eJournals lendemains 38/150-151

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2013
38150-151

Elke Richter / Karen Struve / Natascha Ueckmann (ed.): Balzacs "Sarrasine" und die Literaturtheorie. Zwölf Modellanalysen

2013
Maximilian Gröne
ldm38150-1510177
177 Comptes rendus Robbe-Grillet auch hinsichtlich seiner eigenen Autorschaft sein kann, mit welcher Lust er den Leser narrt, führt Hans T. Siepe ausgehend von eigener Korrespondenz mit dem Autor in Zusammenhang mit dessen Histoire d’O vor Augen. Wer sich tatsächlich oder wie viel Alain (Paul) Robbe-Grillet sich hinter dem anagrammatisch verschlüsselten Autornamen Pauline Réage, auf den auch das Vorwort zu L’Image verweist, verbirgt, muss nach dem Tod Robbe-Grillets wohl aber für immer offen bleiben. Eine gleichsam visuelle Dimension des Schweigens schließlich macht Kerstin Küchler vor dem Hintergrund der neueren Raumdebatten in den „Blindfeldern“ der Stadtromane Robbe-Grillets aus. Unter einem Blindfeld sind keine konkreten städtischen Orte zu verstehen, es bezeichnet metaphorisch eine Wahrnehmungssituation (cf. 162sq.), die in gut surrealistischer Tradition zwischen Realem und Imaginärem changiert und in Passagen, Parks und Sackgassen ihren bevorzugten Ort hat. Als ‚blinder Fleck‘ bleibt dabei allerdings die offene Frage, ob die surrealistische mythologie moderne lediglich neu belebt oder funktional neu eingepasst wird. Nicht alles in diesem Band wird der Kenner Robbe-Grillets für neu befinden, neu justiert aber ist der Blick auf einen Autor, der - zumal in den Literaturwissenschaften - allzu leicht und allzu schnell mit den Etiketten des Nouveau Roman und der Nouvelle Autobiographie versehen wird, ohne dass seinen filmischen Arbeiten und deren Verhältnis zur Literatur immer die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Franziska Sick (Kassel) —————————————————— ELKE RICHTER / KAREN STRUVE / NATASCHA UECKMANN (ED.): BALZACS „SARRASINE“ UND DIE LITERATURTHEORIE. ZWÖLF MODELLANALYSEN, STUTTGART, PHILIPP RECLAM JUN., 2011, 272 P. Elke Richter, Karen Struve und Natascha Ueckmann haben in der grünen Studienreihe der Reclam-Bibliothek einen für alle Studierende der (franko-)romanistischen Literaturwissenschaft in hohem Maße beachtenswerten Band zu Balzacs Sarrasine im Spiegel der Literaturtheorie herausgegeben. Zusammen mit anderen NachwuchswissenschaftlerInnen präsentieren sie eine gleichermaßen umfassende wie eingängige Auseinandersetzung mit jener Novelle, die nicht zuletzt dank Roland Barthes’ Analyse von 1970 in besonderer Weise das Augenmerk der Literaturwissenschaft auf sich gezogen hat. In zwölf Einzelbeiträgen werden dabei zunächst die Grundzüge einer literaturtheoretischen Richtung und gegebenenfalls ihrer zugehörigen Methode vorgestellt, die im Anschluss daran auf die Novelle illustrierend angewendet werden. Der vollständige Abdruck von Balzacs Primärtext zu Beginn der Bandes ermöglicht den Leserinnen und Lesern eine genaue Vor- 178 Comptes rendus bereitung auf die gebotenen Interpretationen und deren Nachvollzug aus eigener Anschauung. In ihrer Einleitung greifen die drei Herausgeberinnen vorab die grundsätzliche Frage so mancher Studienanfänger auf, wozu eine theoriegestützte Literaturbetrachtung überhaupt dienen könne. Die Begriffe „Theorie“ und „Methode“ werden in diesem Zusammenhang griffig definiert und die besondere Eignung der Novelle Sarrasine für eine Exemplifizierung erörtert. Als Zielsetzung des Bandes hoffen die Herausgeberinnen, „Studierende (und andere Interessierte) über die Reflexion von Theoriemodellen und deren Anwendung auf einen literarischen Text für theorie- und methodengeleitetes literaturwissenschaftliches Arbeiten zu begeistern“ (56). In der ersten der folgenden zwölf Einzelanalysen untersucht Elke Richter die Novelle aus einer narratologischen Perspektive. Hierfür werden zentrale Kriterien der Genetteschen Erzählanalyse, wenngleich unter dem Diktat der knappen Seitenkontingente stark komprimiert, vorgestellt; vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, wie die im Textverlauf sich wandelnde Fokalisierung einerseits als wichtiger Spannungseffekt eingesetzt wird, anderseits der Ich-Erzähler aber zugleich seiner eigenen Erzählung die Vertrauenswürdigkeit entzieht. Der Dekonstruktion von Sarrasine widmet sich daraufhin Christina Johanna Bischoff in ihrem Beitrag. Nach einer äußerst gelungenen Vorstellung von Derridas différance-Konzept zeigt sie, wie auf unterschiedlichen Ebenen (Raum und Zeit, Bildhauerei und Gesang als Zeichensysteme, historische Bezüge, u.a.) verschiedene Aporien des Erzählens geschaffen werden. Natascha Ueckmann situiert Sarrasine in einem Netzwerk intertextueller Bezüge, wobei sie nach der Präsentation der theoretischen Ansätze von Bachtin, Kristeva und Barthes im Sinne von Genettes Transtextualitätsbegriff die Einbindung der Novelle in die Kontexte der Comédie humaine wie auch in jene der zeitgenössischen phantastischen Literatur aufzeigt. Daniel Winkler klärt im Weiteren die intermedialen Bezüge zur Bildenden Kunst und zum Musiktheater, die in ihrer Wechselwirkung zur Erzählkunst untersucht werden, wobei die Figuren Sarrasine und Zambinella wie auch der Ich-Erzähler jeweils einen der entsprechenden Bereiche vertreten. Die Hermeneutik als grundständige Lehre vom Verstehen wird von Christian Grünnagel vorgestellt. Die Tragweite der Hermeneutik wird dabei in einem ersten Schritt aus der Perspektive des Poststrukturalismus durchaus problematisiert, letztlich aber im Rahmen des allgemein menschlichen Bedürfnisses zu begreifen verteidigt. In diesem Sinne arbeitet die Untersuchung mit dem begrifflichen Instrumentarium von Paul Ricœur heraus, inwiefern das Verstehen bzw. Nicht-Verstehen in Sarrasine zu einem entscheidenden Grundproblem ausgestaltet wird. Einen geglückten Anschluss an diese Darstellung bietet der Beitrag von Christina Bertelmann und Roland Alexander Ißler zur rezeptionsästhetischen Tragweite von Sarrasine. Neben einem kurzen Blick auf die historische Rezeptionsgeschichte der Novelle in Literaturkritik und -wissenschaft (bei der eine Analyse im Sinne des Jauß’schen Erwartungshorizontes leider ausgeklammert bleibt), werden 179 Comptes rendus hierbei prägnant die Unbestimmtheitsstellen des Textes nach Wolfgang Iser aufgedeckt und in ihrer Funktion für den Lektüreprozess hinterfragt. Eine noch spezieller literaturgeschichtlich orientierte Einbettung der Novelle nimmt Frank Estelmann vor, der ein rahmendes Spannungsfeld zwischen neoklassizistischem und romantischem Kunstideal beschreibt. Die Gattungswahl der Novelle sowie deren Rekurs auf die in Mode befindliche zeitgenössische phantastische Literatur kann sodann vor dem Hintergrund des literarischen Journalismus der 1830er Jahre erläutert werden. Anke Auch regt in ihrem Beitrag eine systematische Feldstudie in der Nachfolge von Pierre Bourdieu an, befasst sich in ihrer literatursoziologischen Betrachtung sodann aber auf der inhaltlichen Ebene mit der Frage nach der Herkunft des Reichtums jenes mysteriösen Greises, dessen einstige Karriere als Zambinella am Ende der Erzählung aufgedeckt wird. Aus psychoanalytischer Perspektive vermag es Christiane Solte-Gresser, in einer kunstvoll aufeinander aufbauenden Reihung die Novelle zuerst im Lichte der Theorie Freuds, sodann gemäß der Akzentverlagerungen von Jacques Lacan und von Julia Kristeva zu deuten und Zambinella sukzessive als Figur des Verdrängten, des Symbolischen bzw. des Semiotischen zu lesen. Die Ausführungen von Karen Struve bieten im Anschluss daran eine kurze diskursanalytische Einführung zu Sarrasine. Vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses und der Tabuisierung der Rede über Kastration wird erläutert, inwieweit Balzacs Text letztlich implizit allen Redeverboten zum Trotz das Unsagbare zum zentralen Thema erhebt. Wie dabei binäre Ordnungen von Geschlechterrollen aus den Fugen geraten, untersucht Roswitha Böhm in ihrem Beitrag, der Sarrasine zugleich als sekundären Text in die übergreifende Querelle des femmes einzuordnen vermag. Susanne Stemmler befasst sich zu guter Letzt mit einer Anwendung postkolonialer Theorien auf die Novelle - ein Unterfangen, das auf den ersten Blick als wenig dankbar erscheinen mag, von der Verfasserin jedoch über eine Rekapitulation relevanter Positionen von Edward W. Said und Homi K. Bhabha zu interessanten Ergebnissen geführt wird, wobei sie typische erzählerische Verfahren des Orientalismus in Sarrasine nachweisen kann. Zusammenfassend betrachtet, eignet sich der Band in hervorragender Weise, Studierenden der Literaturwissenschaft einen Einstieg in die wesentlichen literaturtheoretischen Ansätze zu ermöglichen, wobei die jeweiligen konzeptuellen Grundlagen, die wichtigsten Untersuchungsgebiete und Verfahrensweisen sowie namhafte FachvertreterInnen knapp vorgestellt werden. Der dabei zutage tretende Überblickscharakter wird durch interne Querverweise zwischen den Beiträgen zum Zwecke der wechselseitigen Ergänzung bzw. Abgrenzung untermauert. Die Einzelinterpretationen vermögen es allesamt in exemplarischer Weise, die theoretischen Grundlagen für konkrete Auswertungen fruchtbar zu machen und in ihrer Argumentation zu überzeugen. Das eindrücklichste Ergebnis des Bandes liegt letztlich in dem Nachweis - wenn es dessen noch bedurfte -, dass die 180 Comptes rendus literaturwissenschaftliche Methodenvielfalt sich aus einer Reihe von jeweils berechtigten Fragestellungen herleitet, die insgesamt die Komplexität des Phänomens Literatur umkreisen. Maximilian Gröne (Augsburg) —————————————————— WOLFGANG ASHOLT / MARC DAMBRE (ED.): UN RETOUR DES NORMES ROMANESQUES DANS LA LITTÉRATURE FRANÇAISE CONTEMPORAINE, PARIS, PRESSES SORBONNE NOUVELLE, 2010, 317 S. Im Februar 2007 veröffentlichte eine Reihe von zum großen Teil ausgesprochen prominenten französischsprachigen Schriftstellern in Le Monde des Livres ein Manifest unter dem Titel Pour une ‚littérature-monde‘ en français. Mit dieser Streitschrift wendeten sich die Autoren einerseits gegen die ihrer Meinung nach überkommene, aber von der universitären Literaturkritik immer noch gehegte Literatur der ‚École de Robbe-Grillet‘. Ihr Argument gegen diese Schule lautet, dass sie einseitig eine Pariser Hochkultur pflege, die vorzugsweise die Autoreferenzialität und die Intertextualität fokussiere, um einem akademischen Publikum ein rein intellektuelles Lesevergnügen zu bereiten. Andererseits plädieren die Romanautoren für eine mehrfache Rückkehr zu einer Literatur, die sowohl welt- und subjekthaltig ist als auch die Geschichte als Sujet der Erzählungen wieder in dem Blick nimmt. Weiterhin wird eine Verabschiedung der Pariser Dominanz gefordert, die auf der unhintergehbaren Verbindung von Sprache und Nation bestehe, was sich gerade in deren Unterscheidung von französischer und frankophoner Literatur zeige. Dem gegenüber befürworten die Unterzeichnenden des Manifests, die Pluralität der literarischen Stimmen ernst zu nehmen, um eine neue französische Literatur zu schaffen, die zum einen in französischer Sprache geschrieben werde und zum anderen den Gegebenheiten der kulturellen, politischen und sozialen Gegenwart, gerade nach dem Ende der Ideologien, gerecht werde. Vor diesem Hintergrund kann der 2010 bei den Presses Sorbonnes nouvelles erschienene Sammelband Un Retour des normes romanesque dans la littérature contemporaine auf gleich mehrfache Weise das Interesse des Lesers auf sich ziehen. Dies liegt zunächst einmal daran, dass in diesem Band vorzugsweise Vertreter jener akademischen Institutionen zu Wort kommen, die von den Autoren des Manifests als Statthalter der Literaturtheorie der 1960er und 1970er Jahre und damit eben auch der akademischen Deutungshoheit über den Gegenwartsroman angesehen werden. Daraus resultiert als erstes die Frage, ob respektive wie in diesem Band auf die Initiative der Romanschriftsteller reagiert wird. Des Weiterem erregt bereits der Titel des Bandes die Aufmerksamkeit des Lesers, da sich gerade vor dem Hintergrund des Manifests die Frage stellt, inwiefern von einem „retour des normes romanesques“ gesprochen werden kann. Folgt man der Argumenta-