eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 44/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2015
442 Gnutzmann Küster Schramm

Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von mehrsprachigen Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden

2015
Grit Mehlhorn
© 2015 Narr Francke Attempto Verlag 44 (2015) • Heft 2 G RIT M EHLHORN * Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von mehrsprachigen Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden Abstract. This paper addresses the results of a research project concerning the awareness of the potential of knowledge in the heritage language by heritage speakers of Polish, in school as well as in family contexts. After giving a brief outline of what is presently known about heritage languages in the context of multilingualism, it presents findings from two case studies that point to important factors responsible for the successful language acquisition of heritage learners. The interviews conducted offer some useful insights into the perspectives of the heritage learners, their parents as well as their teachers of Polish with respect to their individual learning biographies, styles of language education at home, and the use of the multilingual knowledge of the heritage speakers in different school contexts. Finally, the perception of the situation of heritage learners will be identified and aspects that deserve explicit institutional encouragement will be outlined. 1. Herkunftssprachen im Kontext von Mehrsprachigkeit Polen ist eines der Hauptherkunftsländer bei der gegenwärtigen Zuwanderung. Etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland sind heute Polen, sprechen Polnisch oder stammen aus Polen. Polinnen und Polen werden in Deutschland oft nicht als solche wahrgenommen und gelten als „unsichtbare“ Minderheit (vgl. L OEW 2014). Ihre Kinder wachsen oft zweisprachig auf und verfügen über unterschiedliche Kompetenzgrade in der Herkunftssprache Polnisch - von lediglich rezeptiven Fertigkeiten im Polnischen bis hin zu ausbalancierter Zweisprachigkeit. Das typische Profil eines Herkunftssprechers (heritage speaker) ist nach P OLINSKY (2015) das eines Kindes, das außerhalb des Heimatlandes der Eltern geboren wurde oder dieses Land im Kindesalter verlassen hat. Mindestens eine Person in der Familie kommuniziert mit dem Kind in der Herkunftssprache. Außerhalb der Familie verwendet das Kind meist die Umgebungssprache - in unserem Fall Deutsch. Der Einfluss des Deutschen nimmt zu, wenn das Kind in die Schule kommt. Der Input in der Herkunftssprache ist begrenzt, da das Polnische nur in bestimmten Kontexten in der Familie und nur mit wenigen Kontaktpersonen gesprochen wird. Hinzu können Phänomene wie unvollständiger Spracherwerb (z.B. im Bereich der Lexik und der schriftsprachlichen Kompetenzen), Sprachabbau bzw. Sprach- * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Grit M EHLHORN , Universität Leipzig, Institut für Slavistik, Beethovenstr. 15, 04107 L EIPZIG . E-Mail: mehlhorn@rz.uni-leipzig.de Arbeitsbereiche: Methodik und Didaktik der Fremdsprachenvermittlung, insbesondere slawische Sprachen und Deutsch als Fremdsprache, Mehrsprachigkeit, Erwerb von Herkunftssprachen. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 61 44 (2015) • Heft 2 verlust (vgl. ebd.) kommen. Im Kontext von Mehrsprachigkeit in der Schule wird seit Jahren der Erhalt und die Förderung der Herkunftssprachen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gefordert (vgl. u.a. H U 2003; D IRIM 2007), da sichere Kenntnisse in der Herkunftssprache für das Erlernen aller weiteren Sprachen einschließlich des Deutschen von Bedeutung seien (vgl. K NIFFKA / S IEBERT -O TT 2007). Die herkunftssprachlichen Kenntnisse werden in der Bildungspolitik als „ein wichtiger Faktor der Berufsqualifizierung und als eine Sprungschanze zum erfolgreichen Erwerb weiterer Sprachen“ gesehen (L ÜTTENBERG 2010: 302). Im Fokus dieses Beitrags stehen bilingual aufwachsende polnischsprachige Schülerinnen und Schüler (im Folgenden SuS) der zweiten Migrantengeneration, die sich im 1. Lernjahr ihrer 2. Fremdsprache befinden (Klasse 7). Neben Deutsch und Polnisch gehört für die Jugendlichen Englisch als 1. Fremdsprache (seit Klasse 3) zu ihrer Sprachenbiographie. Die 2. Fremdsprache ‒ z.B. Französisch, Spanisch oder eben auch Polnisch, das in Berlin als reguläre Schulfremdsprache angeboten wird ‒ lernen sie seit einigen Monaten. Eine Besonderheit des Polnisch-als-Fremdsprache-Unterrichts besteht darin, dass er häufig auch von SuS besucht wird, die diese Sprachen im familiären Umfeld sprechen und daher Vorkenntnisse und Kompetenzen v.a. im mündlichen Bereich in den Fremdsprachenunterricht mitbringen. Außerdem gibt es für polnischsprachige Kinder und Jugendliche in Berlin die Möglichkeit, am Herkunftssprachenunterricht Polnisch teilzunehmen, der u.a. vom polnischen Schulverein Oświata (poln. „Bildung“) angeboten wird. Herkunftssprachenunterricht findet zusätzlich und auf freiwilliger Basis an verschiedenen Schulen in der Regel am Nachmittag oder Abend - außerhalb der üblichen Unterrichtszeit - statt. Im Artikel soll herausgearbeitet werden, welche Faktoren zur Wahrnehmung des Potenzials der Herkunftssprache aus Sicht der Jugendlichen, ihrer Eltern und Lehrkräfte beitragen und in welchen Bereichen noch Potenzial brachliegt. 2. Forschungskontext und -design Die hier vorgestellten Daten aus polnischsprachigen Familien in Berlin wurden im Rahmen des Projekts „Russische und polnische Herkunftssprache als Ressource im Schulunterricht - eine Bestandsaufnahme zur Rolle des familiären und schulischen Kontexts für die Nutzung von Herkunftssprachen durch Schüler/ -innen mit Migrationshintergrund“ durchgeführt. 1 Mithilfe qualitativer Interviews in den Familien wurden die Jugendlichen und ihre Eltern zu ihren Einstellungen in Bezug auf Vor- und Nachteile ihrer Herkunftssprache, Spracherziehungsstile, ihre Sicht auf die Mehrsprachigkeit in der Familie und das Aufgreifen der Herkunftssprachen im schulischen Kontext 1 Dieses Verbundprojekt der Universitäten Greifswald (Projektleiter: Bernhard Brehmer) und Leipzig (Projektleiterin: Grit Mehlhorn) wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem Kennzeichen 01JM1302B gefördert. Die hier vorgestellten Interviewdaten wurden von Joanna Burkhardt und Joanna Ziemba erhoben und von Anne Mühlich und Marta Wyspiańska transkribiert. 62 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 befragt. Darüber hinaus fanden Befragungen der Lehrkräfte statt, die diese Jugendlichen in Polnisch - als Fremd- oder Herkunftssprache - unterrichten. Gefragt wurde u.a. nach Bezugnahmen auf die Herkunftssprache und die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der SuS, nach Sprachvergleichen und Differenzierungsmaßnahmen. Durch die Einbeziehung der Eltern und Lehrkräfte der SuS soll versucht werden, das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und ein komplexeres Bild von der Mehrsprachigkeit und den Bedingungen des Polnischerwerbs zu erhalten. Neben den Befragungen werden in den Familien umfangreiche Sprachstandserhebungen im Deutschen und Polnischen durchgeführt. Die erstellten Sprachenprofile der einzelnen SuS können Auskunft über gruppentypische, aber auch individuelle Ausprägungen geben. Studien zur Herkunftssprache Polnisch sind bisher rar gesät (vgl. jedoch L AGNER 2013 zum herkunftssprachlichen Unterricht Polnisch in Hamburg sowie A NSTATT 2013 zu linguistischen Analysen des Polnischen von Herkunftssprechern). J AŃCZAK (2013) untersucht die sprachlichen und familiären Verhältnisse in deutsch-polnischen Familien in Deutschland und in Polen durch Befragung bilingualer Ehepartner und bildet damit die Sichtweise erwachsener Migranten ab. Unser Projekt beruht auf der theoretischen Vorannahme, dass Mehrsprachigkeit aufgrund der Komplexität der verschiedenen miteinander interagierenden sprachlichen, kognitiven, emotionalen und sprachspezifischen Faktoren nur durch eine holistische Betrachtung adäquat erfasst werden kann. Da die multilinguale Sprachbeherrschung ständigen Veränderungen unterliegt, wird dem Projekt das Dynamische Modell des Multilingualismus (vgl. H ERDINA / J ESSNER 2002) zugrunde gelegt. Durch die Betonung der individuellen Faktoren und der chronologischen Komponente eignet es sich gut für Einzelfallanalysen wie im hier vorgestellten Projekt. Im Folgenden werden zwei ausgewählte Fälle - Ania und Kamila - vorgestellt, wobei neben den Sichtweisen der Schülerinnen auf ihre Mehrsprachigkeit auch die ihrer Mütter sowie der Polnischlehrerinnen einbezogen werden. Gemeinsamkeiten dieser Fälle bestehen darin, dass • Polnisch für beide Mädchen die dominierende Familiensprache ist, • beide Jugendliche während der Ferien viel Zeit in Polen verbringen, • sie u.a. durch polnischsprachiges Fernsehen, das Begehen von polnischen Feiertagen und ihre Kontakte zum Herkunftsland über landeskundliches und kulturelles Wissen zu Polen verfügen, • beide Mädchen im Vergleich zu anderen Probanden unserer Studie sehr gute Polnischkompetenzen aufweisen, die sie in einem institutionellen Kontext weiter vertiefen. Die beiden Mädchen unterscheiden sich in ihren Sprachenlernbiographien und einer Reihe individueller Faktoren. Während Ania Herkunftssprachenunterricht besucht, lernt Kamila Polnisch als zweite Schulfremdsprache. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 63 44 (2015) • Heft 2 3. Der Fall Ania Ania ist zum Zeitpunkt der Befragung 12 Jahre alt und besucht die 7. Klasse eines Berliner Gymnasiums. Ihre Eltern - beide Polen - sind vor 25 bzw. 15 Jahren nach Deutschland gekommen. Ania wurde - wie auch ihr jüngerer Bruder - in Berlin geboren. Seit sieben Jahren besucht Ania einmal pro Woche den herkunftssprachlichen Polnischunterricht, den sie „polnische Schule“ nennt. Dazu fährt sie nach einem langen Schultag mit dem Bus in eine andere Schule. In der „deutschen“ Schule lernt Ania ihre 2. Fremdsprache Französisch. Ania sagt im Interview, dass sie Sprachen mag. Sie sieht sich beim Sprachenlernen ihren monolingual aufwachsenden Mitschülern gegenüber im Vorteil, weil sie ihrer Meinung nach Sprachen leichter lernt. 3.1 Anias Sicht Ania steht ihrer Zweisprachigkeit sehr positiv gegenüber. Sie empfindet es als Vorteil, dass sie eine Sprache mehr beherrscht als andere und erklärt, dass ihr das beim Fremdsprachenlernen hilft. Im Unterricht versteht sie manchmal auch Fremdwörter oder deutsche Archaismen in anderen Fächern, die sie aus dem Polnischen wiedererkennt, während ihre Mitschüler nichts damit anfangen können. Als Beispiel nennt sie szpital (Spital) aus dem Geschichtsunterricht und Internationalismen aus dem Französischunterricht. Außerdem erzählt Ania, dass sie oft etwas versteht, wenn sich Russen in der S-Bahn unterhalten. Das ginge nur durch ihr Polnisch; andere Kinder würden das nicht verstehen. Sie ist stolz darauf, dass sie inzwischen vier Sprachen lernt und möchte später noch Italienisch hinzunehmen. In ihrer Klasse ist Ania die einzige Schülerin mit polnischen Wurzeln. Ihre Lehrer wissen das und nehmen manchmal darauf Bezug. So konnte sie sich bei den internationalen Projekttagen in der „deutschen“ Schule einbringen, als türkisch, afrikanisch und polnisch gekocht wurde. Ihre Sprachkompetenzen schätzt Ania in allen Bereichen als sehr gut ein - sowohl im Deutschen als auch im Polnischen, wobei sie einschränkt, dass ihr Deutsch besser ist. Während des Interviews benennt sie konkrete Schwierigkeiten mit der polnischen Grammatik und Orthographie. Die Eltern und ihre Großmutter korrigieren sie manchmal. Insgesamt geht Ania sehr unbefangen mit ihren Fehlern um und betrachtet sie als normal und unvermeidlich. Sie stellt fest, dass sich ihr Polnisch durch die „polnische Schule“ verbessert hat und ist optimistisch, dass sie weiterhin Lernfortschritte machen und Polnisch und Deutsch bald gleich gut beherrschen wird. Ania berichtet, dass sie trotz der zusätzlichen Hausaufgaben und der ungünstigen Zeit am Nachmittag gern in die „polnische Schule“ geht. Während des Interviews zeigt sie stolz ihren dicken Ordner mit einer Fülle an Unterrichtsmaterialien. Ania erzählt begeistert von regelmäßig stattfindenden Polnischolympiaden mit Diktaten und einem Lyrikwettbewerb, für den sie selbst schon ein Gedicht auf Polnisch geschrieben hat. Durch den Polnischunterricht sind Ania bestimmte Regeln in der Orthographie bewusst geworden, die sie vorher nicht kannte. Sie merkt, dass sich ihr Wortschatz durch den Polnischunterricht vergrößert und dass sie die neuen Wörter auch im Alltag anwenden kann. Von sich aus liest 64 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 Ania normalerweise keine Bücher auf Polnisch, aber im Polnischunterricht werden manchmal Geschichten und Auszüge aus Lektüren behandelt, die sie zu Hause zu Ende liest. Ania wird häufig von anderen Menschen in eine bestimmte Schublade gesteckt. Sie sagt: „Also in Polen sagen die alle, ich komme aus Deutschland und hier sagen sie, ich komme aus Polen“. Offensichtlich hat sie bereits eine Strategie entwickelt damit umzugehen: „Ich sag dann immer, ich bin zweisprachig“. Ania macht deutlich, dass sie sich sowohl in Deutschland als auch in Polen wohlfühlt. Ihre Zweisprachigkeit sieht sie als Bereicherung. Durch ihre Polnischkenntnisse kann sie jederzeit nach Polen fahren, und durch ihre Deutschkenntnisse kommt sie auch in Deutschland klar. Sie ist Klassenbeste, möchte später Medizin studieren und Ärztin werden; sie glaubt, dass ihre Sprachkenntnisse dafür nützlich sein werden. 3.2 Die Sicht von Anias Mutter Anias Mutter ist stolz auf die Zweisprachigkeit ihrer Tochter und vergleicht sie im Interview mit anderen Kindern, deren polnische Eltern weniger Wert auf den Polnischerwerb gelegt haben und die deshalb Verständigungsschwierigkeiten in der Familie haben. Zudem hebt sie den Ehrgeiz und die Zielstrebigkeit ihrer Tochter beim Lernen hervor. Wenn Ania in Polen mit anderen Kindern zusammen ist, würde ihr etwas „naives“ Polnisch auffallen, da sie die Sprache v.a. aus der Familie kennt, weniger jedoch die Umgangssprache Gleichaltriger aus Polen. Gleichzeitig freut sich die Mutter darüber, wie gut sich Ania mit den polnischen Verwandten verständigen kann. Die Mutter betont Anias Bemühungen in der Schule und versucht, die Tochter regelmäßig zum Polnischunterricht zu schicken, sieht aber auch, wie schwer es Ania nach dem langen Schultag fällt, noch drei Stunden Polnisch zu lernen. In Anbetracht des von Ania empfundenen Drucks aus der „deutschen“ Schule, gute Noten zu erhalten, scheint der Besuch des zusätzlichen Polnischunterrichts öfter große Überwindung zu kosten. Mit den Polnischkenntnissen ihrer Tochter ist die Mutter sehr zufrieden. Ania würde zwar einfache Sätze bilden und einen begrenzten Wortschatz haben, könne sich aber gut auf Polnisch verständigen. In Bezug auf das Deutsche hat die Mutter Verbesserungen festgestellt, kann Anias Niveau aber nicht genau einschätzen. Daher orientiert sie sich an den guten Schulnoten. Da ihr Deutsch wesentlich schlechter ist als das ihrer Tochter, ist sie unsicher, ob Ania Deutsch mit polnischem Akzent spricht. Für beide Sprachen wäre es wünschenswert, wenn Ania mehr lesen würde. Offensichtlich handelt es sich hier um eine Sicht von Anias Lehrern, die die Mutter wiedergibt. In den Sprachstandstests zeigt sich, dass Ania Deutsch und Polnisch akzentfrei spricht, allerdings zuweilen morphosyntaktische Abweichungen im Deutschen produziert, die sich auf Interferenzen mit dem Polnischen zurückführen lassen. Die im Polnischen produzierten grammatischen Abweichungen stören im Gespräch wenig, da sie sehr flüssig und mit natürlicher polnischer Intonation spricht. Ihr polnischer Wortschatz ist im Vergleich zu anderen Probanden unserer Studie recht groß; die Aufgaben im Rahmen der Sprachstandserhebung löst sie souverän. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 65 44 (2015) • Heft 2 Die Mutter ist sehr zufrieden mit dem Unterricht, lobt das Engagement der Lehrkräfte und die vielen kulturellen Aktivitäten des polnischen Schulvereins, an der ihre Kinder offensichtlich gern teilnehmen. Sie selbst geht zu den Elternabenden, hat guten Kontakt zur Polnischlehrerin und versucht, andere Familien der Polonia zum Besuch der Veranstaltungen zu motivieren. Aus Sicht der Mutter sind die Polnischlehrerinnen sensibel, versuchen eine angenehme Unterrichtsatmosphäre zu gestalten und die SuS nach dem langen Schultag nicht zu überfordern. Daher gehen ihre Kinder gern zum Unterricht. Eine große Chance sieht die Mutter darin, dass Ania bei Oświata mit 16 Jahren eine Polnischprüfung ablegen kann, mit der ihr dann ein Studium in Polen offen steht. 3.3 Die Sicht von Anias Polnischlehrerin Frau A. ist ausgebildete Polonistin und unterrichtet seit vielen Jahren bei Oświata Polnisch für Kinder und Jugendliche der Polonia. Im Interview wird deutlich, dass sie ihre Arbeit als Mission ansieht und versucht, den Kindern ein positives Polenbild zu vermitteln und sowohl durch ihren Unterricht als auch durch zusätzliche Aktivitäten wie Sprachwettbewerbe und Bildungsfahrten nach Polen das Schöne an der polnischen Sprache und an Polen zu zeigen. Damit möchte sie die Wurzeln der Kinder der Polonia und deren Selbstwertgefühl stärken und ihnen Unterstützung für ihr späteres Leben geben. Sie sieht ihre SuS als künftige Botschafter und Mittler zwischen der polnischen und deutschen Kultur. Die erschwerten Bedingungen ihrer Tätigkeit - Arbeit auf Honorarbasis, kein eigenes Klassen- und Lehrerzimmer, große Fluktuation der Kolleginnen aufgrund der schlechten Bezahlung und die extrem heterogenen Lerngruppen - erwähnt sie am Rande, allerdings nicht klagend, sondern eher als Hintergrundinformation für ihren Umgang mit den SuS. Ihre derzeitige Lerngruppe, zu der auch Ania gehört, besteht aus 12 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 16 Jahren. Diese SuS unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf ihr Alter, sondern auch in ihren sprachlichen Kompetenzen und ihrer Motivation zum Polnischlernen. Frau A. engagiert sich sehr für den Schulverein. Sie verwendet aktivierende Methoden im Unterricht, sucht interessante Übungen, Texte und Lektüren aus den unterschiedlichsten Lehrwerken und im Internet, bringt zu jedem Unterricht Wörterbücher, Kopien sowie einen CD-Player oder Beamer mit, überlegt sich kreative Übungen, um die SuS zum Schreiben zu bringen und bildet sich u.a. durch mehrtägige Fortbildungen an polnischen Universitäten in didaktisch-methodischer Hinsicht ständig weiter. Frau A. bringt ihren SuS viel Empathie entgegen und versteht, dass der Polnischunterricht am späten Nachmittag mit teilweise langem Anfahrtsweg eine zusätzliche Anstrengung darstellt. Ihr ist bewusst, wie schwer den Jugendlichen die Arbeit an ihren sprachlichen Defiziten oft fällt und dass sie zuweilen andere Prioritäten haben. Als Beispiel für die Nutzung von Kenntnissen der „Polonia-Kinder“ erwähnt Frau A., dass eine ihrer Schülerinnen auf einem Ausflug nach Krakau u.a. auch das Konzentrationslager in Auschwitz besichtigt hat und ihrem Geschichtslehrer tief erschüttert 66 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 davon erzählt hat, woraufhin dieser sie bat, eine Präsentation über das KZ für den Geschichtsunterricht vorzubereiten. Frau A. betont die wichtige Rolle der Eltern für die Lernerfolge der Kinder. Dafür müsse zu Hause gezielt Polnisch gesprochen werden. Die Lehrerin versucht, einen kommunikativen Unterricht zu gestalten und grammatische Regeln dort zu thematisieren, wo es für die Anwendung durch die SuS notwendig ist. Sie verwendet fast ausschließlich Polnisch im Unterricht. Sprachvergleiche mit dem Deutschen werden bei der Behandlung von Phraseologismen angestellt. Frau A. kennt Ania seit drei Jahren aus ihrem Unterricht und lobt sie als sehr aktive, lebendige und begeisterungsfähige Schülerin. Ania habe keine Hemmungen im Unterricht zu sprechen und nachzufragen, wenn sie etwas nicht versteht. Manchmal sei sie etwas unkonzentriert, denke beim Sprechen schon an den nächsten Satz und würde dadurch Äußerungen nicht immer beenden oder nach Worten suchen. Wie die meisten Mitschüler schreibe Ania ungern auf Polnisch. Eine Zeitlang sei sie nur unregelmäßig zum Unterricht gekommen; inzwischen habe sie sich aber wieder gefangen. Ania sei stolz auf ihre Polnischkenntnisse und würde sie gern anwenden. Dabei sei der ständige Kontakt mit den Großeltern und Verwandten in Polen und das soziale Engagement der Mutter, die in Berlin viele Kontakte zu polnischsprachigen Menschen pflegt, eine große Hilfe. Im Vergleich zu anderen Lernenden aus der Gruppe verfüge Ania über sehr gute Polnischkenntnisse. 4. Der Fall Kamila Die zum Interviewzeitpunkt 13 Jahre alte Kamila ist in Polen geboren, wo sie auch den Kindergarten besucht hat. Erst im Alter von fünf Jahren ist sie mit ihrer Mutter nach Berlin gezogen und hat noch ein Jahr lang eine deutsche Kindertagesstätte besucht. In der Grundschule hatte sie zu Beginn noch einige Probleme, doch mit der Zeit hat sich ihr Deutsch immer mehr verbessert. Polnisch ist ihre Erstsprache, die sie durch die täglichen Gespräche mit der Mutter und den regelmäßigen Kontakt zu ihren Großeltern und Verwandten in Polen stetig weiterentwickelt. Ihr Vater ist ebenfalls Pole, aber die Mutter ist alleinerziehend, und Kamila hat keine Geschwister. Mutter und Tochter leben recht zurückgezogen und haben wenig Kontakt zu anderen Polnischsprachigen in Berlin. Schon vor der Einschulung konnte Kamila lesen, was sie mithilfe einer polnischen Fibel von ihrer Großmutter gelernt hat. Als 2. Schulfremdsprache hat Kamila Polnisch gewählt, so dass sie seit der 7. Klasse ihre Polnischkenntnisse systematisch ausbauen und vertiefen kann. Ihre 1. Fremdsprache ist Englisch. Kamilas Sprachenwahl ist orts- und personengebunden: In der Schule spricht sie in der Regel Deutsch, zumal es dort ein Verbot gibt, in den Pausen Polnisch zu sprechen, und zu Hause meistens Polnisch. Sie glaubt, beide Sprachen etwa gleich häufig zu verwenden. Kamila korrigiert ihre Mutter, wenn diese beim Sprechen auf Deutsch Fehler macht, und wird wiederum von ihr beim Schreiben im Polnischen korrigiert. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 67 44 (2015) • Heft 2 4.1 Kamilas Sicht Kamila ist der Meinung, Polnisch etwas besser als Deutsch zu beherrschen, macht dies allerdings an ihren Schulnoten in den beiden Fächern fest. Sie nennt wenige Aspekte der polnischen Rechtschreibung, die ihr schwerfallen. Allgemein ist sie im Polnischen mündlich etwas besser als schriftlich, wohingegen sie ihre Fertigkeiten im Deutschen als gleich gut einschätzt. Ihrer Meinung nach weiß sie mehr über Polen als über Deutschland, z.B. kennt sie mehr polnische Städte oder auch Schauspieler. Deutsch und Polnisch sind Kamila gleichermaßen wichtig, da sie in Deutschland lebt und ihre Familie nur Polnisch spricht. Sie findet es gut, dass sie zweisprachig ist und schließt nicht aus, später vielleicht einmal nach Polen zu ziehen. Aufgrund ihrer polnischen Wurzeln sieht sie sich als Polin, zugleich fühlt sie sich wohl in Berlin. Polnisch lernt Kamila seit etwa einem dreiviertel Jahr am Gymnasium, vier Stunden pro Woche im Fortgeschrittenenkurs. Den Polnischunterricht findet sie „cool“ und meint, v.a. in den Bereichen Aussprache, Rechtschreibung und kulturelles Wissen über Polen dazuzulernen. Sie erwähnt, dass sie gerade mit einer Freundin einen Vortrag über eine polnische Band auf Polnisch vorbereitet. Während Kamila im Polnischunterricht sehr oft ihre Vorkenntnisse aus der Erstsprache einbringen kann, fallen ihr für andere Fächer keine Beispiele ein. Bis auf die vage Vorstellung, später vielleicht einmal in Polen zu leben, hat sie über die Vorteile ihrer Zweisprachigkeit noch nicht nachgedacht. 4.2 Die Sicht von Kamilas Mutter Kamilas Mutter lag viel daran, dass ihre Tochter auf ein bestimmtes Gymnasium mit Polnischunterricht geht, zumal sie von ihren polnischen Bekannten gute Meinungen über die Schule gehört hat. Kamila kann mit einer Freundin aus der Grundschule, die ebenfalls polnischer Herkunft ist, dorthin gehen und wollte auch deshalb gern diese Schule besuchen, weil sie wusste, dass ihr das Polnischlernen leicht fallen würde. Die Mutter fühlt sich als Polin wohl in Berlin, auch wenn die polnische Sprache ihrer Meinung nach nur ein geringes Prestige in Deutschland habe. Sie persönlich sieht Zwei- und Mehrsprachigkeit als etwas Positives und Bewundernswertes. Kamilas Polnischkenntnisse schätzt die Mutter mit Verweis auf deren Schulnoten als gut ein. Sie ist der Meinung, dass Kamila durch die häufigen Polenaufenthalte und das polnische Fernsehen auch über kulturelles Wissen in Bezug auf Polen verfügt. Mit den Sprachkenntnissen ihrer Tochter in beiden Sprachen zeigt sie sich sehr zufrieden und betont, dass Kamila sowohl Polnisch als auch Deutsch akzentfrei spricht. Sie sieht nur Vorteile in der Zweisprachigkeit ihres Kindes: von der Möglichkeit, sich auch in Polen gut zurechtzufinden, über die Chance, später einmal in einer deutsch-polnischen Firma zu arbeiten, bis hin zu allgemeinen Vorteilen beim Denken und Lernen. Kamila ist ihrer Mutter zufolge nicht besonders ehrgeizig und könne nicht lange über Büchern sitzen. Da ihr das selbst als Kind auch schwergefallen ist, hat die Mutter dafür Verständnis. Dennoch motiviert sie Kamila zum Lernen, indem sie ihr erklärt, dass sie es einmal umso leichter haben wird, je besser ihr Abschluss sein wird. 68 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 4.3 Die Sicht von Kamilas Polnischlehrerin Frau K. ist seit 20 Jahren als Polnischlehrerin tätig, zunächst in Polen, seit etwa zehn Jahren an einem Berliner Gymnasium, an dem sie den Polnischfachbereich mit aufgebaut hat. Inzwischen hat sie einen unbefristeten Vertrag und unterrichtet 14 Stunden Polnisch pro Woche von Klasse 7 bis 12, davon vier Stunden in der Klasse von Kamila. Am Unterricht des Polnischen als 2. Fremdsprache nehmen sowohl SuS ohne Vorkenntnisse als auch solche aus polnischsprachigen Familien teil. Sind genügend SuS vorhanden, wird die Klasse in eine Anfänger- und Fortgeschrittenengruppe geteilt, aber nicht in allen Klassenstufen ist das möglich. Kamila lernt Polnisch in der Fortgeschrittenengruppe. Aber auch hier gibt es große Unterschiede in den Sprachkompetenzen der SuS, von denen mehrere bereits Polnischunterricht in der Grundschule hatten, zum Teil sogar noch in Polen, andere hingegen nicht. Einige SuS würden zusätzlich zum Fremdsprachenunterricht noch Polnisch in der Botschaftsschule lernen. Als großes Manko in ihrer Arbeit beklagt Frau K. das Fehlen von geeigneten Unterrichtsmaterialien für die unterschiedlichen Niveaustufen ihrer SuS, was für sie mit einem immensen Vorbereitungsaufwand verbunden ist. Im Interview wird deutlich, dass sie zudem unter dem niedrigen Prestige des Polnischen leidet. Von den Kolleginnen anderer Fächer wird der Polnischunterricht z.B. im Vergleich zum Französischunterricht als weniger wichtig angesehen ‒ offensichtlich auch deswegen, weil man die SuS mit polnischsprachigen Wurzeln nicht als echte Lernende ansieht und glaubt, sie würden sich mit der Wahl des Polnischen um das Erlernen einer „richtigen“ Fremdsprache drücken. In diesem Zusammenhang wird auch das Verbot, an der Schule in den Pausen Polnisch zu sprechen, erwähnt. Die Anstrengungen ihrer SuS, ihre Herkunftssprache zu erhalten und auszubauen, würden auch aufgrund des geringen Ansehens des Polnischen nicht wertgeschätzt, so dass die Lernenden selbst im Vergleich zu den SuS, die in der 7. Klasse mit Polnisch begonnen haben, kaum Lernfortschritte bei sich wahrnehmen würden, was zuweilen negative Auswirkungen auf ihre Motivation zum Weiterlernen habe. Das gute Abschneiden einiger SuS bei den Polnischolympiaden in Warschau werde in der eigenen Schule nicht hinreichend geschätzt. Die große Heterogenität ihrer Lerngruppen ist für Frau K. trotz ihrer Lehrerfahrung eine ständige Herausforderung. Sie berichtet von verschiedenen Differenzierungsmaßnahmen, angefangen von abwechselnden Sozialformen und der bewussten Zusammensetzung der SuS für die Partner- und Gruppenarbeit, über die Verwendung verschiedener Texte für unterschiedliche Sprachniveaus bis hin zu individuellen Aufgabenstellungen. Dennoch habe sie in bestimmten Unterrichtsphasen immer das Gefühl, einige SuS zu über- und andere zu unterfordern. Befragt nach Sprachvergleichen im Polnischunterricht, erwähnt die Lehrerin Interferenzen der SuS und dass sie sie darauf aufmerksam mache, wenn diese etwas fehlerhaft aus dem Deutschen ins Polnische übertrügen. Theoretisch sieht sie die Möglichkeit, dass die SuS ihre Polnischkenntnisse und ihr Wissen über Polen in anderen Fächern einbringen könnten, kann jedoch nicht einschätzen, inwiefern das in der Unterrichtspraxis tatsächlich eine Rolle spielt. Allerdings erwähnt sie, dass einige polnischsprachige SuS für ihre Eltern, die nicht so gut Deutsch könn- Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 69 44 (2015) • Heft 2 ten, bei Elterngesprächen im schulischen Kontext die Rolle des Sprachmittlers übernähmen. Während die SuS in Kamilas Alter ihrer Meinung nach noch keine klaren Zukunftspläne haben und daher auch wenig Vorstellungen davon, inwieweit ihre Polnischkenntnisse ihnen später einmal nützen könnten, berichtet sie von ihrer 12. Klasse, dass es einige SuS gebe, die nach dem Abitur einen einjährigen Aufenthalt in Polen planten, in Polen studieren oder sogar ganz nach Polen ziehen wollen. Frau K. organisiert einen Schüleraustausch mit einem Gymnasium in Polen. Bei den Begegnungen werden die Berliner SuS oft damit konfrontiert, dass die polnischen SuS sie als Deutsche bezeichnen, während sie in Berlin wiederum als Polen wahrgenommen würden. Die Lehrerin versucht, ihren SuS die Sichtweise zu vermitteln, dass ihre Polnischkenntnisse etwas Besonderes sind, jede weitere Sprache ein Vorteil für sie ist und dass es nicht darum gehe, Polin oder Deutscher zu sein, sondern dass man sich auch als Europäer/ in fühlen könne. Kamila wird von Frau K. als Schülerin mit sehr guten Polnischkenntnissen in allen Fertigkeiten und einer akzentfreien Aussprache eingeschätzt, die lediglich vereinzelte orthographische und grammatische Fehler beim Schreiben mache, welche jedoch das Verständnis in keiner Weise beeinträchtigten. Am Beispiel von Kamila erläutert sie das Dilemma, in dem sie sich bei der Notengebung befindet: Der Polnischlehrplan orientiert sich an Lernenden der 2. Fremdsprache, allerdings könne sie nicht allen Herkunftssprechern Einsen geben. So stehe Kamila in Polnisch auf Zwei, was sie motivieren solle, sich weiterhin zu verbessern. Gleichzeitig hat die Lehrerin Zweifel, ob diese Notengebung tatsächlich als Ansporn wahrgenommen wird. 5. Zusammenfassung In den Gesprächen mit den befragten SuS wurde deutlich, dass sie ihre Mehrsprachigkeit und das Aufwachsen mit mindestens zwei Sprachen als etwas Wichtiges, gleichzeitig aber auch als Normalität und Selbstverständlichkeit erleben. Die Jugendlichen machen widersprüchliche Erfahrungen mit ihrer Mehrsprachigkeit. In bestimmten Kontexten erfahren sie sich als sprachlich kompetent und überlegen, z.B. im Vergleich zu ihren Eltern mit geringeren Deutschkenntnissen oder wenn sie für die polnischsprachigen Großeltern im deutschen Alltag dolmetschen. Im Polnischunterricht werden sie dagegen oft mit ihren sprachlichen Defiziten konfrontiert; auch bei Aufenthalten in Polen fühlen sie zuweilen eine sprachliche Unterlegenheit. Motivationsschwierigkeiten bestehen v.a. in Bezug auf die schriftsprachlichen Kompetenzen, die im deutschen Alltag eine geringere Rolle spielen: das Lesen und Schreiben auf Polnisch. Oft übernehmen die Kinder die Einstellungen der Eltern zu ihrer Zweisprachigkeit, wobei sich diese Einstellungen v.a. im Jugendalter auch ändern können. Eine starke Verbundenheit der Eltern mit Polen trägt dazu bei, dass die Herkunftssprache eine große Rolle im Leben der Familie spielt. Der Polnischunterricht ermöglicht eine Systematisierung der Polnischkenntnisse, die Vermittlung von Bildungssprache und des Lesens und Schreibens in einer Weise, 70 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 wie sie von den Eltern in der Regel nicht geleistet werden kann. Die Wahrnehmung von Lernfortschritten und Selbstwirksamkeit im Polnischunterricht sowie engagierte und verständnisvolle Lehrkräfte, denen es gelingt, trotz der oft ungünstigen Rahmenbedingungen und der heterogenen Zusammensetzung der Lerngruppe einen motivierenden Unterricht zu gestalten, sind Faktoren, die sich fördernd auf den Erhalt und Ausbau der Herkunftssprache auswirken. In Anias und Kamilas Fall kommt erleichternd hinzu, dass sie die gelernten Dinge im Alltag und in Polen anwenden können und den Polnischunterricht somit als für sich persönlich relevant wahrnehmen. Das ist nicht bei allen Probanden unserer Studie so. Auch die positive Einstellung und Zufriedenheit der Eltern mit dem Polnischunterricht tragen vermutlich zu dieser Konstellation bei. Die untersuchten SuS sehen den persönlichen Wert ihrer Polnischkenntnisse v.a. für ihr unmittelbares familiäres Umfeld. Eventuelle Vorteile für ihre berufliche Zukunft werden v.a. von den Eltern und Lehrkräften angesprochen. Die im Beitrag erwähnten positiven Beispiele, wie im Fremdsprachenunterricht und in anderen Fächern an kulturelles und sprachliches Wissen über Polen und das Polnische einzelner Befragter angeknüpft wird, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es insgesamt doch eher Ausnahmen sind und dass einige SuS überhaupt keine Beispiele diesbezüglich nennen, ja sogar der Meinung sind, dass die Mehrheit ihrer Lehrenden nicht weiß, dass sie zu Hause noch eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Aus den Äußerungen der Befragten zum Polnischunterricht geht hervor, dass sie überzeugt sind, durch diesen Unterricht bewusster ihre Herkunftssprache zu lernen und gezielt „Problemstellen“ bearbeiten zu können. Dass sich durch den Unterricht das metasprachliche Bewusstsein der SuS in Bezug auf das Polnische erhöht, lässt sich daran ablesen, wie diese Lernenden sprachliche Schwierigkeiten beschreiben - im Vergleich zu Befragten, die keinen Polnischunterricht besuchen. Auffällig ist, dass sowohl die Jugendlichen als auch ihre Eltern sich bei der Einschätzung ihrer Kompetenzen im Polnischen stark an den Schulnoten orientieren; hinzu kommt der Vergleich mit anderen zweisprachig aufwachsenden Mitschülern. In den Interviews wurde sehr deutlich, dass viele Eltern versuchen, ihren Kindern möglichst viel Kontakt mit der polnischen Sprache und Anwendungsmöglichkeiten zu verschaffen und sie gezielt zur Beschäftigung mit der Herkunftssprache zu motivieren. Bei Alleinerziehenden und in Familien, in denen nur ein Elternteil Polnisch spricht, erfordert dies ungleich mehr Anstrengung. Die befragten Lehrerinnen unterrichten Polnisch als einziges Fach. Deshalb haben sie möglicherweise nur wenig Einblick, wie in anderen Schulfächern an die Polnischkenntnisse der SuS angeknüpft werden kann. Sie machen sich viele Gedanken über ihren Unterricht und sind beständig auf der Suche nach geeigneten Lehrmaterialien und -methoden. Im Interview nennen sie wenig konkrete Beispiele für Sprachvergleiche aus ihrem eigenen Unterricht und betonen ihr Bemühen um die - aus ihrer Sicht nachvollziehbare - Einsprachigkeit des Polnischunterrichts. Bei den Polnischlehrkräften handelt es sich um ausgebildete Polonistinnen, die nicht fachfremd unterrichten, wie das zum Teil im Unterricht für andere Herkunftssprachen der Fall ist. Zudem nutzen sie gezielt die zur Verfügung stehenden Fortbildungsangebote für Polnisch. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 71 44 (2015) • Heft 2 6. Ausblick Die dargestellten Fälle von Ania und Kamila verdeutlichen, dass die zweisprachigen Ressourcen sowohl von Seiten der Jugendlichen und ihrer Eltern als auch der Polnischlehrkräfte als solche gesehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten genutzt werden. Ein anderes Bild zeigt der größere schulische Kontext; hier scheint die Mehrsprachigkeit der SuS trotz einiger weniger positiver Beispiele insgesamt nur eine geringe Rolle zu spielen, und selbst an aufgeschlossenen Schulen kommt es ‒ wenn auch sicher unbewusst ‒ zur Geringschätzung einzelner Sprachen und Stigmatisierung von Herkunftssprechern. Solange die durchaus vorhandenen schülerseitigen Potenziale kaum als wertvoll anerkannt werden und engagierte Lehrkräfte Einzelkämpferinnen sind, wird es wohl bei eher zufälligen Elementen fächerübergreifenden Lernens und Ansätzen zur Mehrsprachigkeitsdidaktik bleiben, von einem Gesamtsprachencurriculum im Sinne von H UFEISEN (2011) ganz zu schweigen. Hier bleibt also noch viel zu tun. Ein Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Sprachen und Fächer könnte Einblicke in Anknüpfungsmöglichkeiten an die Kenntnisse der Polnisch lernenden SuS geben und es erleichtern, selbst Ideen für solche Bezugnahmen anzuregen. Die Arbeit mit dem Sprachenportfolio im Polnischunterricht wäre eine Gelegenheit, den SuS ihre individuellen Lernfortschritte zu verdeutlichen; Portfolios könnten ein sichtbarer Beweis für das sprachenübergreifende Lernen sein, wenn dabei Kenntnisse und Lernerfahrungen aus allen Sprachen Gegenstand der Reflexion wären. Bei sprachen- und fächerübergreifenden Projekten im schulischen Kontext könnte das Wissen von Herkunftssprechern gezielt genutzt werden. Voraussetzung dafür ist ein höheres Maß an Sensibilität im kommunikativen Umgang miteinander, was eine Wertschätzung der SuS und ihrer mitgebrachten Sprachen einschließt. Literatur A NSTATT , Tanja (2013): „Polnisch als Herkunftssprache: Sprachspezifische grammatische Kategorien bei bilingualen Jugendlichen“. In: K EMPGEN , Sebastian / W INGENDER , Monika / F RANZ , Norbert / J AKIŠA , Miranda (Hrsg.): Deutsche Beiträge zum 15. Internationalen Slavistenkongress, Minsk 2013. München: Otto Sagner, 15-25. D IRIM , Inci (2007): „Zur Notwendigkeit einer Sensibilisierung von Lehrerinnen und Lehrern im Hinblick auf die Nutzung und Entwicklung von Mehrsprachigen im schulischen Bereich“. In: H UG , Michael / S IEBERT -O TT , Gesa (Hrsg.): Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 144-157. H ERDINA , Philip / J ESSNER , Ulrike (2002): A Dynamic Model of Multilingualism. Perspectives of Change in Psycholinguistics. Clevedon: Multilingual Matters. H U , Adelheid (2003): Schulischer Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit. Tübingen: Narr. H UFEISEN , Britta (2011): „Gesamtsprachencurriculum: Überlegungen zu einem prototypischen Modell“. In: B AUR , Rupprecht S. / H UFEISEN , Britta (Hrsg.): „Vieles ist sehr ähnlich“ - Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als bildungspolitische Aufgabe. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 265-282. 72 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 J AŃCZAK , Barbara (2013): Deutsch-polnische Familien: Ihre Sprachen und Familienkulturen in Deutschland und in Polen. Frankfurt/ M.: Lang. K NIFFKA , Gabriele / S IEBERT -O TT , Gesa (2007): Deutsch als Zweitsprache. Lehren und Lernen. Paderborn: Schöningh. L AGNER , Patrycja (2013): Anspruch und Wirklichkeit: Herkunftssprachlicher Unterricht am Beispiel des Polnischen in Hamburg. Magisterarbeit. Universität Hamburg. L OEW , Peter Oliver (2014): Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland. München: C.H. Beck. L ÜTTENBERG , Dina (2010): „Mehrsprachigkeit, Familiensprache, Herkunftssprache“. In: Wirkendes Wort 60/ 2, 299-315. P OLINSKY , Maria (2015): „Heritage languages and their speakers: state of the field, challenges, perspectives for future work, and methodologies“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 26.1, 7-29.