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Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau
expert verlag Tübingen
Voraussetzung für jede Planung im Bestand ist der Nachweis der Standsicherheit. Er setzt voraus, dass alle wesentlichen Parameter bekannt sind und die Ausführung den Bauvorschriften entspricht. Fehlen Angaben über die Konstruktion (Geometrie, Lagerung, Werkstoffeigenschaften) oder mindern Bauwerksmängel die Tragfähigkeit ab, führen rein rechnerische Beurteilungen meist zu schlechten Ergebnissen. Dieser Beitrag erläutert an ausgewählten Beispielen wie der Nachweis ausreichender Tragsicherheit alternativ durch den Einsatz experimentell gestützter Verfahren gelingen kann, und wie diese die Restnutzungsdauer auch bei gestiegenen Nutzungsansprüchen verlängern können.
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Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis

2022
Marc Gutermann
Werner Malgut
1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 53 Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis Erfahrungen, Potenzial und Grenzen am Beispiel von Hochbauwerken im Bestand Prof. Dr.-Ing. Marc Gutermann, Hochschule Bremen Dipl.-Ing. Werner Malgut, Hochschule Bremen Voraussetzung für jede Planung im Bestand ist der Nachweis der Standsicherheit. Er setzt voraus, dass alle wesentlichen Parameter bekannt sind und die Ausführung den Bauvorschriften entspricht. Fehlen Angaben über die Konstruktion (Geometrie, Lagerung, Werkstoffeigenschaften) oder mindern Bauwerksmängel die Tragfähigkeit ab, führen rein rechnerische Beurteilungen meist zu schlechten Ergebnissen. Dieser Beitrag erläutert an ausgewählten Beispielen wie der Nachweis ausreichender Tragsicherheit alternativ durch den Einsatz experimentell gestützter Verfahren gelingen kann, und wie diese die Restnutzungsdauer auch bei gestiegenen Nutzungsansprüchen verlängern können. 1. Einführung Mehr als 60 % der Bauaufträge werden heute im Bestand umgesetzt [1]. Die Bandbreite reicht vom Umbau moderner Stahlbetonskelettbauten bis zu historischen Unikaten mit baugeschichtlich interessanten Tragkonstruktionen. Eine wesentliche Voraussetzung für Nutzungs- und Investitionsentscheidungen ist der Nachweis ausreichender Tragsicherheit für die gewünschten Lastansätze und das, obwohl über die Jahre viele Informationen über die Bauausführung verlorengegangen sind, und der Erhaltungszustand unbefriedigend ist. In solchen Fällen ist eine rechnerische Bewertung der Tragsicherheit oft unmöglich, insbesondere, wenn Teile des Bauwerks für Erkundungen unzugänglich sind. Als Konsequenz wird meist konventionell verstärkt oder abgerissen und neu gebaut (Abb. 1). Diese Varianten sind insbesondere bei denkmalgeschützten Bauten nicht akzeptabel und zudem keine sparsamen Entscheidungen, was C02-Emission und Ressourcen betrifft. Eine alternative Vorgehensweise ist der experimentell gestützte Nachweis, bei dem entweder wesentliche Parameter für einen rechnerischen Nachweis durch Versuche ermittelt werden, oder Belastungstests direkt nach Beendigung Planungssicherheit für den Baufortschritt bringen. Dadurch werden nicht nur Ressourcen geschont, sondern auch die effektive Bauzeit verkürzt [2]. Experimente sind Teil unserer Ingenieurgeschichte. Sie dienen der Absicherung neuer Bauweisen und helfen, theoretische Ansätze zu verstehen. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde erkannt, dass nur durch Versuche und Erfahrung die komplexen Zusammenhänge der Werkstoffgesetze und Mechanik verständlich werden und Konstruktionsempfehlungen abgesichert werden können. Die ersten deutschen Stahlbetonvorschriften DIN 1045 (1925) enthielten daher auch Hinweise über Probebelastungen im Stahlbetonbau [3]. Abb. 1: Lösungsstrategien zum Tragsicherheitsnachweis für Bestandsbauten Experimentell gestützte Verfahren können auch dann erfolgreich sein, wenn alle anderen Ansätze zuvor gescheitert sind (s. a. Abb. 1): 1. Abschätzung der Tragsicherheit, z. B. aufgrund vorhandener Unterlagen 2. Überschlägige Berechnung der Tragsicherheit, z. B. mit einfachen Berechnungsmodellen 3. Genaue Berechnung der Tragsicherheit, z. B. mit komplexen FE-Berechnungsansätzen und modellen 4. Messwertgestützte Ermittlung der Tragsicherheit Experimentelle Methoden bewerten den aktuellen Tragwerkszustand inklusive aller realen Randbedingungen, sodass Unsicherheiten wegfallen und die Lasten deutlich über das rechnerisch nachgewiesene Lastniveau gesteigert werden können (Abb. 3). Bei experimentell gestütz- Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis 54 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 ten Nachweiskonzepten (Punkt 4) werden z. B. wesentliche Eingabeparameter in in-situ-Versuchen gewonnen, um zuverlässige Daten für die Berechnungssoftware zu erhalten. Denn trotz immer besserer und umfangreicherer Rechenprogramme wird die physikalische Wirklichkeit nur so gut beschrieben wie zutreffend seine Annahmen waren. Und Letztere sollten selbstverständlich immer auf der sicheren Seite liegen. Alternativ kann mit Belastungsversuchen auch direkt der Nachweis ausreichender Tragsicherheit erfolgen (Kapitel 3). Das Ergebnis liegt dann direkt nach Beendigung der Versuche vor. Bei allen experimentellen Nachweisformaten gelten die gleichen Gültigkeitsbeschränkungen wie bei der Aufstellungsstatik eines Neubaus. Sie sind so lange gültig, bis sich die Nutzung verändert oder wiederkehrende Bauwerksprüfungen Anlass für weitere Untersuchungen geben. Für Bauwerke mit Korrosionsproblemen bietet es sich daher an, KKS oder andere geeignete Verfahren einzusetzen, um den getesteten Zustand für den Restnutzungszeitraum einzufrieren [4]. Die Bandbreite der möglichen Einsatzgebiete experimenteller Methoden ist nahezu unbegrenzt (Tabelle 1). Einige Beispiele des Hochbaus werden in den nachfolgenden Kapiteln exemplarisch vorgestellt, auch um wiederkehrende Besonderheiten aufzuzeigen. Planungs- und Ausführungsdetails einiger Projekte können der jeweils zitierten Literatur entnommen werden ([2], [6], [7], [11] bis [13]). Tabelle 1: Anwendungsbreite und Beispiele erfolgreicher experimenteller Untersuchungen Belastungsversuche Hybride Statik Überwachung Hochbau Decken, Unterzüge, Stützen, Fassaden, Treppen, Balkone, Dächer, Glasscheiben mit / ohne Denkmalschutz Austausch eines Kämpfersteines Erschütterungen (aus Zugverkehr) Ingenieurbau Abwassersonderbauten, Gründungen, Spundwände, Durchlässe Faltwerke, Fundamente von Windenergieanlagen Hubbrücke, Karussell Wasserbau Haltekreuze in Schleusen Anker von Spundwänden Kragstützwand Segmentwehr, Tordichtung Brücken Gewölbe (Straße u. Schiene) Steinbogen, Stahlbeton Gewölbe (Schiene) Steinbogen, Stahlbeton Koppelfugen, Seilschwingungen, Freischneidetechnik In diesem Beitrag werden Ergebnisse von experimentell gestützten Nachweisen im Hochbau vorgestellt. Hier liegen an unserem Institut im Zeitraum 2007 bis 2021 umfangreiche Erfahrungen von über 150 Belastungsversuchen im Hochbau vor (Abb. 2). Durchweg war das beobachtete Bauwerksverhalten deutlich besser als das vermutete, immer konnte eine höhere Nutzlast empfohlen werden (Ø ca. 1,5-fach). Dabei war unerheblich, welches Tragsystem vorhanden war (Platte, Trägerrost, Gewölbe) oder aus welcher Bauzeit das Objekt stammte (1875 bis 2011). Abb. 2: Statistische Auswertung der erreichten mittleren Nutzlasterhöhungen (100 % = rechnerische Prognose) 2. Legalisierung Das grundsätzliche Prinzip eines experimentellen Tragsicherheitsnachweises ist einfach und bewährt: es wird ein Bauteil belastet und seine Reaktionen gemessen (Abb. 3). Je nach Zielrichtung der Aufgabe kann in drei unterschiedliche Verfahren unterschieden werden [5]: a. Tragsicherheitsbewertung, vgl. Abb. 1 sowie Kapitel 3 und 4 b. Systemmessungen, vgl. Abb. 1 und Kapitel 5 c. Tragfähigkeitsmessungen (Bruchversuche) Abb. 3: Sicherheitskonzept (idealisiert! ); ΔQ: nutzbarer Zuwachs der Verkehrslast Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 55 Jedes Konzept hat seine prädestinierten Einsatzbereiche und ist gekennzeichnet durch unterschiedlich hohen Aufwand (C > A > B). Bei allen Verfahren müssen die charakteristischen Daten eines Versuchsablaufs, wie z. B. Lastgrößen, Verformungen, Dehnungen etc. durch elektrische Messsysteme aufgenommen und ggf. zeitgleich angezeigt werden. Gängige Sensoren zur Zustandsbewertung von Bauwerken sind: • Kraftmessdosen zur Anzeige der eingeleiteten Kraft • Wegaufnehmer zur Analyse von Durchbiegungen, Verschiebungen, Rissweiten oder Dehnungen, die integral über die Beziehung ε = Δl/ l bestimmt werden. • Dehnungsmessstreifen zur örtlichen Kontrolle von Beanspruchungen • Neigungssensoren zur örtlichen Analyse von Verdrehungen, z. B. um den Einspanngrad bei Auflagern oder Bauteilverbindungen zu bestimmen. • Schallsensoren zur Analyse besonderer Ereignisse, die Schall freisetzen, wie z. B. Rissbildung oder Rissuferreibung. Der aktuelle Bauteilzustand kann besser eingeschätzt werden, so dass Belastungen oberhalb des Gebrauchslastniveaus auch bei sprödem Materialverhalten möglich sind. • Bei jeder Messung, im Besonderen im Freien, sollten die Umweltbedingungen wie z. B. die Lufttemperatur [°C] oder Windgeschwindigkeit [m/ s] aufgezeichnet werden, um die äußeren Einflüsse auf die Messung zu dokumentieren. Dabei ist bei der Planung Vorsicht geboten. „Wer viel misst, misst Mist“ ist ein geflügeltes Sprichwort und umschreibt zutreffend den Umstand, dass die gewonnenen Daten oft parallel auf Plausibilität geprüft sowie analysiert werden müssen. Dies setzt eine gewisse Erfahrung voraus. Die historische Methode, Versuchslasten durch Ballast zu erzeugen ist der modernen und regelbaren Technik gewichen, Lasten hydraulisch im Kräftekreislauf zu erzeugen [2]. So werden selbstsichernd die Beanspruchungen im Tragwerk simuliert, denen es nach Normung widerstehen muss. Im Hochbau werden dazu mobile Belastungsvorrichtungen genutzt, die kleinteilig transportiert und individuell an jede Aufgabe anpasst werden können (z. B. Abb. 5, Abb. 7 und Abb. 10). Für Brücken kommen unter anderem besondere Fahrzeuge zum Einsatz (Straßenbrücken: Belastungsfahrzeug BELFA [6]; Eisenbahnbrücken: Belastungswaggon BELFA-DB), die an der Hochschule Bremen in kooperativen Forschungsprojekten mit der TU Dresden, der HTWK Leipzig und der BU Weimar entwickelt wurden. Zuletzt wurde an der Hochschule Bremen ein neues Verfahren entwickelt, um kleine Straßen- und Wegebrücken kostengünstig und risikoarm mit einem Mobilkran als bewegliches Gegengewicht zu testen [7]. Die experimentelle Tragsicherheitsbewertung ersetzt den rechnerischen Nachweis der Standsicherheit und wird nach unserer Erfahrung sowohl von den Prüfingenieuren als auch der Bauaufsicht der Länder akzeptiert. In Einzelfällen wurde eine Zulassung im Einzelfall verlangt, es ist daher sinnvoll, alle Beteiligten schon im Planungsprozess zu involvieren. Die grundsätzliche Eignung und Zulässigkeit des die Rechnung begleitenden experimentellen Tragfähigkeitsnachweises auf der Grundlage der Regelungen der DAfStb-Richtlinie [5] wurde auch von der Fachkommission „Bautechnik“ der ARGEBAU bestätigt [8]. Die versuchsgestützte Bemessung ist auch im aktuellen Normenwerk der Eurocodes enthalten, z. B. in den Grundlagen der Tragwerksplanung [9] oder in der Bemessung und Konstruktion von Stahlbeton- und Spannbetontragwerken [10]. 3. Tragsicherheitsbewertung Tragsicherheitsbewertung bedeutet, dass das Tragwerk oberhalb der Gebrauchslast belastet wird, also inkl. dem Ansatz von Teilsicherheitsbeiwerten. Weil das Tragverhalten bis zur Versuchsziellast analysiert werden kann (Abb. 3), deckt es ggf. auch nichtlineares Verformungsverhalten auf. Der Aufwand für Belastungs- und Messtechnik ist groß. Die Versuchslasten müssen regelbar und selbstsichernd die Beanspruchungen im Tragwerk simulieren, denen es nach Normung widerstehen muss, ohne die Gebrauchstauglichkeit oder Dauerhaftigkeit negativ zu beeinflussen. Dazu ist das Bauteil zuvor mit der dafür notwendigen Belastungs- und Messtechnik auszustatten. Das Potenzial von Probebelastungen zeigt Abb. 3: die gemessenen Reaktionen (Experiment) sind kleiner als die rechnerisch prognostizierten (Berechnung), und die Versuchsziellast wird ohne Überschreiten eines Grenzkriteriums erreicht. Als Konsequenz kann empfohlen werden, den nachgewiesenen Zuwachs ΔQ d zum Beispiel für eine Nutzlasterhöhung zu verwenden. Aus unseren langjährigen Erfahrungen betragen die Zuwächse bei Stahlbetontragwerken mindestens 30-50 % und können in Ausnahmefällen auch über 100 % liegen (Abb. 2 und Abb. 4). Abb. 4: Steigerungspotenzial der Nutzlast durch Belastungsversuche (Torte = Gesamttragfähigkeit einer Massivdecke) Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis 56 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 4. Anwendungsbeispiele 4.1 Stahlbetonskelettbau, Hamburg Das Geschäftshaus aus dem Jahr 1965 wurde 2014 umfangreich saniert. Während des Bauprozesses wurden innenliegende Deckenbereiche abgerissen (Abb. 5), wodurch sich die statischen Systeme und Beanspruchungen der durchlaufenden Rippendecken erheblich veränderten. Aus ehemaligen Innenfeldern wurden Endfelder mit deutlicher Erhöhung von Feld- und Stützmomenten (bis 37 %), die nur noch experimentell unter Ausnutzung vorhandener Tragreserven nachgewiesen werden konnten. Abb. 5: Belastungsversuche an Kaiserdecken 4.2 Berra-Hohlsteindecken Der Handelshof in Lübeck wurde 1924 als Kontorhaus geplant und errichtet. Er liegt mit seiner direkten Nachbarschaft zum Bahnhof und zur Innenstadt in einer bevorzugten Lage, sodass die Umnutzung und der Umbau zu einem Hotel Nahe lag. Der beteiligte Tragwerksplaner führte eine umfassende Analyse der Bausubstanz durch und berechnete mit unterschiedlichen Ansätzen die aktuelle Tragsicherheit der historischen Decken für die geforderten Nutzlasten (Zimmerbereich: p = 1,50 kN/ m² / Flurbereich: p = 3,0 kN/ m², jeweils zzgl. Ausbaulasten). Ohne Erfolg der kaum verbreitete Rippendeckentyp (Berrahohlsteine, Abb. 6) ließ sich nur mit wesentlichen Vereinfachungen als Modell abbilden, die notwendiger Weise stets auf der sicheren Seite liegen mussten. Zudem war unklar, wie der glatte Bewehrungsstahl (Stahl I) rückverankert war, und ob diese Verankerung noch intakt war. Abb. 6: Querschnitt der Rippendecke (Berrahohlsteine) nach Aufmaß des Tragwerkplaners Unser Einsatz begann mit der Sichtung der vorhandenen Unterlagen. Aus der Bestandsaufnahme des Tragwerksplaners (IDK) ergab sich eine offensichtlich gleichmäßige Deckenkonstruktion (Berrahohlsteindecke mit Stärken zwischen 17,0 ≤ d ≤ 18,5 cm, Abb. 6). Für die Versuche wurde ein Bereich im 1.OG ausgewählt, wo neben 3 Deckenfeldern auch zwei dazwischenliegende Unterzüge getestet werden konnten (Abb. 7). Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 57 Abb. 7: Mobile Belastungsvorrichtung zum Test von Decke und Unterzug (l s = 4,60 m) Das Messkonzept wurde auf die Aufgabenstellung angepasst. Neben den Durchbiegungen der Decken und Unterzüge an 15 Stellen wurden die integralen Dehnungen an den auflagernahen Übergreifungsstößen gemessen. Weil die eingeleiteten Kräfte ebenfalls zeitgleich aufgenommen wurden, konnten am Monitor Last-Verformungskurven beobachtet (Abb. 8) und auf kritische Veränderungen oder Werte analysiert werden. Ein Abflachen der Kurve zeigt z. B. den Übergang vom ungerissenen Zustand I zum gerissenen Zustand II an. Es wurden alle Versuchsziellasten erreicht, ohne ein Grenzwertkriterium zu verletzen. Die gewünschten Nutzlasten (Verkehrslast p = 3,5 kN/ m² und Ausbaulast g 2 = 1,47 kN/ m²) waren somit erfolgreich nachgewiesen. Abb. 8: Last-Durchbiegungskurven (HL, ls = 4,60 m) unter Versuchsziellast FZiel = 355 kN Aus den Kraft-Reaktions-Kurven (Abb. 8) ließ sich zudem entnehmen, dass • die Durchlaufwirkung der Deckenplatte intakt, jedoch sehr gering war • die Durchbiegungen den linearen Bereich erst oberhalb der Gebrauchslast verlassen haben • die Verformungsbegrenzung eingehalten wird 3,55 ≤ f Q,Decke ≤ 4,60 mm < l s / 500 = 9,2 mm Da der Belastungsversuch zwar aus mehreren Belastungszyklen bestand, aber insgesamt einem statischen Kurzzeitversuch entspricht, wurde in einem abschließenden Zeitstandsversuch nachgewiesen, dass Verformungskonstanz auch unter einer längeren Standzeit der Gebrauchslast vorliegt. Das gleiche historische Deckensystem wurde in einem Verwaltungsgebäude der 1920er Jahre in Oldenburg vorgefunden und geprüft. Hier betrugen die Stützweiten bis l s = 5,20 m, und die Rohdeckenhöhe etwa h = 20 cm. Es konnte mit Versuchen an 4 Decken eine ausreichende Tragsicherheit für die gewünschte Nutzlast (Verkehrslast p = 2,7 kN/ m² und Ausbaulast g 2 = 1,7 kN/ m²) nachgewiesen werden. Auch hier existierte eine Durchlaufwirkung durch die auflagernah aufgebogene Bewehrung. Die Verformungen blieben mit f Q,Decke ≤ 8,20 mm unter dem Grenzwert f grenz = l s / 500 = 10,4 mm (Abb. 9) und zeigten bereits bei niedriger Belastung nichtlineares Verformungsverhalten. Die Decken erreichten größere Maximalverformungen als die in Lübeck, was nicht nur auf die größere Stützweite zurückzuführen war. Die vorgefundene Biegesteifigkeit der Oldenburger Decken war Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis 58 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 trotz größerer Ortbetonschicht nicht wesentlich besser als in Lübeck. Abb. 9: Last-Durchbiegungskurven (OL, l s = 5,20 m) unter Versuchsziellast F Ziel = 320 kN Das ehemalige Museum am Ostwall, 1947-1949 wiederaufgebaut, sollte 2016 zum Baukunstarchiv umgenutzt werden. Dadurch erhöhten sich die erforderlichen Nutzlasten der Kappendecken von zulässigen 200 kg/ m² auf bis zu 500 kg/ m². Sie banden auf der einen Seite in Mauerwerk ein und auf der anderen, in Raummitte, diente ein Stahlträger als Auflager (Abb. 10). Die Kappendicken und Bogenstiche variierten stark. Die Belastungsversuche in einem maßgebenden Bereich (kleinster Bogenstich, größte Aufbauhöhe = Gewicht) ergaben zulässige Belastungen für 500 kg/ m². Maßgeblich verantwortlich dafür war sicherlich ein räumlicher Lastabtrag, in den auch der Stahlträger über Verbund eingebunden war - rechnerisch zwar nachzuvollziehen aber ohne Versuch nicht zu quantifizieren. Abb. 10: Querschnitt Lasteinleitung Kappendecke Bei Spannbetonbindern muss zur Berechnung neben Anzahl und Lage der Spannglieder auch die Vorspannkraft bekannt sein. Bei einem Verbrauchermarkt in Bremerhaven waren dazu keine Unterlagen mehr vorhanden. Das Messkonzept umfasste neben der üblichen Messtechnik zusätzlich eine Schallemissionsanalyse. Diese zusätzliche Absicherung war auch deswegen geboten, weil durch Endoskopie von Installationsbohrungen festgestellt wurde, dass einige Spannglieder angebohrt und damit beschädigt worden waren. Rechnerisch als Totalausfall zu bewerten, wurde im Belastungsversuch eine ausreichende Resttragfähigkeit der geschädigten Spannbetonbinder nachgewiesen (Abb. 11). Abb. 11: Test geschädigter Spannbetonbinder Die Neue Nationalgalerie, nach den Entwürfen von Ludwig Mies van der Rohe 1965-68 erbaut, wurde in den Jahren 2016 bis 2021 saniert [11]. Bei Sondierungen der Stahlbetonkassettendecken (StaKa-Decke) im Rahmen der Entwurfsplanung wurde festgestellt, dass die Bügelbewehrung nicht normgerecht eingebaut war. Die Betondeckung war teilweise nicht vorhanden und die oberen aufgebogenen Bügelenden schauten unten aus dem Plattenspiegel heraus. Wegen der zu tiefliegenden Bügel konnte der auflagernahe Schubnachweis weder modelliert noch geführt werden, weil der Lastabtrag rechnerisch nicht nachvollzogen werden konnte. Abb. 12: Versuchsfeld vor der Nationalgalerie Daher wurden 2015 in ausgewählten Feldern Probebelastungen nach der Richtlinie für Belastungsversuche des Deutschen Ausschusses für Stahlbeton (DAfStB) durchgeführt [5]. In und vor der weltbekannten Halle wurden mobile Stahlrahmen errichtet, die unter den Plattenrändern verankert waren (Abb. 12). Hydraulische Pressen übten auf der Platte an den Stellen Druck aus, die zuvor in Vergleichsberechnungen ermittelt wurden, um die maßgebenden Querkräfte in den Stegen zu erzeugen. Eine umfangreiche Messausstattung Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 59 versetzte das Versuchsteam in die Lage, zeitgleich die Bauwerksreaktionen zu analysieren, um bei kritischen Ereignissen den Versuch sofort beenden zu können. Denn weder die Gebrauchstauglichkeit noch die Dauerhaftigkeit der Bauteile durfte negativ beeinflusst werden. Wegen des Risikos eines schlagartigen Versagens im Schubbereich wurde daher neben der obligatorischen Durchbiegungs- und Dehnungsmessung auch eine Schallemissionsanalyse installiert. Sie horchte während der Belastung in den Beton hinein und sollte frühzeitig besondere Ereignisse erkennen, beispielsweise Rissbildung oder Rissuferreibung. Die Lasten wurden zyklisch in Stufen bis zur Versuchsziellast gesteigert, um die maßgebenden Beanspruchungen inklusive aller Teilsicherheitsfaktoren im Tragwerk zu erzeugen. Weil kein Grenzwertkriterium verletzt wurde, war die gewünschte Nutzlast (5,0 kN/ m²) nachgewiesen und eine aufwändige konventionelle Ertüchtigung beziehungsweise Abriss und Neubau der Decken ließen sich vermeiden. Das Tragsystem der denkmalgeschützten Balkone, 1928 nach Plänen von Hans Ohnesorge erbaut, konnte zwar durch zerstörungsarme Voruntersuchungen identifiziert werden, eine Aussage über die Tragfähigkeit war jedoch ohne genaue Kenntnis der Bewehrung, einschließlich Festigkeiten, Lage und Verankerung, nicht möglich. Mit Belastungsversuchen konnte eine ausreichende Tragfähigkeit nachgewiesen werden, so dass diese für die aktuellen Lastansätze aus Schnee- und Verkehrslast freigegeben werden konnte (Abb. 13). Dazu wurde Ballast am Boden platziert, gegen den der Balkon hydraulisch gezogen werden konnte. Interessanter Nebeneffekt war, dass bei einem Balkon der mittragende Effekt der massiven Balkongeländer bestimmt werden konnte - der Vergleich der beiden Messungen (mit und ohne Geländerbefestigung) zeigte jedoch keine großen Unterschiede in den Kraft-Reaktions-Kurven. Abb. 13: Denkmalgeschützter Balkon mit unbekanntem Lastabtrag (Bewehrung) Das dreigeschossige Verwaltungsgebäude der damals Königlich Preußischen Bergwerksdirektion Saarbrücken wurde 1877-1880 von der Berliner Architektengemeinschaft Martin Philipp Gropius und Heino Schmieden errichtet. Im Innern des Eckhauses stellt das repräsentative gusseiserne Treppenhaus einen besonderen Glanzpunkt dar, das einem nicht realisierten Entwurf des großen Berliner Architekten Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) nachempfunden war [13]. Weil Voruntersuchungen für das sonst als spröde geltende Gusseisen ein nichtlineares Verformungsverhalten offenbarten, wurden während der Entkernung im Jahre 2006 Belastungsversuche am kompletten Treppenhaus, bestehend aus Haupt- und Nebenläufen, Podesten und Stützen durchgeführt (Abb. 14). Die Versuche gestalteten sich als äußerst knifflig. Es wurde nicht nur festgestellt, dass einzelne Träger nur mit Gusseisen verkleidete Stahlträger waren, sondern auch durch große Verformungen Verzierungen am Geländer beschädigt waren. Nach Rücksprache mit der Denkmalpflege wurden die Versuche fortgesetzt, da die wenigen Bruchstellen anschließend restauriert werden konnten. Das Tragwerk ist heute ein öffentlich zugängliches Treppenhaus in der Europa-Galerie. Die Fassade des Horner Gymnasiums sollte im Rahmen umfangreicher Sanierungsarbeiten energetisch ertüchtigt werden. Bei der Planung der neuen Fassadensituation kam die Frage auf, ob die Bestandsfassade, bestehend aus Waschbeton-Vorsatzbrüstungen und ungedämmten Aluminium-Fensterbändern, in das Sanierungskonzept integriert werden kann. Dazu musste nachgewiesen werden, dass die Brüstungselemente in der Lage sind, erhöhte Eigen- und Windlasten abzutragen. Aus einer Kombination von Belastungsgestellen und Gegengewichten konnten zeitgleich die Belastungen in horizontaler wie vertikaler Richtung am Fassadenelement eingeleitet, und die Bauteilreaktionen beobachtet werden ([12] und Abb. 15). Abb. 14: Nachweis einer gusseisernen Treppenkonstruktion (hier: Podest) Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis 60 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Abb. 15: Test von Brüstungselementen 5. Systemmessungen Systemmessungen überprüfen das aktuelle Tragverhalten eines Bauwerks etwa im Gebrauchslastniveau (Abb. 3), um zum Beispiel bekannte Schäden zu überwachen oder Berechnungsannahmen zu verifizieren. Die Belastung muss dabei einerseits so hoch gewählt werden, dass das Tragverhalten der Konstruktion unter den planmäßig auftretenden Nutzlasten angemessen beurteilt werden kann und darf andererseits nicht so hoch sein, dass kritische Bauwerksreaktionen eintreten. Die Verformungen bleiben vorwiegend im linear-elastischen Bereich. Nichtlineare Untersuchungen bei höheren Beanspruchungszuständen können im Nachgang mit den entsprechenden Unsicherheiten an einem kalibrierten Berechnungsmodell durchgeführt werden. Wenn die Schwachstellen bekannt sind und konkrete Grenzwerte festgelegt werden können, sind Langzeitmessungen auch zum Monitoring geeignet, das bei zuvor definierten Veränderungen Aktionen auslösen kann (Alarm, Information, Sperrung, …). Abb. 16 Abb. 17: Dehnungsmessung am freigelegten Bewehrungsstahl Ein Beispiel ist die messtechnische Überprüfung der Stahlbetondecke eines ehemaligen Flugzeughangars, die als Produktionsfläche mit Verkehrslasten SLW 30 bzw. einer Flächenlast 10 kN/ m² genutzt wurde. Für den Warentransport sollten mehrere Gabelstapler Fl4 (bis 9,0 t Gesamtgewicht) mit Begegnungsverkehr eingesetzt werden. Der Nachweis einer ausreichenden statischen Tragfähigkeit konnte für alle Bauteile geführt werden, nur der Ermüdungsnachweis für die Deckenplatte (ls = 2,20 m) misslang. Es bestand die Hoffnung, dass die tatsächlichen Schwingbreiten der Plattenbewehrung unter dem Grenzwert Δσs nach DIN EN 1992-1-1 bleiben, so dass ein genauer Ermüdungsnachweis nicht geführt werden musste. Dazu wurde an den maßgebenden Stellen Bewehrungsstahl freigelegt und mit Dehnungsmesstreifen ausgestattet (Abb. 17). Anschließend wurden Kurzzeitmessungen mit kontrollierten Überfahrten (Abmessungen und Gewichte bekannt) durchgeführt, bevor die Messkette eine Woche lang dazu genutzt wurde, um die Schwingbreiten im regulären Betrieb aufzuzeichnen. Aus den Messwerten ließ sich entnehmen, dass • der Schwingbeiwert von Φ = 1,40 auch tatsächlich entsteht (Verhältnis der Messwerte dynamisch / ruhend), • die maximal gemessene Stahlspannungsdifferenz deutlich unter dem Grenzwert für ge-schweißte Bewehrungsstähle blieb (Δσs.max = 25,9 N/ mm² ≤ k1 = 70 N/ mm²) und • die Spannungsdifferenzen im Betrieb noch unter denen der Kurzzeitmessungen blieben. • Die Ermüdungssicherheit für den gleichzeitigen Betrieb von 2 Gegengewichtsstaplern Fl4 (bis 9,0 t Gesamtgewicht) war erfolgreich nachgewiesen. Da die Belastungshistorie des über 80 Jahre alten Bauwerks nicht vollständig vorlag, wurde empfohlen, den Bauwerkszustand durch regelmäßige Untersuchungen im Restnutzungszeitraum zu überwachen. Experimentell gestützter Tragsicherheitsnachweis 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 61 6. Ausblick Experimentell gestützte Nachweise loten die Tragwerksreserven bestehender Bauwerke aus und können selbst dann ein erfolgsversprechender Lösungsansatz sein, wenn umfangreiche rechnerische Analysen unbefriedigende Ergebnisse erzielt haben. Voranschreitender Computerhörigkeit trotzend bieten sie eine wirtschaftlich attraktive Alternative zu Abriss und Neubau und leisten einen wichtigen Beitrag, um Baukultur zu bewahren. 7. Danksagung Ein herzlicher Dank gilt allen Projektbeteiligen, die mit ihrem Engagement und der konstruktiven Zusammenarbeit wesentlich zum Gelingen der komplexen Aufgaben beigetragen haben. Besonderer Dank gilt allen Auftraggebern, die unseren Prognosen und Erfahrungswerten vertraut und die Einsätze beauftragt haben. Wir hoffen, dass auch weiterhin die Restnutzungsdauer bei vielen Bauwerke durch experimentelle Untersuchungen verlängert werden kann. Literatur [1] Gorning, M.; Michelsen, C.; Pagenhardt, L.: DIW Wochenbericht 1+2. 88. Jahrgang. Berlin, Januar 2021. ISSN 1860-8787 (online: https: / / doi. org/ 10.18723/ diw_wb: 2021-1-1) [2] Gutermann, M., Gersiek, M., Löschmann, F., Patrias, M.: Der Löwenhof in Dortmund: Experimentelle Statik zum Erhalt historischer Eisenbetondecken, Ernst & Sohn, Bautechnik Ausgabe 1/ 2018 [3] Bolle, G.; Schacht, G.; Marx, S.: Geschichtliche Entwicklung und aktuelle Praxis der Probebelastung, Teil 1 und 2. Bautechnik 87 (2010) 11|12, S. 700-707|784-789 [4] Gutermann, M., Malgut, W.: Experimentelle Methoden - Ein alternativer Weg zum statischen Nachweis von Bestandsbauwerken. In: Gieler-Breßmer (Hrsg.): Tagungsband. 18. Symposium Kathodischer Korrosionsschutz von Stahlbetonbauwerken, 05. bis 06.11.2020. Ostfildern, TAE Verlag, 2020 [5] Deutscher Ausschuss für Stahlbeton (DAfStb, Hrsg.): Richtlinie für Belastungsversuche an Betonbauwerken. Berlin: Beuth, 07-2020 [6] Gutermann, M.; Schröder, C.: 10 Jahre Belastungsfahrzeug BELFA. Bautechnik 88 (2011) 3, S. 199- 204 [7] Gutermann, M., Schröder, C., Böhme, C.: Nachweis von Straßenbrücken kleiner Stützweite am Beispiel von Wegebrücken in der Eilenriede, Hannover. In: Bautechnik 95 (2018), Heft 7. Berlin: Ernst & Sohn, 2018. S. 477 - 484. https: / / doi. org/ 10.1002/ bate.201800018 [8] Manleitner et al.: Belastungsversuche an Betonbauwerken. In: Beton- und Stahlbetonbau 96, 2011, Heft 7, S. 489 [9] DIN EN 1990 (2010-12): Eurocode 0 - Grundlagen der Tragwerksplanung, Anhang D (informativ) [10] DIN EN 1992-1-1 (01.2011): Eurocode 2 - Bemessung und Konstruktion von Stahlbeton- und Spannbetontragwerken, Kapitel 2.5 [11] Gutermann, M.: Experimentell bewertet und tragsicher: Die Deckentests. In: „Neue Nationalgalerie. Das Museum von Mies van der Rohe“. Berlin, Deutscher Kunstverlag (DKV), August 2021. ISBN: 9783422986510 [12] Gutermann, M., Kahl, D.: Energetische Ertüchtigung einer Waschbetonfassade: Experimente ersetzen den rechnerischen Tragsicherheitsnachweis. In: Ernst & Sohn Special 2013, Innovative Fassadentechnik [13] Gutermann, M.: Wenn der Schein trügt - Belastungsversuche an einer gusseisernen Treppenkonstruktion. In: Tagungsband 5. Symposium „Experimentelle Untersuchungen von Baukonstruktionen“ an der Technischen Universität Dresden, 11.09.2009