eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 44/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2015
442 Gnutzmann Küster Schramm

Mehr Schriftlichkeit bitte!

2015
Dirk Siepmann
Torben Schmidt
44 (2015) • Heft 2 M e h r S c h ri f tli c h k e i t b i tt e ! Implizit stellt die hier zu diskutierende Forderung eine unnötige Opposition zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf. Mir wäre es daher fast lieber, diese zu verwerfen und mehr „Registersensibilität“ im Fremdsprachenunterricht zu fordern - schließlich wissen wir aus der Sprachwissenschaft seit geraumer Zeit, dass in Wirklichkeit ein Kontinuum zwischen konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit besteht, das sich mit Begriffen wie „Nähe“ vs. „Distanz“, „Ungeplantheit“ vs. „Geplantheit“ usw. erfassen lässt. Dann würde deutlich, dass niemand ernsthaft einen Fremdsprachenunterricht fordern könnte, in dem nur dialogische, nähesprachliche und ungeplante sprachliche Handlungen vollzogen werden - ganz abgesehen davon, dass das Erlernen des nähesprachlichen Gesprächs und seiner Primärgrammatik unterrichtlich fast unmöglich ist und auch hinsichtlich späterer Sprachnutzungssituationen kein sinnvolles Ziel darstellt. Umgekehrt heißt dies, dass Lerner nur durch die mit konzeptionell-schriftsprachlichen Sekundärgenres verbundenen Planungs- und Reflexionsprozesse vom inneren Sprechen zu komplexem und abstraktem Denken geführt werden können und einen bewussten Zugriff auf die Eigenschaften der Zielsprache erhalten; nur in Schreibaufgaben kann der Schüler mit diesen experimentieren und der Lehrer gezielt korrigieren. Ein solcher bewusster sprachlicher Zugriff in eher distanzsprachlichen Aktivitäten wiederum zeitigt positive Effekte auf die Komplexität der mündlichen Ausdrucksfähigkeit. Wer in formellen mündlichen Kontexten kommunizieren will, benötigt eine solche schriftsprachliche „Vorprägung“. Auch in der Frühphase des Fremdsprachenlernens wirkt sich die Praxis des Schreibens positiv auf den Lernerfolg aus. Lexiko-grammatische Konstruktionen prägen sich schon in den Anfangsjahren besser ein, wenn sie auch schriftlich festgehalten werden. Beim Erwerb anderer Schriftsysteme (z.B. Russisch) führt eine beständige Interaktion zwischen Lesen und Schreiben zu einem schnelleren und korrekteren Erwerb der Lesefähigkeit. Hinzu kommt, dass vor allem im Rahmen von Schreibaufgaben neuer Wortschatz nachgeschlagen und dauerhaft behalten wird. Es kann also nicht darum gehen, Schriftlichkeit und Mündlichkeit gegeneinander auszuspielen oder deren jeweilige Unterrichtsanteile streng zu bemessen; vielmehr sollten sich verschiedenste Ausprägungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit innerhalb komplexer Aufgabenformen gegenseitig befruchten. Verständigen sich Schüler und Lehrer mündlich über eine Aufgabe und die dafür zur Verfügung stehenden Mittel und erarbeiten gemeinsam Modelltexte, so ist es die Schreibaufgabe, die einen Raum für die sonst arg zu kurz kommende „echte“ Mündlichkeit schafft! Auch hinsichtlich der späteren Nutzungskontexte gilt: nie wurde so viel geschrieben wie heute, und wer schreibt, bietet mehr Information in kürzerer Zeit. Fazit: Schreiben ist eine unverzichtbare Lernhilfe, ein hohes Bildungsgut und der Schlüssel zur Teilhabe an der Weltgesellschaft. Osnabrück D IRK S IEPMANN Pro und Contra 131 44 (2015) • Heft 2 Mehr Schriftlichkeit bitte! Wieso eigentlich? Macht diese Forderung Sinn? Was ist denn mit Schriftlichkeit genau gemeint und wer äußert diese Forderung eigentlich? Sind es vielleicht dieselben, die im Zuge sich massiv medial verändernder Schreib- und Leseprozesse, z.B. in Form von häufig als verkümmert wahrgenommenen Formen der schriftlichen (konzeptionell eher mündlichen) Kommunikation à la WhatsApp den Untergang der Schriftkultur befürchten? Ist es eine Forderung von denjenigen, die einen allgemeinen Sprachverfall wahrzunehmen glauben und als Konsequenz die Schule für die Ausbildung einer kultivierten Schriftlichkeit in die Pflicht nehmen? Vielleicht sind es auch Verlustängste bezüglich der Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, die hier zu einer Überreaktion führen, da der Computer durch Rechtschreibprüfung, Spracherkennung und Autovervollständigung von Wortanfängen den Verfasser stärker aus der Verantwortung nimmt? Fest steht, unsere Schreib- und Leseroutinen verändern sich massiv, und in jedem Fall bedarf es einer differenzierten Betrachtung, wie Schriftlichkeit (als Metapher für einen Kompetenzkomplex des Verarbeitens und Produzierens von schriftlichen Texten) eigentlich gefördert wird, welche Ziele damit erreicht werden sollen und welcher Stellenwert ihr insgesamt zugemessen wird. Beteuern wir nicht immer wieder, dass wir eine Fremdsprache heutzutage vor allem kommunikations- und fähigkeitsorientiert unterrichten und dass die verschiedenen Fertigkeitsbereiche gleichberechtigt und integrativ gefördert werden? Leistet der moderne Fremdsprachenunterricht das etwa nicht? Muss hier eine Schriftlichkeitsoffensive her? Bereiten wir unsere Lernenden nicht auf eine Vielfalt von Textsorten, Textrezeptions- und -produktionsformen vor? Die Antwort ist ein klares Nein. Fakt ist doch, dass mit zeitgemäßen Lehrwerken orientiert an den can do-Deskriptoren der Bildungsstandards die Lernenden Bezug nehmend auf vielfältige Textsorten und Schreibanlässe - von einfachen Personenbeschreibungen über Berichte zu Ferienerlebnissen (häufig als Alibi-Aufgabe, um das simple past zu üben), dem Schreiben von Reimen, Emails, Internetartikeln, Bewerbungsschreiben, Interpretationen oder Filmkritiken - auf vielfältige Weise darin unterstützt werden, ihre Fähigkeiten im Kompetenzbereich Schreiben zu entwickeln. Zweifelsfrei muss hier kritisch hinterfragt werden, wie bedarfsgerecht Unterricht auf das vorbereiten kann, was im Leben an Schreibkompetenz in der Fremdsprache tatsächlich gebraucht wird. Hier wäre ein Authentizitätscheck vieler Aufgaben und Textsorten nötig. Vor allem die Frage der pragmatischen Angemessenheit der schriftlichen Kommunikation kommt bisher zu kurz. Wenn Lernende im Abitur eine zehnseitige Textanalyse anfertigen können, aber beim Verfassen einer Beschwerde-Email an das Kundencenter des Online-Shops an ihre Grenzen kommen, herrscht Optimierungsbedarf. Die Forderung nach mehr Schriftlichkeit ist hier aber falsch. Nicht die Quantität, sondern die Qualität macht den Unterschied. Lüneburg T ORBEN S CHMIDT