eJournals Forum Modernes Theater 22/2

Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2007
222 Balme

Heide Lazarus, Deutsches Tanzarchiv (Hg.): Die Akte Wigman. The Wigman File. Eine Dokumentation der Mary Wigman-Schule-Dresden (1920–1942). Edition Tanzdokumente Digital 3. CD-ROM. Hildesheim: Olms, 2003. (dt. und engl.)

2007
Wolf-Dieter Ernst
Rezensionen Heide Lazarus, Deutsches Tanzarchiv (Hg.): Die Akte Wigman. The Wigman File. Eine Dokumentation der Mary Wigman- Schule-Dresden (1920-1942). Edition Tanzdokumente Digital 3. CD-ROM. Hildesheim: Olms, 2003. (dt. und engl.) Theater und Tanz sind vergängliche Künste. Sie stellen damit für die Theaterhistoriografie eine besondere Herausforderung dar, die darin besteht, eine Materialbasis zur Analyse des Gegenstandes ‘Theater’ oder ‘Tanz’ allererst aus verschiedenen Dokumenten und Kontexten zu kompilieren. Für gewöhnlich bedeutet dies, dass verschiedene Archive aufgesucht werden und sodann divergente Medien wie Schriftstücke, Skizzen, Ankündigungen und Kritiken, Fotos oder audiovisuelle Dokumente miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen - ein mühseliges Puzzlespiel. Dieser Arbeit zum Thema des Ausdruckstanzes hat sich Heide Lazarus angenommen und in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Tanzarchiv in Köln nun eine umfassend aufbereitete CD-ROM über die Wigman-Schule (1920-1942) vorgelegt. Die Akte Wigman - so der programmatische Titel - erfüllt dabei zwei Funktionen: Sie bietet einerseits einen guten Überblick zu Wigmans Schaffen und ihrem tanzpädagogischen Engagement, ordnet letzteres in den zeitgeschichtlichen Kontext ein, wobei hier die Themen Institutionsgeschichte, Geschichte der Tanzpädagogik, Körpergeschichte, Politik und Ästhetik des Ausdruckstanzes miteinander verschränkt sind. Zum anderen leistet es diese Kompilation, die relevanten Dokumente zur Geschichte der Schule, die verstreut an unterschiedlichen Orten archiviert sind, dem Fachpublikum erstmals in einer Zusammenstellung zugänglich zu machen. Es handelt sich im Einzelnen um Schulberichte, Ausbildungspläne, Prospekte, Zeitschriften, Gesprächsprotokolle und Briefwechsel mit einem Umfang von insgesamt rund 800 Seiten, dazu als Bonus ein Hörstück. Ein erster Eindruck dieses als “Akten und Dokumente” bezeichneten Hauptteils bestätigt, das die Sammlung zu recht ihren Titel trägt: Es ist die Referenz, mit der sich fortan nicht nur die engere Forschung zu Wigman, dem Ausdruckstanz und der Tanzpädagogik befassen wird. Ebenso ist diese Zusammenstellung erhellend für einen exemplarischen Einblick in die Mikropolitik der Körperdisziplinierung in der Weimarer Republik. Eine Theatergeschichte, die sich weniger an bekannten Namen, Positionen und Ereignissen, als vielmehr an der kulturellen Praxis orientiert, wird in vorliegender Publikation dazu eine ergiebige Quelle finden. Als Beispiel soll hier eine Recherche zum Thema ‘Verbot’ ausführlicher besprochen werden, die stellvertretend für viele weitere Erkundungen im Archiv einen Einblick in die kulturelle Praxis gewährt, mit der das Thema der Tanz- und Körperausbildung in den zwanziger Jahren behandelt wurde. So legt Lazarus in ihrem Artikel “Nicht jede Tanzschule ist eine Tanzschule” (Kontexte/ Verbot 1924-31) sehr erhellend dar, mit welchem personellen und ökonomischen Kalkül nicht nur Mary Wigman ihre Schule betrieb und betreiben musste, um ihre Bühnenstücke zu finanzieren. Ein Blick in die Dokumente, auf welche Lazarus verweist, zeigt zudem ein klares Bild des Bildungsmarktes jener Zeit, denn die durch die Schule verliehenen Diplome stehen in Hinsicht auf ihr Renomeé und ihre Legitimation in direkter Konkurrenz zu anderen Tanzschulen, etwa der von Gret Palucca. Die Akten der Schul- und Wirtschaftsbehörde erwecken zudem den Eindruck, dass ab 1924 der Begriff ‘Schule’ gleichsam als ein Gütesiegel eingeführt wurde, um der zunehmenden Verbreitung von Tanzschulen für den populären Gesellschaftstanz und für die Gymnastik-; Turn- und Körperkulturen der zwanziger Jahre Einhalt zu gebieten. So weist etwa das sächsische Wirtschaftsministerium die “Amtshauptmannschaften und Stadträdte” an, darauf zu achten, “ob die Bezeichnung Tanzschule unberechtigterweise von Tanzlehrern geführt wird” (Akte 2.3.20. AV III Nr. 569 “Untersagung der Bezeichnung Tanzschule”, 77 Seiten). Als Nachweis eines Überangebotes an Tanzschulen finden sich in den Akten penibel ausgeschnittene Werbeanzeigen aus Zeitungen, in denen etwa “Anfängerkurse für Beamte, Studierende und Kaufleute” für “sämtliche modernen Tänze im neuesten Stil” (ebenda) angeboten werden. Der Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 2 (2007), 211-212. Gunter Narr Verlag Tübingen 212 Rezensionen Druck der Legitimation war offenbar derart groß, dass gestandene Tanzlehrer sich berufen fühlten, Minister, Konsuln und andere Honoratioren als Referenz anzugeben. Man fragt sich, ob hier tänzerische und pädagogische Qualität verbürgt werden soll oder eher Moral und polizeiliche Führung. Völlig unklar bleibt nämlich, worin die Qualifikation eines Tanzlehrers und einer Tanzschule inhaltlich bestünde und wer im Schulamt sie nach welchen Kriterien begutachten sollte. Als harte Kriterien für Zulassung und Ausschluss vom Bildungsmarkt fungierten offensichtlich nur zwei Befunde: Professionelle Geschäftsführung und Trennung von Administration und Ausbildung. Auf institutioneller Ebene wird als Schutz der Bezeichnung ‘Tanzschule’ also die Durchsetzung eines bürgerlich-konservativen Kunst- und Kapitalbegriffs ersichtlich: Welche Bewegung wie und mit welcher Legitimation erlernt und im künstlerischen Tätigkeitsfeld ausgeübt werden soll, darüber befindet eine staatliche Behörde - und sie lässt sich die Verleihung dieses Ausbildungsrechtes zudem mit einer nicht unerheblichen Lizenzgebühr bezahlen. Im krassen Gegensatz zu dieser Reglementierung stehen die Ausführungen der Lehrpläne und Schulberichte in diversen Schreiben ans Ministerium, die sich in der groben Skizze einer Ausbildung zum Tänzer und im Nachweis von Schüleraufführungen erschöpfen. Von der “Stählung und der einheitlichen Durchbildung des gesamten Körpers”, von der “Erweckung der schöpferischen Fantasie” und von der “Lösung verschütteter Ausdrucks- und Gestaltungskräfte” ist hier die Rede - ganz im Sinne der Kulturkritik dieser Jahre. Ein Bild der Methoden und Übungen, mit denen diese Körper erzogen und trainiert wurden, lässt sich aus dieser Akte nicht direkt recherchieren. Vielmehr steht als Legitimationsfigur der Name Wigman über allem. Hier bestätigt sich also einmal mehr, dass die Schulenbildung - und Wigman war ja insbesondere für die Tanzszene in den U.S.A. und den dortigen modern dance schulenbildend - immer bereits mit der Aufführungspraxis verknüpft ist und auf diese zurück wirkt. Ferner erhebt sich dann die Frage nach dem Stellenwert von Körpermodellen und Notationsverfahren in den darstellenden Künsten: Wenn etwa Wigman ihre ‘Methode’ über zeitweilig acht Schulen als eine Art oral history transferiert, Wigmans Lehrer Rudolf von Laban hingegen diese als System entwickelt und publiziert, welche Rückschlüsse über die Transferwege des Wissens lassen sich gerade in Hinblick auf Körpertechniken daraus ziehen? Und welche theaterhistoriografischen Konsequenzen hat dieser Befund? Wünschenswert wäre, dass diese wichtigen Materialien tatsächlich eingehender interpretiert und in den Kontext aktueller theater- und tanzhistoriografischer Debatten gerückt würden. Die Beiträge unter der Rubrik “Kontext” bieten hierzu einen ersten Aufriss und hilfreiche bibliografische Hinweise, könnten aber durchaus pointierter das Material aufbereiten. Vielleicht wäre diese Aktualisierung ja Grund für eine zweite Auflage? Die Möglichkeiten der digitalen Speicherung von Daten und des willkürlichen Zugriffs darauf würden jedenfalls für ein derartig ‘anwachsendes’ Kompendium sprechen. München W OLF -D IETER E RNST Dirk Szuszies, Karin Kaper: Resist! Die Kunst des Widerstands. Living Theatre. DVD Edition. Deutschland: Karin Kaper Film, 2006, 89’+ Archivmaterial. Hat politisches Theater die Kraft, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern? Diese Frage, die in den zwanziger Jahren von Bertolt Brecht und Erwin Piscator aufgenommen und in szenischen Arrangements ausgearbeitet wurde, gewinnt aktuell wieder an Brisanz. Antworten werden freilich weniger auf der Guckkastenbühne formuliert, als vielmehr auf der Straße und in einer durch Verbreitungsmedien wie Fernsehen, Internet und Mailinglisten organisierten Öffentlichkeit. So übernehmen etwa Globalisierungskritiker oder revolutionäre Bewegungen in den ehemaligen kommunistischen Staaten theatrale Formen des Agitprop Theaters, des Theaters der Unterdrückten (Boal) und des Living Theatre. In der Theaterwissenschaft ist es dabei Konsens, dass sich politisches Theater weniger als ein Genre verstehen lässt, welches durch spezifische Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 2 (2007), 212-214. Gunter Narr Verlag Tübingen