eJournals Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau 1/1

Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau
expert verlag Tübingen
Mit der zu erwartenden zeitnahen baurechtlichen Einführung der DIN EN 1998-1:2010-12 (Eurocode 8) und dem zugehörigen nationalen Anhang DIN EN 1998-1/NA:2021-07 in Deutschland stehen bei der Erdbebenauslegung von Bauwerken einige Änderungen bevor. Für den nationalen Anhang wurde eine Neueinschätzung der Erdbebengefährdung durchgeführt, die sich in einer neuen Erdbebengefährdungskarte widerspiegelt. Neben dem Wegfall der altbekannten Erdbebenzonen hat sich auch die ingenieurseismologische Kenngröße zur Bestimmung der anzusetzenden Erdbebenlast geändert. Örtlich sind nun deutlich höhere Erdbebenlasten als zuvor möglich. Nach einem Überblick über die historische Entwicklung und den aktuellen Stand der Erdbebennormung in Deutschland werden die wesentlichen Änderungen des neuen nationalen Anhanges aufgezeigt. Es folgt eine Übersicht der zulässigen Erdbebennachweismethoden und eine Einschätzung ihrer praktischen Relevanz. Abschließend wird ein Ausblick auf zukünftige mittel- und langfristige Entwicklungen im Bereich des internationalen Erdbebeningenieurwesens gegeben, die perspektivisch auch für Deutschland von Interesse sind.
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Erdbebenbemessung in Deutschland – aktueller Stand und zukünftige Entwicklung

2022
Marius Pinkawa
1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 171 Erdbebenbemessung in Deutschland - aktueller Stand und zukünftige Entwicklung Marius Pinkawa Center for Wind and Earthquake Engineering, RWTH Aachen University, Deutschland Zusammenfassung Mit der zu erwartenden zeitnahen baurechtlichen Einführung der DIN EN 1998-1: 2010-12 (Eurocode 8) und dem zugehörigen nationalen Anhang DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07 in Deutschland stehen bei der Erdbebenauslegung von Bauwerken einige Änderungen bevor. Für den nationalen Anhang wurde eine Neueinschätzung der Erdbebengefährdung durchgeführt, die sich in einer neuen Erdbebengefährdungskarte widerspiegelt. Neben dem Wegfall der altbekannten Erdbebenzonen hat sich auch die ingenieurseismologische Kenngröße zur Bestimmung der anzusetzenden Erdbebenlast geändert. Örtlich sind nun deutlich höhere Erdbebenlasten als zuvor möglich. Nach einem Überblick über die historische Entwicklung und den aktuellen Stand der Erdbebennormung in Deutschland werden die wesentlichen Änderungen des neuen nationalen Anhanges aufgezeigt. Es folgt eine Übersicht der zulässigen Erdbebennachweismethoden und eine Einschätzung ihrer praktischen Relevanz. Abschließend wird ein Ausblick auf zukünftige mittel- und langfristige Entwicklungen im Bereich des internationalen Erdbebeningenieurwesens gegeben, die perspektivisch auch für Deutschland von Interesse sind. 1. Einleitung Schwere Erdbeben sind seltene Naturkatastrophen, die zu gravierenden und regional weit ausgedehnten Schäden führen. Auch wenn Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie beispielsweise Italien oder Griechenland als Schwachbebengebiet bezeichnet werden kann (siehe Abbildung 1.1), so ist die Fachdisziplin des Erdbebeningenieurwesens auch hierzulande von hoher Relevanz. Trotz im Vergleich geringer Erdbebenintensitäten kann aufgrund der großen Anzahl an betroffenen Objekten der Gesamtschaden beträchtlich sein. Insbesondere bei kritischer Infrastruktur (zum Beispiel Krankenhäuser, Brücken, Feuerwehren), Gebäuden hohen wirtschaftlichen Wertes oder gesellschaftlichen Risikos (Lagerhallen, Industrieanlangen, Tanks) sowie Gefährdungspotenzials (Schulen, Sport- und Versammlungsstätten) ist eine gewissenhafte Auslegung gegen Erdbeben zwingend erforderlich. Zudem setzt die internationale Ausrichtung Deutschlands als Exportnation fundierte Kenntnisse des Erdbebeningenieurwesens voraus. So werden von deutschen Unternehmen Industrieanlagen und -komponenten in seismisch aktiven Regionen des Auslands geplant oder hier entwickelte und produzierte Erdbebenschutzvorrichtungen weltweit vermarktet. Abb. 1.1: Erdbebengefährdungskarte Europas [1] Während in Starkbebenländern die Erdbebenauslegung von Tragwerken zur Bemessungsroutine gehört, was sich entsprechend in der Bauingenieurausbildung mit Standardfächern des „seismic design“ widerspiegelt, so wird hierzulande der Lastfall Erdbeben häufig als Sonderlast wahrgenommen und ist in der hiesigen Bauingenieurausbildung - wenn überhaupt - lediglich als Spezialisierungsfach etabliert. Mit der kürzlich zu erwartenden baurechtlichen Einführung des Eurocode 8 (d.h. DIN EN 1998-1: 2010-12 [2] mitsamt zugehörigem nationalen Anhang DIN EN 1998- 172 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung 1/ NA: 2021-07 [3]) gehen für die sich mit Erdbebenfragen in Deutschland beschäftigenden Ingenieure einige Änderungen einher. Die in den letzten Jahren durchgeführte Neueinschätzung der Erdbebengefährdung Deutschlands spiegelt sich im neuen nationalen Anhang DIN EN 1998- 1/ NA: 2021-07 wider. Vielerorts erhöhen sich damit die anzusetzenden Erdbebenlasten, was insbesondere in Regionen mit bislang gering eingeschätzter seismischer Gefährdung zu einer verstärkten Betrachtung des Lastfalls Erdbeben führen wird (siehe [4]). Weitere Neuerungen der aktualisierten Erdbebengefährdungskarte sind der Wegfall der aus der aktuell noch geltenden Erdbebennorm DIN 4149: 2005 [5] bekannten Erdbebenzonen und eine neue ingenieurseismologische Kenngröße zur Definition der lokalen Erdbebenlast. Dieser Beitrag vermittelt eine Übersicht zur Erdbebenbemessung von Tragwerken mit dem Fokus auf die Situation in Deutschland und gibt einen Eindruck des aktuellen Standes sowie zukünftiger Entwicklungen. Auf diese Einleitung folgend wird in Abschnitt 2, nach einem Überblick über die historische Entwicklung der Erdbebennormung hierzulande, die kurz bevorstehende Einführung des Eurocodes 8 und der sich damit ergebenden maßgeblichen Veränderungen diskutiert. Es wird vertieft auf die aktualisierte Erdbebengefährdungskarte im Rahmen des neuen deutschen Anhangs des Eurocode 8 eingegangen. Abschnitt 3 fasst die in Deutschland möglichen Erdbebennachweismethoden zusammen und ordnet sie hinsichtlich ihrer Komplexität und somit praktischen Relevanz ein. Es wird dargestellt, wie mit geringem Aufwand ein Erdbebennachweis gelingen und unter welchen Umständen sogar ganz auf eine Nachweisführung verzichtet werden kann. Abschnitt 4 skizziert Entwicklungen im Bereich des Erdbebeningenieurwesens, die perspektivisch auch für Deutschland von zunehmendem Interesse sein werden: Die moderne Philosophie des verhaltensbasierten Erdbebeningenieurwesens (PBEE); die Anwendung innovativer und insbesondere reparaturfähiger Tragwerkskonzepte; die zunehmende Bedeutung der Erdbebenauslegung nichttragender Bauteile und Komponenten; der Einsatz von speziellen Erdbebenvorrichtungen zum Erdbebenschutz; sowie die Erdbebenauslegung von Sonderbauwerken. 2. Erdbebennormung in Deutschland Dieser Abschnitt diskutiert die Entwicklung der Normung zur Erdbebenauslegung des üblichen Hochbaus in Deutschland. Dabei werden die Entstehungsgeschichte der nationalen Erdbebennorm DIN 4149, ihr Übergang zur europäischen Erdbebennorm Eurocode 8, sowie der aktuelle Stand mitsamt dem neuen nationalen Anhang dargestellt. 2.1 Entwicklung der DIN 4149 zum Eurocode 8 Wie auch in anderen Ländern zu beobachten, ist die Entwicklung der Erdbebennormung von stärkeren Erdbebenereignissen geprägt, welche im Nachgang zu Anpassungen und Erweiterungen der Auslegungsregeln gegen Erdbeben führen. So ist die überhaupt erste Erdbebennorm „DIN 4149: 1957: 07 - Bauten in deutschen Erdbebengebieten - Richtlinien für Bemessung und Ausführung“ [6] im Jahr 1957 veröffentlicht worden, initiiert durch ein größeres Erdbeben in Euskirchen im Jahr 1951. Auch wenn die Anwendung zunächst freiwillig war, wurde 1971 in Baden-Württemberg, unter dem Eindruck zweier Beben 1969 und 1970 in der Schwäbischen Alb, das erste Mal die Berücksichtigung einer Erdbebennorm in einem Bundesland Deutschlands verbindlich eingeführt [7]. Eine größere Revision folgte etwa 24 Jahre nach Erstveröffentlichung mit der „DIN 4149-1: 1981-04 „Bauten in deutschen Erdbebengebieten - Lastannahmen, Bemessung und Ausführung üblicher Hochbauten“ [8]. Während in der DIN 4149: 1957 das Bauwerk noch als Starrkörper betrachtet und vereinfacht bis zu 10% der Vertikalkraft als horizontale Erdbebenlast angesetzt wurde, hielt in der DIN 4149: 1981 die dynamische Betrachtungsweise mit dem Antwortspektrumverfahren (siehe Abschnitt 3) Einzug. Wieder etwa 24 Jahre später folgte die „DIN 4149: 2005- 04 - Bauten in deutschen Erdbebengebieten; Lastannahmen, Bemessung und Ausführung üblicher Hochbauten“ [5]. Neben dem Einbezug neuer Erkenntnisse aufgrund des zunehmenden Verständnisses des Erdbebenverhaltens von Bauwerken, berücksichtigte die DIN 4149: 2005 die Europäisierung der Baunormen in Hinblick auf den sich ankündigenden Eurocode 8. So entsprach die DIN 4149: 2005 bereits dem Konzept des etwa 5 Jahre später erschienen Eurocode 8 („DIN EN 1998-1: 2010-12 „Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbauten“ [2]) und ist mit dem nationalen Anhang DIN EN 1998-1/ NA: 2011-01 [9] nahezu deckungsgleich. Insbesondere die Erdbebenzonenkarten zur Gefährdungseinschätzung sind identisch. Eine aktualisierte Fassung des nationalen Anhangs mitsamt einer Neueinschätzung der Erdbebengefährdung ist erst kürzlich mit der DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07 [3] erschienen. Abbildung 2.1 zeigt die zeitliche Entwicklung veröffentlichter Normen für die Erdbebennormung in Deutschland von 1957, dem Jahr des Erscheinens der ersten deutschen Erdbebennorm, bis zum aktuellen Stand im Jahr 2021. Die Veröffentlichung einzelner Normen ist nicht gleichzusetzen mit ihrer baurechtlichen Einführung; so ist die DIN 4149: 2005 derzeit zwar noch in der Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (MVV TB) enthalten, jedoch vom Deutschen Institut für Normung (DIN) bereits zurückgezogen. 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 173 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung Abb. 2.1: Zeitliche Entwicklung der Erdbebenbaunormung in Deutschland Abbildung 2.2 visualisiert den zunehmenden Umfang der für Deutschland relevanten Erdbebennormen, welcher hier vereinfacht anhand der Seitenanzahl quantifiziert wird. Während die erste deutsche Erdbebennorm DIN 4149: 1957 aus lediglich 6 Seiten bestand, so enthält allein der nationale Anhang des Eurocode 8 in der neuen Fassung 2021 bereits 60 Seiten. Eine weitere Zunahme des Umfangs ist anhand der Entwurfsfassungen der nächsten Eurocode 8 Generation bereits abzusehen. Während diese Entwicklung einerseits wünschenswert ist, da der höhere Detaillierungsgrad die Abdeckung möglichst vieler Anwendungsfälle ermöglicht, so verdeutlicht es andererseits das zunehmende Erfordernis solider Fachkenntnisse im Bereich des Erdbebeningenieurwesens, um den zunehmenden Umfang sicher überblicken zu können. Diesbezüglich wird in Abschnitt 3 aufgezeigt, wie die Erdbebenfrage in Deutschland in vielen Situationen dennoch mit geringem Aufwand gelöst werden kann. Abb. 2.2: Entwicklung des Seitenumfangs (proportional zur Kreisfläche) der einzelnen Normdokumente Heutzutage erarbeitet das Untergremium mit der Bezeichnung „NA 005-51-06 AA - Erdbeben; Sonderfragen“ im Rahmen des DIN-Normenausschuss Bauwesen (NABau) die nationale Normung für das Erdbebeningenieurwesen. Seismische Einwirkungen auf Tragwerke sowie die entsprechende Tragwerkauslegung sind die wesentlichen bearbeiteten Fragestellungen. Der Arbeitsausschuss entwickelt hierbei insbesondere den nationalen Anhang zum Eurocode 8. Auf europäischer Ebene begleitet der nationale Ausschuss das Subkomitee „CEN/ TC 250/ SC 8 - Design of structures for seismic resistance“ und spiegelt die dortigen Arbeiten entsprechend national wider. Die aktuelle Situation stellt sich so dar, dass die DIN 4149 als Norm bereits zurückgezogen ist, der Eurocode 8 jedoch noch nicht bauaufsichtlich eingeführt worden ist. Die DIN 4149 ist in den Verwaltungsvorschriften Technische Baubestimmungen (VV TB) der jeweiligen Bundesländer nach wie vor aufgelistet und findet somit in der Praxis weiterhin Anwendung. Der Eurocode 8 mitsamt dem neuen nationalen Anhang sollte insbesondere bei Neubauprojekten berücksichtigt werden, da diese Dokumente den aktuellen Stand der Technik widerspiegeln. Eine baurechtliche Einführung des Eurocode 8 mit dem nationalen Anhang von 2021 ist zudem nach langer Vorbereitungszeit in Kürze zu erwarten. 2.2 Erdbebengefährdungskarten des Eurocode 8 Die DIN 4149 wird im Rahmen der Europäisierung der Baubemessungsnormen in den Eurocode 8 überführt. Während der Hauptteil des Eurocode 8 europaweit einheitlich ist, sind es die nationalen Anhänge, die als Bestandteil des Eurocode 8 diesen erst in den jeweiligen Ländern anwendbar machen. Die Erdbebengefährdung wird in den nationalen Anhängen auf Grundlage lokaler seismologischer Betrachtungen länderspezifisch definiert. Mit baldiger Einführung des neuen nationalen Anhangs NA: 2021 (steht im Folgenden abgekürzt für DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07 [3]) entfällt die Erdbebenzonenkarte und wird durch eine Erdbebengefährdungskarte ersetzt. Erdbebenzonen im Sinne der DIN 4149 bzw. des NA: 2011 (abgekürzt für DIN EN 1998-1/ NA: 2011-01 [9]) sind somit nicht mehr vorhanden. Hier sei noch einmal angemerkt, dass die Erdbebenzonenkarten der DIN 4149 und des NA: 2011 identisch sind. Hintergrundinformationen zur alten Erdbebenzonenkarte sind in [10] zu finden, während Hintergründe zu der neuen Erdbebengefährdungskarte des NA: 2021 in [11] beschrieben sind. Abbildung 2.3 gibt die Erdbebengefährdungskarte aus dem neuen nationalen Anhang wieder. Deutlich zu erkennen sind die Erdbebengebiete der Niederrheinischen Bucht westlich von Köln, des Oberrheingrabens von Basel nach Frankfurt, der schwäbische Alb sowie in geringerem Maße des Vogtlandes. 174 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung Abb. 2.3: Erdbebengefährdungskarte Deutschlands (aus DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07 [3]) Beide Erdbebenkarten - also der 2011-Version (bzw. der DIN 4149: 2005) und der 2021-Version der nationalen Anhänge - sind im Auftrag des Deutschen Instituts für Bautechnik DIBt vom Geoforschungszentrum GFZ in Potsdam erarbeitet worden. Sie beruhen auf probabilistischen seismischen Gefährdungsanalysen. Die Grundlagen auf denen die alte sowie die neue Erdbebenkarte hergeleitet wurden, unterscheiden sich jedoch wesentlich; insbesondere bei der zu Grunde liegenden Datenbasis, dem Umfang der berücksichtigten Aspekte sowie den angewandten Methoden. Detaillierte Vergleiche der Hintergründe der beiden Erdbebenkarten sind in [12] sowie [13] zu finden. Für den Anwender der Erdbebennorm sind zwei maßgebende Änderungen besonders hervorzuheben: Zum einen die Änderung der Kenngröße der seismischen Einwirkung, weg von der Referenz-Spitzenbodenbeschleunigung a gR (als Repräsentant einer korrespondierenden zu erwartenden Erdbebenintensität) hin zum Plateauwert des Antwortspektrums S aP,R , welcher direkt im Rahmen der Gefährdungsanalyse bestimmt wurde. Zum anderen der Wegfall von Erdbebenzonen und ihr Ersatz durch ein Erdbebengefährdungsraster. Die ingenieurseismologische Kenngröße zur Definition der seismischen Einwirkung hat sich im Vergleich zur DIN 4149 bzw. zum NA: 2011 grundlegend geändert. Im NA: 2011 ist die Referenz-Spitzenbodenbeschleunigung a gR der Ausgangspunkt zur Bestimmung des Antwortspektrums. Diese ist für die drei Erdbebenzonen 1, 2 und 3 angegeben, wobei die Zonen sich auf die für den jeweiligen Ort zu erwartende Erdbebenintensität I (6,5≤I<7, 7≤I<7,5 und I≥7,5) beziehen. Im NA: 2021 ist hingegen der Plateaubereich des Antwortspektrums S aP,R die maßgebende Kenngröße. Die Spektralwerte wurden dabei im Rahmen der Gefährdungsanalyse direkt gewonnen. In Abbildung 2.4 sind die beiden Kenngrößen - die Bodenbeschleunigung a gR sowie der Spektralwert im Plateaubereich S aP,R - in einem typischen Antwortspektrum eingezeichnet. Das Verhältnis des Plateauwertes S aP,R zur Bodenbeschleunigung a gR wird mit dem Überhöhungsfaktor von 2,5 abgeschätzt. Letztendlich ist das Beschleunigungs-Antwortspektrum die Grundlage zur Bestimmung der anzusetzenden Erdbebenlast für die Bemessung. Neben einer neuen Eingangsgröße zur Konstruktion des Antwortspektrums haben sich aufgrund von Anpassungen des Bodenparameters S sowie der Kontrollperioden T B und T C auch Änderungen in der Form des Spektrums ergeben. Abb. 2.4: Gegenüberstellung der ingenieurseismologischen Kenngrößen aus der 2011 (a gR ) und 2021 (S aP,R ) Version des nationalen Anhangs Statt Örtlichkeiten verschiedenen Erdbebenzonen zuzuordnen, wird die Kenngröße der seismischen Einwirkung nun in gleichverteilten Rasterpunkten angegeben. Die Erdbebengefährdungskenngröße wird dabei als Datenpunktwolke in einem über Deutschland gelegten Rasternetz zur Verfügung gestellt. Das Raster hat eine Auflösung von 0,1° geographischer Länge und Breite. Das entspricht einem Rasterabstand von etwa 7 km in Ost-West-Richtung und 11 km in Nord-Süd-Richtung. Zwischenpunkte dürfen linear interpoliert werden. Abbildung 2.5 visualisiert schematisch die alte Zonierung der Erdbebenzonen sowie die neue Rasterung der Erdbebengefährdung. Die für die Tragwerksbemessung benötigte ingenieurseismologische Kenngröße S aP,R lässt sich am Einfachsten mit Hilfe eines Online-Kartendienstes ortsspezifisch bestimmen (siehe beispielsweise www. erdbebeningenieur.de  Erdbebenkarte [14]). 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 175 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung Abb. 2.5: Örtliche Definition der ingenieurseismologischen Kenngröße: Erdbebenzonen links (DIN 4149 bzw. NA: 2011) und Datenpunkt-Rasternetz rechts (NA: 2021) Vielfach diskutiert wurde eine vielerorts effektive Erhöhung der anzusetzenden Erdbebenlasten durch Einführung der neuen Erdbebengefährdungskarte des NA: 2021 im Vergleich zur Erdbebenzonenkarte der DIN 4149 bzw. des NA: 2011 (siehe [4], [12], [15]). Bei alleinigem Vergleich des Spitzenwertes der Bodenbeschleunigung a gR ist eine Verdoppelung von 0,8 m/ s² (Erdbebenzone 3) auf 1,6 m/ s² (max. S aP,R = 3,9 m/ s², Division durch Überhöhungsfaktor β 0 = 2,5) ersichtlich. Da sich allerdings Änderungen sowohl in der Definition der für die Erdbebenbemessung relevanten Beschleunigungs-Antwortspektren als auch in der räumlichen Ausdehnung der seismischen Kenngröße ergeben haben, können sich örtlich erhöhte, aber auch verringerte anzusetzende Erdbebenlasten im Vergleich zur alten Gefährdungseinschätzung ergeben. Eine beispielhafte quantitative Gegenüberstellung für repräsentative Bemessungsfälle ist in [4] zu finden. Letztendlich wird die bauaufsichtliche Einführung der neuen Erdbebengefährdungskarte vielerorts eine intensivere Betrachtung des Lastfalls Erdbeben erforderlich machen. 3. Erdbebennachweismethoden Ein Tragwerk in seismisch aktiven Regionen muss gegenüber den lokal zu erwartenden Erdbebenlasten als standsicher nachgewiesen werden. Alle in Eurocode 8 enthaltenen Erdbeben-Nachweismethoden sind entsprechend NA: 2021 (DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07) auch in Deutschland zulässig. Der nationale Anhang ergänzt die aus Eurocode 8 bekannten Methoden um vereinfachte Auslegungsregeln, welche dem Charakter eines Schwachbebenlandes Rechnung tragen. Abbildung 3.1 enthält eine Übersicht über alle zulässigen Nachweismethoden. Bei zunehmendem Aufwand der Methode sinkt gleichzeitig auch ihre praktische Relevanz, insbesondere in Regionen schwacher bis moderater Seismizität. In der deutschen Praxis werden demnach die vereinfachten Methoden bevorzugt, während komplexere Vorgehen lediglich in Ausnahmefällen Anwendung finden. Auf alle in Abbildung 3.1 genannten Methoden wird in den folgenden Unterabschnitten kurz eingegangen. Abb. 3.1: Mögliche Erdbebennachweismethoden 3.1 Erdbebenauslegung nicht erforderlich Der simpelste Erdbebennachweis ist derjenige, der gar nicht erst geführt werden muss. Ein Nachweis und auch die Berücksichtigung sonstiger Anforderungen nach Eurocode 8 können komplett entfallen, wenn das Kriterium sehr geringer Seismizität erfüllt ist. Der Fall sehr geringer Seismizität wird anhand der lokalen Erdbebengefährdung bestimmt. Der Eurocode 8 lässt offen, ob hierzu als Bezugsgröße die Bemessungsbodenbeschleunigung a g (= a gR ·γ 1 ) für Bedeutungsbeiwert γ 1 und Baugrundklasse A, oder aber das Produkt a g ·S unter Berücksichtigung der konkreten Baugrundklasse (Bodenparameter S) dient. Die Grenzwerte, bis zu denen von sehr geringer Seismizität ausgegangen werden kann, entsprechen daher entweder 0,04 g oder 0,05 g (siehe Tabelle 3.1). Der nationale Anhang gibt als Bezugsgröße das Produkt a g ·S vor, was überwiegend zu einer etwas großzügigeren Festlegung sehr geringer Seismizität führt. Tab. 3.1: Grenzwerte sehr geringer Seismizität nach Eurocode 8 (DIN EN 1998-1: 2010-12) Bezugsgröß e Grenzwert a g ≤ 0,04 g a g ·S ≤ 0,05 g Neben der Definition anhand des Produkts aus Bodenbeschleunigung a g und Bodenparameter S, legt der nationale Anhang den Fall sehr geringer Seismizität zusätzlich anhand des Spektralwerts S aP,R fest (siehe Tabelle 3.2). Der Wert S aP,R stellt den Plateauwert des Antwortspektrums dar und wurde als maßgebende ingenieurseismologische Kenngröße der Neufassung des nationalen Anhangs NA: 2021 im vorhergehenden Abschnitt erläutert (siehe Abbildung 2.4). 176 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung Tab. 3.2: Grenzwerte sehr geringer Seismizität nach NA: 2021 (DIN-EN 1998-1/ NA: 2021-07) Bezugsgröße Grenzwert (je nach Bedeutungskategorie) S aP,R I, III, IV ≤ 0,060 g II ≤ 0,084 g Zusammenfassend besteht nach NA: 2021 sehr geringe Seismizität, falls entweder die Bemessungsbodenbeschleunigung unter Berücksichtigung der lokalen Bodenverhältnisse (also das Produkt a g ·S ) nicht größer als 0,05 g ist, oder die Spektralantwort S aP,R den Wert von 0,06 g nicht übersteigt. Das letzte Kriterium ist in der Erdbebengefährdungskarte aus Abbildung 2.3 mit einer roten Linie gekennzeichnet. In Regionen außerhalb dieser Begrenzung darf somit eine Erdbebenauslegung generell unterbleiben. Dies ist beispielsweise im Norden und weiten Teilen der Mitte Deutschlands der Fall. 3.2 Vereinfachte Auslegungsregeln nach NA Der Anhang D des nationalen Anhangs NA: 2021 stellt als Erweiterung zum Eurocode 8 vereinfachte Auslegungsregeln zur Verfügung, welche der geringen Seismizität in Deutschland Rechnung tragen. Folgende Voraussetzungen müssen für die Anwendung dieser vereinfachten Auslegungsregeln erfüllt sein: • Unproblematischer Baugrund • Gebäudehöhe ≤ 20 m • Geschossanzahl ≤ 6 • Bedeutungskategorie ≤ III • Symmetrischer Grundriss (Steifigkeit, Masse) • Kompakter Grundriss (keine starke Gliederung) • Starre Deckenscheiben • Durchgehende Lastabtragung über die Höhe • Gleichmäßige Massen über die Höhe • Gleichmäßige horizontale Steifigkeit und Tragfähigkeit über die Höhe Bei sehr einfachen Bauwerken wie regelmäßigen Einfamilienhäusern ist es mit den vereinfachten Auslegungsregeln möglich, den Erdbebennachweis mit Handrechnung ohne numerisches Modell in Tradition einer Positions- Statik zu erbringen. Die Erdbebenkraft F b darf vereinfacht mit dem Plateauwert S aP,R aus dem Antwortspektrum bestimmt werden: F b = M · S aP,R · S · γ 1 / 1,5 (Gl. 3.1) Der Teiler stellt den Verhaltensbeiwert q dar, der mit 1,5 angenommen werden darf. Er berücksichtigt pauschalisiert vorhandene Überfestigkeiten und Energiedissipationsmechanismen. Der Spektralwert S aP,R wird mit dem Bodenparameter S an die örtlichen Bodenverhältnisse und mit dem Bedeutungsfaktor γ 1 an die Bedeutungsklasse des Gebäudes angepasst. Durch Multiplikation mit der Bauwerksmasse M ergibt sich die anzusetzende Erdbebenkraft F b . Bei bekannter Periode T 1 kann bei entsprechender Lage im Antwortspektrum statt des Plateauwertes S aP,R der geringere Spektralwert S e bei T 1 verwendet werden. Die Grundperiode T 1 kann dabei vereinfacht abgeschätzt werden, anhand der horizontalen Verschiebung, die sich ergibt, wenn die Gewichtslasten horizontal auf die Gebäudeoberkanten angesetzt werden. Die Gesamterdbebenkraft F b muss im nächsten Schritt auf die einzelnen Geschosse aufgeteilt werden. Dies geschieht proportional zur Höhe über Geländeoberkante sowie zur Massenverteilung. Die Kenntnis der modalen Eigenform und damit auch eine modale Analyse sind somit nicht von Nöten. Die am Geschoss i anzusetzende Erdbebenlast F i ergibt sich zu: F i = F b · (z i · m i ) / ∑ (z j · m j ) mit i, j = 1, 2, 3, …, n (Gl. 3.2) Dabei sind z i die Höhe und m i die Masse des jeweiligen Geschosses i, und n ist die Geschossanzahl. Die Berechnung erfolgt in der Regel anhand zweier ebener Modelle in der jeweiligen Orthogonalrichtung. Dies ist zulässig, wenn der Grundriss gleichmäßig ist und durch orthogonal zueinanderstehende Systeme wie Wände oder Rahmen seitlich ausgesteift ist. Da damit Torsionswirkungen in der Rechnung nicht explizit enthalten sind, sind diese im Nachlauf zu berücksichtigen. Bei stark symmetrischen Tragwerken hinsichtlich Masse und Steifigkeit sind Torsionswirkungen mit einer pauschalen Erhöhung der Erdbebenschnittgrößen um 15% abgegolten. Bei Abweichungen in der Symmetrie (nahezu symmetrischer Grundriss) werden Formeln zur Berechnung einer anzusetzenden Exzentrizität angegeben. Sicherheitsnachweis durch Vergleich mit Wind Das vereinfachte Verfahren aus NA: 2021 Anhang D erlaubt es, auf einen Erdbebennachweis im Grenzzustand der Tragfähigkeit zu verzichten, falls die Gesamterdbebenlast F b kleiner als 150% der charakteristischen Gesamtwindlast F w ist: F b < 1,5 · F w (Gl. 3.3) Die Gesamterdbebenlast F b aus Gleichung 3.1 muss somit dennoch vorweg bestimmt werden. Für den „Standsicherheitsnachweise durch Vergleich mit Wind“ ist die Anzahl der Vollgeschosse auf 2, 3 oder 4 beschränkt, je nach vorherrschender Erdbebengefährdung. Bei einfachen Tragwerken kann durch den Vergleich mit Wind ein genauerer Erdbebennachweis häufig entfallen. 3.3 Vereinfachtes Antwortspektrumverfahren Das vereinfachte Antwortspektrumverfahren darf angewandt werden, wenn die Erdbebenantwort des Bauwerks 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 177 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung stark durch die Grundeigenform dominiert ist; das Bauwerk sich also wie ein Einmassenschwinger verhält. Davon darf ausgegangen werden, wenn die in Eurocode 8 enthaltenen Regelmäßigkeitskriterien eingehalten sind und die Eigenperiode nicht zu groß ist. Die Eigenperiode darf anhand einer simplen Formel abgeschätzt werden, wobei der nationale Anhang NA: 2021 ihre Anwendbarkeit einschränkt. Das grundsätzliche Vorgehen beim vereinfachten Antwortspektrumverfahren nach Eurocode 8 ist sehr ähnlich zum vereinfachten Verfahren aus dem nationalen Anhang (siehe Abschnitt 3.2): Anhand der Eigenperiode T 1 kann die auf den gedachten Einmassenschwinger wirkende Spektralbeschleunigung aus dem Antwortspektrum entnommen werden. Gemäß dem zweiten Newton’schen Axiom (F = m · a), ergibt diese Beschleunigung mutlipliziert mit der seismisch aktiven Masse des Gebäudes die Gesamterdbebenkraft, die analog zu Gleichung 3.1 mit weiteren Faktoren modifiziert wird. Diese Erdbebenkraft F b wird dann proportional zur Massen- und Steifigkeitsverteilung auf die einzelnen Geschosse aufgetragen (siehe Gleichung 3.2). Im Unterschied zum vereinfachten Verfahren aus dem nationalen Anhang ist der Nachweis durch Vergleich mit Wind im Eurocode 8 nicht vorgesehen. Torsionswirkungen werden unterschiedlich berücksichtigt. Zudem dürfen im vereinfachten Antwortspektrumverfahren - bei entsprechender konstruktiver Auslegung des Tragwerks - höhere Verhaltensbeiwerte q als 1,5 (siehe Gleichung 3.1) verwendet werden. Dabei entspricht die Wahl eines höheren Verhaltensbeiwertes q einer stärkeren Abminderung der Bemessungslasten. Bei einem solchen auf dissipatives Tragwerksverhalten ausgelegten Konzept soll nach nationalem Anhang der Abminderungsbeiwert q nicht höher als erforderlich gewählt werden, d.h. für den Erdbebennachweis soll eine Querschnittsausnutzung von 100% in einem für die Energiedissipation vorgesehenen Bauteil erreicht werden. 3.4 Multimodales Antwortspektrumverfahren Das multimodale Antwortspektrumverfahren ist erforderlich, wenn mehrere Eigenformen für das Erdbebenverhalten relevant sind. Jede Eigenform die mehr als 5% der Gesamtmasse des Gebäudes anregt ist zu berücksichtigen. Alternativ muss die Summe der effektiven Modalmassen aller berücksichtigten Eigenformen 90% der Gesamtmasse erreichen. Zur Identifikation relevanter Eigenformen erfordert das multimodale Antwortspektrumverfahren eine modale Analyse und somit ein numerisches Modell des Tragwerks. Das Vorgehen des multimodalen Antwortspektrumverfahrens basiert auf den Prinzipien des vereinfachten Antwortspektrumverfahrens. Statt nur an einer Eigenform muss das Verfahren jedoch an mehreren Eigenformen wiederholt durchgeführt werden. Die daraus resultierenden modalen Antworten werden schlussendlich mit Hilfe geeigneter Kombinationsverfahren zu einer Gesamtantwort zusammengefasst. Im Detail wird für jede Eigenform die modale Erdbebenkraft auf die einzelnen Massenpunkte des Tragwerks verteilt. Die Verteilung erfolgt proportional zur Masse des jeweiligen Knotens und zur Eigenformamplitude des jeweiligen Knotens und der jeweiligen Eigenform. Dies erfolgt zweckmäßig automatisiert mit Hilfe einer geeigneten Software. Zur Kombination der einzelnen Eigenformbeiträge wird üblicherweise entweder das SRSS-Verfahren oder das komplexere CQC-Verfahren angewandt. Da die modale Kombination in der Regel programmintern durchgeführt wird, ist das genauere CQC-Verfahren dem nur unter gewissen Randbedingungen anwendbaren SRSS-Verfahren generell vorzuziehen. Falls ein numerisches Modell des Bauwerks vorhanden ist, erfordert das multimodale Antwortspektrumverfahren bei Einsatz geeigneter Software und bei einem grundlegenden Verständnis des Vorgehens keinen wesentlichen Mehraufwand gegenüber dem vereinfachten Antwortspektrumverfahren. Die einzelnen Lastfälle je Eigenform werden in entsprechender Software automatisch erstellt und die Kombination wird programmintern durchgeführt. 3.5 Nichtlineare statische Analyse (Pushover) Die Pushover-Analyse ist ein statisches, nichtlineares Verfahren, bei dem seitliche Erdbebenlasten auf das Tragwerk angesetzt und inkrementell erhöht werden. Mit steigender Horizontallast bilden sich inelastische Bereiche, die eine Lastumverteilung bewirken. So lässt sich das Tragwerksverhalten bei starken Erdbebenlasten sehr gut studieren. Während die bisher angesprochenen Verfahren elastische Methoden sind, muss bei der Pushover-Analyse das inelastische Verhalten modelliert werden. Dies kann zum einen durch die explizite Vorgabe nichtlinearer Spannungs-Dehnungs-Linien auf Querschnittsebene erfolgen. Zum anderen kann mit Hilfe von nichtlinearen Federn (beispielsweise einer Momenten-Rotations-Beziehung an biegesteifen Trägerenden) das Bauteilverhalten phänomenologisch abgebildet werden. Die Pushover-Berechnung liefert als Ergebnis eine monotone Last-Verformungs-Kurve, die mit Hilfe einer entsprechenden Methodik ausgewertet wird. Der Eurocode 8 verwendet die N2-Methode nach Fajfar [16] (siehe Anhang B des Eurocode 8 [2]). Das Vorgehen basiert auf der Analogie eines dem Tragwerkverhalten äquivalenten Einmassenschwingers und der Gegenüberstellung von Beanspruchung und Kapazität mit Hilfe eines Beschleunigungs-Verschiebungs-Diagramms (S a -S d -Diagramm). Im Vergleich zu den oben beschriebenen elastischen Antwortspektrenverfahren erfordert die Pushover-Analyse einen deutlichen Mehraufwand. Daher ist sie in der Praxis bei der Neubemessung von Tragwerken selten 178 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung anzufinden. Hauptgrund ist die inelastische Modellierung, weshalb der nationale Anhang auch ausdrücklich „ausreichende Erfahrung und Sachkunde“ fordert. Eine praktische Anwendung ist zudem erschwert, da die N2- Methodik anders als die Antwortspektrenverfahren häufig nicht in gängiger Software implementiert ist. Bei der Bewertung von Bestandsbauwerken kommt die statisch nichtlineare Methode dagegen häufiger zum Einsatz, um vorhandene Tragreserven in Rechnung bringen zu können, die ansonsten unberücksichtigt blieben. 3.6 Nichtlineare dynamische Analyse (THA) Die nichtlineare dynamische Analyse (auch Zeitschrittberechnung oder Zeitverlaufsberechnung genannt; englisch „Time History Analysis (THA)“) ist das genaueste Verfahren, welches zur Bestimmung der Erdbebenantwort von Bauwerken zur Verfügung steht. Damit einhergehend folgt auch die größte Komplexität, da in Kontrast zu den statischen Verfahren eine dynamische Bewegungsdifferentialgleichung gelöst werden muss. Als Eingangsgröße der dynamischen Berechnungen werden Zeitverläufe von Erdbeben benötigt, die repräsentativ für die am Standort vorhandene Erdbebengefährdung sind. Es können hierbei sowohl „in silico“ generierte Erdbeben (künstliche oder simulierte Erdbeben) als auch reale, also aufgezeichnete Erdbeben genutzt werden. Zeitverläufe aus vergangenen Erdbebenereignissen können dabei entsprechenden Datenbanken entnommen werden. Die generierten oder ausgewählten Erdbeben müssen zum normierten Antwortspektrum des Eurocode 8 kompatibel sein. Da die Tragwerksantwort in Folge verschiedener Erdbeben stark streut, muss eine Mindestanzahl an Erdbeben (3 bei Anwendung der Umhüllenden; 7 bei Nutzung des Mittelwertes) verwendet werden, um statistisch aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Die numerische Lösung der Bewegungsdifferentialgleichung für mehrere Erdbeben erfordert eine hohe Rechenkapazität. Neben den ressourcen-intensiven Simulationen müssen die vielen erzeugten Daten schlussendlich auch ausgewertet werden. Nicht selten erweist sich in der Praxis gerade das Post-processing als der kritische Arbeitsschritt, insbesondere wenn Aufgaben aufgrund fehlender Softwareimplementierung händisch vorgenommen werden müssen. Die nichtlineare dynamische Analyse findet in der Praxis aufgrund der hohen fachlichen und technischen Anforderungen lediglich in Spezialfällen Anwendung. So müssen zyklische Effekte des plastischen Verhaltens (Hysteresekurven, Schädigung) und weitere dynamische und numerische Effekte (Dämpfung, numerische Stabilität und Genauigkeit) angemessen berücksichtigt werden. Dementsprechend formuliert der nationale Anhang, dass die nichtlineare dynamische Zeitverlaufsberechnung „in Ausnahmefällen“ Verwendung finden darf. Solche Ausnahmefälle sind in der Praxis beispielsweise der Nachweis kritischer Infrastruktur oder die Verifizierung von Erdbebenvorrichtungen. Die Haupteinsatzdomäne der nichtlinearen dynamischen Analyse ist die Forschung, wenn beispielsweise neuartige Tragwerkssysteme und -konzepte entwickelt oder Normparameter hergeleitet werden. 4. Quo vadis? - Zukünftige Entwicklungen Nicht nur konkrete, kurzfristig eintretende Änderungen wie die Einführung des Eurocode 8 stellen Herausforderungen an erdbebenbemessende Bauingenieure dar. Der stetig zunehmende Umfang der Erdbebennorm - ein Trend, der auch im aktuellen Entwurf der zukünftigen Eurocode 8 Normengeneration zu beobachten ist - stellt zusätzlich steigende Anforderungen. Auf mittel- und langfristige Sicht sind internationale Trends zu beobachten, die auch für Deutschland von Relevanz sind: • die Entwicklung der Philosophie einer Erdbebenbemessung, die sich neben der Verhinderung von (Teil-) Einsturz auch auf die Begrenzung monetären Schadens und den Erhalt der Funktionstüchtigkeit fokussiert, dem „Performance Based Earthquake Engineering (PBEE)“; • die Verwendung innovativer, schadenstoleranter Tragwerkskonzepte, die eine Reparatur des Tragwerks nach einem Erdbeben ermöglichen; • die zunehmende Konkretisierung der Erdbebennormung auf Sonderbauwerke, insbesondere Industrieanlagen; • die umfassendere Berücksichtigung von nichttragenden Bauteilen und Komponenten; • sowie der vermehrte Einsatz von speziellen Erdbebenschutzvorrichtungen. Im Sinne eines schnellen Überblicks werden die oben genannten Themen im Folgenden angerissen. 4.1 Verhaltensbasiertes Erdbebeningenieurwesen “Performance Based Earthquake Engineering” (PBEE), also auf Deutsch mit verhaltensbasiertem Erdbebeningenieurwesen übersetzbar, ist ein modernes Paradigma weg von der fast alleinigen Fokussierung auf den Schutz von Menschenleben hin zu einer holistischen Betrachtung, die zusätzliche Aspekte wie Schadensbegrenzung und Funktionstüchtigkeit maßgeblich mitberücksichtigt. Somit wird auch dem monetären Schutz der Bauinvestition Rechnung getragen. In der heutigen Erdbebennormengeneration ist ein wirtschaftlicher Totalschaden - unter der Prämisse des Schutzes von Menschenleben - ein akzeptiertes Verhalten. Somit kann ein Bauwerk, das nach einem Schadenbeben abgerissen werden muss, sich dennoch normenkonform verhalten haben, sofern es nicht ganz oder teilweise eingestürzt ist. Dies mag jedoch für den Bauherren ein unbefriedigendes Bemessungsziel darstellen. Auch wenn 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 179 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung der Auftraggeber heutzutage zusätzliche Sicherheiten einfordern kann, in etwa durch Heraufstufung des Bedeutungsbeiwertes, was in etwa der Annahme einer größeren Wiederkehrperiode und damit Stärke des Bemessungserdbebens entspricht, so lassen sich erst mit Hilfe einer Bemessungsphilosophie wie dem PBEE konkrete Risikoakzeptanzen quantifizieren. In der traditionellen Erdbebenbemessung muss eine Einwirkung geringer sein als ihr korrespondierender Widerstand (E d ≤ R d ). Im Sinne eines semi-probabilistischen Sicherheitskonzeptes werden hierbei die Einwirkungen erhöht und Widerstände verringert, um das geforderte Sicherheitsniveau einzuhalten. Trifft E d ≤ R d zu, so ist das Bemessungsziel erreicht. Jedoch erlaubt es keinerlei Aussage darüber, wie groß das Risiko eines Schadens ist. Diesen Zweck erfüllt der PBEE-Denkansatz. Im Rahmen einer voll-probabilistischen Betrachtung trifft der Bauherr beispielsweise die Entscheidung, in welchem Zeitraum er welches Risiko eines bestimmten finanziellen Schadens eingehen möchte. So könnte er konkret fordern, dass er mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% in den nächsten 30 Jahren keinen wirtschaftlichen Totalschaden erleiden möchte. Der Bauingenieur würde dann auf eine dazu korrespondierende Erdbebengefährdung bemessen. Andersherum lässt sich mit Hilfe einer konkreten Risikoquantifizerung der Nutzen bestimmter Maßnahmen, wie der Einbau von Erdbebenschutzsystemen, deutlich besser kommunizieren. In der Wissenschaft bereits Gegenstand umfangreicher Forschungsarbeiten, könnte die PBEE-Philosophie dank expliziter Verhaltensvorgaben (beispielsweise Vorgabe der Funktionstüchtigkeit nach schwachen Erdbeben) für Bauwerke hoher Bedeutung oder Gefahr auch in Deutschland langfristig einen verstärkten Weg in die Praxis finden. 4.2 Innovative reparaturfähige Tragwerkskonzepte Auch ausgehend von der oben geschilderten Problematik der zwar normenkonformen, aber wirtschaftlichen Totalschaden akzeptierenden Bemessungsphilosophie, werden innovative, schadensresistente Tragwerkskonzepte entwickelt. Die zu Grunde liegende Idee besteht darin, dass solche Tragwerke nach einem Schadenbeben reparaturfähig sind. Bei traditionellen Tragwerkstopologien wie biegesteifen Rahmen oder mit Diagonalstreben ausgesteiften Rahmen ist dies in der Regel nicht der Fall. Die Reparaturfähigkeit soll erreicht werden, indem sichergestellt wird, dass sich der Schaden auf kleine austauschbare Bauteile innerhalb des Bauwerks beschränkt. Die restliche Tragstruktur soll sich dabei planmäßig elastisch verhalten, was mit Hilfe einer Kapazitätsbemessung sichergestellt wird. Als Beispiel soll hier ein Tragwerkskonzept genannt werden, welches in mehreren Projekten ([17], [18], [19], [20]) unter anderem an der RWTH Aachen entwickelt wurde. Das nach dem ersten Projekt FUSEIS benannte System ahmt das Tragwerkskonzept eines biegesteifen Rahmens nach, jedoch befinden sich die kurzen, austauschbaren Träger in einer begrenzten Zone und wirken nicht am vertikalen Lastabtrag mit. Abbildung 4.1 zeigt einen solchen FUSEIS-Rahmen. Das System wirkt beim seitlichen Lastabtrag wie ein senkrecht gestellter Vierendeel-Träger. Die kurzen Träger wirken bei schweren Erdbeben durch zyklische Plastizierung als Energiedissipatoren. Durch den geschraubten Kopfplattenschluss sind sie einzeln austauschbar. Die kurzen Träger dienen somit - in Anlehnung an den Begriff der Sollbruchstelle - als austauschbare Sollschadenstellen. Abb. 4.1: Schematische Darstellung des FUSEIS-Systems (links) und Verwendung in einem Ertüchtigungsprojekt [21] (rechts) Verschiedenste reparaturfähige Systeme sind in der Vergangenheit entwickelt worden (siehe beispielsweise [22]) und werden als Alternative zu traditionellen Tragwerkskonzepten zukünftig vermehrt Eingang in die Normung und somit Praxis finden. 4.3 Nichttragende Bauteile und Komponenten Nichttragende Bauteile und Komponenten sind Systeme in oder an einem Bauwerk, die nicht planmäßig an der Lastabtragung und Steifigkeit gegen Erdbeben teilnehmen. Das können beispielsweise nichttragende Trennwände, abgehängte Decken, Fassadenelemente oder die technische Gebäudeausrüstung sein. Im Industriebau sind dies beispielsweise Druckbehälter, Rohrleitungen, Tanks oder Maschinen. Solche nichttragenden Bauteile und Komponenten sind an einem Tragwerk in erhöhter Position befestigt, und erfahren deshalb eine grundsätzlich andere Erdbebenanregung, als wenn sie direkt auf dem Boden platziert wären. Vergangene Erdbeben haben gezeigt, dass der wirtschaftliche Gesamtschaden maßgeblich durch nichttragende Bauteile verursacht wird, und weniger durch das Tragwerk. Dies ist aus zweierlei Gründen plausibel: Zum einen sind in Nichtwohngebäuden (beispielsweise Büros, Krankenhäuser oder Industriebauwerke) die Investitions- 180 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung kosten nichttragender Bauteile höher als diejenigen der Tragstruktur selbst. Zum anderen erleiden nichttragende Bauteile schon bei weniger starken Erdbeben Schaden, da die am Boden wirkende Beschleunigung durch das Schwingverhalten des Gebäudes verstärkt wird und somit die nichttragenden Bauteile erhöhten Einwirkungen ausgesetzt sind. Resonanzeffekte zwischen Bauwerk und nichttragenden Bauteilen spielen hierbei zusätzlich eine wesentliche Rolle. Trotz des hohen Risikos und auch potenziell hohen wirtschaftlichen Schadens durch nichttragende Bauteile und Komponenten hinkt das Verständnis ihres Erdbebenverhaltens demjenigen der Gebäudetragwerke hinterher. Da die Erdbebeneinwirkung auf nichttragende Bauteile stark von der Antwort des Bauwerks abhängt, ist die Verhaltensprognose zudem wesentlich komplexer. In den letzten zwei Jahrzehnten ist dieses Thema vermehrt in den Fokus der Forschung gerückt. Die stark vereinfachten Formeln in der jetzigen Normengeneration können die Erdbebenantwort nichttragender Bauteile in vielen Fällen nicht realistisch wiedergeben. In der nächsten Normengeneration ist eine maßgebliche Überarbeitung der Erdbebenauslegung von nichttragenden Bauteilen abzusehen, unter anderem hin zu einer detaillierteren Bestimmung der Erdbebenlast. Stark vereinfachte Abschätzungen bleiben dennoch von hoher praktischer Relevanz, da eine genauere Prognose aufgrund fehlender Informationen oft nicht möglich ist. Eine sachgemäße Planung und Ausführung der Befestigung sowie eine klare Zuweisung von Verantwortlichkeiten sind wichtige Stellschrauben, um ein zufriedenstellendes Erdbebenverhalten von nichttragenden Bauteilen und Komponenten sicher zu stellen. 4.4 Sonderbauwerke Eurocode 8 bezieht sich auf Tragwerke üblicher Hochbauten und ist per se nicht auf beispielsweise Industrieanlagen oder speziellere Tragwerkstypen anwendbar. Bisher haben nur wenige Länder eine dezidierte Norm für Industrieanlagen, so beispielsweise Chile [23]. In Deutschland ist der VCI Leitfaden [24] zu nennen, welcher basierend auf dem Eurocode 8 konkretere Hilfestellungen für den Anlagenbau zur Hand gibt. Für Sonderbauwerke fehlt häufig ein auf die speziellen Eigenheiten zugeschnittener normativer Rahmen. Im Folgenden soll auf einen besonderen, stark an Relevanz zunehmenden Gebäudetyp eingegangen werden: Hochregallager in Silobauweise (siehe Abbildung 4.2). Durch den Siegeszug des Onlinehandels wächst die Nachfrage nach solchen Lagerstätten stetig. Die Bezeichnung „in Silobauweise“ deutet an, dass die Regalstruktur selbst das Tragwerk des Lagergebäudes darstellt. Anders als in Hallen befindliche Hochregallager, müssen diese hochregalähnlichen Tragwerke außer dem Lagergut auch Wind, Schnee und das Eigengewicht der Gebäudehülle abtragen. Abb. 4.2: Hochregallager in Silobauweise (Quelle: MECALUX) Die Tragwerkstopologie von Hochregallagern in Silobauweise unterscheidet sich deutlich von üblichen Stahltragwerken. So sind die „Geschosshöhen“ untypisch gering und es existieren keine starren Deckenscheiben. Die abzutragenden Vertikallasten entsprechen einem Vielfachen (~ 10bis 15-fachem) des Eigengewichts. Die in der Regel kaltgeformten Profile sind keine Standardprofile sondern herstellerspezifisch und die Stützen sind aufgrund der speziellen Riegel-Anschlüsse, die auf den Zusammenbau optimiert sind, stark perforiert. Aufgrund der vielen Besonderheiten der Bauteile und Anschlüsse sind Experimente zur Absicherung des Verhaltens erforderlich, sodass auch von „design by testing“ gesprochen wird. So sind üblicherweise Versuche zur Bestimmung der Steifigkeit der Palettenträger-Anschlüsse oder der Schubsteifigkeit der Ständerrahmen in Querrichtung erforderlich. Die Hersteller solcher Hochregallager in Silobauweise stehen vor der Herausforderung, dass weder die Erdbebennorm für Regallager (DIN EN 16681: 2016 [25]) noch diejenige für übliche Hochbauten (Eurocode 8) für diese spezielle Bauwerkstopologie ursprünglich gedacht waren. In der Praxis wird sich mit der Berücksichtigung beider Normen beholfen, jedoch fehlt ein herstellerübergreifendes einheitliches Vorgehen. Der fehlende normative Rahmen kann somit zu sowohl unwirtschaftlichen, aber auch unsicheren Ergebnissen führen. Eindeutige normative Regelungen für eine Vielzahl von Sonderbauwerken fehlen und die Übertragung der vorhandenen Regelwerke auf nicht ursprünglich angedachte Anwendungsfälle gestaltet sich schwierig. In Zukunft ist mit einer zunehmenden normativen Erfassung von Spezialtragwerken und Industrieanlagen zu rechnen. Die RWTH Aachen bearbeitet aktuell beispielsweise ein europäisches Projekt [26], das für Hochregallager in Silobauweise einen Beitrag zu einem herstellerübergreifenden einheitlicheren Vorgehen leisten und letztendlich zu einer spezifischen Norm führen soll. 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 181 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung 4.5 Erdbebenvorrichtungen Einem weltweit zunehmenden Einsatz erfreuen sich sogenannte Erdbebenvorrichtungen. Hierzu zählen Basisisolatoren sowie passive, aktive, oder semi-aktive Erdbebenschutzsysteme. Während bei der Basisisolation ein Gebäude mit Hilfe einer Zwischenschicht vom Boden entkoppelt und somit der Bodenbewegung entzogen wird, sind Erdbebenschutzsysteme in das Tragwerk verteilt eingebaute spezielle Elemente. Beide Konzepte sind in Abbildung 4.3 schematisch dargestellt. Abb. 4.3: Entkopplung von Baugrund und Bauwerk (Basisolation) (links), lokale Energiedissipation (Erdbenschutzsysteme) (rechts) Erdbebenschutzsysteme dienen in erster Linie der Energiedissipation mit Hilfe von Wirkmechanismen wie Dämpfung, Reibung, Materialplastizierung oder Massenträgheit (Schwingungstilger). Eine detaillierte Einführung in das Themengebiet der Erdbebenvorrichtungen ist in [27] zu finden. Erdbebenschutzsysteme können in passive, aktive oder semi-aktive Systeme unterschieden werden. Während passive Systeme konstante Eigenschaften besitzen, können semi-aktive ihre Eigenschaften in Echtzeit an das gemessene Schwingverhalten des Bauwerks anpassen. Aktive Systeme können zudem eine Rückkopplungskraft auf das Tragwerk ausüben, die der momentanen Schwingung entgegenwirkt. Aktive Systeme benötigen einen Mess- und Regelkreis und sind daher von einer Stromquelle abhängig und somit wesentlich komplexer als passive Systeme. Erdbebenvorrichtungen werden bei besonders werthaltigen und kritischen Bauwerken eingesetzt, wie Wolkenkratzern, Krankenhäusern oder Hochrisikoanlagen des Industriebaus. Sie kommen vor allem in seismisch sehr aktiven Regionen zum Einsatz. Die Auslegung von Tragwerken mit Erdbebenvorrichtungen bedarf einer hohen Expertise, auch wenn die Hersteller bei der Auswahl und Dimensionierung der Vorrichtung unterstützen. Die DIN EN 15129: 2018-07 [28] bietet hierbei die normative Grundlage. Einige deutsche Unternehmen, vornehmlich in verwandten Bereichen wie Schwingungsisolierung, Dehnfugen oder Lagertechnik aktiv, entwickeln, produzieren und vermarkten weltweit Erdbebenvorrichtungen. 5. Zusammenfassung Das Erdbebeningenieurwesen ist ein recht komplexes und hochinteressantes Themengebiet, das in Deutschland trotz seiner vergleichsweise geringen Seismizität von Bedeutung ist. Zum einen wegen der hierzulande vielerorts erforderlichen Erdbebennachweise, zum anderen wegen der traditionell internationalen Ausrichtung deutscher Unternehmen und Ingenieurbüros. Die kurz bevorstehende Einführung des Eurocode 8 in Deutschland und damit die Ablösung der DIN 4149 stellt kurzfristig Herausforderungen dar. Insbesondere mit der Neueinschätzung der Erdbebengefährdung, welche sich in dem neuen nationalen Anhang DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07 widerspiegelt, werden wesentliche Änderungen einhergehen. So wird die bauaufsichtliche Einführung der neuen Gefährdungskarte im Vergleich zur alten Erdbebenzonenkarte der DIN 4149 vielerorts zu einem erhöhten Lastniveau führen. Damit wird an einigen Orten eine tiefergehende Erdbebenbemessung erforderlich sein, die vormals nicht oder mit geringeren Lasten durchzuführen war. Für die Erdbebenbemessung stehen laut Eurocode 8 und dem nationalen Anhang verschiedene Nachweisverfahren zunehmender Komplexität und damit abnehmender Praxisrelevanz zur Verfügung: Ein im nationalen Anhang verankertes vereinfachtes Verfahren, unter anderem über den Vergleich mit Wind, ein mono- oder multimodales Antwortspektrumverfahren (international die Standardverfahren in der Erdbebenbemessung), oder aufwendige nichtlineare Verfahren wie die statische Pushover- Analyse oder die dynamische Zeitschrittberechnung. Auch wenn in Deutschland die vereinfachten Verfahren aufgrund ihrer Praktikabilität und der hierzulande vergleichsweise geringen Erdbebenlast dominieren, werden die komplexeren Verfahren an Bedeutung gewinnen, insbesondere für Sonderbauwerke und Hochrisikoanlagen, aber auch bei Bestandsbauwerken zwecks besserer Berücksichtigung vorhandener Tragreserven. Mittel- und langfristig sind weitere Entwicklungen abzusehen, die aus der fortschreitenden Forschung im Bereich des Erdbebeningenieurwesens hervorgehen und auch in Deutschland zunehmend den Weg in die Praxis finden werden. So etwa eine stärkere Fokussierung der Erdbebenauslegung auf die Begrenzung wirtschaftlichen Schadens bei moderaten Erdbeben und die Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit bei schwachen Erdbeben. Solche differenzierten Bemessungsziele können insbesondere mit innovativen, reparaturfähigen Tragwerkskonzepten erreicht werden. Auch mit einem steigenden Bewusstsein für die Erdbebensicherheit von nichttragenden Bauteilen und Komponenten und einem weiterwachsenden Umfang normativer Regelungen insbesondere für Sonderbauwerke und Industrieanlagen ist zu rechnen. Ein solides Verständnis im Bereich des Erdbebeningenieurwesens wird somit auch hierzulande zunehmend erforderlich sein. 182 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Erdbebenbemessung in Deutschland -aktueller Stand und zukünftige Entwicklung Literatur [1] Giardini et al, “Seismic Hazard Harmonization in Europe (SHARE)”, Online Data Resource, doi: 10.12686/ SED-00000001-SHARE, 2013. [2] DIN EN 1998-1: 2010-12, „Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbauten“, Dezember 2010. [3] DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07, „Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbauten“, Juli 2021. [4] Jan Akkermann, „Erdbebensicherheit von Stahlbeton-Bestandstragwerken im Kontext der Eurocode- 8-Anwendung“, Bautechnik 98, H. 4, S. 263-276., 2021 [5] DIN 4149: 2005-04, „Bauten in deutschen Erdbebengebieten - Lastannahmen, Bemessung und Ausführung üblicher Hochbauten“, April 2005. [6] DIN 4149: 1957-07, „Bauten in deutschen Erdbebengebieten; Richtlinien für Bemessung und Ausführung“, Juli 1957. [7] Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg, „Erdbebensicher Bauen - Planungshilfen für den Entwurf und die Konstruktion von Bauten in Erdbebengebieten“, 2008. [8] DIN 4149-1: 1981-04, „Bauten in deutschen Erdbebengebieten; Lastannahmen, Bemessung und Ausführung üblicher Hochbauten“, April 1981. [9] DIN EN 1998-1/ NA: 2011-01, „Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbau“, Januar 2011. [10] Gottfried Grünthal, Christian Bosse, „Probabilistische Karte der Erdbebengefährdung der Bundesrepublik Deutschland-Erdbebenzonenkarte für das Nationale Anwendungsdokument zum Eurocode 8“, Scientific Technical Report 96/ 10, Deutsches GeoForschungsZentrum Potsdam, 1996. [11] Gottfried Grünthal, Dietrich Stromeyer, Christian Bosse, Fabrice Cotton, Dino Bindi, „Neueinschätzung der Erdbebengefährdung Deutschlands - Version 2016 - für DIN EN 1998-1/ NA“, Bautechnik, Bd. 95, S. 371-384, 2018. [12] Gottfried Grünthal, Christian Bosse, „Unterschiede, Beziehungen und Gemeinsamkeiten der Erdbebenkarten nach bisherigem und neuem Nationalen Anhang zum Eurocode 8“, Bautechnik 98, H. 1, S. 1-15, 2021. [13] Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), „Standortauswahl - Anwendung des Ausschlusskriteriums „Seismische Aktivität““, Abschlussbericht, 2020. [14] Marius Pinkawa, „Interaktive Online-Karte zur Bestimmung der Erdbebeneinwirkung in Deutschland“, www.erdbebeningenieur.de  Erdbebenkarte, 2021. [15] Michael Niederwald, Markus Staller, „Erdbebenbemessung von Massivbauten - Auswirkungen von E DIN EN 1998-1/ NA auf Bayern“, 23. Münchener Massivbau Seminar, 22. November 2019. [16] Peter Fajfar, „A Nonlinear Analysis Method for Performance Based Seismic Design“, Earthquake Spectra, Volume 16, Number 3, 2000. [17] FUSEIS - “Dissipative devices for seismic-resistant steel frames”, Final Report, Grant Agreement RFSR-CT-2008-00032, 2011. [18] MATCH - “Material Choice for Seismic Resistant Structures”, Final Report, Grant Agreement RFSR- CT-2013-00024, 2016. [19] INNOSEIS - “Valorization of Innovative Anti-Seismic Devices”, Final Report, Grant Agreement RFCS-2015-709434, 2017. [20] DISSIPABLE - “Fully Dissipative and Easily Repairable Devices for Resilient Buildings with Composite Steel-Concrete Structures”, Grant Agreement RFCS-2017-800699, laufendes Projekt (2018-2021). [21] Ioannis Vayas, Georgia Dougka, Danai Dimakogianni, „Umbau und Erweiterung des Kindergartens der Deutschen Schule Athen“, Bauingenieur, Band 89, Juni 2014. [22] Ioannis Vayas, “Innovative Anti-seismic Devices and Systems”, ECCS - European Convention for Constructional Steelwork, 2017. [23] Chilean Normes, NCh 2369, “Earthquake Resistant Design of Industrial Structures and Facilities”, National Institute of Normalization - INN, Chile, 2002. [24] Verband der Chemischen Industrie (VCI), „Leitfaden - Der Lastfall Erdbeben im Anlagenbau“, Oktober 2012. [25] DIN EN 16681: 2016-12, „Ortsfeste Regalsysteme aus Stahl - Verstellbare Palettenregale - Leitsätze für die erdbebensichere Bemessung“, Dezember 2016. [26] STEELWAR - “Advanced Structural Solutions for Automated Steelrack Supported Warehouses”, Grant Agreement RFCS-2016-754102, laufendes Projekt (2017-2021). [27] Christian Petersen, Hans Beutler, Christian Braun, Ingbert Mangerig, „Erdbebenschutzsysteme für den Hoch- und Brückenbau“, Stahlbau-Kalender 2005, Wilhelm Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH, Seite 863 ff., 2005. [28] DIN EN 15129: 2018, „Erdbebenvorrichtungen“, Juli 2018.