eJournals lendemains 33/130-131

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2008
33130-131

Die Banlieue-Proteste 2005 in überregionalen deutschen Printmedien

2008
Isabella v. Treskow
ldm33130-1310094
94 Isabella v. Treskow Die Banlieue-Proteste 2005 in überregionalen deutschen Printmedien 1. Schock aus der Mitte Europas Im November 2005 kam es in den Vorstädten von Paris und anderer Städte zu heftigen Protesten im Immigrantenmilieu, die das Bild Frankreichs in Deutschland merklich veränderten. Vor allem die Schwierigkeiten multiethnischer Koexistenz traten schlagartig ins Bewusstsein. Was war geschehen? Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr Anfang November von einem Ausmaß an Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit in den Banlieues, auf das die französische Politik keine rechte Antwort hatte. Jugendliche setzten Busse in Brand, demolierten Gebäude, attackierten Polizisten und Sanitäter. In der gewaltgeladenen Atmosphäre kamen mindestens zwei Zivilisten zu Tode, mehrere Menschen wurden schwer verletzt. Die Gewalt war jedoch prioritär gegen die Staatsmacht, ihre Repräsentanten bzw. sie repräsentierende Institutionen und Symbole gerichtet. Zugleich enthielt sie einen Aspekt der Verachtung der engsten Umwelt der Jugendlichen und damit der Selbstzerstörung - in den Attacken auf Autos, Kindergärten, Turnhallen und Jugendzentren -, der auf ihre immense Wut schließen ließ. Während der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy seine Politik der harten Worte und administrativen Strenge fortsetzte, das Problem durch Polizeieinsätze in den Griff zu bekommen versuchte und Premierminister Dominique de Villepin abwechselnd zu Mäßigung und schärferem Vorgehen aufrief, schwieg der Präsident Jacques Chirac mehr als zwei Wochen, bis er sich an die Nation im Allgemeinen und die Protestierenden im Besonderen wandte. In einer Fernsehansprache versuchte er sie zu beruhigen, mahnte sie zur Ordnung und nannte sie bezeichnend „filles et fils de la République“. 1 Damit sprach er einen Kernpunkt der Problematik an, denn was es zu bedeuten hatte, Franzose oder Französin zu sein, gehörte zu den ungeklärten Identitätsmerkmalen derjenigen, die man gemeinhin nicht als Kinder der Republik sondern als Kinder von Immigranten erfasste. Ausgelöst wurden die Ereignisse durch den Tod solcher „Kinder“, des fünfzehnjährigen Bouna Traoré und des siebzehnjährigen Zyed Benna, in Clichy-sous-Bois. Am 27. Oktober 2005 waren sie aus Angst vor einer Polizeikontrolle in ein Transformatorenhaus geflohen und an einem Stromschlag gestorben. 2 Ein weiterer Jugendlicher wurde schwer verletzt. Am selben Abend fanden Trauermärsche statt, in deren Anschluss sich lang angestaute Frustrationen entluden. Das mediale Echo war groß und nahm in dem Umfang zu, in dem die Unruhen sich verbreiteten. Radio und Fernsehen lieferten Live-Berichterstattung, Sonder- 95 nummern der großen Zeitungen erschienen, Intellektuelle meldeten sich in Podiumsdiskussionen zu Wort. Zumindest eines der Ziele hatten die Protestierenden schnell erreicht: ein hohes Maß an Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die Blicke Europas auf jene „Zonen“ zu lenken, die mit ihren Problemen bis dahin im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung standen. In Deutschland verharrte man perplex vor den Nachrichten, die aus einer Gegend kamen, die eher als Urlaubs- und Kulturland denn als innenpolitischer Unruheherd gegenwärtig war - aber im Fernsehen wirkten, als handele es sich um „Bagdad, Lagos, Port-au-Prince“. (Spiegel, 14.11.) Einige reißerische Überschriften zeugen von der Intention, den Schock- und Schreckenscharakter zu betonen bzw. zu verstärken. Dass die Ereignisse mitten in Europa stattfanden, traf auf Bestürzung in einem Land, das seinen Nachbarn plötzlich neu entdeckte und dabei feststellen musste, dass das hier Unbekannte dort im Grunde bekannt, dass brennende Autos etwa in Clichy-sous-Bois und Mantes-la- Jolie bei Paris oder Vaulx-en-Velin bei Lyon an der Tagesordnung waren, dass gewalttätige Proteste Jugendlicher seit langem regelmäßig in den Vorstädten aufwallten und zerstörerische Akte zur Normalität in Wohngebieten gehörten, deren lyrische Namen in starkem Kontrast zu den Ereignissen stehen. Die folgende Analyse der Berichterstattung der deutschen überregionalen Presse konzentriert sich auf gemeinsame Bezugspunkte in der Interpretation der Ausschreitungen unter dem Aspekt herkömmlicher Züge des Frankreichbilds. Als diese sind (1.) die Protesttradition und (2.) die besondere Rolle der nationalen Prinzipien von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auszumachen. Zusätzlich werden (3.) Perspektivwechsel durch die Übernahme von Banlieue-Blickpunkten auf die Ereignisse und speziell die Figur des Ministers Sarkozy dokumentiert. 3 2. Das Land des Luxus und das Land des Protests Die Berichterstattung der untersuchten Presse ist im Allgemeinen um Objektivität bemüht. Lediglich auf der Bild-Ebene, gelegentlich auch im parallelen Abdruck subjektiver Zeugnisse und in plakativen Überschriften werden Dramatisierungsversuche deutlich. 4 Statistiken und Landkarten werden den Berichten beigegeben, ausführliche Reportagen z.B. über die Lebensverhältnisse der Vorortbewohner oder über den Zusammenhang zwischen der Aufruhr und urbaner Entwicklungspolitik, Architektur und Städtebau (dies besonders in der Süddeutschen Zeitung) geliefert, und es werden Überlegungen zur französischen Integrationspolitik und zu Fragen des Rassismus im globalen Kontext angestellt. Begleitet sind die Angaben über die Zerstörungen und die Reaktionen der Politiker von Versuchen, die Gewaltausbrüche soziologisch zu erklären. Neben gegenwartsdiagnostischen Ansätzen wird das Bedürfnis sichtbar, die Ereignisse in einen größeren historischen und mentalitätsgeschichtlichen Rahmen einzubetten. Die tradierten Vorstellungen der Douce France als Inbegriff für Savoir 96 vivre zum Einen und Land des sublimen Luxus zum Anderen konnten für die Bewertung der Geschehnisse begreiflicherweise nur als Kontrasthintergrund dienen. So ist etwa in einer Überschrift der Frankfurter Rundschau vom „hässlichen Gesicht Frankreichs“ die Rede, einem Gesicht, das dem üblicherweise mit Frankreich verbundenen Schönheitsideal nicht entspricht. Im Artikel selbst liegt die „brutale Wirklichkeit in Clichy-sous-Bois in Seine-Saint-Denis“ keine „25 Kilometer von den glitzernden Schaufenstern der Champs-Elysée“ entfernt, „Lichtjahre“ weg vom „Frankreich des Luxus und des Wohlstandes“. (5.11.) Focus berichtet von den „Betonwüsten“, „nur wenige Kilometer vom Zentrum der Glamour-Hauptstadt Paris“ entfernt. (7.11.) Das Aufrufen der Douce- und Belle-France-Klischees enthält über die z.T. räumlich festgemachten Entfernungen zwischen Zentrum / Macht und Peripherie / Ohnmacht hinaus kritische Spitzen gegen soziale Unterschiede und Ungerechtigkeiten. Sie werden pointiert festgemacht an der Differenz zwischen dem bourgeoisen Pariser Wohlleben, das auch die politische Elite umfasst, und den verarmten Vorstädten derselben Metropole. Die Frankfurter Rundschau verweist nicht nur auf die räumlich-metaphorische Distanz zwischen den „Trabantensiedlungen“ und den „Champs-Elysées“, sondern auch dem „Palast des Staatspräsidenten“. (5.11.) Im Spiegel erscheint im Sinne latenter Kritik am politischen Elitismus das aktuelle politische System als fortgesetztes Ancien régime. Erklärt wird, dass „Politik in Frankreich von jeher vor allem als elegantes Ränkespiel verstanden“ werde, als „Gerangel von Gruppen und Grüppchen, die sich wie einst bei Hofe in Intrigen verlieren und um die Gunst eines Königs buhlen, der heutzutage Präsident heißt.“ (14.11.) Der Widerspruch zwischen Aktualisierungsnotwendigkeit und dem Bedürfnis, Bekanntes aufzugreifen, ist in der Berichterstattung der Frankfurter Rundschau Mitte November besonders sichtbar. So wird am 11.11. im Politikteil der Zeitung über die Verhängung des Ausnahmezustands und einzelner Ausgangssperren sowie die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Gewalttätern vor allem in der Provinz berichtet: Bordeaux, Arras, Dôle und Nizza werden angeführt, wo Omnibusse zerstört, Möbelhäuser angezündet und der Redaktionssitz von Nice-Matin schwer beschädigt wurden. Im Wirtschaftsteil sind die Folgen für das „Land von Rohmilchkäse, Baguette und Austern“ Thema, der Schaden, den Frankreichs Bild im Ausland nahm und der sich auf den Tourismus niederzuschlagen drohte. Wie um diesem Unheil entgegenzuwirken, liegt der Wochenendausgabe vom 12.11., die erneut das „verheerende Auslandsecho auf die Ausschreitungen“ benennt, ein Reiseteil bei, in dem unter dem spielerisch-harmlosen Motto „Urlaub bei Asterix“ die Bretagne als attraktives Reiseziel gepriesen wird, begleitet vom Bild der mythischen Comicfigur in verschmitzt-fröhlicher Pose. Da im Kontrastverfahren die Vorgänge nicht ausreichend plausibel zu machen waren, suchte man die Verbindung zum typisierten Frankreichbild zusätzlich in einem anderen Bereich, dem der Sozialgeschichte: Die Ausschreitungen rückte man, auch in Übernahme entsprechender französischer Auslegungen, in die Nähe einer französischen Ungehorsams-Typik. In Kommentaren und in Fragen an Inter- 97 viewpartner wie in deren Stellungnahmen wird das Bedürfnis offensichtlich, die Ausschreitungen als Teil der französischen Protesttradition zu verstehen. Einzelne historische Ereignisse bzw. Daten erhalten in dieser Perspektive Vorbildfunktion - voran natürlich 1789, das Jahr der Französischen Revolution. Der Sturm auf die Bastille wurde im Geschichtsbild nicht nur extrem aufgewertet, die Ziele des Aufstands gehören zum Legitimationsfundus der aktuellen Republik. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert im Sinne der Beziehung der Ausschreitungen zur Französischen Revolution Emmanuel Todd mit den Worten: „Auseinandersetzungen zwischen der Jugend und der Polizei gehören zur französischen Tradition. [...] Es ist sehr französisch, wenn eine marginalisierte soziale Schicht mit ihren Anliegen auf die Straße geht. Frankreich ist das Land der Revolten. Seit 1789.“ Weiter heißt es: „Mit ihrer Revolte integrieren sich die aufständischen Jugendlichen in die französische Tradition“ und die „Revolte“ stehe „nicht für das Scheitern des französischen Modells, sie bestätigt vielmehr sein Funktionieren“. Der Zweck der Unruhen ruht dabei offenbar in sich: Man könne die Revolte „nicht aus der Perspektive der Marginalität und der Verelendung begreifen“, es gehe „um einen Aufstand der Jugend, der sie ins Zentrum der französischen Politik“ katapultiere. (12.11.) 5 Auf diese Weise wird mit der Vorstellung erfolgreicher Integration die Spezifik der Ausschreitungen schöngeredet und glattgebügelt. Rudolph Chimelli argumentiert ähnlich. Für ihn übernehmen die muslimischen und arabischen „Randalierer“ sowohl anti-westliche Denkmuster wie den französischen Streik- und Protesthabitus. Spöttisch gleitet dabei der Blick über die französische Erbverwaltung der Rebellion, von der die Revoltierenden nur eine unterbewusste Ahnung zu haben scheinen. Sie ist stärker als ihr Anliegen, sich gegen die französische Kultur abzusetzen: „Frankreich hat ein langes Gewöhnungstraining an Gesetzlosigkeit hinter sich. Seit Jahrzehnten kippen zornige Bauern Lebensmittelimporte auf den Asphalt, ohne dass dafür jemand zur Rechenschaft gezogen wird. Streikende Arbeiter setzen ihre Chefs fest, und keiner klagt wegen Freiheitsberaubung. Fischer blockieren die Häfen und erhalten höhere Fangquoten. ‘Sensenmänner’ (faucheurs) verteidigen durch Kahlschlag auf genmanipulierten Versuchsfeldern die Nationalkultur. Und über allen kleinen Ausbrüchen handfester Interessen leuchtet der späte Abglanz großer Revolutionen gegen etablierte Ordnungen. An Lastwagensperrungen sind schon Regierungen gescheitert. Noch in der Résistance und im Beinahe-Bürgerkrieg um die Algérie française festigte sich die Idee, dass es eine höhere Legitimität geben kann als die der bestehenden Verhältnisse. - Die Randalierer in den brennenden Vorstädten wissen davon nichts. Aber ein Substrat solcher kollektiver Erfahrungen ist doch in ihr Bewusstsein eingedrungen.“ (SZ, 7.11.) Für manche wirkt die Französische Revolution nicht nur ins Protest-, sondern bis ins Alltagsverhalten hinein. So erfahren wir über die Verhängung des Ausnahmezustands in der tageszeitung, dies sei „ein starkes Signal in einem Land, dessen 98 Staatsbürger noch das Anrecht des Überquerens eines Zebrastreifens bei roter Ampel aus der Tradition des Sturms auf die Bastille ableiten.“ (9.11.) Anders Michel Wieviorka, der in La violence (2004) eine Analyse der neuen Gewaltformen vorgelegt hat. Er bestreitet in der Frankfurter Rundschau, dass die Ursache der Gewaltanwendung als Protestmittel Resultat des republikanischen Geschichtsunterrichtes sei. Auf die Feststellung seiner deutschen Interviewpartnerin Michaela Meister, „in Frankreich sei man Gewalt gewöhnt“, wenn „Bauern Barrikaden anzünden, dann (sei) das Teil der politischen Ikonographie, die bis auf die Revolution“ zurückgehe, reagiert er nicht. Die Frage, ob „die Jugendlichen womöglich das als einzige der republikanischen Lektionen gelernt“ hätten, „dass man mit Gewalt etwas“ erreiche, verneint er. (12.11.) Nebenbei gesagt, widerspricht sich beides nicht, basieren doch die Erfolge protestierender Bauern gerade auf der Spektakularität ihrer Aktionen. Stationen nach 1789 werden im 20. Jahrhundert angesiedelt. Die „nationalen Vorbilder“ reichen für Alain Bauer, Kriminologe und Politikberater, gemeinsam mit Xavier Raufer Autor von Violences et insécurité urbaines (Paris 1998), von den „militanten Streiks der Gewerkschaften bis zu den Kampfdemonstrationen der radikalen Linken“ (paraphrasiert in Die Zeit, 10.11.). 6 Der Vergleich mit 1968 tritt vereinzelt auf, 7 im Spiegel werden dabei die spezifischen Unterschiede in der Motivation der Rebellierenden betont: „Die Brandsätze, die Steinewerfer, der Fanatismus - all das erinnert auch an das Unruhejahr 1968. Nur ist diesmal keine Avantgarde auf dem langen Marsch. Kein Sartre, kein Cohn-Bendit hakt sich in der ersten Reihe unter.“ (7.11.) 8 Der Mangel an konkreten politischen Forderungen der banlieusards machte alles in allem für Berichterstatter und Kommentatoren die Verbindung zu herkömmlichen Protesten schwer. Mehrfach wird daher ihre Sprachlosigkeit erwähnt bzw. der Umstand, dass Gewalt möglicherweise die einzige „Sprache“ sei, mit der sie ihre diffusen Anliegen kommunizierten. Die Einordnung der Vorfälle in die Nationalgeschichte liefert dann ein nur oberflächliches Verständnis des Geschehens, wenn der Gedanke, dass Franzosen - über deren „französischen“ Status man sich abgesehen vom juristischen Aspekt nicht einig ist - sich „französisch“ verhalten, mehr der eigenen Beruhigung denn vertiefter Erkenntnis des Neuen dient. Regelrecht erleichtert wird behauptet, z.B. von Emmanuel Todd, die Jugendlichen aus Immigrantenfamilien hätten sich eingepasst, seien also „integriert“, gar auf subtilere Weise als vermutet. Die Zeit streicht hingegen die Problematik der Bildungsintegration ohne soziale Integration heraus: „Solange Frankreich die Anpassung an die eigene Nationalkultur so unermüdlich fordert, aber noch keine Antwort darauf hat, wie es die Kluft zwischen dem sozialen Status und dem republikanischen Anspruchsdenken der von ihm erzogenen Immigrantenjugend überwinden kann, bergen die Krawalle ganz neue Gefahren.“ (10.11.) Insgesamt ist es nicht falsch, aber nur bedingt erhellend, die Unruhen in eine historische Linie französischer Proteste einzureihen. Interessant ist die dadurch implizite Abgrenzung zu ähnlichen Ereignissen in anderen Nationen. Logisch 99 schwer zu begründen ist die Verbindung zur palästinensischen Intifada, 9 ein Vergleich, der z.B. in Die Zeit vehement abgelehnt wurde. Intensive Seitenblicke gehen zu den Riots in Lozells bei Birmingham im Oktober 2005, in denen verschiedene Einwanderergruppen regelrechte Schlachten gegeneinander austrugen (vgl. z.B. Spiegel, 7.11.; taz, 12./ 13.11.), welche dann in Konfrontationen mit der Polizei mündeten, ähnlich wie in Alcorcón im Januar 2007 und immer wieder im Anschluss an Fußballspiele in Italien. Verbindungen zu einer Nationalgeschichte des Protests bieten sich für Großbritannien und Spanien jedoch nicht an. Die Erinnerung an die Französische Revolution dient folglich dazu, die Ausdrucksform der Protestierenden von bereits existierenden Verhaltensmustern nationaler Tragweite abzuleiten. Je näher die zeitgeschichtlichen Bezugsereignisse rücken, desto mehr stellt sich die Frage der Legitimität des Einsatzes von Gewalt. Während dem Sturm auf die Bastille eine eigene historische Würde zugeschrieben wird, muss Gewalt im Rahmen der 1968er-Demonstrationen noch einmal gerechtfertigt und von der Gewalt während der Banlieue-Ausschreitungen unterschieden werden. In der Protest-Genealogie taucht spezifisch ex- oder postkoloniales Protestverhalten anfangs nur am Rande auf. Dies ist der Fall etwa bei Dorothea Hahn, die den Hang zum „zivilen Ungehorsam“ als Teil der „gemeinsamen Sprache“ von Immigranten und autochtonen Franzosen sieht, darüber hinaus aber davon spricht, dass es seit „Ende der 70er Jahre [...] immer wieder Bürgerbewegungen aus den Banlieues heraus gegeben“ habe. (taz, 7.11.) In der Süddeutschen Zeitung wird jenes Ereignis erwähnt, das die 1980er Jahre prägte, die marche des beurs von 1983. (10.11.) 10 Einen neuen Akzent erhält die Frage der historischen Einordnung mit der Verhängung des Ausnahmezustands am 8. November. Die Ereignisse erscheinen nunmehr im Licht postkolonialer Befreiungskriege. Das Notstandsgesetz, in dessen Rahmen der Ausnahmezustand verkündet wurde, geht auf den algerischen Unabhängigkeitskrieg zurück und wurde dort 1955 erstmals verhängt, danach nur 1984 in Nouvelle Calédonie anlässlich der gewalttätigen Unruhen zwischen Befürwortern und Gegnern der Unabhängigkeit angewandt. Im Mai 1968 hatte Charles de Gaulle die Anwendung des Gesetzes abgelehnt. Die Verhängung des Ausnahmezustands 2005 wurde angesichts der französischen Kolonialgeschichte vielfach als ungeschickt, wenn nicht als Provokation verstanden. Sie verlangte daher, wie Hans-Helmut Kohl kommentierte, besondere Sensibilität von der Regierung, da es sich bei der „aufrührerischen Jugend“ um „Nachkommen der Menschen aus den Kolonialstaaten handele, die sich im ‘Mutterland’ der Demokratie [...] nicht akzeptiert fühlen - und dies, obwohl sie französische Staatsbürger“ seien. (FR, 10.11.) Michel Wieviorka sieht die Vorgänge im Zusammenhang mit der nicht aufgearbeiteten kolonialen Vergangenheit Frankreichs und hält „Probleme der Entkolonialisierung“ für „zweifellos präsent in dieser Krise, zumal ja ein Teil der Immigration genau mit der Entkolonialisierung“ zusammenhänge. Er fährt fort: „Für meinen Geschmack ist es deshalb alles anderer als guter Stil, in einer solchen Situation ein Kriegsgesetz vorzuholen, das einen postkolonialen Beigeschmack hat.“ (FR, 100 12.11.) 11 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurden teils sachlich die Positionen der Franzosen ehemaliger Kolonien referiert, „die die Gewalt in den Banlieues gewissermaßen als antikolonialistischen Befreiungskampf gerechtfertigt“ hätten. Die Vorstädte wurden als „Ghettos“ bezeichnet, „in denen die Nachfahren der Kolonialisierten Opfer der alten sozialen und völkischen Apartheid“ seien. (8.12.) Teils wurde auch spöttisch von einer „postkolonialen Revolte“ gesprochen. (16.11.) Die Aussage des Rappers La Hamé der Gruppe La Rumeur bestätigt die Einschätzung, die Betroffenen sähen die Demonstrationen und Gewaltakte sowohl im Zusammenhang mit einer eigenen Protesttradition, als auch speziell mit den Kämpfen für die Autonomie Algeriens. Er bezieht sich auf die Demonstration für die algerische Unabhängigkeit am 17. Oktober 1961, bei der Maurice Papon die Polizei dazu ermutigt hatte, gewaltsam vorzugehen. Eine hohe Zahl von Demonstranten kam zu Tode, davon nicht wenige in der Seine, andere auf Polizeiwachen. 12 Im Rahmen der Interpretation der Ausschreitungen als typisch französischem Ungehorsams-Syndrom erscheint das Aufbegehren meist als Erbe einer allgemeineren, sprich erwachsenen, bisweilen aber auch als Teil einer genuin „jugendlichen Protestkultur“, 13 die Deutschland so nicht kennt. Zutreffend ist, vor allem aus deutscher Sicht, dass in Frankreich schneller, mit geringerer Scheu vor Sachbeschädigung und breiterer Resonanz als hier Demonstrationen und Streiks durchgeführt werden. Beide können in starke Gewaltaktionen, seltener in Gewalt gegen Repräsentanten des Staates, Polizei und CRS, oder gegen Zivilpersonen münden. 14 Dass der Geist der Revolte als unveränderliches Kennzeichen Frankreichs vor allem im Vergleich zu Deutschland gilt, streicht die taz besonders heraus. Sebastian Lütgert beginnt seinen Artikel „Besuch in der Kampfzone“ mit den Worten: „In Deutschland, so Lenin, kauft sich der Revolutionär eine Bahnsteigkarte. In Frankreich dagegen sind selbst die Revolutionstouristen ohne Metro-Ticket unterwegs.“ Mit Bedauern konstatiert der Autor allerdings im selben Artikel, dass „Kapitalismus, Stadtplanung und Polizei“ das Land mittlerweile „unrevolutionierbar“ gemacht hätten. (9.11.) Wie indes Marc Hatzfeld schreibt, hilft der grobe Vergleich mit der „figure superbe d’une révolution“, wenig und sei diese selbst für die Beteiligten gefährlich, solange sie nicht durch politischen Erfolg legitimiert werde. (Le Monde, 10.11.) Die Konsequenzen kollektiver Gewaltausbrüche sind ungewiss, zumal auf lange Sicht. Was die Banlieue-Problematik betrifft, ist die Umsetzung der politischen Versprechen nach wie vor umstritten und eine dauerhafte Befriedung noch nicht in Sicht. Welche Einstellung die Protestierenden selbst zu dem von ihnen angetretenen Erbe haben, wurde 2005 kaum eruiert. Über einige Leitfiguren der Banlieue-Kultur, z.B. den Schriftsteller und Minister Azouz Begag, den Priester Christian Delorme - Intellektuelle in gewissermaßen „organischer Funktion“ - und die Rapper - die Gruppe Suprême NTM bezeichnet sich selbst als „haut-parleurs“ - lässt sich erfahren, dass 1968 tatsächlich einen Bezugspunkt bildet. So handelt der Rap Rêv’S’olution von Fofo Adom’Megaa alias Rost aus dem Solo-Album Voix du Peuple (2004) von der kommenden Revolte der „lascars“, der Vorstadt-Jugend 101 „sans-voix“: „Pire qu’en 68, la France va sauter.“ Der Refrain lautet: „Révolution. Mes lascars dans les cités./ Révolution. On sera tous dans la rue./ Révolution. Pire qu’en mai 68./ Révolution. La prochaine sera hardcore.“ Im Interview Rosts mit Daniel Geiselhart in der Süddeutschen Zeitung wird auf den Rap verwiesen (7.11.), die Selbstlegitimation allerdings nicht angesprochen. Der von Joseph Hanimann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung interviewte Schriftsteller und Intellektuelle Mehdi Belhaj Kacem verneint einen Vergleich zwischen den Gewaltakten und herkömmlichen Arbeitskonflikten, da der Sozialkonflikt von einem in Zukunft noch stärker vertretenen Typus des „perspektivenlos herumlungernden, meist jugendlichen Tagediebs“ ausgehe. (10.11.) Mai 1968 setzt er hingegen in La psychose française, ähnlich wie Rost, implizit als vergleichbares Ereignis ein, vergleichbar in der Erschütterung der staatspolitischen Führung, vergleichbar auch in der Dimension. Er nennt die Unruhen „les événements sociopolitiques les plus graves depuis mai 68,“ 15 ohne deren besonderen Charakter bzw. die Motivationen und Ziele der Protestierenden durch ihre Interpretation als unbewusste Erfüllung republikanischer Werte einzuebnen. 3. Mythische Egalité und Beschwörung von Respekt Der republikanische Wertekanon - gefasst in der Schlagwortkombination Liberté, égalité, fraternité - bzw. das Selbstbild Frankreichs als „Wiege der Menschenrechte“ und Verkörperung des idealen Gesellschaftsvertrags im Gewand der Republik stellen neben der Protesttradition wichtige Anknüpfungspunkte für Erläuterungen zu den politisch-moralischen Hintergründen der Ereignisse dar. Dabei besitzen die Postulate der Französischen Revolution ein Eigenleben, an dem gerne die Glaubwürdigkeit des Staates, seiner Verfassung und seiner Wirksamkeit festgemacht wird. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ sind daher keine reinen Worthülsen. Mythische Dimension und Realisierung reiben sich aneinander, wo die Ideale zu politischen Prinzipien werden und an ihrer Umsetzung das Handeln des Staates bzw. der Regierung und das Verhalten der protestierenden Bürger gemessen wird. Ihr Ursprung und ihre Leitfunktion machen sie zu Faktoren, die nicht nur als besonders französisch empfunden werden - Gerechtigkeit oder Chancengleichheit sind in jeder westlichen Demokratie einklagbare Prinzipien -, sondern die auch die Entscheidungen der Politik lenken, 16 z.B. in der Gestaltung des Laizismus oder der Frage der discrimination positive. Das Gleichheits-Postulat verleitet die Verantwortlichen zur Verschleierung differenzierter Wahrnehmung insofern, als zunächst einmal das Einwanderungsphänomen als solches einem Prinzip der Ungleichheit folgt 17 und als ferner im Alltag deutlich wird, dass nicht alle Staatsbürger Frankreichs „gleich“ sind, dass Aussehen, Name und Herkunft (plakativ gesprochen: Département 93 vs. 16e arrondissement) über ihre Zukunft entscheiden können, die Raumordnung Ungleichheiten verstärkt, Gerechtigkeit und Ausgleich nicht per Dekret zu verordnen sind und xenophobe Tendenzen schwer zu bekämpfen. Um 102 die Realität und die Vorstellungen der Bewohner der Vorstädte zu verstehen und zu verändern, ist das Raster „Gleichheit“ mit Sicherheit zu grob. Beurteilungen, die sich differenziert mit den konzeptuellen Fundamenten der Republik beschäftigen, gibt es in den unmittelbaren Reaktionen auf die Ereignisse in den Banlieues kaum. 18 Anspielungen auf das „republikanische Ideal“ bzw. die République finden sich allerdings auf Schritt und Tritt, im Rekurs auch auf die französischen Positionierungen. Dabei werden gegensätzliche Antworten auf die Frage gegeben, wie die Protestierenden zu den Werten stünden: Ob sie die Menschenrechte gerade einklagten bzw. sich über diese legitimierten und sie damit, ähnlich wie die Protestkultur, in besonderer Weise verinnerlicht hätten, oder ob ihre Revolte gegen diese Werte gerichtet sei. Während für die eine, politisch dem eher konservativen Spektrum zuzuordende Seite „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ nicht nur als Inbegriffe, sondern auch reelle Basis der République gelten, werden auf der Gegenseite, politisch eher „progressiv“ zu nennen, „République“ - Synonym für das „herrschende“ Frankreich 19 - und universelle Ideale argumentativ voneinander getrennt. Der Staat sei für eine gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich, heißt es da, in der die „oft beschworenen ‘republikanischen Werte’ von ‘Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ unter die Räder“ gekommen seien. (FR, 5.11.) Emmanuel Todd sieht in seiner Interpretation ganz von der kulturellen Zugehörigkeit der Revoltierenden ab. Er äußert: „Man sollte die Ereignisse nicht bezüglich der Herkunft und der Religion der Randalierer interpretieren, sondern im Rahmen der französischen politischen Kultur. Was hier zum Ausdruck kam, ist die Forderung nach Gleichheit - nach der Egalité.“ (FAZ, 12.11.) 20 Die Flammen schlagen, so Ulrich Beck, aus der „erfolgreichen Assimilation“, „genau“ aus der „verinnerlichten Egalité“. (SZ, 15.11.) Gerade auf die Werte der Freiheit und Gleichheit beriefen sich die Jugendlichen, konstatiert Die Zeit. Sie seien enttäuscht von der mangelnden Einlösung der damit verbundenen Verheißungen, erklärt Michael Mönninger: Was Frankreich derzeit erlebt, ist nicht nur ein Aufstand der Rechtlosen und Unterdrückten, sondern auch eine Revolte gegen die Republik im Namen ihrer eigenen Ideale. Denn die Halbwüchsigen haben in der Schule gelernt, dass zu ihrem Status als Staatsbürger untrennbar die republikanischen Versprechen von Gleichheit und Brüderlichkeit gehören. Das nimmt die Vorstadtjugend ernster, als es vielen Franzosen recht ist. Fast könnte man von einem Drama der gelungenen Integration sprechen, die deswegen an ihre Grenzen stößt, weil die Nachgeborenen sich eben nicht damit begnügen wollen, in Parallelgesellschaften abzutauchen. (10.11.) Folgerichtig werden die Prinzipien nicht mehr als Grundlage des Zusammenlebens betrachtet, sondern als „Versprechen“. 21 Selbst Jacques Chirac spricht in seiner Déclaration vom 14.11. nicht von ihrer Existenz, sondern von der Pflicht des Staates, für Chancengleichheit zu sorgen, bzw. davon, dass die Französinnen und Franzosen, und besonders die jüngeren, jenseits aller Zweifel und Schwierigkeiten stolz darauf sein sollten „d’appartenir à une communauté qui a la volonté de faire vivre les principes d’égalité et de solidarité, et qui fait pour cela des efforts considérables“. 22 Die Erklärung wurde in der tageszeitung mit den Worten kommentiert, 103 die „Erinnerung an die Gleichheit und den Respekt in der Republik“ sei „ein schöner Satz für die Geschichtsbücher“. (16.11.) Es wird folglich unterschiedlich wahrgenommen, wer sich wie auf „Gleichheit“ bezieht. Die Gegenseite sieht jene Werte nicht als Hoffnungsstrahl am Horizont, sondern mit den Füßen getreten. Alain Finkielkraut vertritt die Ansicht, die Vorstadtjugend veranstalte einen „ethnischen Krieg“ und das Verhalten der Bürger, d.h. der muslimischen Bewohner in den „Brennpunktvierteln“, sei ein „richtiggehendes Pogrom gegen die Werte der République.“ (Focus 46, 14.11.) Ein Sturm der Entrüstung folgte seinen Worten nach dem Interview, das er am 19.11. der israelischen Zeitschrift Ha’aretz gab, in welchem er diese Position bekräftigte und erklärte, Frankreich habe seinen Kolonien vor allem Gutes getan. 23 In eine ähnliche Richtung, wenn auch gezielter auf die konkreten Vorfälle bezogen, gingen die Worte Nicolas Sarkozys, der den angeklagten Gewalttätern vorwarf, sie hätten „,ihren Vertrag mit der französischen Republik gebrochen, die ihnen den dauerhaften Aufenthalt gestattet habe“ (FR, 11.11.), eine merkwürdige Vorhaltung angesichts der Tatsache, dass die meisten Protestierenden französische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen sind. Die „Ambition Gleichheit“ (FAZ, 3.11.) ist für manche Leitartikler zur Falle geworden. Die Süddeutsche Zeitung erklärt zur Ursache des „kollektiven Erlebnisses der Zukunftslosigkeit“ eine so genannte „republikanische Selbstlähmung“: In Frankreich ist es aus Rücksicht auf den Staatsgrundsatz der ‘Egalité’ ein politisches Tabu, ethnische oder religiöse Bindungen offiziell überhaupt wahrzunehmen. Diese selbstverordnete Blindheit geht so weit, dass es sogar ausdrücklich verboten ist, einschlägige Statistiken aufzustellen. Darum lassen sich über die im Lande lebenden Minderheiten keinerlei gesicherte Aussagen treffen - niemand kann genau feststellen, welche Defizite die Integration dieser Minderheiten aufweist und wie diese durch gezielte Fördermaßnahmen zu beheben seien. (9.11.) In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist vom „republikanischen Mythos“ die Rede (12.11.). Ein ausführlicher Artikel, betitelt „Formale Gleichheit“, schließt: „Doch als Bewahrer des republikanischen Modells lehnt er [Dominique de Villepin] es ab, Einwanderer nach nationalen oder anderen Kriterien auszuwählen. ‘Seit zwei Jahrhunderten hat die Republik jedem einen Platz zugedacht, indem sie die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ganz nach oben stellte’, sagt Villepin.“ (FAZ, 10.11.) Die Zuspitzung auf die per Revolution erstrittenen Prinzipien hin hebt die Verbindung zwischen der französischen Geschichte und der Gegenwartspolitik besonders hervor. Es gibt zwar vereinzelt auch einen ironischen Umgang mit den Revolutionsmaximen, 24 im Wesentlichen aber beziehen sich die Vorstadtbewohner bzw. die „Sprecher“ der ethnischen und sozialen Problemen ausgesetzten Minderheiten vor allem auf den Egalitäts-Gedanken, interpretierten auch in diesem Rahmen Ausschließung und Arbeitslosigkeit. 25 Ein herausragender Indikator dafür, wie ernst die republikanischen Werte genommen und wie intensiv vor allem égalité und mit ihr mixité eingeklagt werden, sind die Texte französischer Rap-Gruppen, in denen 104 die Kritik an der Umsetzung republikanischer Werte und der Willen zu ihrer Realisierung Ausdruck verliehen wird. 26 Gewiss bestehen auch z.B. US-amerikanische oder deutsche Rapper in ihren Texten auf Einlösung von Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Der Bezug auf die Werte der Gleichheit, Solidarität bzw. Brüderlichkeit und der Freiheit ist jedoch gerade in Frankreich einfacher und stärker, weil sie eben als „Kern“ französischer Nationalität gelten. Da in den untersuchten Presseartikeln die Akteure kaum zu Wort kommen, tritt die Vielschichtigkeit dieser Auseinandersetzung in der „Philosophie der Banlieue“ nur selten in der Vordergrund der Frankreichwahrnehmung. Über den Anspruch, Gleichheit leben, fordern und erzeugen zu können, erfährt man nur pauschal etwas, vermittelt im Schlagwort blackblanc-beur, das für eine modernisierte, multikulturelle Republik steht: Als Vertreter der französisch-exkolonialen Minderheiten in der Regierung, Vermittler zwischen Banlieue und politischer Führung, im Herbst 2005 Ministre délégué pour la promotion à l’égalité des chances, wird z.B. Azouz Begag zitiert, der auf Sarkozys verächtliche Behandlung der Immigranten hin fragte: „Wo ist ‘la France black-blancbeur, das sie uns versprochen haben? ’.“ (SZ, 4.11.) Der Wunsch nach der Realisierung von Gleichheit ist verbal vielfach verbunden mit der Forderung nach Respekt. „Respekt“, eine Formel, die dem Wortschatz vorangegangener Generationen zu entstammen scheint, vielleicht typisch für das in Frankreich virulente Autoritätsdenken, meint für den Staatspräsidenten vornehmlich „respect de la loi“. Für die Vorstadtbewohner meint „Respekt“ Beachtung, Kommunikation zum Einen, Maßnahmen gegen Ausschließung und Abschottung zum Anderen. Respekt funktioniert in Gegenseitigkeit. Respekt ist etwas, das vom Staat eingefordert, aber auch in den Cités selbst unter den Betroffenen eingeklagt wird: Junge Männer beschimpften laut Le Figaro nach dem Tod eines 60-jährigen Banlieue-Bewohners die Jugendlichen ihres Quartiers, „nichts zu respektieren“ (9.11.). Der Rapper Rost konstatiert, die Kinder könnten ihre Eltern nicht mehr respektieren, da mit der Arbeit deren Autorität abhanden gekommen sei. Im Übrigen führt er ihre „Respektlosigkeit“ auf (staatliches) Desinteresse und soziale Veränderungen im Kontext der Moderne zurück: „Der Respekt der Kinder ist verloren. Sie merken, dass sich keiner für sie interessiert und dass in der modernen Welt kein Platz für sie ist.“ (SZ, 7.11.) Damit bestätigt er die Ausführungen Becks zur Globalisierung als internationaler Ursache für die Unruhen. 27 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird festgehalten, dass „Mehr Respekt! “ als Forderung nicht ernst genommen werde (9.11.), „Geld ist nichts, Respekt ist alles! “ zitiert Die Zeit (10.11.) in einer Überschrift die Banlieue-Parole „L’argent, c’est rien mais le respect c’est tout. Mieux vaut mourir que de vivre à genoux“, bekannt geworden durch den Rapper Alpha 25. „Eine Frage des Respekts“ wird ein Artikel in der tageszeitung überschrieben, in dem es um den „Demütigungskreislauf“ geht (12./ 13.11.). Zuvor allerdings wurden in derselben Zeitung recht konservative Töne angeschlagen, nämlich an das Pflichtgefühl der nach Frankreich Immigrierten appelliert und zum Vorbild die Anpassungsleistung von Einwanderern nach Deutschland genommen, v.a. ihr 105 Anknüpfen „an Kardinaltugenden wie Fleiß und Disziplin [...], um Respekt zu erlangen“ hochgehalten (5./ 6.11.). Insgesamt gilt: Man kann die Forderung zitieren, man kann sie vage verstehen - etwa als Hinweis darauf, dass die „Bewohner der Banlieues [...] verbindliche Signale“ brauchen, „dass sie gehört und verstanden werden“ (NZZ, 14.11.) -, eine analytische Kategorie bildet sie nicht. Sie aufgegriffen zu haben, bedeutet aber, in das „Banlieue-Denken“ eingestiegen zu sein, in ein Wertesystem, in dem materielle und ökonomische Verbesserungen in den Termini von Beachtung, Respekt und Ehre gedacht werden. 4. Analogien auf Gangster-Niveau Wie vereinzelt angedeutet, berichtete die Presse nicht nur neutral über den Ereignisverlauf und die Schäden und wurden nicht nur deutsche, französische und amerikanische Wissenschaftler, Soziologen und Politologen befragt und die Reaktion der politisch Verantwortlichen aus der Nähe betrachtet, mithin nur einer Sicht „von oben“ Raum gegeben, sondern fanden zeitweilig auch diagnostische Standpunktwechsel statt. Milieu und Alltag der Immigrantenfamilien wurden geschildert und die Interpretation der Ereignisse durch die Cité-Bewohner und Protestierenden selbst vermittelt, von Menschen also, deren Haltung und Meinungen in der überregionalen Presse üblicherweise weniger nachgespürt bzw. die sonst selten übernommen werden. Die Banlieue-Kultur des Rap und des Films fand gezielte Beachtung, besonders der Film La Haine (1995) wird bisweilen paradigmatisch zitiert. 28 In Porträts und Interviews kommen die Cité-Bewohner selbst zu Wort, darunter auch ihr Verhältnis zum Staat und Ihre Einschätzung der Lage. Interessant sind nun explizite und implizite Spiegelungen ihrer Sicht auf die Politik, mit der sie herkömmliche Denkstrukturen verändern. Eine „lascar“-Rhetorik geriet in den Blick, die der offiziellen Rhetorik mit besonderen Vergleichs- und Verkehrungsverfahren begegnet. Die eigentümliche Banlieue-Wirklichkeitsdeutung machte und macht sich wesentlich an Nicolas Sarkozy fest. Er gilt als derjenige, der mit seinen harschen Sprüchen und disqualifizierenden Vokabeln die destruktiven Massenaktionen Ende Oktober auslöste. Besonders übel genommen wurde ihm, dass er Teile der Vorstadtjugend erst als „voyous“ und „racaille“ bezeichnet hatte, im Juni in La Courneuve 2005 die Reinigung der Cité des 4000 mit dem Kärcher ankündigte, 29 schließlich im Oktober die beiden im Trafohaus verendeten Jugendlichen fälschlich bezichtigte, einen Baucontainer aufgebrochen zu haben und deswegen vor der Polizei geflohen zu sein. 30 Für die Vorstadtjugend war Sarkozy mit seinen Verbalinjurien, der Abschaffung der Nachbarschaftspolizei, der Senkung der Sozialausgaben und der Ankündigung „tolérance zéro“ Feind Nummer eins. Er war zugleich der Politiker, der am häufigsten die Ballungsgebiete besuchte und sich vehement für neue politische Maßnahmen der Integration wie z.B. die positive Diskriminierung, besondere schulische Hilfen etc. einsetzte. Das Gemisch erzeugte ein spannungsreiches 106 Verhältnis zwischen ihm und den Angesprochenen, das der Spiegel nach Ausbruch der Unruhen als „Hassliebe“ bezeichnete. „Es ist“, heißt es dort in allerdings etwas befremdlicher Formulierung, „als fühlten sich die Mustafas und Samirs und Bazoubas von einem der Ihren beleidigt und verraten.“ (14.11.) Schnell wurden die Unruhen zu einem Machtkampf unter gleich Unerbittlichen. Focus sah die Vorstadtgewalt als grausame Replik der Jugendlichen auf Sarkozys Verbalattacken, mündend in einen Kampf zwischen nahezu Gleichstarken: „Seine Sondereinheiten konnten dennoch nicht verhindern, dass allein in dieser Nacht 400 Autos, fünf Warenlager und 27 Busse abgefackelt wurden. Das machte ausnahmsweise auch Hardliner Sarkozy sprachlos [...].“ (Focus 45, 7.11.) Die Zeit ließ Amar Henni zu Wort kommen, Sozialarbeiter und gemeinsam mit Gilles Marinet Autor eines Buches mit dem sprechenden Titel Cités hors-la-loi - un autre monde, une jeunesse qui impose ses codes (Paris 2002): „Sie fühlen sich jetzt mit Sarkozy in einem Kräftemessen, das nur einer gewinnen kann.“ (10.11.) Das ambivalente Verhalten des Innenministers, selbst Kind von Einwanderern, wenn auch nicht aus ehemaligen Kolonien, hatte in der Tat zur Folge, dass die Jugend ihn teilweise auf Augenhöhe wahrnahm, anders als Dominique de Villepin, Jean-Louis Borloo oder Jacques Chirac, dies allerdings in nicht weniger ambivalenter Weise. Aspekte seines Handelns bzw. seine Charakterisierung mussten dafür Charakteristika der Banlieue-Welt bzw. des Banlieue-Imaginariums angepasst werden. Sein spontanes, auch ungehobeltes, als sowohl schlau wie brutal verstandenes Agieren auf der politischen Bühne erleichterte diesen Vorgang. Er wurde einerseits in der Rolle eines rücksichtslosen Ganoven gesehen, andererseits nicht nur als „enfant terrible“ (FR, 7.11.) der französischen Politik, sondern auch als „enfant“ tout court bzw. als Adoleszenter, so in der tageszeitung. Die Hypothese einer Entsprechung zwischen seiner Geisteshaltung und der der typischen Vorstadtjugend, der „enfants des quartiers difficiles“, 31 wird direkt am Kärcher-Ausspruch festgemacht und recht detailliert ausgemalt: Nach dem Kärchern ist vor dem Kärchern. Nach dem Autowaschen ist vor der Autowäsche; nach dem Duschen ist vor dem Duschen: ein im Alltag geronnenes Spannungsverhältnis, das es auszuhalten gilt. Und gesellschaftlich gilt es, das ‘Andere’ auszuhalten, man muss sich mit ihm arrangieren - und es längerfristig integrieren. - Die Fantasie, zum Kärcher zu greifen, entspricht genau jener ohnmächtigen, präpubertären Wut der Jugendlichen in den Pariser Vorstädten, sich der unbequemen, benachteiligenden Verhältnisse von einem Tag auf den anderen zu entledigen. Ein Rohr in der Hand halten, aus dem ein alles vernichtender, kompressionsgestählter Hochdruckstrahl schießt - eine männliche Allmachtsfantasie, äquivalent zu den juvenilen Potenzallüren, mit der Dreizehnjährige sich ihrer selbst zu vergewissern suchen: Ich kann was! , Ich will was! , Ich lass mir nichts mehr bieten! (9.11.) Die Titulierung von Politikern als Kriminelle zum Zweck der wenigstens verbalen Verkehrung der Machtverhältnisse ist bekannt und in der sogenannten Subkultur der Banlieue gang und gäbe. Wir finden darin die Prinzipien der Umkehrung und der Familiarisierung, die im größeren Umfang für den Karneval eine konstituie- 107 rende, generell gesellschaftlich eine entlastende Funktion haben. Dass die Politiker selbst tief in Mauscheleien und Korruption verstrickt sind, ihre Kriminalität also lediglich auf anderem Niveau ausüben, gehört zu den rhetorischen Antidots gegen Subordinationsgefühle. 32 Der bereits zitierte Rap Rêv’S’olution beginnt etwa mit den Worten: „La jeunesse erre dans les rues sans but./ Les politicards au gouvernement s’en battent,/ trop pris par leurs propres magouilles.“ Wo die Extreme einander nahegerückt werden, stehen sich die beiden Sozialgruppen - die der politischen Elite und die der stets der Delinquenz verdächtigen Vorstadtbewohner - nur formal noch nach. Die in der Frankfurter Rundschau aus Libération übernommene Rede vom „Bandenkrieg in der Regierung“ (3.11.) anlässlich der Divergenzen zwischen Sarkozy und de Villepin spiegelt diese Optik. Die französische Kulturzeitschrift Technikart ging allerdings einen entscheidenden Schritt weiter: Mehdi Belhaj Kacem gesteht in La psychose française, sich zunächst darüber aufregt zu haben, dass Sarkozy in Technikart mit dem unangefochtenen Helden der Banlieue-Kultur verglichen wurde, der Figur des rücksichtslos kriminellen Aufsteigers Tony Montana aus dem Film Scarface (1983), gespielt von Al Pacino. Dann aber öffnete ihm die inszenierte Bewunderung der „racailles“ für den als Tony Montana verkleideten Sarkozy die Augen für dessen Kindlichkeit. 33 Die Gewaltakte der Banlieue hätten schließlich dazu gedient, Sarkozy, der die Vorstadtjugend als Banditen bezeichnet hätte, ihrerseits zum homo sacer „im Bann“ zu erklären. 34 In dieser Logik erscheinen die Gewalttaten der Cité-Jugend als Konsequenzen ihrer Verfolgungs- und Ausgrenzungstaktik, die auch beabsichtigte, der Polizei, deren oberster Dienstherr Sarkozy war, die Macht über die Cités zu nehmen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung interviewt, deutete Belhaj Kacem die Ausschreitungen in diesem Sinne als Kampf von sehr verschiedenen Menschen, dem Politiker und dem „lascar“, die derselben „imagerie du bandit, du gangster“ 35 anhängen, beide vom Bild des hartgesottenen Kriminellen fasziniert sind, dessen Weg in die Legalität über die Illegalität führt: Man hat den Eindruck, Sarokzy habe den Artikel [in Technikart, Anm. d. Verf.] gelesen und noch eins draufsetzen wollen: Sarkozy als Held im Gangsterspiel der Vorstädte. Die Antwort der Jugendlichen hat nicht auf sich warten lassen. Sie nahmen das Angebot des Ministers, der sich verbal auf ihr Niveau herabbegeben hat, an und ließen sich aufs Gangsterspiel ein. (FAZ, 10.11.) Dieser Standpunkt offenbart mehr, als dass dem Pathos z.B. der Präsidenten- Rede das Anti-Pathos des Banlieue-Verlan oder der Impertinenz mancher Äußerungen von Nikolas Sarkozy die verbalen und tätlichen Aggressionen der Protestierenden entsprechen. Die Diffamierung Sarkozys als Kriminellem zielt auf die Aufhebung der Gleichungen Paris = Zentrum = Vernunft, Banlieue = Außen = Barbarei. Seine „Herabstufung“ zum Kind spiegelt den entsprechenden Diskurs der Politik. Die in ihrer Ehre zu Recht oder Unrecht gekränkten Vorstadtbewohner reagieren mit Respektsverweigerung. Folglich offenbart der Transfer des Banlieue- Blickpunkts in die „seriöse“ Berichterstattung sowohl Äquivalenzen wie Schief- 108 stände der Kommunikation und gegenseitigen Wahrnehmung: Was erzielt Jacques Chirac, wenn er die Akteure wörtlich als Kinder der Republik anspricht - was vermittelt eine Überschrift wie jene in der Zeit: „Frankreichs Ghetto-Kinder proben den Aufstand? “ (10.11.) Während der letzte Punkt bezeugt, wie sich in der Presse das Frankreichbild dadurch erweiterte, dass zuweilen ein Fenster zum Banlieue-Denken geöffnet wurde, zeigt die Parallellektüre der Berichterstattung in Bezug auf die zwei kardinalen Ausgangspunkte der historisch kontextualisierenden Interpretationen - den der Wertorientierung (égalité, respect) und den des Handlungsmusters (aktiver Protest) -, zu wie unterschiedlichen Feindeutungen sie führen können. Sichtbar wird auch, wie z.B. die übergeordneten Prinzipien Gleichheit und Respekt diskursiv voneinander abweichend eingesetzt und je nach politischem und sozialem Standort different verstanden werden. Teilweise sind dabei im Bemühen, an bekannte Interpretamente anzuknüpfen, auch innerhalb eines Presseorgans Kommentierungsvarianten zu bemerken, die nicht nur auf die Meinungsskala innerhalb einer Zeitung oder Zeitschrift, sondern letztlich auch auf den unabgeschlossenen Erkenntnisprozess in Bezug auf Ursachen und Umstände der Banlieue-Unruhen zurückgehen. In Ermangelung einfacher Erklärungen liefern die untersuchten Presseorgane eine Vielzahl von Erläuterungen zur sozialen, politischen, konfliktsoziologischen, ethnischen und kulturellen Lage Frankreichs, die sehr unterschiedlich ausfallen können. Einig ist man sich bis auf Ausnahmen zum Einen darin, dass die Vorstädte nicht durchweg Hort des Verbrechens sind, wie an anderer Stelle verkündet, zum Anderen, dass „französische Zustände“ Deutschland nicht bevorstehen. 5. Ausblick Frankreich ist damit auch in Bezug auf das Thema Integration weiter vertraut-fremder Nachbar, ein Land, für das, wie zu erfahren, die Cités selbst erst verständlich werden sollen: Interessiert blickte 2007 die Presse auf den „Paradigmenwechsel“ 36 in Frankreich, der sich u.a. in Gestalt der Staatssekretärin für Stadtentwicklung Fadela Amara, „Kind der banlieue“ und ehemalige Vorsitzende von Ni putes ni soumises geltend machen soll, welche erklärte, „[de] rendre plus lisibles les politiques de la ville“, da sie zu undurchsichtig seien. 37 Die Unruhen sind beendet, die Aufruhr ist es nicht: 26 Komitees sind im November 2007 aus der Association Ni putes ni soumises ausgetreten, neue Polemiken greifen um sich - in der Regierung nach Amaras unbotmäßigen Äußerungen zu Gen-Tests und ausgelöst durch Banlieue-Bewohner, die sich von ihr verraten fühlen. 38 Der Banlieue-Protest der neu gegründeten Insoumises ist jetzt weiblich und beruft sich auf: égalité, laïcité, mixité und respect ... 109 1 Jacques Chirac: Déclaration aux Français. Palais de l’Elysée, 14.11. 2 Auf das Tor hatte der örtliche Bürgermeister im Comic-Stil eine Warnung malen lassen. Sie lautete: „L’électricité, c’est plus fort que toi.“ (vgl. Focus 45, 7.11.). 3 Herangezogen wurden alle Ausgaben vom Beginn der Berichterstattung bis etwa Mitte November in folgenden Medien: Die Zeit, Focus, Spiegel, Frankfurter Rundschau (FR), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), tageszeitung (taz), teilweise Die Welt, Neue Zürcher Zeitung (NZZ), ergänzend Spiegel-Online sowie Le Figaro, Libération, Le Monde. Quantitativ wurden mehrere hundert Artikel ausgewertet, da zeitweilig in den Zeitungsausgaben mindestens drei, z.T. aber erheblich mehr Artikel erschienen. Soweit nicht anders angegeben beziehen sich die Daten auf das Jahr 2005. 4 Zu erwähnen ist besonders ein fingierter Brief einer Französin an die Deutschen in der tageszeitung, dessen Rechtschreibfehler („Chèrs amis“, „Beatrice“) auf den fiktiven Charakter schließen lassen. 5 Vgl. auch die Äußerungen E. Todds in Le Monde: „Je suis convaincu [...] que le phénomène est typique de la société française. Les jeunes ethniquement mélangés de Seine- Saint-Denis s’inscrivent dans une tradition de soulèvement social qui jalonne l’histoire de France.“ (Le Monde, 13.11. [http: / / www.lemonde.fr/ web/ imprimer_element/ 0,40-0@2- 3224,5; 24.10.2007]) 6 Philippe Bernard in Le Monde über die Akteure: „Qu’ils le veuillent ou non, ils font de la politique. Comme les agriculteurs, comme les marins de la SNCM, comme les étudiants en colère.“ (18.11.). 7 Vgl. z.B. die Interviews mit M. Wieviorka (Die Welt, 11.11.) und E. Todd (FAZ, 12.11.). 8 D. Cohn-Bendit selbst geht auf Fragen nach einer Verbindung zwischen Mai 1968 und November 2005 in den Interviews mit Knut Pries und Philipp Wittrock nicht ein (vgl. FR, 8.11.; Spiegel-Online, 5.11.). 9 Der Vergleich zwischen den Banlieue-Unruhen und der Intifada wird gezogen in: Die Welt (5.11.; Überschrift: „Eine Intifada in Europa“), Spiegel (45, 7.11.), Focus (45, 7.11.; Titel: „Die schwarze Vorstadt-Intifada“), Süddeutsche Zeitung (7.11.; Titel: „Die Vorstadt-Intifada“), mit Fragezeichen in der tageszeitung (12./ 13.11.: „Intifada in Eurabia oder klassische Sozialrevolte? “). 10 Der durch schwere Kämpfe zwischen Polizei und Banlieue-Bewohnern veranlasste friedliche Marsch durch Frankreich wurde am 15. Oktober 1983 von fünfzehn Jugendlichen aus Marseille angetreten. Ihm schlossen sich weitere Protestierende an. Geschätzte 100 000 Personen zogen im Dezember 1983 durch Paris, eine Delegation wurde schließlich von François Mitterand empfangen. 11 Vgl. in diesem Sinne auch die Bemerkung von Philippe Bernard: „Cynisme ou retour du refoulé, le recours par le premier ministre à ‘la loi de 1955’ sur l’état d’urgence, apparaît, au-delà du débat sur son efficacité pour ramener l’ordre, comme une provocation dont les effets psychologiques et politiques sur les millions de Français issus d’Afrique noire, du Maghreb, et singulièrement d’Algérie, n’ont pas fini de se faire sentir.“ (Le Monde, 19.11.) 12 Vgl. Le Monde (10.11.): „on nous fait vivre ce que nos parents ont subi en octobre 1961 avec Papon comme préfet de police. Ça ne ramènera pas le calme, mais ne fera que renforcer la détermination ou la fuite en avant. [...] On a ethnicisé la question ou on l’a enfermée dans une dimension religieuse. L’aspect historique a été occulté, il n’y pas d’articulation avec le passé colonial.“ 13 Vgl. Titus Simon: „Wir haben hier keine jugendliche Protestkultur wie in Frankreich“ (taz, 5./ 6.11.). 14 Die Banlieue-Unruhen verliefen äußerlich ebenfalls nach diesem Muster, der massiven Gewalt gingen zunächst Schweigemärsche für die getöteten Jugendlichen voraus (vgl. FR, 1.11.). 110 15 Mehdi Belhaj Kacem: La psychose française. Les banlieues: le ban de la République. Paris, Gallimard, 2006, 14. Vgl. auch l. c., 63: „Qu’est-ce qu’un événement (mai 68 par exemple)? Le moment où la loi est suspendue pour tous. (Herv. im Orig.) La psychose française wurde im Dezember 2005 und Januar 2006 als essayistischer Kommentar zu den städtischen Unruhen verfasst (vgl. l. c., 9sqq., 66). 16 Vgl. hierzu die Paraphrasierung der Position von Villepin in der FAZ, 10.11. 17 Abdelmalek Sayad spricht von „dissymétrie ou inégalité dans les rapports de force qui sont à l’origine et sont constitutives du phénomène migratoire“ („Introduction“ (1991), in: L’immigration ou les paradoxes de l’altérité. 1. L’illusion du provisoire. Paris, Raisons d’Agir Editions, 2006, 9-30, 19). 18 Ausnahmen bilden z.B. ein Artikel von Michael Kläsgen, „Abkehr von der Gleichheit“ über eine Quotenregelung für Studierende aus den „Zones d’éducation prioritaires“ der Ecoles Science Po Paris und Lille und der vielbeachtete Kommentar von Ulrich Beck in der Süddeutschen Zeitung vom 15.11., erschienen unter dem Titel „Revolte der Überflüssigen“, in dem Beck nicht nur die französische Innen- und Gesellschaftspolitik analysiert, sondern die Unruhen vor allem auch aus Verschiebungen der globalen Ökonomie ableitet. 19 Cf. FAZ, 5.11. („Integrationsmodell in Flammen“): „Welche Zukunft, welche Schicksalsgemeinschaft will die Republik der in Vorstadtghettos versammelten Einwandererjugend anbieten? “; cf. Spiegel-Online, 4.11.2005, Überschrift: „Rebellion gegen die Grande Nation“. 20 Cf. die französische Version des Interviews: „[...] je ne vois rien dans les événements eux-mêmes qui sépare radicalement les enfants d’immigrés du reste de la société française. J’y vois exactement le contraire. J’interprète les événements comme un refus de marginalisation. Tout ça n’aurait pas pu se produire si ces enfants d’immigrés n’avaient pas intériorisé quelques unes des valeurs fondamentales de la société française, dont, par exemple, le couple liberté-égalité. [...] Je lis leur révolte comme une aspiration à l’égalité.“ (Le Monde, 13.11.) 21 Cf. Die Zeit, 10.11., Art. Raus aus dem Ghetto: „Diese Umstände [Drogenhandel als Wirtschaftszweig, Quelle von Gewalt und allgegenwärtiger Kriminalität, Anm. d. Verf.] sind der Bewahrung traditioneller Werte so wenig förderlich wie der Übernahme neuer - zumal das Versprechen von ‘Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ angesichts einer dauerhaften sozialen Abseitsstellung wenig glaubwürdig wirkt.“ - Cf. das Interview von Michel Pialoux in der tageszeitung; Frage von Dorothea Hahn: „Ist das eine Armutsrevolte? Oder eher eine Revolte von Jungen, die so von den Werten der Republik überzeugt sind, dass sie jetzt die Integration für sich selbst gewaltsam einklagen? “, Antwort M.P.: „Beides. Es gibt einen Graben zwischen dem, was man den Einwanderern versprochen hat, und dem Elend, in dem viele leben.“ (taz, 12./ 13.11.). 22 Jacques Chirac, Déclaration aux Français. Palais de l’Elysée, 14.11.: „Le devoir de la République, c’est d’offrir partout et à chacun les mêmes chances.“ 23 Cf. die Zusammenfassung des Textes aus Ha’aretz inklusive einiger Zitate auf der homepage der Union juive française de la paix (UJFP) (http: / / www.ujfp.org/ modules/ news/ article.php? storyid=16; 12.11.2007). (23.11.2005); cf. hierzu auch FAZ, 3.12. 24 „‘Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’. Ich habe das Recht herumzuspazieren, wo ich will“, wird die eigene Begründung Xavier M.s „seiner Anwesenheit bei den nächtlichen Krawallen vor Gericht“ von der Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert, eines achtzehnjährigen arbeitslosen Schulabgängers ohne Abschluss, wohnhaft bei seiner allein erziehenden Mutter, selbst Vater eines Kindes, zweimal zuvor wegen Diebstahl und Gewalt gegen Polizeibeamte straffällig geworden, wegen Gewalttätigkeit während der Unruhen zu sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, davon fünf auf Bewährung (FAZ, 7.11.). 25 Cf. z.B. Libération, 3.11. 111 26 Cf. Dietmar Hüser: Eine RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur. Köln, Weimar, Wien, Böhlau, 2004. Cf. den Rap der Gruppe Daïland Crew (http: / / www.grizzmine.com/ video-Da%EFland-Libert%E9+egalit%E9+Fraternit%E9-1688.html; 12.11.2007 oder http: / / profile.myspace.com/ index.cfm? fuseaction=user.viewprofile&friendID=129535515 27 Zur Forderung nach Respekt im Sinne von gezielter Wahrnehmung und Aufwertung der Positionen von Banlieue-Bewohnern cf. auch Le Monde,10.11. („Les cris du ghetto“). 28 Cf. z.B. FR, 17.11; Le Figaro, 8.11. („Contre la haine, la République“). 29 Sarkozy sprach am 29. Juni aus Anlass des Todes eines elfjährigen Jungen, der im Zusammenhang mit einer Schießerei zwischen Dealern zehn Tage zuvor ums Leben kam, in La Courneuve vor und mit den Einwohnern über Arbeitsperspektiven, Schule und Sicherheit in der defavorisierten Vorstadt. 30 Cf. dazu FR 1.11., 3.11. 31 Jacques Chirac, Déclaration aux Français. Palais de l’Elysée, 14.11. 32 Vgl. auch die Bezeichnung Sarkozys als „racaille“: „Sarkozy, la racaille de l’Elysée“ (http: / / vegantekno.free.fr/ edito.html#1105 (11.11.2005) [16.11.2007]) 33 Mehdi Belhaj Kacem: La psychose française, op. cit., 27: „Les auteurs de l’article allaient demander à des jeunes-de-banlieue ce qu’ils pensaient, et ils disaient, à peu près: ‘ouais, Sarko, on l’aime bien, il est ‘comme nous’, c’est un dur, il a des c..., etc. C’est un vrai gangster, un vrai Tony Montana.’ Le montage m’avait vraiment agacé sur le coup; je me suis dit, bon, là, il serait bon qu’ils arrêtent les enfantillages, nos amis de Technikart. Mais l’enfantillage n’est pas une maladie isolée de ce magazine. - Le prix à payer est désormais voyant. Prenez Nicolas Sarkozy: un grand enfant de cinquante ans, dont la montée en graine a quelque chose de transfini, avec des attitudes de gosse sans cesse pris en faute, regard biaisé, et une vision d’adolescent abreuvé de télévision et de jeux - exactement ce qu’on reproche à ceux des banlieues.“ 34 Vgl. loc. cit., 29. Belhaj Kacem bezieht sich hier auf Giorgio Agambens Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita. Torino, Einaudi, 1995. 35 Mehdi Belhaj Kacem: La psychose française, op. cit., 25. 36 Cf. Sabine Riedel: „Einwanderung: das Ende der Politik der Chancenungleichheit“, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 38, (Beilage zu Das Parlament), 17.9.2007. 37 http: / / www.saphirnews.com, 8.11.2007 [22.11.2007]. 38 Cf. das Manifest der Insoumis-es: http: / / www.insoumises.org/ (13.11.2007) [22.11.2007]. Résumé: Isabella v. Treskow, La révolte des banlieues en 2005 dans la presse de langue allemande. A la très grande surprise des Allemands, des événements de violence urbaine graves ont déclenché en France, „au cœur de l’Europe“, au début du mois de novembre 2005 dans les banlieues de Paris, de Lyon, de Bordeaux et d’autres villes françaises, aussi de taille moyenne, ainsi qu’à Bruxelles. L’article étudie les réactions des plus importants magazines et journaux allemands du début du mois jusqu’à l’arrêt des incidents vers le 17 novembre. Les journaux et revues analysés sont: Spiegel, Focus, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, tageszeitung, et en partie aussi Die Welt, Neue Zürcher Zeitung, Spiegel-Online, Le Figaro, Le Monde, Libération. L’analyse se fait dans le cadre de trois points de repère: 1) le reportage par rapport aux stéréotypes de la France comme pays du calme et du luxe (Douce France, savoir vivre), 2) le mythe de l’égalité et la nouvelle formule du „respect“, 3) la mise en parallèle des héros du cinéma, des criminels ou nommés criminels de la banlieue et des „gangsters“ de la politique nationale, avant tout Nicolas Sarkozy, à l’époque ministre de l’intérieur, dans la perspective „banlieusarde“.