eJournals Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur 1/1

Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur
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expert verlag Tübingen
Unter einem Digitalen Zwilling (Digital Twin) wird gemeinhin ein virtuelles Abbild eines physischen Elements verstanden. Solche virtuellen Abbilder können in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten mit sehr unterschiedlichen Charakteristiken und Einsatzbereichen – und zu stark unterschiedlichen Preisen. Daher lohnt es sich genauer hinzuschauen, was sich im Einzelfall hinter dem Begriff des Digitalen Zwillings verbirgt und was der Anwender erwarten kann. Durch eine Weiterentwicklung von Spieletechnologie und den Einsatz von KI werden die Kosten und Hürden für die Erstellung von digitalen Zwillingen signifikant reduziert und damit eine skalierbare Lösung für viele Anwendungsbereiche geschaffen.
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KI-gestützte Erstellung digitaler Zwillinge von Infrastrukturanlagen

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Ilka May
1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 221 KI-gestützte Erstellung digitaler Zwillinge von Infrastrukturanlagen Dr. Ilka May LocLab Consulting GmbH, Darmstadt, Deutschland Zusammenfassung Unter einem Digitalen Zwilling (Digital Twin) wird gemeinhin ein virtuelles Abbild eines physischen Elements verstanden. Solche virtuellen Abbilder können in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten mit sehr unterschiedlichen Charakteristiken und Einsatzbereichen - und zu stark unterschiedlichen Preisen. Daher lohnt es sich genauer hinzuschauen, was sich im Einzelfall hinter dem Begriff des Digitalen Zwillings verbirgt und was der Anwender erwarten kann. Durch eine Weiterentwicklung von Spieletechnologie und den Einsatz von KI werden die Kosten und Hürden für die Erstellung von digitalen Zwillingen signifikant reduziert und damit eine skalierbare Lösung für viele Anwendungsbereiche geschaffen. 1. Digitaler Zwilling - ein 3D Modell mit Struktur Ein Digitaler Zwilling wird allgemein als intelligente, digitale Repräsentation eines realen materiellen oder immateriellen Objekts beschrieben. Intelligent ist die Bezeichnung für die Fähigkeit von digitalen Zwillingen, Prozesse abzubilden, zu ermöglichen und zu optimieren. Digitale Zwillinge helfen bei der Planung, Realisierung, Instandhaltung, Betrieb, Erweiterung, Qualitätskontrolle und mehr. Das größte Potenzial von digitalen Zwillingen liegt unbestritten im produzierenden Gewerbe. Das volle Potenzial digitaler Zwillinge entfaltet sich, wenn Zwilling und physisches Abbild zu einem sogenannten bidirektionalen System werden, d.h. die beiden Komponenten tauschen Informationen miteinander aus und können so zu einem sich selbst steuernden System werden. Die Verknüpfung verschiedener digitaler Zwillinge und ihrer realen Gegenstücke innerhalb einer einzigen Produktionskette wird auch als digitaler Faden („digital thread“) bezeichnet. Mit Hilfe des digitalen Fadens ist der digitale Zwilling eines der vielversprechendsten Optimierungswerkzeuge für größere Unternehmen. Im hier vorgestellten Zusammenhang wird der Definition eines digitalen Zwillings die räumliche Komponente hinzugefügt, d. h. unter einem Digital Twin wird eine digitale, dreidimensionale, objektbasierte und realitätsgetreue Kopie des Objekts verstanden. Abbildung 1: Objekt-basiertes Modell mit Datenverknüpfung 1.1 Objekte machen den Unterschied Mit Building Information Modelling (BIM) haben 3D Modelle von geplanten Bauwerken Einzug in die Welt des Planens und Bauens erhalten. Durch BIM Modelle plant die Bauwirtschaft „endlich“ mit Objekten das Grundprinzip Geographischer Informationssysteme oder des objekt-basierten Modellierens und daher kein wirklich neues Konzept, aber im Bausektor lange verkannt. Was früher im Planungstool nur eine weiße Linie auf schwarzem Grund war, die mit etwas Glück auf einem sinnvoll benannten Layer gezeichnet war, weiß heute von sich selber, dass sie z.B. eine Starkstromleitung ist. Objekte ermöglichen u.a. die Verknüpfung und Verlinkung von Attributen und anderen Informationen, die außerhalb des Geometrie-Modells verwaltet werden. Dieses simple Prinzip sorgt für einen veränderten Umgang mit Daten und Informationen im gesamten Lebenszyklus von Bau- KI-gestützte Erstellung digitaler Zwillinge von Infrastrukturanlagen 222 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 werken und technischen Anlagen, auch während der Betriebs- und Produktionsphase. Die Semantisierung von 3D Modellen ermöglicht vielfältige Einsatzbereiche digitaler 3D Modelle für Planung, Visualisierung, Steuerung, Training, Wartung, Prozessoptimierung und mehr. Informationen, die bislang in komplexen Baumstrukturen, technischen Plätzen oder Systemdatenbanken nur einer geringen Anzahl technisch versierter Personen zugänglich waren, können nun - unter Einhaltung aller erforderlichen Datensicherung- und Zugriffsregelungen - intuitiv durch Ansteuerung des betreffenden Objekts oder Raums im 3D Modell gefunden werden. Dadurch wird der Digitale Zwilling zum Rückgrat des Daten- und Informationsmanagements. Interessant wird es, wenn der digitale Zwilling mit Hilfe des Internet der Dinge (IoT) zum Leben erweckt wird. Wo ein digitaler Zwilling Daten speichert, anzeigt und verwertet, greift das IoT in die Realität ein. So kann mithilfe des IoT über einen digitalen Zwilling z.B. die Temperatur der Heizung in einem Büro geprüft und verändert werden oder eine Maschine in einer Fabrik ferngesteuert. Der digitale Zwilling dient hier als visuelle Schnittstelle für das IoT, über den einerseits Daten erfasst (Wie warm ist es? ) und andererseits Kontrolle ausgeübt werden kann (33°, zu warm, bitte regulieren! ). Im Gegensatz zu reinen Dashboard-Ansichten typischer Asset Management Systeme bietet der raumbezogene Digitale Zwilling einen intuitiven und informationsreichen Kontext: der reale Raum. Denn die Aussage, dass die Temperatur von einem Sensor mit einer bestimmten Nummer in einem Raum mit einer bestimmten Bezeichnung 33° beträgt, ist von begrenztem Nutzen, wenn es darum geht, dass aus dieser Aussage Entscheidungen abgeleitet werden müssen. Der Raumbezug gibt wichtige Zusatzinformationen: was ist die Nutzung des Raums, wie viele Personen befinden sich darin (Personensensor), wo ist er, was befindet sich in den benachbarten Räumen, etc. Abbildung 2: raumbezogener Kontext durch den Digitalen Zwilling 2. Potenzial Digitaler Zwillinge Die Vision, ein funktionierendes digitales Zwillingssystem zur Modellierung und Analyse von Betriebs- und Zukunftsszenarien anbieten zu können, ist in vielen Industriezweigen eine Selbstverständlichkeit. Der Bausektor mit den komplexesten und variabelsten Szenarien ist jedoch ein riesiger Prototyp von Einzelprojekten. Gerade hier birgt der digitale Zwilling ein enormes Potenzial für mehr Weitsicht und eine bessere Grundlage für Investitionsentscheidungen. In der Planung wird zunehmend in 3D und mit vordefinierten Objekten gearbeitet. Unter dem Stichwort „BIM“ werden die Prozesse der Datenerstellung, -verwaltung und -nutzung in digitale Prozesse überführt. Dadurch erhofft sich die Branche Effizienzgewinne und Einsparungen bei Neu- und Umbauprojekten. Ein noch viel größeres Potenzial liegt jedoch in der Digitalisierung von Bestandsinformationen, um Produktionsprozesse, Wartungsvorgänge und Betriebsabläufe von bestehenden Anlagen und Bauwerken zu optimieren. Das größte Potential von digitalen Zwillingen liegt in naher Zukunft unumstritten in der Produktion. Mithilfe des „digitalen Fadens“ stellt der digitale Zwilling eine der vielversprechendsten Optimierungshilfen für größere Unternehmen dar. Er schafft Bindeglieder zwischen einzelnen Produktionsschritten und ermöglicht eine übergreifende Anpassung und Überwachung der Produktion. Für eine solche Art von System ist die Anbindung von künstlicher Intelligenz und machine learning Voraussetzung. Ein weiterer Vorteil digitaler Zwillinge ist die komplette Handlungs- und Risikofreiheit innerhalb der digitalen Modelle. Risikobehaftete Maßnahmen können ohne Konsequenzen einfach durchgeführt werden und anschließend, falls sich die Maßnahme bewährt hat, weitgehend risikofrei in die Realität übertragen werden. Oft wird der digitale Zwilling mit einem Cloud Service verbunden. Es scheint, als würden viele Unternehmer sehr großes Potential in der Verbindung zwischen digitalen Zwillingen und Cloud Services sehen. Hierbei geht es darum, den digital thread online zugänglich und einfach erweiterbar zu machen. Der digitale Zwilling ist für viele Experten auf dem Gebiet neben dem IoT einer der einflussreichsten Faktoren in der kommenden Industrierevolution Industrie 4.0. So setzt u.a. die CTO der Deutsche Bahn, Prof. Sabina Jeschke, voll auf den Digitalen Zwilling: “ Ich habe ein klares Ziel, eine Vision […] ‒ ich will unsere gesamte Bahnwelt, mit der Abbildung aller Komponenten, Akteuren, Einflussfaktoren und Beziehungen, in einer Art „physikalisch korrektem Computerspiel“ nachbilden. Ich will einen Digital Twin nicht von einzelnen Komponenten oder einem einzelnen ICE4, sondern von dem gesamten vernetzten und vermaschten System. Echtzeitfähig. Denn dann wäre ich in der Lage, völlig ohne Risiko, mit unseren Systemen zu experimentieren, Extremsituationen und völlig neue Prozesse zu simulieren - basierend auf den Daten der „realen Welt“.[1]. KI-gestützte Erstellung digitaler Zwillinge von Infrastrukturanlagen 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 223 3. Anwendungsfälle für Digital Twins Die Einsatzbereiche Digitaler Zwillinge sind enorm vielfältig: von der politischen Mediation bei der Planung großer Bauvorhaben über Schulungen in einer virtuellen Umgebung bis zur Prozess- und Funktionsoptimierung von Maschinen und Anlagen. a. Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation Durch die Visualisierung von heutigem Bestand und verschiedenen Planungsvarianten helfen digitale Echtzeitmodelle Anwohnern und Betroffenen, die Auswirkungen geplanter Veränderungen zu verstehen. Es können ganze Stadtviertel oder Stromtrassen bis zu einzelnen Bauvorhaben oder Verkehrs- oder Klimaschutzmaßnahmen verständlich, real und interaktiv dargestellt werden. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben im April 2020 eine geplante Anwohnerinformationsveranstaltung am digitalen Modell während Corona-Zeiten kurzerhand als Online- Veranstaltung durchgeführt und viel Lob und Dank dafür erhalten. Abbildung 3: Anwohnerinformationsveranstaltung mit digitalem 3D Modell - online vorgestellt b. Bestandsmodellierung und Planungsoptimierung Bauherren stehen häufig vor der komplexen und schwierigen Aufgabe, sich aus mehreren Planungsvarianten für eine Vorzugsvariante zu entscheiden. Im digitalen Zwilling können effizient Vergleiche verschiedener Varianten angestellt werden. Weiterhin kann durch den Dialog der Fachleute und Experten aus verschiedenen Disziplinen am Modell die Planung optimiert werden. c. Simulation und Prozessoptimierung Bei diesen Anwendungsfällen spielen die Objekte und Informationen im Digitalen Zwilling eine wichtige Rolle. Durch sie können Produktions- und Logistikvorgänge effizienter gestaltet werden und z.B. der Arbeitsschutz der Mitarbeiter verbessert werden. Ersatzteile können durch Klicken im digitalen Modell bestellt werden, Abläufe und Prozesse am digitalen Zwilling geplant und simuliert werden. Semantische Digital Twins können mit Simulatoren oder Datenanalyse-Software wie Apache Kafka verknüpft werden. Damit können am digitalen Modell Szenarien durchgespielt werden und wichtige Erkenntnisse über „was wäre wenn..“ gesammelt werden. So werden zeit- und ressourcenintensive Aktivitäten besser plan- und kontrollierbar. d. Asset und Facility Management Fast alle Betreiber großer Portfolien von Anlagen und Gebäuden verfügen über eine große Menge an Daten und Informationen in verschiedenen Formaten und Qualitäten. Über eine Verlinkung am digitalen Zwilling sind diese Daten nicht nur schneller auffindbar, sondern sie können durch den sichtbaren räumlichen Zusammenhang am digitalen Modell auch andere Erkenntnisse bereitstellen. In der Kombination mit Echtzeitdaten aus Sensorik und IoT können aus den Daten Anomalien erkannt werden, die auf mögliche Probleme und einen Bedarf für Wartungsmaßnahmen schließen lassen. e. Training und Lernen Wer sich mit Virtual Reality (VR) in 3D-Welten bewegt, lernt leicht und spielerisch. Egal ob alleine oder im Wettbewerb, das Training am virtuellen Modell steigert die Motivation, bringt große Lernerfolge und bietet gleichzeitig mehr Sicherheit. Am digitalen Modell sind aktive und passive sowie gerichtete und ungerichtete Trainingsanwendungen möglich, die mit geringem Aufwand konfiguriert und durchgeführt werden können. Abbildung 4: Digitaler Zwilling eines Wasserkraftwerks mit Live-Datenanbindung 4. Herausforderungen und Hürden der Skalierung Viele Eigentümer und Betreiber großer Anlagenportfolios sind mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert, egal ob es sich um Produktionsstätten, Verkehrsinfrastruktur oder andere Anlagen handelt: sie verwalten große Anlagenportfolios über einen weiten geografischen Bereich. Sie stehen unter zunehmendem Druck, Kosten und Kohlenstoff zu reduzieren sowie eine Vielzahl von Anforderungen und Vorschriften zu Energieeffizienz, KI-gestützte Erstellung digitaler Zwillinge von Infrastrukturanlagen 224 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Klimaschutz, Nachhaltigkeit, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz etc. einzuhalten. Sie müssen in immer komplexeren IT-Strukturen arbeiten, die oft historisch gewachsen sind und siloartige Daten verwalten. Die Fähigkeit, wichtige Informationen schnell zu finden, zu interpretieren und darauf basierend Entscheidungen zu treffen, ist aufgrund der Komplexität der Systeme oft eingeschränkt. Die fehlende Integration von Daten und Systemen schränkt ein gutes Verständnis für den Zustand der Anlagen ein. Es fehlt an räumlichen / geometrischen Inhalten. 3D- Konstruktionsmodelle sind nur von den neuesten Projekten verfügbar und nicht für Wartung oder Betrieb optimiert. Wenn Geometriedaten verfügbar sind, fehlt es meist an einer optimierten und integrierten Lösung für Wartung und Betrieb, um die Daten zu verwalten und zu nutzen. Eine Marktanalyse aus dem Jahr 2020 unter 250 Ingenieuren, Designern, Produktmanagern und Führungskräften [2] bestätigt diese Einschätzung: trotz allem Potenzials ist eine erfolgreiche Einführung auf Unternehmens- oder Organisationsebene oft schwierig. Zu den häufigsten Hemmnissen und Blockern gehören: • Keine Unterstützung durch das Management • Fehlender oder nicht verstandener Business Case • Unsicherheit, womit man anfangen soll • Finanzielle Hürden und mangelnde Bereitschaft zu Anfangsinvestitionen. • Mangelnde Integration vorhandener Software und Datenspeicher • Fehlendes Know-how zur Implementierung einer Lösung • Lösungen sind oft komplex und müssen aufwändig angepasst werden, kein „Off-the-shelf“ Produkt • Silohaftes Arbeiten, silohafte Datenstrukturen, silohafte Budgets, Verantwortungen, Zuständigkeiten - Silos sind das Gegenteil vom Digitalen Zwilling! 5. Digitale Zwillinge von Bestand - zu teuer? Es ist also festzuhalten, dass die Objektstruktur im Digitalen Zwilling der Schlüssel zu einer Vielzahl von wertschöpfenden Anwendungsfällen ist. Es ist auch ermutigend zu sehen, dass mehr und mehr objektbasierte 3D Modelle (aka „BIM Modelle“) aus Planung und Bau in den Betrieb und die Instandhaltung übergeben werden. Was aber ist, wenn die Produktionsanlage, Bahnstrecke oder der Flughafen schon seit vielen Jahren besteht und betrieben wird, aber kein „BIM Modell“ vorhanden ist, sondern nur 2D Zeichnungen oder alte Dokumente in einem Archiv? Wie kommt man schnell und möglichst günstig an ein objekt-basiertes Bestandsmodell? Aktuell ist häufig zu beobachten, dass die Erstellung eines Bestandsmodells zusammen mit Planungsleistungen ausgeschrieben wird. Da beginnt für viele Auftraggeber aber schon wieder das Problem: wie schreibt man das aus? Wie spezifiziert man die Qualität eines Bestandsmodells und wie sorgt man dafür, dass man bekommt, was man braucht? In Ermangelung eines Standards für Bestandsmodelle greifen die Auftraggeber dann oft auf Planungsstandards zurück. Nicht selten ist zu sehen, dass sogar die Nutzung bestimmter Planungssoftware gefordert wird. Das kann zu Qualitätsproblemen führen, die manchen Auftraggeber überraschen könnten. Nachfolgend ein Beispiel: ein Kreuzungsbauwerk ist über 40 Jahre alt und über die Zeit hat der einseitige Druck die Rückhaltewand verformt und geneigt. In einem Testprojekt wurde auf der Basis der gleichen Punktwolke das Kreuzungsbauwerk in einer Planungssoftware manuell nachmodelliert. Parallel dazu wurde auf der gleichen Datengrundlage eine Algorithmen-gestützte, automatisierte Modellierung vorgenommen. Der anschließende Vergleich beider Modelle zeigte, dass das Modell aus der Planungssoftware die kleinen Ausbeulungen und Dellen in der Wand nicht dargestellt hat. In diesem Modell war die Wand senkrecht und gerade - denn man plant in der Regel keine 40 Jahre alten Wände. Das Algorithmen-basierte Modell hat durch eine Tesselierung, also der Fähigkeit relativ simple gestaltete Objekte bei Bedarf in wesentlich komplexere Strukturen aufzuspalten, auch kleinste Dellen und Beulen erfasst. Ebenso wie die Neigung der Wand, die korrekt dargestellt wurde. Gerade im Lichtraum eines Gleises können wenige Millimeter Ungenauigkeit einen großen Unterschied machen. Abbildung 5: Kreuzungsbauwerk modelliert in semiautomatisiertem Verfahren Sehr weit verbreitet ist auch die Aufnahme von bestehenden Gebäuden, Brücken, Bahnstrecken oder technischen Anlagen mit terrestrischen oder drohnengestützten Laserscannern, aus denen hoch genaue farbige oder monochrome Punktwolken generiert werden. Die Nachteile dieses Verfahrens sind hohe Datenmengen, die von der Standard-Hardware der Betreiber oft nicht bewältigt werden können, sowie die fehlende Semantik, also eben die fehlenden Objekte. Ein weiterer Nachteil sind die hohen Kosten, die für die Datenaufnahme mit Präzisionsscannern anfallen. So ist es nicht ungewöhnlich, dass Betreiber großer Anlagen auf Terrabytes von teuren Punktwolken sitzen, die auf externen Festplatten in Regalen Staub ansammeln, da nach der Erstaufnahme keine Semantisierung und Prozessierung der Daten erfolgt ist und die Daten damit wertlos sind für den Besteller. KI-gestützte Erstellung digitaler Zwillinge von Infrastrukturanlagen 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 225 Gerade bei Neu- und Umplanung von Infrastrukturanlagen kann ein zu modellierender Bestand schnell einige Quadratkilometer Ausdehnung haben, nicht zu sprechen von ganzen Flughäfen oder Bahnhöfen. Eine manuelle Modellierung in Planungssoftware, am Ende auch noch auf Basis umfangreicher 3D Laserscandaten, ist unverhältnismäßig teuer, was die zuvor genannten Hemmnisse für die Skalierung digitaler Technologien bestätigt. 6. KI und Spieletechnologie als Antwort Die Computerspielebranche hatte schon immer die Herausforderung, möglichst reale Welten mit hoher Performanz auf Computern und Geräten mit geringer Speicherkapazität und Rechenleistung darzustellen. Ein Spiel ist nur dann erfolgreich, wenn ein attraktives Erscheinungsbild einher geht mit einer intuitiven Bedienbarkeit und einer hohen Lauffähigkeit - also ohne Ruckeln und Sanduhr. Aus dieser Not entstand eine hoch ausgereifte Technologie, deren Potenzial zur Skalierung in der Nutzung Digitalen Zwillinge unverzichtbar ist. Das nachfolgend vorgestellte Verfahren bringt gleich eine ganze Reihe von Vorteilen mit sich: die Kosten für die Datenaufnahme können signifikant reduziert werden, denn die Produktion der Modelle basiert auf terrestrischer Photogrammetrie oder Videogrammetrie mit Hilfe von einfachen Digitalkameras. Aus den Eingangsdaten werden in einem semi-automatisierten Verfahren datenschlanke Vektormodelle errechnet. Eine Muster- und Objekterkennung sorgt anschließend für die Semantisierung, also die Erstellung von Objekten in den Modellen. Die Produktionsschritte sind nachfolgend erläutert. Schritt 1 - Datenaufnahme Für jede 3D-Modellierung braucht es zunächst eine Datenbasis, wobei die Datenaufnahme-Verfahren sehr unterschiedlich sind in Vorgehensweise und Aufwand, wie zuvor beschrieben. Ein erheblicher kostensparender Faktor der hier vorgestellten Methode ist, dass eine hohe Qualität der 3D-Modelle auf der Basis normaler Fotos oder Videos von Actionkameras erreicht werden kann. Das bedeutet, dass als Eingangsdaten lediglich Fotos aus der Fußgängerperspektive und einige Referenzmaße benötigt werden. Eine aufwändige und teure Datenaufnahme oder Punktwolken mit extrem großen und sperrigen Datenvolumen sind erstmal nicht erforderlich. Ein Beispiel: ein Hauptbahnhof in der Größenordnung von Karlsruhe erfordert circa drei Mannstunden für die komplette Datenaufnahme aller Publikumsbereiche inklusive Außenbereich, Bahnhofshallen, Verteilerebenen, Querbahnsteige und aller Bahnsteige und Fußgängertunnel. Schritt 2 - 3D Modellierung In dem hier vorgestellten Verfahren erfolgt die eigentliche 3D-Modellierung semi-automatisiert auf Basis einer „ToolChain“, die man sich wie ein Fließband von Algorithmen zur Prozessierung der Eingangsdaten vorstellen kann. Zunächst wird aus den digitalen Fotos eine sogenannte Masterfotographie erzeugt. Diese wird mit üblicherweise mit Hilfe von Geo-Informationen, zum Beispiel aus Katasterplänen, GPS der Kamera oder anderen Quellen verortet. Da Fotos zunächst maßstabslos sind, wird in der Masterfotographie mindestens ein Referenzmaß benötigt. Dies kann entweder vor Ort aufgenommen oder aus Katasterplänen o.ä. entnommen werden. Für die Erstellung eines 3D Modells aus der Masterfotographie werden die Prinzipien der darstellenden Geometrie genutzt - nur umgekehrt. Die Algorithmen errechnen aus den stürzenden Linien und Fluchtpunkten in der Masterfotographie die Verhältnisse der Längen zueinander. Durch das bekannte Referenzmaß sind die Algorithmen in der Lage, alle erforderlichen Längen zu errechnen und ein 3D Modell zu erzeugen. Bei der terrestrischen Fotogrammetrie wird also keine Punktwolke errechnet, sondern direkt in den Fotos gemessen - durch Algorithmen. Wenn als Eingangsdaten Videos vorliegen, läuft das Verfahren etwas anders ab. Hier wird in den Videos automatisiert eine Tiefenwertberechnung vorgenommen. Das Resultat kann als „videogrammetrische Punktwolke“ bezeichnet werden. Aus der Tiefenwertberechnung erzeugen Algorithmen ein sogenanntes „Mesh“ als Interimsprodukt, allerdings schon eine qualifizierte Vektorgeometrie, im Gegensatz zu der Punktwolke. Mit Hilfe von Referenzmaßen und Geokoordinaten wird die Geometrie skaliert und in die richtige Lage gebracht. Mit beiden vorgenannten Eingangsdaten kann eine durchschnittliche Genauigkeit von ca. 10 cm erreicht werden. Diese Genauigkeit ist für sehr viele Anwendungsfälle ausreichend, wie beispielsweise Visualisierung, Indoor-Navigation, teilweise auch Monitoring und Facilities Management. Auch für frühe Planungsphasen zum Variantenentscheid oder einer Machbarkeitsstudie reicht diese Genauigkeit in der Regel aus. Durch die Verwendung von Einmesspunkten, CAD Plänen oder auch Laservermessungen kann die Lagetreue des Modells bis auf die Genauigkeit der Eingangsdaten nachkalibriert werden - auch zu einem späteren Zeitpunkt. Die Videogrammetrie hat gegenüber der Fotogrammetrie den großen Vorteil, dass die Datenaufnahme schneller und damit günstiger ist. Auch die anschließende Prozessierung ist weniger aufwändig und erzielt höherwertige Ergebnisse. Abbildung 6: Vom Video zum Digitalen Zwilling KI-gestützte Erstellung digitaler Zwillinge von Infrastrukturanlagen 226 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Schritt 3 - Vektorisierung und Semantisierung des 3D Modells In der ToolChain laufen zur weiteren Verarbeitung des 3D Modells eine Reihe von Algorithmen ab. Zunächst werden durch Mustererkennung Vektoren erkannt und gesetzt. Im Anschluss an die Vektor- und Musterdetektion erfolgt die automatisierte Objekterkennung und damit der wichtigste Schritt in der Semantisierung. Das Herz der hier geschilderten Technologie bildet eine umfassende und gut strukturierte Objektbibliothek, die aus geometrischen Repräsentanzen der bebauten und der natürlichen Umwelt besteht. Sie umfasst bis zu elf Detaillierungsgrade (LoD), um verschiedenen Anforderungen optimal gerecht werden zu können. Algorithmen in der ToolChain detektieren Objekte auf Basis der gesetzten Vektoren. Die Objekte werden mit den Objekten in der Bibliothek verglichen. Bei einer Übereinstimmung werden Instanzen aus der Bibliothek in die Szene referenziert. Dadurch wird neben der Semantisierung die außergewöhnliche Datenschlankheit der Modelle erreicht, da die „datenschweren“ Pixel und Rasterdaten durch Vektoren ersetzt werden. Die beschriebenen Vorgänge laufen semibis vollautomatisch ab. Abbildung 7: „klickbare“ Objekte mit Datenanbindung Schritt 4 - Übergabe und Nutzung der Modelle Viele Auftraggeber möchten 3D-Modelle anschauen und bedienen können, ohne dafür eine spezielle Software installieren zu müssen. Daher kommen die Modelle zur Visualisierung und Kommunikation in ihrem eigenen „Player“. Dieser Player basiert auf einer Games-Engine, die für eine Darstellung von 3D-Realraummodellen optimiert wurde. Er kann als ausführbare Datei (.exe) bzw. in Form einer WebGL-Anwendung für eine Betrachtung im Browser ausgeliefert werden. Die maßgeblichsten Unterschiede des Viewers im Vergleich zur Standard Games Engine liegen im Geo-Daten- Layer, denn normalerweise können Game-Engines Geo- Koordinaten nicht berechnen, sowie in der Möglichkeit eine weitaus größere Anzahl individueller Objekte auf einmal anzuzeigen. Der Player verfügt über ein Lade- und Entladekonzept, welches die 3D-Szene vor der Kamera lädt und hinter der Kamera entlädt. Hinzu kommt ein umfassendes LoD- Management, das über die oben beschriebenen bis zu elf Stufen der Modellierungsgrade geführt werden kann. In einiger Entfernung vor der Kamera werden gröbere 3D- Modelle (also gröbere LoDs) angezeigt, als in unmittelbarer Nähe. Dadurch wird gewährleistet, dass die Geometrielast, die vom PC berechnet werden muss, immer möglichst gleich hoch ist. Das Lade- und Entladekonzept des Players ermöglicht es theoretisch, unendlich viel Content in einen einzigen Player zu packen. Neben dem Player als Standard-Ausgabeformat können eine Reihe von weiteren Formaten ohne nennenswerten Mehraufwand aus der ToolChain exportiert werden. Zunehmend werden web-gestützte Applikationen angefragt, die vollständig unabhängig von der Hardware des Betreibers genutzt werden können. Dazu wird der Player in einer WebGL Version ausgespielt. Für Umplanungen wünschen die Auftraggeber häufig editierbare CAD Modelle in nativen Formaten mit Objektbezug. Trainingsanwendungen werden häufig als Virtual Reality (VR) oder Augmented Reality (AR) Formate angefragt, die dann mit entsprechenden 3D Brillen genutzt werden. Auch Filme oder Renderings können aus den Modellen heraus effizient erstellt werden. 7. Datenintegration anstatt Silos Im Bausektor wird häufig in der Dateninteroperabilität eine Art heiliger Gral gesehen. Es besteht der Wunsch, Geometrie und Alphanumerik über verschiedene Softwares unterschiedlicher Hersteller verlustfrei austauschen zu können. Aber was genau bedeutet eigentlich „Interoperabilität“? Der interoperable Ansatz verwendet ein festes Schema, das den theoretischen bidirektionalen Datenaustausch zwischen zwei konformen Anwendungen ermöglicht. Fehlendes Eigeninteresse großer Softwarehersteller und die hohe technische Komplexität eines solchen Universal-Austauschformats haben jedoch gezeigt, dass der Ansatz für einen Datenaustausch in bidirektionaler Richtung unzuverlässig ist. Daher sollten wir uns vielleicht mehr mit der Datenintegration befassen, die ein übergeordnetes Schema verbindet, mit dem alle Daten ausgetauscht werden können, egal wie sie aussehen. Dies ist in dem Bereich der Ingenieurswissenschaften besonders attraktiv. Um den Betriebs- und Servicewert der Anlageninformationen zu erhöhen, müssen immer wieder andere Kontextdaten integriert werden. Das erfordert ein erweiterbares Datenschema, in welchem zwar standardisiert, aber auch flexibel skaliert werden kann. Wie kaum eine andere Technologie hat der raumbezogene Digitale Zwilling das Potenzial für eine echten Datenintegration anstatt einer silohaften Datenhaltung. Eingebettet in durchdachte Konzepte und die entsprechende Integrationsplattform, profitieren Betreiber, Bauherren, Produkthersteller und Planer gleichermaßen. Ein Beispiel für eine web-basierte Integrationslösung ist in Großbritannien am Großprojekt High Speed 2 (HS2) im Einsatz. HS2 ist eine in der Planung befindliche KI-gestützte Erstellung digitaler Zwillinge von Infrastrukturanlagen 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 227 Hochgeschwindigkeitsbahnlinie von London über Birmingham in den Norden Englands. Bei der Integrationsplattform unter dem Namen BIM Visualisation Hub geht es darum, wie Anlagen- und Konstruktionsinformationen erstellt, gespeichert, ausgetauscht und Technologien genutzt werden, um die Effizienz zu steigern und die Verpflichtungen eines so anspruchsvollen Projekts wie HS2 zu erfüllen. HS2 hat erkannt, dass digitales Engineering wichtig ist, um den Stakeholdern einen Mehrwert über die gesamte Lebensdauer zu bieten, die Sicherheit zu verbessern und zur ökologischen Nachhaltigkeit beizutragen. Dies wird erreicht, indem Informationen besser sichtbar gemacht werden, sie in einem gemeinsamen und sicheren Raum zusammengeführt und die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten maximiert wird. Während der Planung und des Baus der Bahn nutzt HS2 ihre Daten und modernste Technologien, um eine „Virtuelle Railway“ zu entwickeln. Diese bildet ein integriertes ‚virtuelles‘ oder ‚digitales Modell‘ der Projektinformationen und aller Bahnanlagen, die als dreidimensionale Entwürfe in der Umgebung, in der sie gebaut werden, visualisiert werden können. Dies hilft HS2, Informationen abzufragen, Annahmen zu testen und Entscheidungen mit Ihren Stakeholdern zu validieren, während sie die Bahn planen, entwerfen und liefern. Während der gesamten Bauphase wird die Installation von sensorgesteuerten Geräten sicherstellen, dass Echtzeitdaten in das digitale Modell zurückgeführt werden. Diese Live-Konnektivität zwischen den physischen Anlagen und der virtuellen Bahn wird die Grundlage für den betrieblichen „Digitalen Zwilling“ bilden. Der digitale Zwilling wird das optimierte Management der Bahn unterstützen und dazu beitragen, den zukünftigen Kunden ein verbessertes Erlebnis zu bieten [3]. Abbildung 8: Integrationsplattform HS2 BIM Vis Hub 8. Fazit Für einen Großteil der Anwendungsfälle für digitale Zwillinge wird keine millimetergenaue Geometrie benötigt, dafür aber Semantik und Objekte. Diese Erkenntnis hilft Kosten zu senken und bedarfsgerechte Datenmodelle bereitzustellen, die den Anwendern einen echten Mehrwert bieten. Der Hebel in die Skalierbarkeit der digitalen Zwillinge liegt u.a. in der Automatisierung bei der Erstellung, was durch den Einsatz von KI bereits eindrucksvoll geleistet wird. Literaturangaben [1] DB Systel GmbH (2020) Digital.Trend.Studie Digital Twin - Zwischen den Welten. Potential, Reifegrad und Einsatzgebiete Digitaler Zwillinge für die DB. - online verfügbar: https: / / www. dbsystel.de/ resource/ blob/ 5654212/ b0c1fa2596dc441d8525c6f53e3ff856/ 200930_Digital-Trend- S t u d i e _ D i g it a l - Tw i n _ F I N A L d a t a . p d f # p a ge=26&zoom=auto,-125,128 (zuletzt abgerufen 27.04.2021). [2] Engineering.com (Hrsg.) (2020): Are We Ready for Digital Twins? Engineering.com audience survey of perceptions and readiness.online verfügbar: https: / / discover.3ds.com/ sites/ default/ files/ 2020-01/ are-we-read-for-digital-twins.pdf (zuletzt abgerufen 27.04.2021). [3] BIM+ (Hrsg.) (2021): HS2’s Dr Sonia Zahiroddiny: ‘Digital is key to our success’.online verfügbar: https: / / www.bimplus.co.uk/ analysis/ digital-engineering-holds-key-hs2s-future-success/ (zuletzt abgerufen 27.04.2021).