Immer wieder läuft er wie ein wildes Tier durch den Wald, schreit, ruft, springt durch den Bach oder wälzt sich auf dem Boden und begräbt sich mit Erde. Als er am Ende versucht, vor der Deportation zu fliehen, klettert er auf einen Baum. Die Polizisten schießen auf ihn und er fällt zu Boden wie ein abgeschossener Vogel. Durch die Herausstellung animalischer Züge wird Taloche zur Symbolfigur für die Wildheit und Freiheit, nach der die Roma-Familie strebt. In Liberté wird sowohl intraals auch extradiegetische Musik eingesetzt. Die Roma spielen immer wieder gemeinsam auf ihren Geigen, werden als Musiker*innen beim Dorffest gebucht, musizieren in den Gängen und vor der Kirche des Dorfes während sie versuchen, ihre Waren zu verkaufen, und sie werden beauftragt, in einem Hühnerstall zu spielen, um die Hühner dazu zu bringen, wieder mehr Eier zu legen. Während die Familienmitglieder weder lesen noch schreiben können, sind sie jedoch sehr musikalisch und spielen Instrumente, ohne Noten lesen zu können. Die intradiegetische Musik hat hier die Funktion die Kultur der Roma, ihren familiären Zusammenhalt, ihre Leidenschaft und ihr Talent, das ihnen auch bei der Mehrheitsgesellschaft Anerkennung einbringt, zu repräsentieren. Die extradiegetische Musik fungiert in Liberté als Ausdruck für das Schicksal der Roma, was insbesondere in drei Szenen deutlich wird. Das Streben nach Freiheit, das ein zentrales Motiv in Gatlifs Filmen darstellt und dem Film Liberté auch seinen Titel gab, wird dem Krieg und den damit einhergehenden Gesetzen und menschenverachtenden Praktiken kontrastiv gegenübergestellt. In der ersten Szene des Films ist ein Konzentrationslager mit einem Stacheldrahtzaun zu sehen. Leise Gitarrenmusik spielt und der Zaun beginnt sich zu bewegen wie die Saiten einer Gitarre. Nebel zieht durch das Bild. Kurz darauf tritt der Nebel in den Vordergrund und wird zu Wolken die am Himmel ziehen, während das KZ im Hintergrund verschwindet. Der Titel des Films wird eingeblendet. Die Szene deutet das drohende Schicksal der Roma an, für die ein Leben in Freiheit in Zeiten des Krieges unmöglich ist. Ihre Musik jedoch ist unsterblich und die einzige Freiheit, die man den ihnen nicht nehmen kann. Später im Film zeigen dokumentarisch wirkende Bilder deportierte Roma hinter Stacheldrahtzäunen im Konzentrationslager und insbesondere Kinder, die regungs- 80 DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 Dossier los vor sich hinstarren. Durch die schwermütige, melancholische Musik, die die Bilder begleitet, wird die Kraftlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Roma ausgedrückt. Der freiheitsliebende Taloche klammert sich an den Zaun, während ein anderer Gefangener im Hintergrund „Korkoro“ 3 (Liberté 1: 00: 45) ruft. Immer wieder wird der Kontrast zwischen Freiheit und Gefangenschaft inszeniert. Nachdem Taloche ermordet und die Familie abtransportiert wurde, zeigt das letzte Bild des Films ihre zurückgelassenen Wagen (Abb. 1). Im Vordergrund erscheint ein heruntergebranntes Feuer mit Rauch und Asche, die wie Schnee auf die letzten Spuren der Roma- Familie herabfällt. Das Bild kann als Verweis auf das der Familie drohende Schicksal der Ermordung in den Krematorien der Konzentrationslager gesehen werden. Eine Stimme aus dem Off ruft währenddessen „baxtalo les autres“ 4 (Liberté 1: 41: 37) und das Lied Les Bohémiens, das Gatlif selbst für den Film schrieb, setzt ein. Abb. 1: Der Wunsch nach Freiheit geht in Rauch auf in Liberté (1: 41: 39). Im Refrain des Liedes heißt es: Si quelqu’un s’inquiète de notre absence, Dites-lui qu’on a été jeté Du ciel et de la lumière, Nous les seigneurs de ce vaste univers (Liberté 1: 42: 04). Die Roma werden hier als „seigneurs de ce vaste univers“ bezeichnet, wodurch die in ihrer Kultur verankerte Unabhängigkeit von (nationalstaatlichen) Grenzen und ihr Wille zur Freiheit ausgedrückt wird. Doch in den Konzentrationslagern, den wohl stärksten Ausdrucksformen von Macht, Nationalismus und Fremdenhass, wurde ihnen erst ihre Freiheit und dann ihr Leben genommen. Liberté macht auf das Schicksal der Roma während des Nationalsozialismus aufmerksam und verfolgt damit einen informativen und erzieherischen Auftrag. Der gesellschaftskritische Film regt zu einer dokumentarisierenden Lektüre an, in dem er DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 81 Dossier auf reale Fakten Bezug nimmt und dokumentarisch wirkende Bilder einsetzt. Da es sich jedoch um einen Spielfilm und somit um ein fiktionales Werk handelt, lässt sich in diesem Fall von einer Anregung eines realistischen Lektüremodus, den Kirsten als Submodus des fiktionalen Lektüremodus (Kirsten 2013: 141) begreift, sprechen. In anderen Filmen verfolgt Gatlif eine weniger dokumentarisch wirkende Darstellungsweise der Roma und bedient sich stereotyper Bilder und klassischer Narrative und Motive. Das Motiv des „quest for authenticity and truth“ (Homer 2006: 186), das als typisches Motiv in vielen Erzählungen über Roma auftaucht, spiegelt sich insbesondere in der narrativen Struktur des Films Gadjo Dilo aus dem Jahr 1997 wider: Stéphane kommt aus Paris in eine Roma-Siedlung in Rumänien, um die Sängerin Nora Luca, deren Musik sein inzwischen verstorbener Vater gern hörte, zu finden. Während die meisten Dorfbewohner*innen den Fremden skeptisch beäugen, wird er von Izidor, einem älteren Mann, aufgenommen und in die Gewohnheiten der Roma- Gemeinschaft eingeführt. Dies gestaltet sich vor allem schwierig, da niemand außer Sabina Stéphanes Sprache spricht und diese zumindest anfangs auf Abstand zu dem Fremden geht. Nach und nach passt sich Stéphane an die Sitten der Roma an und er und Sabina verlieben sich ineinander. Der junge Franzose sammelt alle Informationen, die er zur Musik der Roma finden kann und nimmt verschiedene Lieder auf. Im Verlauf der Geschichte muss er allerdings feststellen, dass Nora Luca gar keine Sängerin ist, sondern ein Lied, das Sabina auf einer Feier singt. Aufgrund von Konflikten zwischen der rumänischen Dorfbevölkerung und der Roma-Gemeinschaft kommt es schließlich dazu, dass die rumänischen Dorfbewohner*innen das Roma-Lager abbrennen und Izidors Sohn dabei zu Tode kommt, während Sabina und Stéphane im Wald miteinander schlafen. Der Film endet dort, wo er anfing, auf einer Landstraße irgendwo in Rumänien. Stéphane steigt aus dem Auto, in dem Sabina schläft, und zerstört all seine akribisch gesammelten Aufzeichnungen über die Musik der Roma. Gadjo Dilo folgt der Struktur einer Reiseerzählung. 5 Stéphane begibt sich in ein fremdes Land und trifft auf eine ihm völlig fremde Kultur, getrieben von dem Wunsch, mehr über seinen inzwischen verstorbenen Vater herauszufinden, dem so viel an der Musik der Roma lag. Die Präsentation der Roma erfolgt anhand einer Vielzahl an bekannten Roma-Stereotypen: die kinderreichen Familien leben in einfachsten Verhältnissen in Hütten oder Zelten in einem Lager mit Tieren (Abb. 2) und fahren mit Pferdewagen (Abb. 3). Die Frauen tragen lange bunte Kleider und Kopftücher und tanzen erotisch zu traditioneller Musik. Die hier präsentierten Roma haben einen vulgären Sprachgebrauch, sind laut, spucken und trinken viel Alkohol. Zudem werden sie von der rumänischen Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert. Es lässt sich zunächst also festhalten, dass sich der Film nicht nur am klassischen Narrativ der Liebeserzählung zwischen Roma und Nicht-Roma, sondern auch an gängigen Stereotypen bedient. Gleichzeitig aber dreht Gatlif auch bekannte Roma- Stereotypen um und lässt Stéphane Opfer von Vorurteilen werden. Als dieser von Izidor mit ins Roma-Dorf gebracht wird, wird er zunächst nicht akzeptiert. Die Roma 82 DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 Dossier mustern ihn und betrachten seine kaputten und dreckigen Schuhe und bezeichnen ihn als Vagabunden. Eine Frau hat Angst, dass er das Haus verflucht habe, die Männer rufen ihm hinterher, dass er ein Dieb sei, bestimmt Hühner gestohlen habe oder werfen ihm vor, dass er ihnen die Frauen und Kinder wegnehmen wolle. Von Izidor wird Stéphane überall als sein Franzose vorgestellt und wie ein Exot präsentiert. Stereotypen werden in Gadjo Dilo bewusst inszeniert, wodurch ihre Absurdität aufgezeigt wird. Wie Albina Puskás-Bajkó klar formuliert, ist der Film „far from being a true representation of Romanian Roma life, but [it] is a problematic dialogue on what authenticity in presenting a nation can be“ (Puskás-Bajkó 2014: 378). Es handelt sich also weder um eine dezidiert neuartige, noch um eine realistische Darstellung der Roma, sondern um eine Inszenierung, die bewusst versucht, das Konzept des Othering, der Distanzierung des Eigenen vom Anderen, zu überwinden. Wie Anna Babka darlegt, ist Alter (dt. der eine, der andere von beiden) „kein beliebiger Anderer, alter ist der zweite von zwei gleichartigen und einander zugeordneten Identitäten im Gegensatz zu alius oder xenos (dt. der Fremde)“ (Babka 2003). Der Protagonist Stéphane muss sich mit dem Anderen auseinandersetzen, in eine ihm unvertraute Kultur eintauchen, um seinem Vater und damit seinen eigenen Wurzeln näher zu kommen. Insofern ist die Suche nach Nora Luca in gewisser Weise eine Suche nach seiner eigenen Herkunft. Das Eigene liegt hier also im Anderen verborgen. Gatlifs Darstellung der Roma und Nicht-Roma (Gadjos auf Romanes) in Gadjo Dilo verweist auf die „Dichotomie von Alterität und Identität als einander bedingende Momente“ (Babka 2003). Die Roma sind in Gadjo Dilo nicht das Fremde, sondern nur das Andere, ohne das das Eigene nicht vollständig existiert. Das Eigene konstituiert sich nicht aus der Abgrenzung vom Anderen heraus, sondern findet erst durch die Auseinandersetzung mit diesem Vervollständigung. Der Prozess der Suche des Eigenen im Anderen wird in Gadjo Dilo insbesondere durch Musik begleitet. Zu Beginn des Films dreht sich Stéphane auf der Landstraße im Kreis. Die Kamera fängt seine Pirouette ein und umfährt ihn mit mehreren 360- Grad-Drehungen. Der mehrsprachige Titelsong, der das Verschwinden von Vorurteilen prophezeit, setzt ein. Wie von Hagen analysiert, wird durch das zunehmende Abb. 2 und 3: Stereotype Roma-Bilder in Gadjo Dilo (0: 57: 47 und 0: 04: 15). DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 83 Dossier Verschwimmen der Landschaft auch das im Laufe des Films immer stärkere Verschwimmen zwischen dem Eigenen und dem Anderen angedeutet (von Hagen 2011: 57). Im Film handelt es sich, abgesehen vom Titelsong, fast ausschließlich um intradiegetische Musik. Diese wird von den Darsteller*innen, die im realen Leben in den meisten Fällen tatsächlich Roma-Musiker*innen sind, gespielt und gesungen. Wenngleich die Roma-Darstellung im Film nicht als realistisch bezeichnet werden kann, so doch die Präsentation ihrer Musik. Kulturelle und sprachliche Barrieren können in Gadjo Dilo erst durch die Sprache der Musik überwunden werden, durch die, wie Hagen darlegt, ein interkultureller Dialog zwischen Stéphane und Sabina in Gang gesetzt wird (von Hagen 2011: 59). Musik fungiert hier also nicht nur als Ausdruck kultureller Identität, sondern auch als Medium nonverbaler Kommunikation und als interkultureller Begegnungsraum. Stéphane musste feststellen, dass die Sängerin, die er so vergeblich suchte, nicht existiert und Nora Luca ein Lied ist. Ein Lied, das die Roma wie viele andere Lieder im Herzen tragen. Für sie ist Musik nicht etwas, das man hört, sondern etwas, das man fühlt. Es wird nicht zugehört, sondern mitgesungen und getanzt. Wie Sean Homer darlegt, „[t]here is no clear distinction between audience and performers; it is the very lifeblood of the songs that they are ‚owned‘ collectively and performed by everyone“ (Homer 2006: 192). Dies wird besonders deutlich in der Szene, in der Stéphane ein Lied aufzeichnen möchte, das eine Band für ihn spielt. Immer wieder ermahnt er Sabina, die mitsingt und mittanzt, dass sie still sein soll, was diese wiederum nicht nachvollziehen kann, da dies nicht ihrem natürlichen Umgang mit Musik entspricht. Der Nora Luca Song steht symbolisch für die Musik der Roma: „Gipsy songs are performed by everyone, that is why there is no specific Nora Luca song - as it is not owned by anyone - everybody who can sing and enjoy it, can become Nora Luca for a moment“ (Puskás-Bajkó 2014: 386). Dies wird bereits zu Beginn des Films von Izidor angedeutet, der, nachdem Stéphane ihm seine Kassette vorgespielt hat, entgegnet: „It’s a beautiful song. There are songs like that everywhere around here“ (Gadjo Dilo 0: 09: 57). Nora Luca fungiert in Gadjo Dilo also als Symbol für Leben, Leidenschaft, Traditionen und Gemeinschaft der Roma. Die Schlussszene des Films, in der Stéphane all seine Kassetten zerstört und sie mit seinen Notizen vergräbt, die Erde mit Wodka begießt und zu tanzen beginnt (Abb. 4), wie es Izidor am Grab eines befreundeten Musikers tat, zeigt schließlich, dass Stéphane begriffen hat, dass Musik nichts ist, was man sammeln und konservieren kann, sondern dass man sie im Herzen tragen muss, damit sie authentisch und echt ist. Stéphane war anfangs auf der Suche nach einer Sängerin, um seinem verstorbenen Vater näher zu sein, den er viel zu selten gesehen hatte, da dieser als Ethnologe stets auf Expeditionen war, um fremde Kulturen und Lebensweisen zu entdecken. Die Suche nach Nora Luca ist für Stéphane eine Suche nach seinen eigenen Wurzeln und seiner Heimat. Am Ende versteht er, dass Heimat nicht an einem konkreten Ort zu finden ist, sondern dass man sie, wie die Musik, nur in sich 84 DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 Dossier selbst finden kann. Der Meilenstein, an dem er zu Beginn des Films im tiefsten Winter kurz gerastet hat und an dem er nun im Frühjahr seine Aufzeichnungen zerstört, steht symbolisch für den Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Abb. 4: Stéphane trägt die Musik der Roma nun im Herzen (Gadjo Dilo 1: 34: 31). In Gatlifs Filmen wird Musik als Raum kultureller Authentizität und als wahrer Heimatraum der Roma inszeniert. In der Musik, die sie als Gemeinschaft in sich tragen, liegt ihre Stärke, dank derer sie geografische Heimatverluste durch Zerstörung und Verfolgung überstehen. Ihre wahre Heimat ist die Musik und die kann ihnen niemand nehmen. Diese Bedeutung von Musik als Heimat findet in Latcho Drom (1993) ihren deutlichsten Ausdruck. 6 Der Film zeigt die Reise der Roma von Indien nach Nordafrika und Europa. Das Besondere an diesem Film ist der nahezu komplette Verzicht auf Dialoge. Stattdessen besteht die Tonebene des Films nur aus Musik. Auch in weiteren Filmen von Gatlif, in denen es um Roma geht, wie Vengo (2000), Swing (2002) oder Transylvania (2006), spielt Musik eine wichtige Rolle, indem durch sie interkulturelle Dialoge in Gang gesetzt, kulturelle Grenzen überwunden und die Suche nach Heimat musikalisch ausgedrückt werden. Doch Musik spielt nicht nur in Gatlifs Roma-Filmen eine tragende Rolle. Immer wieder schickt Gatlif in seinen Filmen auch Angehörige anderer Minderheiten auf die Suche nach Heimat oder Freiheit. Ihnen allen gemeinsam ist, dass ihr Weg stets auf besondere Weise von Musik begleitet wird. 3. Auf anderen Wegen - Musik als Wegbegleiter in Exils und Djam Auch in Gatlifs Film Exils aus dem Jahr 2004 kommt Musik eine ähnliche Rolle zu wie in seinen Roma-Filmen. Elisa Antz stellt Exils als Beispiel für die von ihr untersuchten roots trips narratives heraus, ein Genre, das sich aus der Vermischung der DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 85 Dossier kulturellen Metapher der roots und dem Genre des Roadmovies ergibt. „[R]oots and routes“ müssen nach James Clifford beide in Auseinandersetzungen mit Kultur berücksichtigt werden (Clifford 1997: 78). Im Zeitalter von Migration und Globalisierung kommt bei vielen Menschen vermehrt der Wunsch auf, sich mit ihren Wurzeln zu beschäftigen. Dieser Wunsch drückt sich in Literatur und Film in sogenannten roots trips narratives aus: In ihrem fiktiven Rahmen ermöglichen sie das Unterwegssein in zwei Richtungen: Die Figuren sind im geographischen Sinne mobil, denn sie reisen zum Herkunftsort ihrer Vorfahren. Diese herkunftsbedingten Reiserouten verlangen jedoch auch Auseinandersetzungen mit der familiären Vergangenheit und der kulturellen Umwelt der Vorfahren. Somit begegnen und bedingen einander in diesen Herkunftsreisen Geschichten der Vergangenheit und Erfahrungen der Gegenwart (Antz 2012: 20). In Exils begeben sich Zano und Naïma, ein junges Paar, das in der Pariser Banlieue lebt, auf die Spuren ihrer Vergangenheit. „Et si on allait en Algérie? “ (Exils 0: 03: 56) schlägt Zano spontan vor, um dem Alltag und der Langeweile zu entfliehen. Der Vorschlag, in das Heimatland ihrer Eltern zu reisen, stößt bei Naïma zunächst auf Verwunderung und sorgt für Verwirrung. Schließlich willigt sie aber doch ein. Zanos inzwischen verstorbene Eltern waren pieds noirs, französische Siedler in Algerien. Naïmas Vater war ein Algerier, der nach Frankreich auswanderte. Die Migrationsgründe werden im Film nicht genannt. Das Paar begibt sich nun auf eine Reise durch Spanien und Marokko nach Algerien. Dabei treffen sie auf verschiedene entwurzelte und heimatlose Personen, bewegen sich gegen den Strom der Flüchtlinge und nähern sich sowohl physisch als auch emotional ihren Wurzeln Stück für Stück an. Während Naïma zu Beginn ihrer Reise weder Arabisch sprach noch sich mit Algerien identifizieren konnte, da ihr Vater ihr dieses kulturelle Wissen vorenthalten und sie dadurch in ein „psychologisches Exil“ (Antz 2012: 87) gedrängt hatte, nähert sie sich im Verlauf der Reise ihrer algerischen Herkunft immer weiter an und stellt sich in einer Bar in Spanien als Algerierin aus Frankreich vor. Dadurch überschreitet sie die erste Grenze. In Algerien fühlen sich Zano und insbesondere Naïma zunächst hin- und hergerissen zwischen emotionaler Zugehörigkeit und Fremdheit. Während Zano seine inneren Konflikte lösen kann, da er im ehemaligen Haus seiner Eltern deren Tod schließlich verarbeiten kann, wird die junge Frau aufgrund ihrer extrovertierten und freizügigen Art immer wieder kritisch betrachtet oder verbal angefeindet. Sie fühlt sich fremd im Heimatland ihrer Eltern, doch auch in Frankreich hatte sie das Gefühl nicht dazuzugehören: „Je me sens pas bien. Je me sens étrangère. Je suis une étrangère de partout“ (Exils 1: 06: 19). Erst durch ein Gesangs- und Tanzritual, das der Film ganze zehn Minuten lang zeigt und bei dem sie durch die Worte einer Verwandten: „Il faut que tu retrouves tes repères. Il faut que tu te retrouves. Il faut que tu retrouves ta famille“ (Exils 1: 21: 13) in eine Art Trance versetzt wird, kann sie ihren inneren Konflikt lösen, sich mit ihren Wurzeln versöhnen und emotionale Nähe zulassen. Während sie vorher stets als unsicher und nervös an den Nägeln kauend gezeigt wurde, scheint Naïma am Ende selbstsicherer, fröhlich und mit sich selbst 86 DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 Dossier und ihrer Herkunft versöhnt zu sein. Symbolisch wird diese Entwicklung dargestellt, indem die zuvor so egoistische Naïma gezeigt wird, wie sie eine Orange schält und diese mit Zano teilt, bevor sie mit ihm Hand in Hand durch ein Meer aus (Grab-)Blumen spaziert. Die Auseinandersetzung mit ihren kulturellen Wurzeln verläuft zeitgleich mit einer Entwicklung und Vertiefung der Beziehung zwischen den beiden, die mit einem gegenseitigen Erkennen und Anerkennen und der Überwindung von Unsicherheiten einhergeht. 7 Dass der Musik in Exils eine wichtige Rolle zukommt, wird bereits in der ersten Szene des Films deutlich. Während Zano unbekleidet am Fenster steht und auf die Pariser Banlieue starrt und Naïma nackt im Bett liegt, ertönt immer lauter werdende Musik mit dem Text: „It’s time to speak about those who are absent […] it’s an emergency to talk about freedom“ (Exils 0: 00: 40), wodurch bereits die bevorstehende Suche nach der Vergangenheit und den kulturellen Wurzeln als Akt der Befreiung angedeutet wird. Die Nacktheit der beiden symbolisiert dabei den Urzustand, das Authentische, das Wahre, das Unverschleierte, das nicht nur äußerlich, sondern durch die Suche nach den Wurzeln auch innerlich entdeckt werden soll. Bevor sich die beiden auf die Reise begeben, betoniert Zano seine Geige in eine Wand ein. Zuvor hatte er Naïma erzählt, dass er keine Musik mehr mache. Erst später im Film erfahren die Zuschauer*innen, dass er seit dem Tod seiner Eltern nicht mehr spielen kann, also unter einer Blockade leidet. Das Grab, das er für seine Geige anfertigt, symbolisiert einerseits Abschied, stellt aber, wie Antz darlegt, auch einen Erinnerungsort dar, an den man zurückkehren kann (Antz 2012: 80). Die Verbindung aus Grab und Musik findet sich in der letzten Szene des Films wieder, als Zano dem Kreuz am Grab seines Großvaters in Algerien seine Kopfhörer aufsetzt (Abb. 5). Der Musikplayer ist eines der wenigen Dinge, die die beiden mit auf die Reise nahmen, wodurch die wichtige Bedeutung von Musik für das junge Paar deutlich wird. Indem Zano nun seine Musik mit seinem verstobenen Großvater teilt, werden Gegenwart und Vergangenheit symbolisch vereint. Abb. 5: Zano und Naïma mit ihren Wurzeln versöhnt (Exils 1: 34: 06). DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 87 Dossier Noch deutlicher wird die Rolle von Musik als Ausdruck von Freiheit, von Identität und als Raum interkultureller Begegnungen in Gatlifs Film Djam aus dem Jahr 2017. „Avec ‚Djam‘, je continue à chanter la liberté, la route, le vent du large“ berichtet Gatlif in einem Interview im Nouvel Observateur (Forestier 2017). Entsprechend kann Djam als Hymne an die Freiheit bezeichnet werden. Durch den Titel Djam wird eine assoziative Verbindung zu Djelem Djelem, der internationalen Hymne der Roma aufgebaut. Wenngleich es in diesem Werk Gatlifs nicht um Roma geht, so weist seine Protagonistin doch viele Gemeinsamkeiten mit seinen Roma-Figuren auf. Der Film, der der Struktur eines Roadmovies folgt, erzählt von Djam, einer jungen Griechin, die von ihrem Stiefvater Kakourgos gebeten wird, von Lesbos aus in die Türkei zu reisen, um eine kaputte Treibstange seines Schiffs austauschen zu lassen. Das funktionsunfähige Schiff steht symbolisch für Griechenlands wirtschaftlich schwierige Situation, die für viele Griech*innen zu großen Verlusten führte. So rechnet auch Kakourgos jeden Tag damit, dass die Gerichtsvollzieher ihm und seiner Familie das Haus wegnehmen. Die junge, lebensfrohe und aufgeweckte Djam ist eine leidenschaftliche Rembetiko-Sängerin und Tänzerin. Der Rembetiko wurde insbesondere von der griechischen Minderheit in der Türkei gesungen. In den 20er Jahren jedoch wurden Millionen Griech*innen und mit ihnen ihre Musik vertrieben. In der alten Heimat Griechenland waren sie fremd und ihre Musik zunächst verboten. Der Rembetiko, der „griechisch[e] Blues“ (Haungs 2018), kann also als Ausdruck von Exilerfahrung und transkultureller Identität verstanden werden. Er erzählt in seinem melancholischen Stil von den Alltagssorgen der einfachen Menschen (ibid.). Auf ihrem Weg durch die Türkei und zurück nach Lesbos singt, tanzt und musiziert Djam immer wieder, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die sich manchmal nicht in Worte allein fassen lassen. Aufgrund ihrer offenen Art sorgt die junge Griechin auch bei der Französin Avril für eine ähnliche Faszination, wie jene, die die Roma auf den jungen Claude in Liberté ausüben. Eigentlich wollte Avril mit ihrem Freund in einem Flüchtlingslager an der syrischen Grenze aushelfen, doch dieser hat sie in Istanbul allein zurückgelassen. Djam und Avril freunden sich an und die junge Französin wird ihre Reisebegleiterin. Ihre Reise führt sie entlang der Spuren von Geflüchteten. Verkohlte Holzscheite und arabische Schriftzeichen an einem Bahnhof, kaputte Schlauchboote und unzählige Berge von Rettungswesten zeugen von ihrer Durchreise. Auch bewegen sich Djam und Avril entlang von Grenzzäunen oder passieren Grenzgebiete. Immer wieder finden sich Symbole von Flucht, Migration und Exil, die auf die Geschichten all jener verweisen, die der Film nicht erzählen, sondern nur unterschwellig andeuten kann. Doch ihre Geschichten von Verlust, Heimatlosigkeit und Migration spiegeln sich in Djams Geschichte wider. Als Avril sie nach ihrer Mutter fragt, bricht die sonst so starke Djam in Tränen aus. Ihre Mutter war Rembetikosängerin und starb in Paris. Erst am Ende des Films, als Djam die Treibstange nach Hause gebracht hat und das Schiff wieder funktionstüchtig ist, erfahren die Zuschauer*innen mehr über Djams Mutter. Sie kam allein mit ihrer Tochter nach Paris und arbeitete als Kellnerin im griechischen Restaurant von Kakourgos, wo sie durch ihren Rembetikogesang alle griechischen Exilanten in ihren Bann zog und 88 DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 Dossier ihnen ein Stück Heimat brachte. „C’est mon exil qui chante“ (Djam 1: 10: 16) habe sie gesagt, bevor ihr das Heimweh schließlich so zusetzte, dass sie keine Lebenskraft mehr hatte. Das Schicksal des Heimatverlusts trifft am Ende auch Djam und Kakourgos. Sie verlieren das Haus, was Djam erst nur schwer akzeptieren kann. Doch ihr Stiefvater sagt: „On leur laisse les murs. On s’en fout des murs. On va continuer à chanter […]“ (Djam 1: 24: 40). Sie ziehen auf das Schiff und fahren alle gemeinsam singend auf das Meer hinaus. Wenngleich sie ihre geografische Heimat verloren haben, so finden sie diese in der Freiheit, die das Meer und die Musik versprechen, wieder. Seine geografische Heimat verliert auch Pano, ein Mann, den Djam und Avril auf ihrer Reise kennenlernen, als dieser sich sein eigenes Grab schaufeln will, da er alles verloren hat und keine Zukunft mehr für sich sieht. Später treffen sie ihn in einer Taverne wieder, wo er ihnen freudig mitteilt, dass er Arbeit in Norwegen gefunden hat und diesen neuen Lebensabschnitt mit Ouzo und Rembetiko feiert. Doch plötzlich wird er still, starrt vor sich hin, steht schließlich auf und geht ohne sich zu verabschieden fort. Er weiß, dass er seine Heimat verliert und dieser Heimatverlust beginnt mit dem Einsetzen der Stille. Nur solange Gatlifs Figuren singen, tragen sie die Heimat in sich. Durch Djams Lebensfreude und ihre Musik findet nach und nach auch Avril zu ihren eigenen Wurzeln. Ähnlich wie Stéphane in Gadjo Dilo muss auch sie sich mit dem Anderen, einer anderen Kultur und anderen Lebensweisen auseinandersetzen, um zu sich selbst zu finden. Wurde sie anfangs gefragt, wo sie herkommt, so antwortete sie abfällig „de la Banlieue“ (Djam 0: 12: 02). Nach der Reise mit Djam hingegen nennt sie, als sie erneut nach ihrer Herkunft gefragt wird, einen konkreten Ort und wirkt mit ihrer Heimat versöhnt. 4. Fazit - Musik als Ausdruck von Heimat und Freiheit Außenseiter*innen und Migrant*innen sind zentrale Figuren in Gatlifs Werken. Ihnen allen gemeinsam ist ihr unerbittlicher Kampf für ihr Recht auf Heimat, Freiheit und Individualität. Gatlif präsentiert Figuren am Rande der Gesellschaft und inszeniert sie als „ambivalente Grenzfiguren der sozialen Ordnung“ (Uerlings 2011: 2), die sich auf andere Wege begeben, jenseits der klassischen Routen. Sie ziehen wie Zano und Naïma nicht mit dem Strom, sondern gegen ihn. In Bezug auf die Roma-Darstellung in Gatlifs Filmen lässt sich, den Ausführungen von Homer folgend, feststellen, dass Gatlif mit seinen Filmen nicht das Ziel verfolgt, ein möglichst realistisches Bild der Lebenswelt der Roma aufzuzeigen, sondern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es die Roma als homogene Gruppe nicht gibt (Homer 2006: 183). Mit Stereotypen wird bewusst gespielt, um sie ad absurdum zu führen. Am Ende folgt stets die Erkenntnis, dass die Suche der Protagonist*innen nach dem Eigenen nur durch eine Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Lebensweisen erfolgreich sein kann. Im Anderen spiegelt sich das Eigene wider. DOI 10.24053/ ldm-2021-0019 89 Dossier Gatlif geht es nicht darum, ein bestimmtes Bild einer Gruppe zu zeichnen, sondern darum, kulturelle und soziale Grenzen aufzulösen. In all seinen Filmen spielt Musik dabei eine zentrale Rolle. Sie erschafft ein Gefühl für den dargestellten Raum, dient der kulturellen Selbstrepräsentation der Figuren, fungiert als Authentizitätsmerkmal, insbesondere wenn es sich um intradiegetische Musik von Originalmusiker*innen handelt, ermöglicht die Kommunikation zwischen den Figuren trotz mangelnder Sprachkenntnisse und drückt ihre Emotionen aus. Die Charaktere in Gatlifs Filmen können durch Musik kulturelle Grenzen überwinden und Heimat finden, während sie ihre geografische Heimat verlieren oder sie zwischen verschiedenen Heimaten und Kulturen hin- und hergerissen sind. Wenngleich sie sich alle auf anderen Wegen und in unterschiedlichen Kulturen bewegen, ist ihnen allen gemeinsam, dass Musik ihr stetiger Begleiter ist und sie letztlich ihre wahre Heimat nur darin finden können. Musik ist in Gatlifs Filmen Ausdruck von kultureller Identität, Familie, Zusammengehörigkeit, Stärke, Mut und Lebenslust und begleitet die Protagonist*innen bei ihrer Suche nach ihrer Freiheit oder der Verteidigung derselben. Musik fungiert somit einerseits als Ausdruck von Heimat und Verwurzelung, andererseits als Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit. Damit vereint sie Vergangenheit und Gegenwart und repräsentiert, um Cliffords Wortspiel erneut aufzugreifen, „[R]oots and routes“ (Clifford 1997: 78) gleichermaßen. Antz, Elisa (ed.), Roots Trips. Die Suche nach Herkunft in zeitgenössischen Reisenarrativen, Gießen, Universitätsbibliothek, 2012. Babka, Anna, „Alterität“, http: / / differenzen.univie.ac.at/ glossar.php? sp=7 (publiziert 2003, letzter Aufruf am 22.12.2021). Blandfort, Julia, „Arabische Spuren: Auslöschen. Fortbestehen. (Wieder)Erkennen. Exils (2004) von Tony Gatlif“, in: Luca Melchior et al. (ed.), Spuren.Suche (in) der Romania. Beiträge zum XXVIII. 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Glaser/ Wogg 2008. 3 Romanes für Freiheit. 4 Baxtalo = romanes für glücklich froh, „oh ihr glücklichen Anderen“. 5 Anders als beim Roadmovie, bei dem der Weg zwischen Aufbruch und Ankunft die Narration bestimmt, wird die Handlung in Gadjo Dilo von Ankunft und Aufbruch gerahmt. Die Entwicklung des Protagonisten erfolgt dabei am Zielort. 6 Zur diasporischen Identitätskonstruktion in den Filmen Latcho Drom und Swing cf. Blandfort 2020. 7 Cf. hierzu u. a. Blandfort 2014.