eJournals Vox Romanica 70/1

Vox Romanica
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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2011
701 Kristol De Stefani

Ricarda Liver, Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen (Narr) 2010, 195 p.

2011
Roger  Schöntag
Abschließend sei festgestellt: es handelt sich bei dieser Neuerscheinung um eine «tesi innovativa fondata su una ricerca pionieristica» (159), die in ihrer vorsichtigen Formulierung hoffentlich die Anerkennung der Spezialisten in der Substratforschung findet. Max Pfister ★ Ricarda Liver, Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen (Narr) 2010, 195 p. Die Überarbeitung und Neuauflage (2. Aufl. 2010, 1. Aufl. 1999) dieser inzwischen unverzichtbaren Überblicksmonographie zum Bündnerromanischen von Ricarda Liver ist insofern erfreulich, als es kaum eine vergleichbare Darstellung gibt, in der ähnlich kenntnisreich die doch zahlreichen Einzelstudien zu den verschiedenen sprachlichen und soziolinguistischen Aspekten des Bündnerromanischen und seinen Subvarietäten auf aktuellem Stand synthetisiert werden. Hieran mag man schon eingangs das Desiderat einer noch fehlenden neuen Gesamtdarstellung für das Dolomitenladinische (Badiot, Gherdëina, Fascian, Fodom, Anpezan) und seinen Übergangsvarietäten (z. B. im Val di Non, Val di Sole, Val di Fiemme, Val di Vajont, Val di Zoldo, Agordo) knüpfen, wie es auch für das Friaulische (Furlan) mit der Arbeit von Sabine Heinemann 2003 bereits vorliegt 1 . Die Neuauflage von Liver unterscheidet sich nicht substantiell von der ersten Fassung des Buches, sondern besteht vor allem darin, dass einige neue Forschungsergebnisse mit aufgenommen wurden, was sich konkret in einer um ca. 2 Seiten gewachsenen Bibliographie äußert und ein paar kleineren Absätzen zum neuesten Stand der Forschung, z. B. zur Morphosyntax (35), zur Lexik und Etymologie (36-37) zur Onomastik (37) oder zur Soziolinguistik (38-39) (in der Summe ca. 2 Textseiten inkl. zahlreicher Fußnoten). Die Darstellung zum Bünderromanischen beginnt propädeutisch mit einem Überblick zur questione ladina und dem damit zusammenhängenden Problem des inzwischen weit verbreiteten Begriffes «Rätoromanisch» bzw. den damit verbundenen Implikationen. Die Streitfrage um die Einheit dieses romanischen Sprachraumes beginnt mit den Dialektstudien von Graziadio Isaia Ascoli (1829-1907), der in seinen Saggi ladini in der von ihm begründeten Zeitschrift Archivio glottologico italiano (1873s.) die These vertritt, dass die heute noch existierenden und zum Teil verstreuten Varietäten des Bündnerromanischen, des Dolomitenladinischen (Ladinischen) und des Friaulischen (Friulanischen, Furlanischen) Reste einer in früheren Zeiten zusammenhängenden Sprachlandschaft seien, die durch eine Reihe gemeinsamer Merkmale verbunden wären und deshalb auch begrifflich zusammenzufassen seien, wofür er die Bezeichnung «ladinisch» (favella ladina, dialetti ladini) vorschlägt. Dieser Idee folgt auch der österreichische Philologe Theodor Gartner (1843-1925), der mit seinen Werken Rätoromanische Grammatik (1883) und Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur (1910) entscheidend mit dafür verantwortlich ist, dass diese These von der sprachlichen Einheit weitere Verbreitung findet. Dabei verwendet Gartner jedoch den bereits in älteren Studien auftauchenden Begriff «rätoromanisch» um die Gesamtheit der drei Sprachgebiete in Graubünden, den Dolomiten und im Friaul zu bezeichnen. Unter den weiteren Vertretern der sogenannten unità ladina finden sich so illustre Namen wie Jakob Jud (1882-1952), Heinrich Kuen (1899-1990), Gerhard Rohlfs (1892- 1986) und Wilhelm Theodor Elwert 2 (1906-97). Die von Carlo Battisti (1882-1977) und im 293 Besprechungen - Comptes rendus 1 S. Heinemann, Studien zur Stellung des Friaulischen in der nördlichen Italoromania, Bonn 2003. 2 Liver (18) kürzt hier merkwürdigerweise E. Th. Elwert ab. folgenden vor allem von Carlo Salvioni (1858-1920) und Giovan Battista Pellegrini (1921- 2007) vertretende Gegenposition begründet sich durch linguistische Untersuchungen, die aufzeigen, dass zum einen die gemeinsamen sprachlichen Charakteristika der drei Gebiete nicht sehr ausgeprägt sind und zum anderen in Italien die Übereinstimmung mit den angrenzenden Varietäten des Lombardischen und Venezischen 3 zumindest größer seien als von der Gegenseite angenommen wurde. Beide Argumentationen wurden jedoch nicht nur rein auf sprachwissenschaftlicher Ebene entwickelt, sondern hatten unweigerlich auch politische Implikationen, gerade in Italien, wo man im Sinne einer gemeinsamen italianità nicht nur die rätoromanischen Varietäten zu Dialekten des Italienischen degradieren, sondern auch das dazugehörige Territorium ideologisch vereinnahmen wollte. Auch wenn in neuerer Zeit das Problem differenzierter diskutiert wird, bleibt die Frage nach einer adäquaten Bezeichnung für den gesamten Sprachraum, falls man einen solchen überhaupt annehmen möchte. Dabei ist die Zahl der Begriffe zum Teil verwirrend: langue rhétique, rhétoromane, ladine (Edouard Bourciez), ladino (Carlo Tagliavini), rhéto-frioulan (Pierre Bec, Giuseppe Francescato), Alpenromanisch (Ernst Gamillscheg), retoromanzo, ladino (Edward F. Tuttle). Ricarda Liver (15, 22) bekennt sich zur Position der Gegner einer sprachlichen Einheit und argumentiert auch soziolinguistisch, und zwar dahingehend, dass die Sprecher keinerlei gemeinsamen historischen, politischen und kulturellen Hintergrund hätten und deshalb auch kein Selbstverständnis eines Zusammengehörigkeitsgefühls entwickelt haben. Aus diesem Grund verwendet sie den Begriff «Rätoromanisch» so wie er in der Schweiz üblich ist, nämlich nur auf das Bündnerromanische bezogen (27). An dieser begrifflichen Festlegung, für die es durchaus Argumente gibt, seien jedoch einige Zweifel angebracht, ob das im Sinne einer adäquaten Wissenschaftsterminologie günstig ist. Im Grunde ist die Gleichsetzung von «Rätoromanisch» mit «Bündnerromanisch» nämlich eine genauso eingeengte Perspektive, die damit den Begriff «rätoromanisch» ambig macht bzw., wie sie selbst zugibt (27), zu einer umständlichen Aufzählung aller drei Einzelgebiete zwingt, wenn man den gesamten Sprachraum anspricht, wie es auf italienischer Seite oft mit der Bezeichnung ladino passiert, die eben sowohl das Dolomitenladinische als auch alle drei rätoromanischen Varietäten meinen kann. Natürlich kann man auch beklagen, dass der Begriff «Rätoromanisch» etymologisch inadäquat ist, da die damit bezeichneten Varietäten weder deckungsgleich mit dem Siedlungsgebiet der antiken Räter noch mit der Provinz Rätien sind, doch ist es durchaus sinnvoll, im Zuge einer wissenschaftlich eindeutigen Terminologie auf die nach wie vor üblichen Bezeichnungen «Rätoromanisch» (im Sinne der Gesamtheit), «Bündnerromanisch», «Dolomitenladinisch/ Ladinisch» und «Friaulisch/ Friulanisch» zu rekurrieren, auch ohne sich deshalb automatisch zu einer unità ladina bekennen zu müssen 4 . Nach der begrifflichen Diskussion widmet sich Liver (29-41) dem aktuellen Forschungsstand, der naturgemäß einige Desiderata bezüglich der Rätoromania im Allgemeinen und 294 Besprechungen - Comptes rendus 3 Liver (17) spricht von «venetischen Varietäten», was zwar mitunter üblich, aber nicht sehr glücklich ist, da ambig (auch referierend auf das antike Volk der Veneter in Oberitalien und Gallien). 4 Das von Liver (26, N59) beklagte unetymologische h in der französischen und englischen Terminologie (rhéto-roman, Rhaeto-Romance) sowie bei der Rhätischen Bahn geht auf die griechische Terminologie zurück (griech. ’Ραῖτοι bzw. Rhaetoi, z. B. bei Polybios Hist. XXXIV, 10, 18; Strabon IV, 6, 8 und IV, 6, 12, während lat. Raeti z. B. bei Plinius Nat. XIV, 16, 67; Sueton Aug. 77, erst später lat. Rhaeti) und ist deshalb nicht wirklich unetymologisch, zumal man über die nicht eindeutig zuzuordnende Sprache der Räter kaum verlässliche Aussagen treffen kann (evtl. etruskisch, vorindogermanisch) und somit auch der Lautwert des r aus den Inschriften nur schwer zu ermitteln sein dürfte. des Bündnerromanischen im Besonderen beinhaltet, u. a. bezüglich Syntax, Wortbildung, Semantik, Intonation, Sprachgeschichte und Soziolinguistik. Im daran anschließenden Kapitel (43-74) erhält man einen trefflichen Überblick zu den einzelnen Varietäten des Bündnerromanischen anhand einer linguistischen Kurzpräsentation mit Merkmalen zu Phonologie/ Phonetik, Morphologie, Syntax und Lexikon sowie einem kurzen literarischen Textauszug mit der zugehörigen API-Transkription, so dass man sich sowohl ein Bild vom sprachlichen Abstand der Varietäten untereinander machen kann, als auch einen Eindruck von deren Gestalt (grammatische Form, Lautung) gewinnt. Die Mundarten werden dabei mit ihrer geographischen Verbreitung und der Etymologie ihrer Bezeichnung vorgestellt: Surselvisch (br. sursilvan vlat. *supra silvanu ‘über dem Wald’, dt. obwaldisch) im Vorderrheintal, Sutselvisch (br. sutsilvan vlat. *subtu silvanu ‘unter dem Wald’, dt. nidwaldisch) im Hinterrheintal, Surmeirisch (br. surmiran vlat. *supra muru ‘über der Mauer’, d. h. über dem Felsriegel in der Schynschlucht) im Oberhalbstein und im Albulatal. Zwischen Oberengadinisch (br. Putèr, zu br. put vlat. *pulte ‘Brei’) und Unterengadinisch (br. Vallader, zu vlat. *valle ‘Tal’) verläuft die Grenze bei Zernez. Nahe verwandt mit dem Engadinerromanischen (br. ladin) ist das Rätoromanische des Münstertals (br. Val Müstair), das jauer genannt wird (zu jau ‘ich’ lat. ego anstatt untereng. eu). Bezüglich des Surmeirischen kann man nochmal zwischen Sursés (lat. supra saxum ‘über dem Fels’) und Sutsés (lat. subter saxum ‘unter dem Fels’, d. h. bzgl. des Felsens am Eingang des Oberhalbsteintals) differenzieren. Hinsichtlich ihrer Vitalität gibt es bei den einzelnen Varietäten, die ein Dialektkontinuum von West nach Ost bilden, erhebliche Unterschiede, wobei vor allem das Surselvische und das Vallader noch am ehesten Verwendung finden, das Surmeirische etwas weniger und die restlichen stark im Rückzug begriffen sind. Ein Richtwert für die Gesamtpräsenz des Rätoromanischen in Graubünden lässt sich anhand der Volkszählung des Jahres 2000 ermitteln, bei der 14,5 % der Befragten angaben Rätoromanisch als Hauptsprache zu benutzen (Deutsch 68,3 %, Italienisch 10,2 %) und 21,6 % als Umgangssprache (Deutsch 85,0 %, Italienisch 23,6 %, hier Mehrfachnennung möglich) (44-46). An dieser Stelle hätte man sich eine genauere Aufschlüsselung der Sprachsituation gewünscht, die ohne weiteres nach den Erhebungen des Bundesamtes für Statistik möglich gewesen wäre (z. B. Sprache in der Familie, am Arbeitsplatz) 5 . Die Tatsache, dass dem Bünderromanischen noch eine gewisse Stabilität beschieden ist, hängt nicht unwesentlich mit den Bemühungen um eine einheitliche Schriftsprache zusammen. Die Idee zu einer überregionalen Norm für die zersplitterten Varietäten mit zum Teil eigener schriftsprachlicher Tradition ist nicht neu (frühere Ansätze von Placidius a Spescha (1752-1833), Gion Antoni Bühler (1815-97), Leza Uffer (1912-82)), doch erst dem Konzept des Züricher Romanisten Heinrich Schmid zum Rumantsch Grischun in Kooperation mit der Lia Rumantscha (gegr. 1919) war ein nachhaltiger Erfolg beschieden (ab 1982). Die Basis für die neue Einheitssprache, bei der man sich sprachlich um den größten gemeinsamen Nenner bemühte, sind in erster Linie die drei wichtigsten bisherigen Schriftsprachen, das Surselvische im Westen, das Engadinische im Osten und das Surmeirische als Übergangszone. Das Rumantsch Grischun wird inzwischen von offizieller Seite her verwendet (in der Verwaltung auf Kantonsebene und auf nationaler Ebene), konnte sich außerdem in einigen Schulen durchsetzen (23 Gemeinden in Mittelbünden und im Münstertal) sowie als vorherrschendes Schriftidiom in der seit 1997 erscheinenden Tageszeitung La Quotidiana. Umstritten ist die neue Dachsprache vor allem in der Schule, da auf diese Weise die lokalen Varietäten zurückgedrängt werden, aber auch die Gesamtakzeptanz ist nicht nur positiv (70-74). 295 Besprechungen - Comptes rendus 5 G. Lüdi/ I. Werlen, Eidgenössische Volkszählung 2000. Sprachenlandschaft in der Schweiz, Neuchâtel 2005. Ein weiteres Kapitel in der Darstellung von Liver (75-128) ist der externen Sprachgeschichte des Bündnerromanischen gewidmet, die bei der Eroberung des Alpenraumes (15 v. Chr. durch Drusus und Tiberius unter Augustus) und der folgenden Romanisierung einsetzt. Dem der Rätoromania indirekt namensgebenden Volk der Räter werden dabei leider nur wenige Zeilen eingeräumt und den fünf Jahrhunderten römischer Präsenz, die ja für die Herausbildung des Bündnerromanischen entscheidend sind, gar nur ein einziger Satz. Gerade in Bezug auf die eingangs diskutierte Frage nach der Begrifflichkeit wäre es vielleicht wünschenswert gewesen, noch ein wenig genauer auf das anzunehmende Siedlungsgebiet der Raeti einzugehen, evtl. Teilstämme zu erwähnen (z. B. Trumpilini, Camunni, Venostes, Vennonetes, Isarci, Breuni) oder die verschiedenen nordetruskischen (subalpinen) Alphabete von Lugano, Bozen (Sanzeno) und Magrè, in denen die rätischen Inschriften vorliegen (ca. 300). Korrekterweise hätte man auch erwähnen können, dass die Provinz Raetia eigentlich Raetia et Vindelicia (et vallis Poenina, bis Claudius) hieß (15 v. Chr. erobert, ca. vor Mitte 1. Jh. n. Chr. (evtl. unter Tiberius) als Provinz eingerichtet, zunächst als präfektorische, ab 179 n. Chr. als prokuratorische Provinz verwaltet), bevor sie, wie bei Liver (77) aufgeführt, in die Raetia prima (Hauptstadt Curia) und die Raetia secunda (Hauptstadt Augusta Vindelicum) geteilt wurde (zivile Leitung durch je einen praeses, militärisch durch nur einen dux Raetia primae et secundae, dem auch die legio III Italica in Castra Regina unterstand) 6 . Zur Romanisierung des Gebietes hat sicher auch die Tatsache beigetragen, dass die Räter stark zum Heeresdienst herangezogen wurden (es gab 10 cohortes Raetorum). Interessant wäre auch die Frage nach der Ethnizität der Räter gewesen bzw. ob es sich dabei vielleicht nur um eine Kultgemeinschaft gehandelt hatte oder damit zusammenhängend, welcher Sprachgruppe sie zuzurechnen sind. In der weiteren Darstellung der Geschichte ist besonders das Vordringen der Alemannen im Zuge der Völkerwanderung wichtig, da dadurch ja die heutige sprachliche Situation konstituiert wurde. Liver (76-77) macht deutlich, wie die Alemannen zunächst nur im Bodenseegebiet Fuß fassten (5.-7. Jh.) und erst dann langsam ihr Siedlungsgebiet in die heutigen deutschsprachigen Gebiete der Schweiz ausdehnten, so dass in Unterrätien (Rheintal) bis ins 12. Jh. eine Phase der Zweisprachigkeit herrschte, was auch gut an der veränderten Toponomastik abzulesen ist. Für das Bündnerromanische entscheidend ist der Verlust des einstigen Kulturzentrums Chur (Bischofssitz, Grafschaft Churrätien), in dem aber immerhin bis zum 15. Jh. rätoromanisch als Umgangssprache weiterlebte. Auch die zahlreichen Walserkolonien (ab 13. Jh.) zerrissen das einst sprachlich zusammenhängende Gebiet. Politisch konstituiert sich Graubünden schließlich im ausgehenden Mittelalter, als 1471 der Freistaat der drei Bünde aus der Vereinigung des Gotteshausbundes (1367), des Oberen Bundes/ Grauen Bundes (1424) und des Zehngerichtebundes (1436) entsteht. Die Zeit der Reformation und Gegenreformation ist insofern für das Bündnerromanische wichtig, als die einzelnen Varietäten nun verstärkt verschriftlicht werden, während für die vorangehenden Jahrhunderte nur wenige Schriftquellen existieren. Die drei bei Liver (86-92) diskutierten mittelalterlichen Dokumente sind die Würzburger Federprobe (10./ 11. Jh., ältestes Zeugnis des Rätoromanischen), die Einsiedler Interlinearversion (11. Jh.) und eine Zeugenaussage aus einem Münstertaler Urbar von 1389, Münstertaler Weidbeschreibung (einziges Zeugnis für das Engadinische im Mittelalter). Ab dem 16. Jh. entwickelt sich jedoch ein Schrifttum, das «als erstaunlich reich und elaboriert» (93) bezeichnet werden muss und sich 296 Besprechungen - Comptes rendus 6 Der Neue Pauly relativiert hier die Angabe von Liver, die die Provinzteilung an Diokletian festmacht, da hier vorsichtig auf «nach 297, vor ca. 370» datiert wird. (F. Schön/ G. H. Waldherr, «Raeti, Raetia», in: H. Cancik/ H. Schneider (ed.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, vol. 10, Stuttgart/ Weimar 2001: 753). je nach Region unterschiedlich entwickelte (Engadin: protestantisch vs. Surselva/ Sutselva: katholisch, protestantisch): im Engadin z. B. das Kleinepos Chianzun dalla guerra dagl Chiaste da Müs (1527), das biblische Drama Histoargia da Joseph (1534), die Übersetzung des Neuen Testaments von Giachem Bifrun (1506-72), L’g Nuof Sainc Testamaint da nos Signer Jesu Christ (1560), das Psalmbuch Ün cudesch da Psalms (1562); in der Surselva/ Sutselva z. B. das humoristische Fragment Litgun da Sagogn (1571), das religiöse Erbauungsbuch Ilg Vêr Sulaz da pievel giuvan (1611), der Katechismus Curt Mossament et Introvidament De Quellas Causas, las qualas scadin fidevel Christan è culpantz da saver (1611), die religiöse Streitschrift Anatomia dil sulaz (1618). In der Sutselva wird die lokale Schriftlichkeit bald im Wesentlichen zugunsten des prestigereicheren Surselvischen aufgegeben, im katholischen Surmeir fällt die Entscheidung bezüglich der Schriftsprache zwischen Italienisch, Surselvisch und der eigenen Mundart oft schwer, so dass kein ausgeprägtes Schrifttum entsteht, während man sich im Engadin und der Surselva von dem rein religiösen Inhalt nach und nach löst und so eine kontinuierliche Schrifttradition bis in die heutige Zeit bewahren konnte. Heutzutage gibt es ein Schrifttum (Presse, Literatur, Schule) in allen fünf Varietäten des Bündnerromanischen sowie im überregionalen Rumantsch Grischun (128). Zu begrüßen sind in diesem Kapitel zweifellos die Sprachanalysen anhand ausgewählter Texte; daneben wäre eine systematische Übersicht zu den ältesten Dokumenten aller einzelnen Varietäten ebenfalls eine willkommene Ergänzung gewesen, zumal es bezüglich des Surmeirischen nur einen vagen Hinweis auf den Beginn der Schriftlichkeit gibt. Im folgenden Großkapitel Synchronische Beschreibung des Surselvischen (129-65) wird die neben dem Vallader prominenteste, sprecherreichste und vitalste Varietät des Bündnerromanischen en detail vorgestellt, wobei die Wahl auf dieses Idiom auch wegen einiger spezifischer linguistischer Eigenheiten fiel sowie der besseren Forschungslage. Die ausführliche Darstellung der phonetischen/ phonologischen, morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Besonderheiten des Surselvischen erlaubt einen ausgezeichneten Einblick in den Aufbau und die Struktur dieser Varietät, zudem hier immer wieder anhand von Vergleichen zu anderen romanischen Sprachen die Situierung dieses rätoromanischen Idioms innerhalb der Gesamtromania im allgemeinen und der Rätoromania im Besonderen deutlich wird. Natürlich hätte man als Benutzer dieser Monographie auch gerne eine ähnlich profunde Darstellung zum Vallader (als Vergleichsparameter) oder gar zu allen anderen Idiomen des Bündnerromanischen, doch versteht es sich, dass aufgrund des mehr oder minder vorgegebenen Umfang des Buches in dieser Reihe und der im ein oder anderen Bereich nicht so umfangreichen Forschungsliteratur dieses Unterfangen nicht ohne weiteres realisierbar war. Dafür wird in einem daran anschließenden Kurzkapitel noch auf einige herausstechende Charakteristika der anderen Varietäten eingegangen (verhärtete Diphthonge, präpositionaler Akkusativ, klitische Subjektspronomina). Weitere Spezifika findet man dann noch im Schlusskapitel Das Bündnerromanische in der Romania, in dem auf die Randlage dieser Idiome eingegangen wird und auf die Auswirkungen des Sprachkontaktes mit dem Deutschen. Eine lexikalische Besonderheit des Bündnerromanischen wären beispielsweise die Farbbezeichnungen für «weiß», «rot» und «gelb», die in dieser Kombination sonst in der Romania nicht zu finden ist: surs./ suts./ surm./ put. alv, vall. alb ( lat. albus), surs. tgietschen, suts./ surm./ put./ vall. cotschen ( lat. coccinus), surs./ surm. mellen, suts. melen, put. mellan ( lat. melinus), aber vall. gelg (ahdt. gelo wgerm. *gelwa-). Im Einzelnen gibt es natürlich weitere Lexeme in der Romania, die auf die genannten Etyma zurückgehen, die hier jedoch leider nur kursorisch behandelt werden. So wird zu lat. albus nur erwähnt, dass es «außer im Bünderromanischen auch im Rumänischen als Farbadjektiv, ferner in Italien und in Frankreich in Ortsnamen» (174) vorkäme. Hier sei aber zu ergänzen, daß neben dem rum. alb ‘weiß’ es auch im Portugiesischen alvo ‘hell, weiß, rein’ gibt (evtl. Kultismus), im Logudoresischen alvu ‘grau, weißlich’, im Italienischen albo 297 Besprechungen - Comptes rendus ‘weiß’, im Vegliotischen yualb ‘weiß’ (cf. REW) und in den angrenzenden italienischen Varietäten alb (Poschiavo) ‘weiß’ und alv (Vicosoprano) ‘blond’ (cf. LSI), um nur einige weitere verwandte Lexeme zu nennen 7 . Insgesamt ist die von Ricarda Liver vorgenommene Neuauflage ihrer Monographie zum Bündnerromanischen jedoch ein unverzichtbares Kompendium zum Einstieg in die linguistische Beschäftigung mit dem Rätoromanischen der Schweiz, das neben wertvollen Textproben und einer fundierten Betrachtung der einzelnen Varietäten auch zahlreiche interessante Detailuntersuchungen enthält (z. B. eine Wortfeldanalyse zu «Schneefall»). Als tatsächliches Manko sei das fehlende Kartenmaterial genannt, das gerade im Falle dieser so zersplitterten Minderheitensprache im Mikrokosmos Alpenraum eine große Orientierungshilfe gewesen wäre (sowie ein Personen- und Sachregister) 8 . Roger Schöntag Galloromania Jean-Michel Mehl, Des jeux et des hommes dans la société médiévale, Paris (Honoré Champion) 2010, 366 p. (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 97) Professeur émérite d’histoire médiévale à l’Université de Strasbourg, spécialiste de l’histoire des jeux et des sports, Jean-Michel Mehl a réuni dans ce beau livre 26 de ses articles parus entre 1978 et 2005.Après un exposé introductif (Jeu 7-16 (1999)) qui rappelle les questions fondamentales (matériel ludique, règles et pratique des jeux), les contributions sont organisées en cinq parties. La première a pour titre «Possibilités et limites d’une histoire des jeux du Moyen Âge et de la Renaissance»; elle s’ouvre sur un panoramique bibliographique et le rappel des questionnements qu’une histoire des jeux ouvre («Jeux, sports et divertissements au Moyen Âge et à la Renaissance», 19-36 (1991)), pour proposer ensuite une réflexion sur l’intégration et la reconnaissance du jeu dans l’espace social («Entre culture et réalité: la perception des jeux, sports et divertissements au Moyen Âge et à la Renaissance», 37-59 (1995)); le jeu objet de parole est traité dans un troisième article, où sont pris en compte notamment les mots jocus/ ludus, instrumenta et la nomenclature des échecs («Le latin des jeux», 61-73 (2000)); une dernière contribution porte sur l’importance des lettres de rémission - à savoir les actes par lesquels le roi ou un grand seigneur «fait remise entièrement ou partiellement de sa peine à un condamné par arrêté de justice» (cit. p. 77) - comme source d’information indirecte sur les jeux pratiqués au Moyen Âge («Les lettres de rémission françaises: une source pour l’histoire des jeux médiévaux», 75-89 (1993)). La deuxième section est centrée sur le Liber de moribus hominum ac officiis nobilium super lude scaccorum de Jacques de Cessoles (XIII e siècle), œuvre didactique et littéraire qui a connu un énorme succès attesté par quelque 200 manuscrits, un nombre considérable de traductions (en français, allemand, catalan, néerlandais, anglais, suédois, tchèque) et le passage à l’imprimé dès 1479; le même J.-M. Mehl en a publié en 1995 une traduction en 298 Besprechungen - Comptes rendus 7 Zu weiteren Etymologien sei neben dem hier angeführten REW und dem LSI (F. Lurà (ed.), Lessico dialettale della Svizzera italiana, Bellinzona 2004) noch auf J. Grzega, «Le basi atr- ‘nero’ e alb- ‘bianco’ nella Romania cisalpina (e transalpina): radici latine o prelatine», VRom 59 (2000): 108- 14 hingewiesen, insbesondere auf N5 (p. 109), wo er noch genuesisch arbu ‘candido’, altsizilianisch albu ‘bianco’ und altsardisch albu ‘bianco’ ergänzt. 8 Für eine eventuelle, weitere Neuauflage seien auf folgende Druckfehler hingewiesen: *Besipiele anstatt Beispiele (60) und *in geringerem Masse anstatt Maße (74).