eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 41/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2012
411 Gnutzmann Küster Schramm

Mehrsprachigkeit und Englischunterricht

2012
Jenny Jakisch
© 2012 Narr Francke Attempto Verlag 41 (2012) • Heft 1 J ENNY J AKISCH * Mehrsprachigkeit und Englischunterricht Möglichkeiten und Grenzen schulischer Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld von Theorie und Praxis Abstract. With individual plurilingualism (“M+2”) as the desired aim of European language policy, schools and especially modern foreign language departments have been asked to facilitate the development of competencies in several languages. As English is the first foreign language for almost all German pupils and since its important role as a global and European lingua franca cannot be neglected, it has become clear that the foundations for plurilingualism should be established in English. In order to substantiate the possible contribution of English language classes to plurilingual education, learners’ as well as teachers’ experiences in this area were surveyed in an empirical study. The article introduces a PhD-project that is being undertaken at the University of Braunschweig and presents the project’s main ideas and research questions as well as outlining the methodological approach. 1. Einbettung in den Forschungsdiskurs Das Thema Mehrsprachigkeit als sprachenpolitische Forderung der europäischen Union ist derzeit fester Bestandteil der fremdsprachendidaktischen Diskussionen. Zusätzlich zur Muttersprache soll jeder Bürger Europas über ausbaufähige Kenntnisse in zwei weiteren Fremdsprachen verfügen („M+2“), wobei das dabei zu erreichende Kompetenzniveau bewusst offen gehalten wird. Individuelle Mehrsprachigkeit lässt sich über schulisches Fremdsprachenlernen vermitteln, sie kann aber auch aus einer bereits zu Beginn des institutionellen Fremdsprachenunterrichts vorhandenen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit resultieren. Ziel der angestrebten Mehrsprachigkeit ist neben der Befähigung der Schüler zur Bewältigung von Kommunikationssituationen in mehr als einer Fremdsprache die Entwicklung einer Mehrsprachigkeitskompetenz als „Fähigkeit, Kenntnisse in einer Sprache und des Sprachlernprozesses für das Erlernen einer anderen Fremdsprache zu nutzen“ (H ALLET / K ÖNIGS 2010: 303). Lerner sollen folglich in die Lage versetzt werden, bereits vorhandenes Wissen und schon erworbene Kompetenzen in das Lernen einer neuen Sprache einfließen zu lassen. Ausgehend von diesem Mehrsprachigkeitsverständnis ist es Aufgabe von Schule und Fremdsprachenunterricht, die gewünschte Mehrsprachigkeit herbeizuführen und * Korrespondenzadresse: Jenny J AKISCH , Technische Universität Braunschweig, Englisches Seminar, Bienroder Weg 80, 38106 B RAUNSCHWEIG . E-Mail: j.jakisch@tu-bs.de Arbeitsbereiche: Englisch als europäische Verkehrssprache, Mehrsprachigkeitsdidaktik, Praktika und Praxis in der Lehrerbildung. Mehrsprachigkeit und Englischunterricht 105 41 (2012) • Heft 1 die Schüler zu plurilingualen Unionsbürgern zu erziehen. Damit einher geht die Forderung nach einem stärker integrativen Fremdsprachenunterricht statt eines bisher vorwiegend additiv ausgerichteten Fremdsprachenlernens. Der Unterricht in den verschiedenen (fremd-)sprachlichen Fächern sollte daher besser miteinander vernetzt werden und die Fremdsprachenlehrer sind dazu angehalten, intensiver miteinander zu kooperieren. In der Praxis, d.h. der schulischen Wirklichkeit, muss die Entwicklung von Mehrsprachigkeit allerdings innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen realisiert werden, die sich z.T. als „administrative und organisatorische Zwänge“ (C HRIST 2006: 49) oder als „institutionelle Hemmnisse“ (D E F LORIO -H ANSEN / H U 2003: X) darstellen. Darüber hinaus zeichnet sich ein Ungleichgewicht zwischen der Lebenswelt der Schüler und den sprachenpolitischen Vorstellungen im vereinten Europa ab: Auf der einen Seite dominiert das Englische als mehrheitlich erste Fremdsprache und weltweite Lingua franca mit hohem kommunikativem Nutzen, das aber die Motivation zum Lernen weiterer Fremdsprachen vermutlich eher sinken lässt, auf der anderen Seite steht der bildungspolitische Anspruch nach Kenntnissen in mindestens zwei modernen Fremdsprachen. V OLLMER (2001: 92) bringt das Dilemma auf den Punkt: [Z]um einen besteht die Notwendigkeit, sich das Englische als globales Verständigungsmittel anzueignen und sich dieser Sprache für vielfältige Zwecke kompetent zu bedienen […], zum anderen kann Englisch tendenziell als Bedrohung oder gar Sackgasse für Mehrsprachigkeit gelten. In Anbetracht der Tatsache, dass dieses Problem von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird, Angebote frühkindlicher Englischförderung sowie bilingualer Sachfachunterricht in der Arbeitssprache Englisch hoch im Kurs stehen und offenbar allgemeine Einigkeit in Bezug auf das mit Englisch einhergehende hohe cultural capital besteht, scheint eine genauere Beschäftigung mit dem Thema Mehrsprachigkeit aus der Perspektive der Englischdidaktik dringend geboten. 2. Englischunterricht im Kontext von Mehrsprachigkeit Dass sich der Englischunterricht bisher eher wenig mit den Mehrsprachigkeitsinitiativen und -bemühungen anderer Fächer bzw. Disziplinen auseinandergesetzt hat, verwundert angesichts der ihm in der Regel von Schülern und Eltern entgegengebrachten Wertschätzung, der außerschulischen Bedeutung des Englischen und seiner relativ gesicherten Stellung als schulisches Hauptfach mit hohem Stundenvolumen nicht. Obwohl das Lernziel Mehrsprachigkeit Eingang in verschiedene sprachenpolitische Dokumente gefunden hat und sich beispielsweise in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache findet (vgl. KMK 2003: 11), ist schulisches Fremdsprachenlernen bisher vorwiegend einzelsprachlich konzipiert, und die Ausrichtung am Ideal der Mehrsprachigkeit ist kein wesentlicher Bestandteil des Englischunterrichts. Vielmehr scheint sich das Fach Englisch mehr und mehr als Alleinherrscher auf dem schulischen Spra- 106 Jenny Jakisch 41 (2012) • Heft 1 chenmarkt zu etablieren, mit der negativen Konsequenz, dass „nur eine Fremdsprache, nämlich das Englische, ernsthaft und in der nötigen Breite gelehrt wird“ (A HRENS 2008: 9). Gleichwohl kann sich das Fach Englisch den mit Mehrsprachigkeit verbundenen Forderungen und Überlegungen nicht verschließen, ist doch das Englische für einen Großteil der Schüler und in weiten Teilen Deutschlands die erste (schulische) Fremdsprache, der daher eine zentrale Bedeutung für die Grundlegung von Mehrsprachigkeit zukommt. Die realen Gegebenheiten, die eine andere Sprachenfolge eher unrealistisch erscheinen lassen, und den besonderen Status des Englischen berücksichtigend, scheint es daher angebracht, „darüber nachzudenken, ob nicht ein modifizierter Englischunterricht selbst die Schülerinnen und Schüler besser als bisher auf den lebensbegleitenden Umgang mit Sprachen und Kulturen vorbereiten kann“ (S CHRÖDER 2009: 74). Auf fachdidaktischer Ebene setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass die Entwicklung von Mehrsprachigkeit auf dem Englischen aufbauen muss und dass Englischunterricht seiner Verantwortung als „Gateway to Languages“ (S CHRÖDER 2009) nachzukommen hat, um als „Brücke und Tor in die Welt anderer Sprachen“ (H ALLET 2011: 220) zu wirken. Der Englischunterricht ist daher gefordert, sein Selbstverständnis und seine didaktisch-methodische Ausrichtung zu überdenken und ggf. neu zu profilieren. Dazu müssen nicht nur die Kompetenzen der Schüler in der Zielsprache Englisch (weiter-)entwickelt werden, sondern es sind darüber hinaus im Rückbzw. Vorgriff auf schon vorhandene bzw. noch zu lernende Sprachen weiterhin Grundlagen affektiv-motivationaler, sprachlich-kognitiver, methodischer und interkultureller Art für das Lernen weiterer Fremdsprachen zu legen (vgl. u.a. V OLLMER 2001, S CHRÖDER 2009, K URTZ 2011). Inwiefern ein so gestalteter Englischunterricht Gefahr läuft, Lernende und Lehrende zu überfordern und durch eine „Überfrachtung […] mit immer neuen Aufgaben“ (K URTZ 2008: 138) seine eigentlichen Kernziele, wie die Vermittlung von funktionalen kommunikativen und interkulturellen Kompetenzen, zu vernachlässigen droht, müsste allerdings noch genauer geklärt werden. 3. Erkenntnisinteresse und empirische Umsetzung des Forschungsvorhabens Entgegen der Tendenz zu einem vorschnellen Enthusiasmus hinsichtlich der durch mehrsprachige Ansätze zu erwartenden ‚Gewinne‘ ist Ziel des Dissertationsvorhabens, aus der Perspektive der Englischdidaktik kritisch zu untersuchen, welche Möglichkeiten und Grenzen mit Mehrsprachigkeit im Fach Englisch verbunden sein könnten. Dies ist nicht nur nötig, um zu verhindern, dass Mehrsprachigkeit vorschnell als neues Paradigma betrachtet wird, sondern erscheint auch deshalb unabdinglich, weil sprachenpolitische Entwicklungen von allen Beteiligten mitgetragen werden müssen: Mehrsprachigkeit lässt sich […] nicht ‚verordnen‘. Die Vorstellung von der zentralen Bedeutung von Verständigung und wechselseitigem Verstehen in Europa wird sich nur dann Mehrsprachigkeit und Englischunterricht 107 41 (2012) • Heft 1 verwirklichen lassen, wenn die beteiligten Menschen - Schüler, Lehrer, Eltern - für diese Leitidee gewonnen werden können (N EUNER 2005: 176). Das Projekt setzt sich daher zum Ziel, Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld von Theorie und Praxis zu analysieren und mögliche Diskrepanzen zwischen einer eher (sprachen-) politisch idealisierten Sicht und einer tendenziell eher pragmatisch-realistischen Schulsicht aufzuzeigen. Der Relevanz guter Englischkenntnisse und damit der Bedeutung des Schulfaches Englisch Rechnung tragend, soll darüber hinaus erkundet werden, inwiefern und auf welche Weise Englischunterricht und das Ideal der Mehrsprachigkeit verbunden werden können. Ausgehend von der These, dass der Weg zu Mehrsprachigkeit das Englische mit einschließen muss, gilt es, den möglichen Beitrag des Englischunterrichts zur Entwicklung von Mehrsprachigkeit zu konkretisieren. Dazu ist es jedoch nötig, die Ausgangsbedingungen für die Umsetzung mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze genauer in den Blick zu nehmen, bleiben doch die schulischen Gegebenheiten, innerhalb derer die Implementierung von Mehrsprachigkeit stattfinden muss, sowie die Perspektive der beteiligten Akteure häufig unberücksichtigt. Um mehr über die Sichtweise der an der Realisierung schulischer Mehrsprachigkeit Beteiligten zu erfahren, wurden daher im Rahmen einer empirischen Studie Englischlerner des 10. Jahrgangs verschiedener niedersächsischer Gymnasien (n=273) sowie Englischlehrer mit unterschiedlichen Zweitfächern (n=15) zu ihren Einstellungen gegenüber und ihren Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und sprachenübergreifendem Lernen befragt. Da Daten von einer größeren Zahl an Schülern erhoben werden sollten, kam für diese Gruppe mit dem quantitativen Instrument des Fragebogens eine stärker vorstrukturierte Erhebungsmethode zum Einsatz, deren Geschlossenheit allerdings durch den Einsatz von Teilfragen mit Freitextoption bewusst durchbrochen wurde. Der Perspektive der Lehrer konnte eher mit einer offeneren, im qualitativen Ansatz zu verortenden Methode Ausdruck verliehen werden, sodass die Wahl auf leitfadenbasierte Experteninterviews fiel. Die flexibel zu handhabenden Leitfragen dienten der Vergleichbarkeit des Interviewmaterials und halfen dabei, den thematischen Rahmen sinnvoll zu begrenzen. Die Auswertung der Daten mithilfe der webbasierten Software Evasys (Schülerfragebögen) sowie in Anlehnung an Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse (Lehrerinterviews) strebt an, unterschiedliche Sichtweisen auf Möglichkeiten und Grenzen von Mehrsprachigkeit im und durch Englischunterricht aufzudecken. Dass die Ergebnisse auf unterschiedliche Datenformate zurückgehen und daher nur bedingt vergleichbar sind, ist insofern vertretbar, als das Ziel des Forschungsvorhabens im Offenlegen verschiedener Perspektiven auf Mehrsprachigkeit und Englischunterricht besteht. Die so gewonnenen Erkenntnisse, d.h. die subjektiven Auffassungen der Schüler und Lehrer, sollen der theoretischen Begründung des Konzepts schulische Mehrsprachigkeit gegenübergestellt werden. Die Analyse der strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen des ‚englischen Klassenzimmers‘ und die Erforschung der Leitvorstellungen der Mitwirkenden erlauben eine realistischere Einschätzung des möglichen Beitrags des Faches Englisch zur Erziehung zu Mehrsprachigkeit. 108 Jenny Jakisch 41 (2012) • Heft 1 Literatur A HRENS , Rüdiger (2008): „Universalismen im Englischunterricht - gibt es die? “ In: B AUSCH / B URWITZ -M ELZER / K ÖNIGS / K RUMM (Hrsg.), 9-17. B AUSCH , Karl-Richard / B URWITZ -M ELZER , Eva / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2008): Fremdsprachenlernen erforschen: sprachspezifisch oder sprachenübergreifend? Arbeitspapiere der 28. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. C HRIST , Ingeborg (2006): „Wozu lernt man heute fremde Sprachen? “ In: S CHERFER , Peter / Wolff, Dieter (Hrsg.): Vom Lehren und Lernen fremder Sprachen. Eine vorläufige Bestandsaufnahme. Frankfurt/ M. [u.a.]: Lang, 39-68. D E F LORIO -H ANSEN , Inez / H U , Adelheid (2003): „Einführung: Identität und Mehrsprachigkeit in Zeiten der Internationalisierung und Globalisierung“. In: Dies. (Hrsg.): Plurilingualität und Identität. Zur Selbst- und Fremdwahrnehmung mehrsprachiger Menschen. Tübingen: Stauffenburg, VII-XVI. H ALLET , Wolfgang (2011): Lernen fördern: Englisch. Kompetenzorientierter Unterricht in der Sekundarstufe I. Seelze: Kallmeyer. H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. (2010): „Mehrsprachigkeit und vernetzendes Sprachenlernen“. In: Dies. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze: Kallmeyer, 302-307. K URTZ , Jürgen (2008): „Sprachenübergreifendes Lernen und Lehren in der Schule: Abkehr vom kommunikativen Englischunterricht? “ In: B AUSCH / B URWITZ -M ELZER / K ÖNIGS / K RUMM (Hrsg.), 134-140. K URTZ , Jürgen (2011): „Mehrsprachigkeit als Rahmenbedingung und übergeordnete Bildungsaufgabe: Englisch lehren und lernen an Ganztagsschulen“. In: A PPEL , Stefan (Hrsg.): Mehr als Schule oder doch: mehr als Schule? Schwalbach/ Ts.: Wochenschau-Verlag, 70-83. N EUNER , Gerhard (2005): „Zur Rolle des Englischen in einem europäischen Konzept von Mehrsprachigkeit“. In: D UXA , Susanne / H U , Adelheid / S CHMENK , Barbara (Hrsg.): Grenzen überschreiten. Menschen, Sprachen, Kulturen. Festschrift für Inge Christine Schwerdtfeger zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr, 163-177. S CHRÖDER , Konrad (2009): „Englisch als Gateway to Languages“. In: F ÄCKE , Christiane (Hrsg.): Sprachbegegnung und Sprachkontakt in europäischer Dimension. Frankfurt/ M. [u.a.]: Lang, 69- 85. S EKRETARIAT DER S TÄNDIGEN K ONFERENZ DER K ULTUSMINISTER DER L ÄNDER DER B UNDESREPUBLIK D EUTSCHLAND ( KMK ) (Hrsg.) (2003): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Schulabschluss (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003). Bonn. V OLLMER , Helmut J. (2001): „Englisch und Mehrsprachigkeit: Interkulturelles Lernen durch Englisch als lingua franca? “ In: A BENDROTH -T IMMER , Dagmar / B ACH , Gerhard (Hrsg.): Mehrsprachiges Europa. Festschrift für Michael Wendt zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr, 91-109.