eJournals Kolloquium Erhaltung von Bauwerken 7/1

Kolloquium Erhaltung von Bauwerken
expert Verlag Tübingen
Alters- und belastungsbedingt unterliegt die Infrastruktur in Deutschland einem zunehmenden Verfallsprozess. Besonders angespannt ist die Situation bei Wasserbauwerken, z. B. bei Wehr- und Schleusenanlagen, deren Altersstruktur bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Dem hohen Erhaltungsbedarf stehen begrenzte Ressourcen entgegen, die eine überregionale Priorisierung von Investitionsmaßnahmen nach definierten Kriterien erfordern. Ein wichtiges Kriterium ist der aktuelle Zustand der Bauwerke, der in regelmäßigen Bauwerksinspektionen mit Zustandsnoten bewertet wird. Problematisch ist jedoch die hohe Anzahl an Bauwerken, bei Schiffsschleusen beispielsweise rund ein Drittel, die die schlechteste Zustandsbewertung aufweist. Angesichts dessen sollen zusätzliche Kennzahlen generiert werden, die zur netzweiten Priorisierung von Erhaltungsmaßnahmen im Rahmen eines Erhaltungsmanagementsystems herangezogen werden können. Vor diesem Hintergrund erfolgt auf Basis der Inspektionsergebnisse eine weitestgehend automatisierte Klassifizierung der Schäden nach ihren Auswirkungen, wodurch ein genaueres Bild über den Zustand des Bauwerksbestandes entsteht.
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Anforderungsspezifische Zustandsnoten als unterstützende Kennzahlen für das Erhaltungsmanagement von Wasserbauwerken

2021
Annemarie Seiffert
Sarah Elting
François Marie Nyobeu Fangue
Lukas Weber
7. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Juli 2021 377 Anforderungsspezifische Zustandsnoten als unterstützende Kennzahlen für das Erhaltungsmanagement von Wasserbauwerken Annemarie Seiffert, M. Sc. Bundesanstalt für Wasserbau, Karlsruhe, Deutschland Sarah Elting, M. Eng. Bundesanstalt für Wasserbau, Karlsruhe, Deutschland François Marie Nyobeu Fangue, M. Sc. Bundesanstalt für Wasserbau, Karlsruhe, Deutschland Lukas Weber, M. Sc. Bundesanstalt für Wasserbau, Karlsruhe, Deutschland Zusammenfassung Alters- und belastungsbedingt unterliegt die Infrastruktur in Deutschland einem zunehmenden Verfallsprozess. Besonders angespannt ist die Situation bei Wasserbauwerken, z. B. bei Wehr- und Schleusenanlagen, deren Altersstruktur bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Dem hohen Erhaltungsbedarf stehen begrenzte Ressourcen entgegen, die eine überregionale Priorisierung von Investitionsmaßnahmen nach definierten Kriterien erfordern. Ein wichtiges Kriterium ist der aktuelle Zustand der Bauwerke, der in regelmäßigen Bauwerksinspektionen mit Zustandsnoten bewertet wird. Problematisch ist jedoch die hohe Anzahl an Bauwerken, bei Schiffsschleusen beispielsweise rund ein Drittel, die die schlechteste Zustandsbewertung aufweist. Angesichts dessen sollen zusätzliche Kennzahlen generiert werden, die zur netzweiten Priorisierung von Erhaltungsmaßnahmen im Rahmen eines Erhaltungsmanagementsystems herangezogen werden können. Vor diesem Hintergrund erfolgt auf Basis der Inspektionsergebnisse eine weitestgehend automatisierte Klassifizierung der Schäden nach ihren Auswirkungen, wodurch ein genaueres Bild über den Zustand des Bauwerksbestandes entsteht. 1. Einführung Der Bund ist in Gestalt der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) für den Bau und die Erhaltung der Bundeswasserstraßen zuständig (Art. 89 Abs. 2 Grundgesetz). Darin inbegriffen sind die wasserbaulichen Anlagen, wie Schiffsschleusen-, Düker-, Wehr-, Leuchtfeuer- und Brückenanlagen, die sich durch eine besondere Objektvielfalt auszeichnen. Ihre Altersstruktur hat zu zunehmend kritischen Bauwerkszuständen und damit zu einem steigenden Bedarf an Investitionsmaßnahmen geführt [1]. So wurden beispielsweise rund sechzig Prozent der Schiffsschleusenanlagen vor 1950 errichtet und rund zwanzig Prozent vor 1900 [2]. Etwa vierzig Prozent von ihnen befinden sich in einem nicht ausreichenden bzw. ungenügenden Zustand, siehe Abbildung 1. Aus diesem Grund wird im Bundesverkehrswegeplan für den Zeitraum von 2016 bis 2030 ein gegenüber der Vorperiode (2001 bis 2015) um ca. 110 Prozent höheres Investitionsvolumen von 16,2 Milliarden Euro veranschlagt [3]. Mit einem Anteil von ca. 85 Prozent für Erhaltungs- und Ersatzinvestitionen wird dem Erhalt der Infrastruktur einen höheren Stellenwert als dem Aus- und Neubau eingeräumt. Dieser Schwerpunkt ist gerade für die Bundeswasserstraßen angesichts der geringen Umfahrungsmöglichkeiten von besonderer Bedeutung [3]. Abbildung 1: Verteilung des Zustandes der Schiffsschleusenanlagen an Bundeswasserstraßen (Stand 07.2020) Allerdings hat die jüngste Vergangenheit gezeigt, dass weniger ein Mangel an finanziellen, sondern vielmehr ein Mangel an personellen Ressourcen infolge des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels 378 7. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Juli 2021 Anforderungsspezifische Zustandsnoten als unterstützende Kennzahlen für das Erhaltungsmanagement von Wasserbauwerken für die ungenügende Umsetzung von Investitionsmaßnahmen verantwortlich ist [4]. Zur Begegnung dieser Situation fordert der Bundesverkehrswegeplan eine fachliche und verkehrliche Priorisierung der Investitionsmaßnahmen [3]. 2. Problemstellung Die Priorisierung der Ressourcen soll nach dem „Masterplan Binnenschifffahrt“ entsprechend den Kriterien „Erhalt vor Neubau“, „Zustand und Systemrelevanz“ und „Nutzen-Kosten-Faktor“ erfolgen [4]. Der Zustand der wasserbaulichen Anlagen wird zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und Funktionsfähigkeit gemäß der Verwaltungsvorschrift (VV) „Bauwerksinspektion VV-WSV 2101“ in regelmäßigen Abständen überwacht und geprüft [5]. Hierbei werden von sachkundigem Inspektionspersonal Schäden „hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Tragfähigkeit und/ oder Gebrauchstauglichkeit des betroffenen Bauteils“ mit Schadensklassen von 1 (keine Beeinträchtigung) bis 4 (sofortiger Handlungsbedarf) bewertet [6]. Zur Zustandsdokumentation dient das Programmsystem WSVPruf, in dem unter anderem die Art, die Größe des Schadens sowie das vom ihm betroffene Bauteil und Material mit definierten Begriffen festgehalten werden. Die Bewertung der einzelnen Schäden bildet die Grundlage zur Ermittlung von Zustandsnoten für die gesamte Anlage und von Teilnoten für Teile der Anlage. Die Noten reichen von 1,0 für einen sehr guten Zustand bis 4,0 für einen nicht ausreichenden bzw. ungenügenden Zustand. Als Teilnotenkategorien sind eingeführt: die Konstruktion, der Stahlbau, die Ausrüstung, der Korrosionsschutz und Sonstiges, die wiederum weiter nach Objektteilkategorien (z. B. Ausrüstung in Ausrüstungsteile und Festmachevorrichtungen) unterteilt werden können [7]. Die Teilnote ergibt sich aus dem am schlechtesten bewerteten Einzelschaden der jeweiligen Teilnotenkategorie mit einem maximalen Zu- oder Abschlag von 0,2 je Umfang und Anzahl der Schäden je Objektteilkategorie. Die Zustandsnote resultiert aus der am schlechtesten bewerteten Teilnote, einschließlich eines maximalen Zu- oder Abschlags von 0,1 entsprechend der Anzahl der beschädigten Objektteilkategorien. Dieses Vorgehen stellt sicher, dass trotz Zu- und Abschlägen von den berechneten Zustands-/ Teilnoten auf die maßgebende Schadensklasse geschlossen werden kann. Die Kennzahlen zeigen die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs an und dienen als ein Entscheidungskriterium für die Umsetzung von Erhaltungsmaßnahmen [7]. Problematisch ist, dass eine Vielzahl an wasserbaulichen Anlagen, bei Schiffsschleusenanlagen rund ein Drittel, die schlechteste Zustandsbewertung (nicht ausreichender bzw. ungenügender Zustand) aufweist und die Einleitung sofortiger Maßnahmen erfordert, siehe Abbildung 1. Dementsprechend wären für den Infrastrukturbetreiber zusätzliche, über die derzeitigen Teil- und Zustandsnoten hinausgehende Informationen hilfreich, die ein umfassenderes Bild über den Zustand seiner Bauwerke liefern. Diese Informationen könnten bei der Entscheidung helfen, wie Haushaltsmittel ver-waltungsintern zu verteilen sind. Ziel des im Folgenden vorgestellten Verfahrens ist daher die Generierung zusätzlicher Kennzahlen, die als Zustandsindikatoren zur netzweiten Priorisierung von Erhaltungsmaßnahmen im Rahmen eines Erhaltungsmanagementsystems, wie es z. B. in [8] konzeptioniert wird, herangezogen werden kann. Diese Zielsetzung ist abzugrenzen von einer Beurteilung der Notwendigkeit und der Art einer Erhaltungsmaßnahme am Einzelobjekt, welches nicht Bestandteil der folgenden Betrachtungen ist. 3. Lösungsansatz Um ein genaueres Bild über den Zustand des Bauwerksbestandes zu erlangen, sollen die Schäden entsprechend ihrer Auswirkungen auf die an ein Bauwerk gestellten Anforderungen klassifiziert werden. Nach DIN EN 1990 sind dies die Tragfähigkeit, die Gebrauchstauglichkeit und die Dauerhaftigkeit [9]. Um eine solche Klassifizierung mit den aktuell vorliegenden Daten zu erreichen, wird im Folgenden geprüft, ob eine weitestgehend automatisierte Klassifizierung der Schäden hinsichtlich ihrer Auswirkungen allein auf der Grundlage der Schadensdaten aus WSVPruf gelingen kann. Zu diesem Zweck wurde mithilfe von Ursache-Wirkungsketten, wie sie beispielsweise in [10] zur Zuverlässigkeitsbewertung von Produkten genutzt werden, ein kausaler Zusammenhang zwischen den Schäden aus WSVPruf, ihren Ursachen und ihren Folgen hergestellt. Die Verknüpfung der Schäden mit potenziellen Ursachen hält die Möglichkeit offen, die Eintrittswahrscheinlichkeit von Schäden abzuschätzen. Die Verknüpfung mit möglichen Folgen führt auf die vom Schaden beeinträchtigten Bauwerksanforderungen. Sie bilden die Grundlage für die Berechnung zusätzlicher Teilbzw. Zustandsnoten, die als anforderungsspezifische Noten bezeichnet werden. Mit ihrer Hilfe kann eine konkrete Aussage über die potenziell eingeschränkten Bauwerksanforderungen getroffen werden. Das Vorgehen wird im nachfolgenden Abschnitt am Beispiel von Schäden an der Konstruktion von Schiffsschleusenanlagen beschrieben. Die Konstruktion umfasst das Ober- und Unterhaupt, das Füll- und Entleersystem, die Sparbecken sowie die Kammer der Anlage. 4. Vorgehen Für die Beschreibung von Schäden stehen in WSVPruf mehr als zweihundert definierte Schadensbegriffe zur Verfügung, die mit acht verschiedenen Materialgruppen wie Beton oder Stahl verknüpft werden können. Ziel der entwickelten Systematik ist es, alle möglichen Kombinationen von Schäden und Materialgruppen potenziellen Ursachen und Folgen zuzuordnen. 7. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Juli 2021 379 Anforderungsspezifische Zustandsnoten als unterstützende Kennzahlen für das Erhaltungsmanagement von Wasserbauwerken Tabelle 1: Ursache-Wirkungsketten für die Konstruktion von Schiffsschleusenanlagen Schadensfolge Schadensbild Beispielschaden Beispiel- Schadensursache Dauerhaftigkeit Geschädigte Bauteiloberfläche Oberflächenabtrag Abplatzung am Beton Physikalischer Angriff Offenporige Oberfläche Kiesnest am Beton Ausführungsfehler Risse Schadensklasse 1/ 2 Massivbau Vertikalriss am Beton Temperaturwechsel Sonstiges (Dauerhaftigkeit) Schadhafter Beton Planungsfehler Feuchtigkeitsbzw. Wassereintritt Undichtigkeiten im Massivbau Nassfläche am Beton Ausführungsfehler Fugenschäden Nicht verfugtes Mauerwerk Planungsfehler Tragfähigkeit Sprödes Bauteilversagen Risse Stahl/ Metall Gerissene Bewehrung Ermüdung Sonstiges (Tragfähigkeit) Deformierte Bewehrung Ausführungsfehler Duktiles Bauteilversagen Korrosion Lochkorrosion an Bewehrung Elektrochemischer Angriff Risse Schadensklasse 3/ 4 Massivbau Vertikalriss am Beton Temperaturwechsel Setzungen und Unterspülungen Abgesackter Beton Statische Last Gebrauchs-tauglichkeit Eingeschränkte Funktionsfähigkeit Verformungen am Massivbau Ausgebauchtes Metall Planungsfehler Ablagerungen Geröllablagerung am Beton Mangelhafte Wartung Sonstiges (Gebrauchstauglichkeit) Metall nicht gemäß Unfallverhütungsvorschrift Ausführungsfehler Beeinträchtigtes Erscheinungsbild Verschmutzungen Verschmutzter Beton Mangelhafte Wartung Tabelle 1 zeigt die für die Schäden der Teilnotenkategorie Konstruktion von Schiffsschleusenanlagen aufgestellten Ursache-Wirkungsketten. Diese werden mit der folgenden Systematik aufgestellt: Zu Beginn steht eine Ursache, z. B. ein physikalischer Angriff, der zu einer Schädigung z. B. Abplatzung am Beton führt. Es folgt eine Bündelung von Schäden ähnlicher Gestalt zu einem Schadensbild z. B. Oberflächenabtrag, die der gleichen Folge z. B. geschädigte Bauteiloberfläche zugeordnet werden. Der erste Schritt besteht in der Identifikation möglicher Schadensursachen. [11] führt auf, dass Rückschlüsse auf die Ursache eines dokumentierten Schadens nur unter Zuhilfenahme detaillierter Informationen zum Schaden (z. B. Erscheinungsbild, Lage, Entstehungsgeschichte) und anhand vertiefter Untersuchungen vor Ort möglich sind. Die für den Gesamtbestand verfügbaren Daten aus WSVPruf reichen daher nur aus, um entsprechend Tabelle 1 anhand des Schadensbildes auf mehrere potenzielle Schadensursachen zu schließen, welches hinnehmbar ist, da die Ermittlung von Schadensauswirkungen im Vordergrund des Verfahrens steht. In einem zweiten Schritt wird definiert, welche Daten aus WSVPruf verwendet werden sollen, um einen Schaden einer Ursache-Wirkungskette zuzuordnen. Es handelt sich um den Schadensbegriff (z. B. Abplatzung, Roststelle), die hiermit verknüpfte Materialgruppe (z. B. Beton, Stahl) und in Einzelfällen die zugehörige Schadensklasse (1 - 4) sowie eine vorliegende Gefährdung für Personen. Auswahlkriterium für die vier Kriterien ist, dass sie maschinenlesbar sind und eine Aussage über die Schadensfolge ermöglichen. Aufgrund der hohen Anzahl von Schäden wird vor der Zuordnung zu einer Schadensfolge ein Zwischenschritt eingeführt, indem Schäden mit einem gemeinsamen Schadensbild gebündelt werden. Schadensbegriffe, die sich nicht zu einem gemeinsamen Schadensbild zusammenfassen lassen, aber die gleiche mögliche Schadensfolge aufweisen, werden in den Kategorien Sonstiges (Dauerhaftigkeit/ Tragfähigkeit/ Gebrauchstauglichkeit) zusammengefasst, siehe Tabelle 1. Die Kategorie Sonstiges (Gebrauchstauglichkeit) umfasst alle Schäden, unabhängig ihrer Art und ihres Materials, für die das Inspektionspersonal eine Gefährdung von Personen dokumentiert hat. Risse führen je nach betroffenem Material und der vorliegenden Schadensklasse zu unterschiedlichen Schadensfolgen [6]. Aus diesem Grund wird für Risse an Stahl oder Metall und für Risse am Massivbau ein eigenständiges Schadensbild eingeführt. Risse am Massivbau führen in Abhängigkeit von der Rissbreite, dem Rissverlauf und dem Sachverhalt, ob der Riss wasserführend ist oder mit einem Bodenaustrag einhergeht, zu einer Beeinträchtigung der Dauerhaftigkeit oder der Tragfähigkeit [6], so dass sie den zwei unterschiedlichen Schadensbildern Risse Schadensklasse 1/ 2 Massivbau und Risse Schadensklasse 3/ 4 Massivbau zugeteilt werden. Als mögliche Schadensfolgen werden eine geschädigte Bauteiloberfläche, der Feuchtigkeitsbzw. Wassereintritt, das spröde und duktile Bauteilversagen, die eingeschränkte Funktionsfähigkeit und die Beeinträchtigung des Erscheinungsbildes identifiziert und im Anschluss zu 380 7. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Juli 2021 Anforderungsspezifische Zustandsnoten als unterstützende Kennzahlen für das Erhaltungsmanagement von Wasserbauwerken den Anforderungen Dauerhaftigkeit (D), Tragfähigkeit (T) oder Gebrauchstauglichkeit (G) zugeordnet [12-17]. Tabelle 2: Beispiel für die Benotung von Schäden, SK = Schadensklasse, D = Dauerhaftigkeit, T = Tragfähigkeit, G = Gebrauchstauglichkeit Einzelschaden SK D-SK T-SK G-SK Abplatzung am Beton 2,0 2,0 0 0 Korrosion an tragender Bewehrung 3,0 0 3,0 0 Geröllablagerung auf dem Beton 1,0 0 0 1,0 Teilnotenkategorie Teilnote D-Teilnote T-Teilnote G-Teilnote Konstruktion 3,0 2,0 3,0 1,0 Eine Kombination von Schäden und Materialgruppen, die ein ungewöhnliches Schadensbild anzeigen, wie z. B. ein Kiesnest an der Bewehrung werden dabei von einer allgemein gültigen Klassifizierung ausgeschlossen und stattdessen im Einzelfall auf Basis des Schadensbildes und des Freitextfeldes aus WSVPruf beurteilt. Die Klassifikation bildet die Grundlage für die Berechnung der neu entwickelten anforderungsspezifischen Teilnoten. Die Idee besteht darin, die vom Inspektionspersonal vor Ort ermittelten Schadensklassen unverändert zu belassen, sie aber in Abhängigkeit der Anforderung, die der Schaden am stärksten beeinträchtigt, in die Kategorien D, T oder G einzustufen. Die Einstufung erfolgt immer auf der sicheren Seite, indem Schäden, die mehrere Anforderungen einschränken können, mit der folgenden Systematik bewertet werden: Tragfähigkeit vor Gebrauchstauglichkeit, Gebrauchstauglichkeit vor Dauerhaftigkeit. Um eine möglichst hohe Übereinstimmung mit dem aktuellen Vorgehen zu erreichen, erfolgt die Berechnung der Teilnoten entsprechend dem in WSVPruf hinterlegten Notenalgorithmus, allerdings stets spezifisch für D, T oder G. Das heißt, der am schlechtesten bewertete D-, T-, G-Schaden führt auf die D-, T-, G-Teilnote inklusive eines maximalen Zu- oder Abschlages von 0,2 in Abhängigkeit des Ausmaßes und der Anzahl der Schäden. Tabelle 2 zeigt ein fiktives Beispiel mit drei Schäden der Teilnotenkategorie Konstruktion, die unterschiedliche Anforderungen beeinträchtigen. Dank der anforderungsspezifischen Noten ist zu erkennen, dass die Benotung für die Konstruktion des Bauwerks aus einem tragfähigkeits- und nicht einem gebrauchstauglichkeits- oder dauerhaftigkeitsrelevanten Schaden herrührt. Bei der Bewertung der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die Definition der Dauerhaftigkeit bereits impliziert, dass sie immer dann eingeschränkt ist, wenn die Tragfähigkeit oder Gebrauchstauglichkeit beeinträchtigt wird [9]. Umgekehrt kann bei einem dauerhaftigkeitsrelevanten Schaden der Schadensklasse 3 oder 4 eine Beeinträchtigung der Tragfähigkeit und Gebrauchstauglichkeit nicht ausgeschlossen werden [6]. 5. Validierung Im Zuge der Bearbeitung wurde eine große Anzahl an Schäden an Schiffsschleusenanlagen gesichtet und deren Klassifizierung unter Berücksichtigung des Schadensfotos und des Bemerkungsfeldes überprüft. Im Ergebnis gelingt bei etwa neunzig Prozent der Schäden eine korrekte Zuordnung. Auffallend ist, dass die gebrauchstauglichkeitsrelevanten Schäden vermehrt eine fehlerhafte Zuordnung erfahren. Ursächlich ist, dass das vom Schaden betroffene Bauteil bei der Systematik nicht berücksichtigt wird, da es infolge einer unzureichenden Objektteilgliederung häufig unbekannt ist. Auch bei Schäden, die sich an unterschiedlichen Materialien oder am Übergangsbereich von Bauteilen befinden, ist eine höhere Rate an Fehlzuordnungen zu beobachten. Abbildung 2: Schäden an der Konstruktion von Schiffsschleusenanlagen an Bundeswasserstraßen nach Schadensbild mit zugehöriger Schadensklasse (Stand 07.2020) 5.1 Schadensebene Die automatische Klassifizierung von Schäden erlaubt eine Einschätzung ihrer Häufigkeit, wie in Abbildung 2 dargestellt ist. Es wird deutlich, dass Risse am Massivbau niedriger Schadensklasse, gefolgt vom Oberflächenabtrag, die dominierenden Schadensbilder an der Konstruktion von Schiffsschleusenanlagen sind. Mit größerem 7. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Juli 2021 381 Anforderungsspezifische Zustandsnoten als unterstützende Kennzahlen für das Erhaltungsmanagement von Wasserbauwerken Abstand folgt die Korrosion als dritthäufigstes Schadensbild, die der Schadensfolge duktiles Bauteilversagen zugeordnet wird. Die insgesamt an der Konstruktion von Schiffsschleusen vorhandenen 19.000 Schäden verteilen sich nach Abbildung 3 (ganz links) wie folgt auf die drei Kategorien: rund siebzig Prozent von ihnen werden als relevant für die Dauerhaftigkeit (D), rund zwanzig Prozent als relevant für die Tragfähigkeit (T) und lediglich fünf Prozent als relevant für die Gebrauchstauglichkeit (G) eingestuft, wobei letzteres nach Abschnitt 5 vermutlich mit einer höheren Fehlerrate behaftet ist. Etwa ein Prozent kann aufgrund einer ungewöhnlichen Kombination von Schadensbegriff und Materialgruppe, siehe Abschnitt 4, nicht eindeutig zu einer Schadensfolge zugeordnet werden. Aufgrund der Berechnungsmethodik der Teil- und Zustandsnoten ist jedoch weniger die Gesamtzahl der Schäden von Interesse, sondern vielmehr, wie oft die jeweiligen Schäden schlechte Bewertungen in Form hoher Schadensklassen aufweisen. Daher zeigen die übrigen Grafiken aus Abbildung 3 den Anteil der D-, T-, G-Schäden nach Schadensklassen. Die Mehrheit, rund neunzig Prozent, der D-Schäden besitzen die Schadensklassen 1 oder 2, nur ein Prozent die Schadensklasse 4. Bei den tragfähigkeitsrelevanten Schäden verschiebt sich die Schadensbewertung zu höheren Schadensklassen. Rund sechzig Prozent der Schäden haben die Schadensklassen 1 oder 2 und ca. vierzig Prozent der Schäden weisen die Schadenklasse 3 auf. Der Anteil der Schäden mit der schlechtesten Bewertung bleibt mit rund drei Prozent relativ gering. Ein anderes Bild ergibt sich bei der Auswertung der G-Schäden, von denen mit ca. 14 Prozent ein vergleichsweiser großer Anteil die schlechteste Note aufweist. Hintergrund ist, dass hierunter Schäden mit Gefahr für Leib und Leben fallen, die nach dem BAW-Merkblatt Schadensklassifizierung [6] mit der Schadensklasse 4 zu bewerten sind. Vergleichbar mit den T-Schäden liegt der Anteil der G-Schäden mit einer niedrigen Schadensklasse (Schadensklassen 1 und 2) bei ca. siebzig Prozent. 5.2 Objektebene Tabelle 3 zeigt am Beispiel von realen, aber anonymisierten Schiffsschleusenanlagen an einer Bundeswasserstraße eine Gegenüberstellung der bisherigen Teilnoten für die Konstruktion mit den neu entwickelten anforderungsspezifischen D-, T-, G-Teilnoten der Konstruktion. Es lassen sich Bauwerke identifizieren, deren Schäden an der Konstruktion eher auf eine Dauerhaftigkeitsproblematik (z. B. Anlage 1 und 2) oder eher auf eine Tragfähigkeitsproblematik (z. B. Anlage 4, 6, 7 und 8) hindeuten. Die Gebrauchstauglichkeit der Konstruktion der aufgeführten Bauwerke scheint dem gegenüber im geringeren oder gleichen Maße (z. B. Anlage 9) beeinträchtigt zu sein. Tabelle 3: Benotung der Konstruktion von Schiffsschleusenanlagen an einer Bundeswasserstraße, D = Dauerhaftigkeit, T = Tragfähigkeit, G = Gebrauchstauglichkeit (Stand 07.2020) Schiffsschleusenanlage Teilnote D-Teilnote T-Teilnote G-Teilnote Anlage 1 4,0 4,0 3,2 2,1 Anlage 2 3,2 3,2 2,1 - Anlage 3 2,2 2,0 2,1 1,0 Anlage 4 3,0 2,2 2,9 - Anlage 5 3,2 3,2 3,1 1,0 Anlage 6 3,2 2,2 3,2 - Anlage 7 3,2 - 3,1 - Anlage 8 3,2 2,2 3,2 1,8 Anlage 9 2,2 2,2 2,2 1,8 Anlage 10 3,0 3,0 3,0 - Anlage 11 3,2 3,2 3,2 - Anlage 12 3,0 2,2 2,9 - Abbildung 4: Verteilung der anforderungsspezifischen Teilnoten von Schiffsschleusenanlagen an Bundeswasserstraßen mit jeweiliger maximaler Anforderung, D = Dauerhaftigkeit, G = Gebrauchstauglichkeit, T = Tragfähigkeit (Stand 07.2020) Abbildung 4 zeigt hingegen eine Auswertung über die anforderungsspezifischen Konstruktionsnoten von Schiffsschleusenanlagen an Bundeswasserstraßen. Ausschlaggebend für die dargestellte Gruppierung ist, welche Anforderung (Dauerhaftigkeit, Tragfähigkeit, Gebrauchstauglichkeit) die schlechteste Note generiert. Entsprechend des Notenalgorithmuses bedeutet dieser Umstand, dass der schlechteste Schaden an der Konstruktion, die entsprechende Anforderung einschränkt. Demnach ergibt sich die Teilnote für die Konstruktion bei ca. 70 Prozent der Schiffsschleusenanlagen aus mindestens einem tragfähigkeitsrelevanten Schaden (T, D+T, T+G, D+T+G). Bei 15 Prozent der Konstruktionen geht der Zustand hingegen auf mindestens einen dauerhaftigkeitsrelevanten Schaden und bei 9 Prozent auf mindestens einen gebrauchstauglichkeitsrelevanten Schaden zurück. Eine derartige Gruppierung der Bauwerke könnte zusätzlich zur Höhe der Noten zur Priorisierung von Erhaltungsmaßnahmen herangezogen werden. 382 7. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Juli 2021 Anforderungsspezifische Zustandsnoten als unterstützende Kennzahlen für das Erhaltungsmanagement von Wasserbauwerken 6. Fazit Im vorliegenden Beitrag wurde untersucht, inwieweit sich die Daten aus WSVPruf für die Klassifizierung von Schäden nach ihren Auswirkungen und als Ergebnis zur Erstellung von anforderungsspezifischen Teilbzw. Zustandsnoten eignen. Dahinter stand das Ziel, ein genaueres Bild über den Zustand des Bauwerksbestandes zu liefern, womit die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes in dem Vorhaben einer effizienten und nachvollziehbaren Mittelverteilung unterstützt werden kann. Im Ergebnis gelingt in etwa 90 Prozent der Fälle eine aussagekräftige Klassifizierung der Schäden in die Kategorien Dauerhaftigkeit, Tragfähigkeit und Gebrauchstauglichkeit, womit ebenfalls eine Analyse hinsichtlich Schadensschwerpunkten durchführbar ist. Nachteilig ist die erschwerte Erkennung von gebrauchstauglichkeitsrelevanten Schäden, welches zukünftig durch die geplante Einführung einheitlicher Objektteilgliederungen verbessert werden könnte. Weiterhin ist zu beachten, dass die automatisierte Zuordnung stets durch eine sachkundige Person zu plausibilisieren ist. Zur praktischen Verwendung der Vorgehensweise sollte zudem festgelegt werden, welche Priorität den Anforderungen Tragfähigkeit, Gebrauchstauglichkeit und Dauerhaftigkeit einzuräumen ist, eine Frage, die vom Infrastrukturbetreiber entsprechend seinen Sicherheitsanforderungen festgelegt werden kann. Als nächster Schritt ist vorgesehen, die anforderungsspezifischen Zustandsnoten mit weiteren Kennzahlen, die sich für eine netzweite Priorisierung von Erhaltungsmaßnahmen eignen, zu verknüpfen. Hierunter fällt die Robustheit der Bauwerke, die sich aus der Verbindung ihrer statischen Auslastung und ihrer Konstruktionsmerkmale ergibt [18]. Weiterhin fällt darunter die Bewertung der möglichen Folgen bei Bauwerksversagen bzw. -ausfall auf Objekt- und Netzebene. Sie können von einer Funktionsbeeinträchtigung einzelner Bauwerke, über wirtschaftliche Schäden bis hin zur Gefährdung von Personen reichen und lassen sich beispielsweise mit einer Risikobetrachtung abbilden [19]. Literaturverzeichnis [1] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) (Hg.) (2020): Investitionsrahmenplan 2019 - 2023 für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes (IRP). [2] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) (Hg.) (2015): Verkehrsinfrastrukturbericht. [3] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) (Hg.) (2016): Bundesverkehrswegeplan 2030. [4] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) (Hg.) (2019): Masterplan Binnenschifffahrt. [5] Bundesanstalt für Wasserbau (BAW) (Hg.) (2009): VV-WSV 2101 Bauwerksinspektion. 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