eJournals Vox Romanica 75/1

Vox Romanica
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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2016
751 Kristol De Stefani

«Gesprochene Sprache» in der namenkundlichen Forschung

2016
Elwys  De Stefani
Vox Romanica 75 (2016): 99-115 «Gesprochene Sprache» in der namenkundlichen Forschung Onymisierungsprozesse unter der Lupe Abstract: Partendo dall’osservazione che i processi di onimizzazione avvengono nell’uso effettivo della lingua, in questo articolo si riflette alla rilevanza dell’oralità nell’analisi onomastica dei nomi di persona. In base a dati archivistici di area friulana, si descrive dapprima il passaggio di costruzioni come lu Pieri dall’uso appellativo all’uso propriale, consolidatosi nell’attuale nome di famiglia Lupieri. L’articolo si concentra quindi sui processi di onimizzazione osservabili in dati conversazionali, soffermandosi in particolare sui soprannomi di famiglia tuttora frequenti nelle aree prealpine del Friuli. L’analisi del materiale empirico - scritto e orale - utilizza concetti e metodi radicati nella teoria della grammaticalizzazione e nell’onomastica interazionale. L’articolo si chiude con una discussione teorica del concetto di onimizzazione. Keywords: Onomastics, Personal names, Grammaticalization, Onymization, Interaction, Friulian 1. Einführung Namenkundliche Forscher weisen der gesprochenen Sprache im Allgemeinen eine zentrale Bedeutung zu. Es besteht in der Tat Konsens darüber, dass historisch geprägte Namen in der Regel aus appellativischen Beschreibungen hervorgegangen sind und dass dieser Onymisierungsprozess in der Oralität stattgefunden hat. Die daraus hervorgegangenen Eigennamen werden oft metaphorisch als versteinerte Spracheinheiten betrachtet: Meist werden Eigennamen als sprachliche Fossilien beschrieben, die, vom allgemeinen Sprachwandel abgekoppelt, am Wegesrand liegen geblieben sind. Das größte Interesse der Onomastik gilt der Erschließung des einst appellativischen Kerns, d. h. der Etymologie. Dass Eigennamen sich von der Appellativik, der sie ja fast durchweg entstammen, differenzieren müssen, liegt auf der Hand, doch gibt es auch andere Verfahren, als (passiv) zu stranden (Nübling 2010: 130). Dieses Zitat verdeutlicht in der historischen Namenkunde weit verbreitete methodologische Ausgangspunkte. Dem philologischen Ursprung der Onomastik entsprechend, besteht das hauptsächliche Ziel der Forschung in der etymologischen Klärung der ursprünglichen Motivation und Bedeutung der Namen. Darüber hinaus offenbart das Zitat eine Auffassung, die von einer gleichsam systeminhärenten Unterscheidung zwischen Appellativen und Proprien ausgeht: Eigennamen «differenzieren sich» von Appellativen - diese Unterscheidung scheint in der Natur der Spracheinheiten begründet zu sein; die Sprachverwender (Sprecher, Schreiber, etc.) werden somit lediglich als Benützer verstanden, die sich einer bestehenden, funktionalen Differenzierung zwischen Appellativ und Eigenname bedienen. Elwys De Stefani 100 Im vorliegenden Aufsatz soll versucht werden, diese Grundannahmen neu zu beleuchten und eine Auseinandersetzung mit der methodologischen Vorgehensweise der Namenkunde zu initiieren. Im ersten Abschnitt werde ich das Augenmerk insbesondere auf die Konzeptualisierung von Mündlichkeit innerhalb der onomastischen Forschung richten (§2). Die unterschiedlichen Auffassungen von Mündlichkeit werden in den darauf folgenden Abschnitten auf der Grundlage schriftlichen (§3) und - mithilfe der Methoden der Interaktionalen Onomastik (§4) - sprechsprachlichen (§5) Datenmaterials illustriert. Der Aufsatz mündet schließlich im Entwurf einer Theorie der Onymisierung (§6), die von der Handlungskompetenz der Sprecher ausgeht und die sich mit aktuellen Forschungstendenzen innerhalb der Linguistik verknüpfen lässt. 2. Konzeptualisierungen von «gesprochener Sprache» in der Namenkunde Mündlichkeit wird in der namenkundlichen Forschung im Wesentlichen als kommunikative Umgebung wahrgenommen, innerhalb derer appellativischen Bezeichnungen nach und nach onymische Eigenschaften übertragen worden sind. So gesehen ist Mündlichkeit vor allem zu Beginn des Onymisierungsprozesses von großer Relevanz für diachron ausgerichtete Untersuchungen. Diese Anfangsphase der Onymisierung kann aber nur über schriftliche Aufzeichnungen (teilweise) rekonstruiert werden. In Urkunden werden beispielsweise manchen Orts- und Personennamen die lateinischen Elemente «dictum», «vocatur», etc. vorangestellt, die damit auf die sprechsprachliche Verwendung der Namen verweisen. Solche Formulierungen deuten meist auf eine bereits fortgeschrittene Sedimentierung der sprechsprachlichen Benennung. Weiterhin wird gesprochene Sprache nicht selten als Modus verstanden, der mit bestimmten kommunikativen Genres und Praktiken einhergeht: So untersucht z. B. Poccetti 2010 die Verwendung von Personennamen im Theater der römischen Antike und fokussiert sich insbesondere auf Begrüßungssequenzen. Obwohl es sich hierbei um eine stilisierte Oralität handelt, kann die Analyse aufschlussreiche Einblicke in die «Pragmatik der Eigennamen» (Werner 1995) geben. Mündlichkeit ist außerdem eine zentrale Dimension der synchronen Namenkunde, wobei sich hier sehr unterschiedliche Konzeptualisierungen von Oralität in den methodischen Ansätzen widerspiegeln. Die sprachphilosophisch und pragmatisch ausgerichtete Forschung bedient sich oft introspektiv erdachter Sprachbeispiele, die mögliche Gesprächssituationen erkennen lassen (cf. z. B. Searle 1958, Van Langendonck 2007). Soziolinguistisch und diskursanalytisch geprägte Ansätze behelfen sich hingegen meist empirisch dokumentierten Datenmaterials, wenn auch erhebliche Unterschiede in der Datensammlung und -auswertung bestehen: Getreu der (traditionellen) soziolinguistischen und dialektologischen Forschung, werden in der Sozio-Onomastik Daten durch Interviews erhoben und die Namen anschließend isoliert von ihrem diskursiven Kontext untersucht (cf. z. B. Pablé 2009). Anders verfährt die Interaktionale Onomastik, die, den Prinzipien «Gesprochene Sprache» in der namenkundlichen Forschung 101 1 Die Erforschung der Eigennamen erfolgt seit jeher in unterschiedlichen Disziplinen (Anthropologie, Geographie, Soziologie, Sprachwissenschaft, Diskursanalyse), die sich nur spärlich aufeinander beziehen. Eine Übersicht über die verschiedenen Forschungsansätze und -schwerpunkte bietet De Stefani 2016. 2 Es ist bezeichnend, dass philologisch-etymologisch interessierte Namenforscher in der Analyse von Aufzeichnungen gesprochener Sprache oft keinen Nutzen erkennen. Zur Verwendung von Audioaufzeichnungen in der mikrotoponomastischen Forschung schreibt Waser 2004: 355: «Der Einsatz eines Tonbandgerätes kann zu Beginn für nachträgliche Kontrollen dienlich sein. Mit zunehmender Übung verschafft das Gerät nach meiner Erfahrung keinen großen Vorteil mehr, es sei denn, die Gespräche sollen als Tondokumente archiviert werden». 3 Obschon der Autor nicht explizit zwischen Onymisierung als Resultat und Onymisierung als Prozess unterscheidet, findet sich auch letztere Auffassung in Górnowicz 1981: 465: «Die Onymisierung ist ein ständiger Prozess in jeder Sprache, in jedem Dialekt». der konversationsanalytischen Forschung folgend, nicht-experimentelle Gespräche aufzeichnet und onymische Einheiten im interaktionalen Umfeld ihrer Verwendung untersucht 1 . Angesichts der Tatsache, dass sich die Namenforscher über die Relevanz der Oralität für ihre Forschung einig sind, mag es verblüffen, dass die sprechsprachliche Phase der Namenwerdung bisher nur am Rande untersucht worden ist 2 . Dies erstaunt umso mehr, als den Eigennamen auch aus einer soziologischen oder soziolinguistischen Warte Wichtigkeit zukommt. Manche Autoren vertreten gar den Standpunkt, dass «die Eigennamen enger und unmittelbarer als die Appellative in die gesellschaftlich-kommunikativen Beziehungen einbezogen sind» (Blanár 2001: 14). 3. Namendeutung und Onymisierung Der Begriff der «Onymisierung» zählt mittlerweile zum terminologischen Grundstock der Namenkunde. Er tritt in der deutschsprachigen Literatur erstmals in Górnowicz’ 1981 Aufsatz prominent in Erscheinung und wird bereits im ersten Satz des Artikels als «Versteinerung» von Eigennamen beschrieben, die «aus dem appellativischen Sprachsystem verdrängt wurde[n]» (Górnowicz 1981: 465). Die dichotomische Gegenüberstellung von Eigennamen und Appellativen wird hier bereits auf der Systemebene vollzogen. Onymisierung erscheint gleichsam als Resultat eines sprachlichen Entwicklungsprozesses, als ein starrer Ist-Zustand. Onymisierung kann aber auch als ein dynamischer Prozess verstanden werden, als eine allmähliche Sedimentierung von lexikalen und morphosyntaktischen Verbindungen, die in der tatsächlichen Sprachverwendung geschieht 3 . Wenngleich der Begriff der Onymisierung darauf hindeutet, dass Spracheinheiten als Namen erkennbar sind, wenn sie von den Sprachverwendern anders als Appellative gebraucht werden, so scheinen die sprachlichen Ressourcen, die den Sprechern zur Verfügung stehen, um Einheiten als Namen erkenntlich zu machen, Elwys De Stefani 102 4 Für die Quellenangaben der in diesem Abschnitt besprochenen Belege sei auf De Stefani 2003 verwiesen. 5 Der bestimmte männliche Artikel lu wird heute nur noch in Randgebieten des friaulischen (karnischen) Sprachraums verwendet, z. B. in der nördlichsten Gemeinde des Friauls, Forni Avoltri. einer detaillierten Untersuchung zu bedürfen. Im Folgenden werde ich näher auf solche Sprachelemente und -konstruktionen eingehen, die man mit Nübling 2005 auch «Eigennamenmarker» nennen könnte. Ich werde mich vorerst auf morphosyntaktische Elemente und auf die Analyse urkundlicher Daten beschränken. Als häufige Eigennamenmarker in notariellen Texten treten die bereits genannten «dictum» und «vocatur» in Erscheinung. Diese haben sich in seltenen Fällen auch als Bestandteile von Namen sedimentiert (wie z. B. im westschweizerischen Familiennamen Mélanjoie-dit-Savoie). Häufiger ist zu beobachten, dass bestimmte morphosyntaktische Gefüge als Ressourcen der Onymisierung eingesetzt wurden (cf. auch Nübling 2010). Ich erläutere diesen Sachverhalt anhand des italienischen Familiennamens Lupieri 4 , der im Friaul verwurzelt ist. Der Name ist in dieser Schreibweise seit dem 17. Jahrhundert in italienischen Texten aus einem Dorf der karnischen Voralpen (Preone) dokumentiert, z. B. als «D(omin)o Gio: Batta Lupieri» (1657). Die schriftliche Sedimentierung des Namens erscheint zu diesem Zeitpunkt als weit fortgeschritten, wenngleich auch Formen wie Luperij, Lupierij, oder mit reanalysierter Endung (z. B. Lupiero, Lupiera) vorkommen. In Urkunden aus dem 16. Jahrhundert erscheint der Name mehrheitlich in getrennter Schreibung, als lu pieri, z. B. in «Nicolao q(uondam) gioanne lu pierj simon q(uondam) Andrea lu pierj et gioanne q(uondam) Sebastiano lu pierj» (1571). In diesen Belegen erkennt man den Personennamen Pieri, der auf lat. Petrus zurückgeht und in dieser Form heute noch im friaulischen Sprachraum gebräuchlich ist. Diese Interpretation geht auch aus einem lateinischen Beleg hervor, der eine Person aus dem gleichen Dorf bezeichnet und in dem «petri» als Genitiv interpretiert werden kann: «Franc(isc)o petri (de) preono» (1487). Die Beleglage lässt keinen Zweifel zu: Lupieri muss als Patronym verstanden werden. Wenden wir uns der morphosyntaktischen Zusammensetzung des Namens zu, so erkennen wir im Element lu einen (archaischen) 5 männlichen Artikel, der offensichtlich dazu verwendet wurde, ein Filiationsverhältnis anzuzeigen, indem er dem Namen des (direkten) Vorfahren vorangestellt wurde. In der Entstehungsphase dieses Familiennamens war die Konstruktion lu + Personenname somit eine Ressource, die den Sprechern zum Herstellen von Patronymen zur Verfügung stand. Dass der Zweck der Filiationsangabe im Vordergrund lag - und lu nicht mehr (nur) als maskuliner Artikel wahrgenommen wurde - beweist die Tatsache, dass zahlreiche Belege die Verwendung von lu + Personenname auch für Metronyme attestieren: Im von Preone wenige Kilometer entfernten Ort Dilignidis ist z. B. ein «Nicolao lu menia di illignidis» (1574) belegt, wobei Menia aus dem lat. Dominica hervorgeht. Weiterhin sind für die gleiche Gegend (Ortschaft Lungis) belegt: «L(eonar)do lu Maura» (1575), «Nicolaj lu «Gesprochene Sprache» in der namenkundlichen Forschung 103 vidda» (1575). Handelt es sich bei den letztgenannten Namen um zeitlich isolierte Belege, so liegt der (später in einem Wort geschriebene) Name Lumenia bis 1695 in schriftlichen Aufzeichnungen vor. Die aktuelle Beleglage ermöglicht es, zwei Entwicklungspfade (clines, cf. Hopper/ Traugott 2003, 6-7) zu entwerfen, nach denen die Onymisierung des Familiennamens Lupieri verlaufen sein kann: Primäres Patro-/ Tradiertes Patro-/ Sedimentierter Metronym Metronym Familienname (nicht belegt) a) (de) lu XXX ⇒ lu XXX ⇒ LuXXX b) lu (de) XXX ⇒ lu XXX ⇒ LuXXX Die (ausschließlich) mündliche, und damit nicht belegbare Phase kann in zweifacher Richtung rekonstruiert werden. Im Falle von Pfad a) wird von der in den romanischen Patronymen verbreiteten Konstruktion lat. (de) lu ‘von dem’ ausgegangen (z. B. «der Franz von dem Peter»). Pfad b) zeigt eine alternative Möglichkeit auf und postuliert das Modell lu (de) ‘der von’ als Ausgangspunkt (z. B. «Franz, der von Peter»). Dieses zweite cline würde erklären, weshalb das Element lu auch zur Konstruktion von Metronymen verwendet werden konnte: lu tritt hier nicht als männlicher Artikel hervor, sondern hätte eine demonstrative Verwendung (und wäre somit näher beim lat. illum), die sich auf den Vorfahren bezieht. In der Tat sind sämtliche oben genannten metronymischen Belege auf männliche Personen bezogen: «L(eonar)do lu menia» wäre demnach als ‘Leonardo, der (= lu) von der Menia’ zu verstehen. In der sedimentierten Version des Familiennamens fällt der patro-/ metronymische Bezug völlig außer Acht. Stattdessen wird heute Lupieri auch von den Trägern dieses Familiennamens oft mit lat. lupus ‘Wolf’ in Verbindung gebracht. Die Untersuchung von Dokumenten aus dem 17. und 18. Jahrhundert zeigt, dass das Element lu in der onymischen Konstruktion damals noch durchaus produktiv war: Im Totenbuch von Preone wird das Ableben von «Antonius filius q(uondam) Angeli Luperij di parvulis» (1668) registriert, und im Jahre 1702 findet man folgenden Eintrag: «Antonia filia olim Thomae Luperij Lupicoli de Preono». Spätere Belege aus der gleichen Gemeinde berichten z. B. von «Florean Lupiccolo» (1737), von «Dom(eni)co q(uondam) Osvaldo Lupieri Picolli» (1756) und schließlich von «Gio-Felice Picoli», der 1786 im Geburtenbuch von Preone eingetragen wird. Die Verwendung von lu in diesem weiteren Verlauf besitzt große Ähnlichkeit mit dessen ursprünglichen Gebrauch: lu picoli ist als ‘der von den Kleinen’ zu verstehen, wie auch aus der latinisierten Form di parvulis ersichtlich wird. Es scheint hier eine Analogiebildung vorzuliegen, die aber gleichwohl eine Reanalyse der ursprünglichen Ressource erkennen lässt: Tatsächlich dient lu nicht mehr der Konstruktion eines Patronyms, sondern ist als Marker von (generalisierter) Zugehö- Elwys De Stefani 104 rigkeit neuinterpretiert worden. Lupicoli tritt hier als Familienübername auf, der wohl einer bestimmten Gruppe von Lupieri zugeschrieben worden ist. Es ist überdies auffallend, dass in meinem Korpus (über 700 friaulische Familiennamen) diese Form der Übernamenbildung ausschließlich mit dem Namen Lupieri dokumentiert ist. Reanalyse von lu: Ressource der Patro-/ Ressource zur Markierung Metronymisierung von Zugehörigkeit lu ⇒ reanalyse ⇒ lu Erst diese Reanalyse eröffnet die Möglichkeit, mithilfe von lu nicht nur einen neuen patronymischen Familiennamen, sondern einen Namen einer anderen Kategorie, nämlich eines Familienübernamens, zu bilden: Doch der Übername (Lu) picoli tritt innerhalb von wenigen Jahrzehnten als eigenständiger Familienname in Erscheinung. Diese Rekategorisierung geht einher mit einer morphosyntaktischen Reduktion, wobei sowohl der ursprüngliche Familienname (Lupieri) als auch die lu-Markierung wegfallen. Vom Familienübernamen zum Familiennamen: Familienübername Familienname (morphol. Reduktion) luXXX luYYY ⇒ Ø YYY Lupieri Lupic(c)oli Pic(c)oli Die bisher beschriebenen Phänomene verdeutlichen, dass die Onymisierung von Appellativen nicht zufällig verläuft. Anhand einer präzisen Dokumentation lassen sich auch auf der Grundlage schriftlicher Belege Entwicklungspfade beschreiben, welche primär in der gesprochenen Sprache beschritten worden sind. Geht man von der Annahme aus, dass die Face-to-face-Interaktion das «phylogenetische und ontogenetische Habitat der natürlichen Sprache» (Ford et al. 2002: 4, meine Übersetzung) darstellt, so liegt die Vermutung nahe, dass die Untersuchung interaktionalen Datenmaterials unser Verständnis solcher Onymisierungsprozesse verbessern kann. Bevor ich jedoch zur Analyse eines Gesprächsausschnitts übergehe (§5), schildere ich im nun folgenden Abschnitt meine analytische Vorgehensweise. 4. Die Methoden der Interaktionalen Onomastik Die Namenverwendung in natürlichen Gesprächen ist der primäre Untersuchungsgegenstand der Interaktionalen Onomastik (De Stefani/ Pépin 2006, De Stefani 2009a, 2016). Dieser Terminus definiert eine qualitative, empirisch fundierte «Gesprochene Sprache» in der namenkundlichen Forschung 105 Methode, die es ermöglicht, Namen in der natürlichen Umgebung ihrer Verwendung zu untersuchen. Auf introspektive oder elizitative (z. B. durch Interviews) Methoden der Datenerhebung - wie sie beispielsweise in der Namenpragmatik und der Sozio-Onomastik angewandt werden - verzichtet der hier vorgestellte Ansatz. Methodisch stützt sich die Interaktionale Onomastik auf gesprächsanalytische Verfahren, wie sie in der Konversationsanalyse (Sacks 1992) und der Interaktionalen Linguistik (Selting/ Couper-Kuhlen 2001) entwickelt worden sind. Es lassen sich diesbezüglich vier methodische Schwerpunkte erkennen: 1) Sprache wird als eine Ressource angesehen, die primär dem sozialen Interagieren dient. Durch Sprache übermitteln Gesprächsteilnehmer nicht nur Inhalte, sondern sie konstituieren auch ihre jeweils relevanten sozialen Identitäten; 2) Der Gesprächsverlauf ist jeweils geordnet: Sprecher wechseln sich beispielsweise ab und machen somit die sequenzielle Organisation des Gesprächs sichtbar; 3) Jedes Gespräch ist situiert, d. h. es findet in einer (veränderlichen) Umgebung statt und es ist zeitlich (durch die Teilnehmer) strukturiert. Veränderungen dieser dynamischen Umgebung sind jederzeit möglich - beispielsweise über Mutationen der Teilnehmerkonstellation durch das Hinzukommen/ Weggehen von Gesprächsteilnehmern; 4) Ziel der Datenanalyse ist es, die Sicht der Teilnehmer wiederzugeben, d. h. diejenigen Phänomene ihres Interagierens, die sie selber als relevant darstellen (emische Perspektive). Hingegen soll vermieden werden, externe (etische) Kategorien auf das Datenmaterial zu projizieren: Tatsächlich sind die analytischen Kategorien des Forschers oder der Forscherin (wie z. B. Toponyme, Anthroponyme, Mikrotoponyme etc.) für die Gesprächsteilnehmer oft irrelevant. So verwenden die Sprecher des untersuchten Gebietes Familienübernamen sowohl anthroponymisch, um die Mitglieder einer Sippschaft zu bezeichnen, als auch toponymisch, wenn sie beispielsweise auf ein Wohnhaus oder einen Dorfabschnitt verweisen (cf. §5). Die Grundsätze der interaktionalen Forschung lassen sich am einfachsten mithilfe eines Beispiels erklären: Der folgende Gesprächsausschnitt wird in der ersten lecture on conversation besprochen, die Harvey Sacks 1964 gehalten hat. Darin analysiert er die Eröffnung eines Telefongesprächs zwischen einem Hilfesuchenden und einem Betreuer des Los Angeles Suicide Prevention Centers. Bereits anhand dieses Ausschnitts kann man die soziale Dimension der Namenverwendung - oder, wie im spezifischen Falle, der Namenvermeidung - erkennen: 1) Sacks 1992: 3 A: This is Mr Smith may I help you B: I can’t hear you. A: This is Mr Smith. B: Smith. Elwys De Stefani 106 6 Für konversationsanalytische und interaktional inspirierte Untersuchungen zu Personennamen (allerdings in unterschiedlichen Interaktionssettings) verweise ich auf Schwitalla 1995, 2010, Downing 1996, Schegloff 2007, Enfield/ Stivers 2007, Lerner/ Kitzinger 2007, Clayman 2010. Für Ortsnamen konsultiere man Mondada 2000, Myers 2006. Sacks beobachtete wiederholt ein Problem im zweiten Redebeitrag der aufgezeichneten Telefongespräche (hier: I can’t hear you.), d. h. im Gesprächszug des Anrufers, der der Selbstidentifikation des Angerufenen folgt. Eine hastige Erklärung könnte von einem möglichen technischen oder akustischen Problem ausgehen. Sacks zeigte hingegen, dass es eine Erklärung gibt, die in der sequenziellen Strukturierung des Gesprächs begründet ist. Tatsächlich wäre nach der Selbstidentifikation des Angerufenen (hier: This is Mr Smith may I help you) zu erwarten, dass sich auch der Anrufer identifiziert, z. B. indem er seinen Namen nennt. Das Formulieren eines alternativen Redebeitrags - wie I can’t hear you. - verzögert somit die Selbstidentifikation des Anrufers. Der Angerufene interpretiert diese Äußerung sichtlich als Darstellung eines Kommunikationsproblems, das er durch die erneute Nennung seines Namens zu lösen versucht (This is Mr Smith.). Im darauf folgenden Gesprächszug wiederholt und ratifiziert der Anrufer den Namen seines Gesprächspartners (Smith.). Es handelt sich hierbei um einen kurzen Redebeitrag, der auf semantischer, prosodischer und pragmatischer Ebene vollendet ist. Damit steht der nächste Gesprächszug wieder dem angerufenen Teilnehmer zu. Aus diesem Vorgehen resultiert somit eine Eröffnungssequenz, die bewältigt wird, ohne dass der Anrufer sich identifizieren muss. Sacks beschreibt aus diesem Grund die Worte I can’t hear you als eine Ressource, die zahlreiche Anrufer des Suicide Prevention Centers verwenden, um die Selbstidentifikation zu vermeiden und somit anonym bleiben zu können. Dieses kurze Beispiel zeigt, wie Namen in der konversationsanalytischen Literatur untersucht werden: Sie werden nicht als Spracheinheiten mit spezifischen Charakteristika wahrgenommen, sondern vielmehr als Ressourcen die innerhalb von bestimmten interaktionalen Handlungen (z. B. in Eröffnungssequenzen von Telefongesprächen) systematisch vorkommen. Tatsächlich haben konversationsanalytisch orientierte Forscher sich mit Themen auseinandergesetzt, die auch in der (theoretischen) Namenkunde behandelt werden: Namen - und andere sprachliche und multimodale Mittel - werden z. B. als Ressourcen beschrieben, mit denen Sprecher Referenz herstellen: So liegen mit Sacks/ Schegloff 1979 und Schegloff 1996 Untersuchungen zur Personenreferenz in der spontanen Interaktion vor, während Schegloff 1972 sich mit dem Referieren auf Orte vertieft auseinandergesetzt hat 6 . «Gesprochene Sprache» in der namenkundlichen Forschung 107 5. Eine exemplarische Untersuchung Der folgende Ausschnitt stellt eine Verbindung zu den unter §3 besprochenen schriftlichen Aufzeichnungen her: Er stammt aus einem Gespräch, in dem die Teilnehmer über Familienübernamen diskutieren, die in Preone (dem friaulischen Herkunftsort der oben untersuchten Dokumente) heute noch gebräuchlich sind. Unter dem Begriff Familienübernamen verstehe ich (onymische) Bezeichnungen, die die Zugehörigkeit einer Person zu einer Sippschaft verdeutlichen. Dieser Usus ist vorwiegend in ländlichen und alpinen Gemeinschaften verbreitet und ermöglicht ihren Mitgliedern, sowohl die Einwohnerschaft als auch die örtliche Geographie nach sozialen Kriterien zu gliedern. Damit erfüllen Familienübernamen eine nach Lévi-Strauss 1962 zentrale Aufgabe von Anthroponymen: Familienübernamen stellen tatsächlich eine Ressource dar, die der sozialen Kategorisierung der Gemeinschaftsmitglieder dient. Anders als (offizielle) Familiennamen, werden solche Übernamen nicht ausschließlich mit der biologischen Erbfolge weitergegeben. Familienübernamen sind oft auch an Abschnitte oder Häuser eines Dorfes gebunden, weshalb sie nicht selten sowohl als Anthroponyme als auch als Toponyme verwendet werden (De Stefani/ Pépin 2006, De Stefani 2009b). Das Familienübernamensystem hat in ländlichen Gebieten also eine praktische Relevanz (Favre 2005), wie aus der alltäglichen Kommunikation hervorgeht. Die amtlichen Familiennamen der Gemeinschaftsmitglieder finden im Alltagsgespräch hingegen weitaus weniger Verwendung. Wie in §2 erläutert, können Familienübernamen eine Rekategorisierung durchlaufen und treten dann als eigentliche Familiennamen in Erscheinung. Familienübernamen wurden in der Vergangenheit nicht selten in Urkunden festgehalten (De Stefani 2005), kommen aber vor allem in der gesprochenen Sprache häufig vor. Im untersuchten Korpus setzen die Sprecher bei der Nennung eines Familienübernamens verschiedene sprachliche Ressourcen ein: Der Typus chei da/ di XXX (friaulisch ‘die(jenigen) von XXX’) wird mehrheitlich dazu verwendet, um auf Personen zu verweisen (cf. Ausschnitt 2: chei di pirel). Der Typus lì da/ di XXX, lajù da/ di XXX, etc. (frl. ‘da (unten) bei XXX’) findet hingegen Verwendung, wenn auf ein Wohnhaus oder einen Dorfabschnitt verwiesen wird. Diese Formen können außerdem kombiniert werden: So belegt De Stefani 2009b beispielsweise neben Familienübernamen wie chei dal cont (wörtlich ‘die vom Fürsten’), auch Verwendungen wie lajù di bona (‘da unten bei Bona’) und chei lajù di bona (‘die da unten bei Bona’). Die sprachliche Ressource, die bei der Formulierung von Familienübernamen zur Anwendung kommt, wird dort folgendermaßen beschrieben: Deiktikum da/ di Onymische Einheit (personal: chei/ lokal: lì/ là...) (z. B. pirel, cont, bona...) Im folgenden Gesprächsausschnitt, der aus einer auf Familienübernamen fokussierten Diskussion entnommen ist, kommt eben diese Konstruktion mehrmals vor. Elwys De Stefani 108 7 Die Untersuchung philologischer Fragestellungen mit konversationsanalytischen Methoden wirft interessante methodologische Probleme auf. Die exakte Reproduktion des Datenmaterials, insbesondere der Eigennamen, ist ein Grundpfeiler der historischen Namenkunde. Auch die Konversationsanalyse stützt sich auf eine detaillierte Transkription der Daten. Um Rückschlüsse auf die Gesprächsteilnehmer zu verunmöglichen, werden jedoch Eigennamen gemeinhin anonymisiert. Da diese in der interaktionalen Forschung übliche Verfahrensweise mit dem hier vorgestellten Forschungsobjekt unvereinbar ist, werden im Transkript die originalen Eigennamen wiedergegeben. Eine Übersicht über die Transkriptionskonventionen ist im Anhang zu finden. 2) fam51231A (29: 47-30: 07) 7 1 PIE dopo al è: : ə : silvio: c’al è di chei di pirel: . dann gibt es silvio der ist von denen von pirel 2 (1.2) 3 RUG cui? wer 4 (0.2) 5 PIE silvio. 6 (1.5) 7 PIE ( ) 8 (1.6) 9 SAN ((lacht)) 10 RUG ma chei di di c[oso. aber die von von dings 11 PIE [CHEI di [giosuè. die von giosuè 12 CAR [(senti che roba) = hör dir das an 13 PIE = i [fîs di giosuè. die söhne von giosuè 14 RUG [ˇeh ja 15 RUG a son di chei di pirel °chei lì°? sind die von denen von pirel die da 16 PIE eh sì. ah ja/ na klar 17 (0.8) 18 RUG giosuè. 19 (0.2) 20 PIE ma no sai cui ca è di [pirel aber ich weiß nicht wer von pirel ist 21 RUG [onorino [eh: onorino eh 22 PIE [forse era la su vielleicht war seine 23 [femina di pirel. frau von pirel 24 RUG [°ah-° 25 (0.3) 26 RUG no. nein «Gesprochene Sprache» in der namenkundlichen Forschung 109 Der Ausschnitt illustriert eine Gesprächsphase, die vorwiegend von Piera (PIE) und Ruggero (RUG) bestritten wird. Am Anfang des Ausschnittes (Zeile 1) führt Piera den Namen eines Dorfbewohners ein (silvio) und kategorisiert diesen als ein Mitglied von chei di pirel: . Die folgende Verzögerung des Gesprächsverlaufs (Pause in Zeile 2) lässt das Aufkommen eines potenziellen Problems erkennen: Tatsächlich initiiert Ruggero in Zeile 3 eine Reparatur (cui? ‘wer’), die auf ein referenzielles Problem schließen lässt. Piera wiederholt folglich die Problemquelle, nämlich den Namen der vorher genannten Person (Zeile 5), was allerdings nicht zur Lösung des Problems führt: In Zeile 6 hätte Ruggero die Gelegenheit gehabt, eine allfällige Lösung des Problems (d. h. die erfolgte Identifikation des mit silvio bezeichneten Referenten) zu manifestieren. Stattdessen entsteht eine lange Pause, die verdeutlicht, dass weiterhin ein Problem besteht. Nach einem nicht verständlichen Beitrag Pieras (Zeile 7), entsteht erneut eine lange Pause (Zeile 8), wonach ein weiterer Teilnehmer (Sandro, SAN) zu lachen beginnt (Zeile 9). Im weiteren Verlauf verschiebt sich das Gespräch von der Identifikation einer einzelnen Person (silvio; Zeilen 1-9) auf die Identifikation der Mitglieder, die zu der mit chei di pirel bezeichneten Sippschaft gehören (Zeilen 10-25). In dieser weiteren Gesprächsphase lässt sich die Produktivität der Konstruktion chei di + XXX beobachten. In Zeile 10 verwendet Ruggero die Konstruktion mit einem vagen Platzhalter (coso ‘Dings’), den Piera in Zeile 11 durch einen Personennamen ersetzt: CHEI di giosuè. Pieras Gesprächsbeitrag ist jedoch potenziell zweideutig: Zum einen könnte Pieras Formulierung als Familienübername verstanden werden (ähnlich wie chei di pirel), zum andern als eine referenzielle Beschreibung, die sich auf eine Person Namens Giosuè bezieht. Interessanterweise ist es Piera selber, die die mögliche Zweideutigkeit der Formulierung erkennen lässt: In Zeile 13 fügt sie nämlich (unaufgefordert) eine alternative Beschreibung hinzu, die die Referenten spezifiziert: i fîs di giosuè. ‘die Söhne von Giosuè’. Die Konstruktion chei di + XXX erscheint hier (Z. 11) somit in ihrer appellativischen Verwendung. Der propriale Gebrauch der Konstruktion wird in Zeile 15 sichtbar, in der Ruggero eine Paarsequenz vom Typ Frage/ Antwort eröffnet. Sein Redebeitrag a son di chei di pirel °chei lì°? (wörtlich: ‘sind die von denen von Pirel die da’) führt chei di pirel als eine referenzielle Einheit ein, wie auch der vorangestellte Partitiv di belegt. Der Ausdruck beschreibt somit eine Gruppe, die aus einer unbestimmten Anzahl von Mitgliedern besteht; gerade diese Verwendungsweise lässt dessen propriale Dimension erkennen. Das daran anschließende und leiser gesprochene °chei lì° ‘die da’ bezieht sich hingegen wieder auf die vorher genannten Referenten, nämlich die ‘Söhne von Giosuè’, deren Zugehörigkeit zu chei di pirel Ruggero bezweifelt - auch nachdem Piera die Paarsequenz mit eh sì. ‘ah ja/ na klar’ (Zeile 16) beschließt, wie Ruggeros Wiederholung des Namens giosuè. in Zeile 18 zeigt. In den folgenden Zeilen gehen die Teilnehmer dazu über, eine Erklärung zu suchen für den Gebrauch des Familienübernamens chei di pirel. In Zeile 20 erläutert Piera, dass sie nicht weiß, wer innerhalb der so bezeichneten Gruppe di pirel ist (ma no sai cui ca è di pirel ‘aber ich weiß nicht wer von Pirel ist’). Nach dem Elwys De Stefani 110 Einschub eines weiteren Personenamens durch Ruggero (onorino eh: , Zeile 21) erklärt Piera, dass vielleicht die Ehefrau (von giosuè) di pirel war, womit sich der Familienübername auch für deren Nachkommenschaft eingebürgert hätte (forse era la su femina di pirel. ‘vielleicht war seine Frau von Pirel’, Zeilen 23-24). Dieser Erklärungsversuch wird von Ruggero aber abgelehnt (no. ‘nein’, Zeile 26). Anhand dieser wenigen Zeilen kann im Bezug zum Onymisierungsprozess folgendes festgehalten werden: Zum einen lässt sich erkennen, dass die Gesellschaftsmitglieder oft divergierende Auffassungen über den Verwendungsursprung eines Familienübernamens haben - der durch Filiation, Anheirat, aber auch durch andere Gegebenheiten (z. B. Wohnhaus) und Ereignisse Eingang in den gemeinschaftlichen Gebrauch finden kann. Zum andern erkennt man, auf der formalen Ebene, die (notwendige) Möglichkeit der Segmentierung von Familienübernamen: di pirel erscheint in Zeile 20 als ein Namenetikett, das auf unterschiedliche Personen verweisen kann (‘ich weiß nicht wer von Pirel ist’). In Zeile 22 wird dieselbe onymische Einheit verwendet, um eine bestimmte Person zu bezeichnen, nämlich die Ehefrau (femina) von Giosuè. Diese kurze Einzelfallanalyse lässt uns einen Einblick in den Onymiserungsprozess von Familienübernamen gewinnen, der dem tatsächlichen Gebrauch durch die Mitglieder der Gemeinschaft entspringt. Davon ausgehend kann die Entstehung von Familienübernamen im untersuchten friaulischen Gebiet als dreistufiger Prozess beschrieben werden: 1. Deskriptive Formulierung einer Zugehörigkeit nach dem frequenten Modell XXX 1 + di/ da(l) + XXX 2 , wobei in beiden Positionen (appellativische oder propriale) referenzielle Ausdrücke zu stehen kommen: z. B. i fîs di giosuè (Z. 13), aber auch la cjasa di bortul ‘das Haus des Bortul’, lì dal poç ‘dort beim (Zieh)brunnen’, etc. 2. Konsolidierung von XXX 2 als Bezugspunkt für die Beschreibung von Personen, z. B. silvio di pirel (abgeleitet aus Z. 1), chei di pirel (Z. 1, 15), aber auch von Orten (lì di pirel ‘dort bei Pirel, beim Haus der Pirel u. ä.’). Hier lassen sich ebenso Formulierungen anführen, in denen XXX 2 ursprünglich auf einen Ort verweist, wie z. B. chei dal poç. 3. Konsolidierung dieser Bezeichnungen für einzelne Gemeinschaftsmitglieder und Sedimentierung von chei di XXX 2 als Referenzbezeichnung für eine Gruppe von Individuen. Auch auf formaler Ebene treten solche Beschreibungen nun als Einheiten in Erscheinung: Man beachte al è di chei di pirel (Z. 1) anstelle eines ebenfalls möglichen al è di pirel; ebenso a son di chei di pirel (Z. 15) und nicht a son di pirel. «Gesprochene Sprache» in der namenkundlichen Forschung 111 8 Zur Rolle der Schriftlichkeit bei der Interpretation sprechsprachlicher Daten cf. Linell 1982. 6. Zur Theorie der Onymisierung Es drängt sich die Frage auf, auf welchen sprachlichen Ebenen die in §3 und §5 besprochenen Onymisierungsprozesse bei der Entstehung von Familien(über)namen stattfinden. Die folgenden Bereiche erscheinen diesbezüglich als besonders relevant: 1. Referenz: Zu Beginn des Onymisierungsprozesses stehen referenzielle Praktiken. Die Entwicklung hin zu einer proprialen Verwendung deskriptiver Formulierungen kann als Spezialisierung der referenziellen Dimension verstanden werden - auf Kosten der semantischen Transparenz (Familiennamen wie Lupieri, aber auch viele Familienübernamen, wie z. B. die in der gleichen Gemeinschaft belegten Baltinìa oder Cofuç werden, im Hinblick auf ihre ursprüngliche Semantik, von den heutigen Gemeinschaftsmitgliedern als nicht transparent empfunden). 2. Morphosyntax: Auf der formalen Ebene sind zwei Phänomene zu beobachten: a) die Konsolidierung konstruktioneller Schemata, wie z. B. lu + XXX (§3) oder XXX 1 + di/ da + XXX 2 (§5), die auch als «Eigennamenmarker» in einem der Auffassung von Nübling 2005 nahestehenden Sinne beschrieben werden können; b) morphosyntaktische Veränderungen, namentlich die Reanalyse von Spracheinheiten (lu Pieri . Lupieri), aber auch die Reduktion (Lupiccoli . Piccoli). Diese Phänomene sind insbesondere im Falle von (schriftlich) dokumentierten Familiennamen gut zu beobachten 8 . Aber auch in den sprechsprachlich tradierten Familienübernamen sind etwa Prozesse der Reduktion zu erkennen. Im erhobenen Audiokorpus ist beispielsweise der Familienübername chei di brighessa belegt: Wird eine Einzelperson dieser Sippschaft erwähnt, so entfällt nicht selten die Präposition, z. B. bepo brighessa. 3. Frequenz: Die Häufigkeit mit der bestimmte rekurrente Konstruktionen verwendet werden, trägt entscheidend zu ihrer Sedimentierung bei. Nur bei einer ausreichend hohen Dichte - d. h. bei einer hohen Frequenz innerhalb einer kurzen Zeit - kann eine ursprünglich appellativische Beschreibung als propriale Bezeichnung wahrgenommen werden. Onymisierungsprozesse werden im Allgemeinen als Phänomene des Sprachwandels beschrieben. Dabei wird nicht selten außer Acht gelassen, dass Sprache sich nicht von selbst ändert: Sprachliche Innovationen und Veränderungen erfolgen vielmehr in der tatsächlichen, alltäglichen Sprachverwendung. Diese Überlegung trifft auf Onymisierungsphänomene ebenso zu wie auf Prozesse der Lexikalisierung und Elwys De Stefani 112 9 Einen Überblick über die in dieser Forschungsrichtung gängigen Termini findet man in Hopper/ Traugott 2003. der Grammatikalisierung. Im Rahmen der hier vorgelegten Untersuchung habe ich aus diesem Grunde Konzepte verwendet, die aus der Grammatikalisierungstheorie stammen 9 . Als grundlegende Mechanismen des Sprachwandels werden in diesem Forschungsansatz gemeinhin die Reanalyse und die Analogie genannt. Mit Reanalyse wird die Neuinterpretation einer sprachlichen Einheit oder einer frequenten morphosyntaktischen Fügung beschrieben. Der in §3 dokumentierte Übergang von der Getrenntschreibung von lu Pieri zur Zusammenschreibung als Lupieri stellt nur ein Beispiel einer reanalysierten Wortkombination dar. Reanalysen dieser Art sind gerade für die Familiennamenbildung charakteristisch, wie auch die Untersuchungen von Nübling 2005, 2010 und Nübling/ Schmuck 2010 beweisen. Im Laufe der Onymisierung können reanalysierte Wortverbindungen außerdem eine Rekategorisierung erfahren. Der Übergang von Schreibungen wie Lupieri Lupicoli zur einfachen Form Pic(c)oli zeigt, dass der ursprüngliche Familienübername Lupicoli als alleinstehender Familienname rekategorisiert worden ist. Wenngleich der Analogie-Begriff in der Sprachwissenschaft bereits sehr früh Beachtung findet (z. B. wenn die Junggrammatiker analogische Ereignisse bemühen, um die Gültigkeit der postulierten «Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze» zu verteidigen), wird die Analogie erst durch Meillet 1912 als zentrales Moment der Grammatikalisierung beschrieben. Analogiebildungen werden in Onymisierungsprozessen als Generalisierungsphänomene sichtbar, beispielsweise wenn die in §5 untersuchten Familienübernamen regelmäßig als chei da/ di XXX gebildet werden. Die hier untersuchten Prozesse lassen retrospektiv Entwicklungspfade (clines) erkennen, die mit einer mehr oder minder großen Systematik beschritten werden. Die in diesem Beitrag vorgestellten Einzelfälle erlauben es mir nicht, Aussagen über die Frequenz der beobachteten Entwicklungen zu formulieren. Im Hinblick auf eine empirisch fundierte Onymisierungstheorie lassen die hier formulierten Überlegungen jedoch verschiedene Forschungsdesiderata erkennen: 1. Die Untersuchung von Einzelfällen und die daraus hervorgehende Beschreibung möglicher clines ermöglicht es, frequente Entwicklungstendenzen aufzuzeigen; 2. der sprechsprachliche Ursprung onymischer Spracheinheiten ist auch aus einer diachronen Warte systematisch zu berücksichtigen; 3. die sprachhistorische Untersuchung der Eigennamen kann durch die Analyse interaktionalen Sprachverhaltens bereichert werden. Während die Namenkunde den letztgenannten Fragen bisher kaum Beachtung geschenkt hat, ist das erste Forschungsdesideratum verschiedentlich diskutiert worden: So untersucht Nübling 2010 beispielsweise die Entstehung und Generalisierung des anthroponymischen Suffixes -ert (in Familiennamen wie Schubert, Schreinert, etc.). Dabei gilt das theoretische Interesse der Autorin der Frage, inwieweit «Gesprochene Sprache» in der namenkundlichen Forschung 113 10 In ihrem Aufsatz beruft sich Nübling 2010 ebenso auf Prozesse der Degrammatikalisierung und der Delexikalisierung, die hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. 11 Siehe beispielsweise Levinson 2003: 69: «The study of placenames or onomastics is one of the older branches of linguistic enquiry ... But despite the long tradition of study, little of theoretical interest has emerged». 12 Bromberger 1982: 104 schreibt diesbezüglich: «Or, paradoxalement, la plupart des études anthroponymiques se sont situées aux antipodes d’un tel programme [mit einem anthropologischen Erkenntnisinteresse, Anmerkung des Verfassers]: plutôt qu’à analyser comment les sociétés classent les individus à travers les noms qu’elles leur assignent, on s’est attaché à classer les noms, selon des critères (formels ou sémantiques) extérieurs aux cultures considérées». Prozesse der Lexikalisierung bzw. der Grammatikalisierung zur Bildung dieses onymischen Morphems beitragen 10 . Es drängt sich diesbezüglich die Frage auf, ob es nicht sinnvoll sei, die Entstehung und Sedimentierung von Eigennamen - und onymischer Wortkomponenten - im Rahmen einer allgemeinen Onymisierungstheorie zu beschreiben. Zum einen würde damit dem der Namenkunde regelmäßig vorgeworfenen Makel der Theorielosigkeit 11 und des unstillbaren Dranges nach Taxonomien 12 entgegengewirkt, zum anderen könnte die traditionelle Onomastik, die vorwiegend mit einem philologisch-etymologischen Instrumentarium operiert, durch jüngere Forschungstendenzen der historischen Sprachwissenschaft bereichert werden. Gerade in den (bisher) wichtigsten Bereichen namenkundlicher Forschung, der Anthroponymie und der Toponymie, ist eine verstärkte Berücksichtigung des sprechsprachlichen Ursprungs onymischer Elemente und der damit einhergehenden pragmatischen Dimension wünschenswert. In Anlehnung an Hopper/ Traugott 2003: 133, welche Grammatikalisierung als «a theory with dual prongs: diachronic and synchronic» bezeichnen, kann festgehalten werden, dass die Entstehung und Entwicklung onmyischer Einheiten nicht nur in historischer Perspektive dokumentierbar ist, sondern auch im gesprochenen, interaktionalen Sprachgebrauch. Verstehen wir Onymisierung als Prozess (und nicht als Resultat), so ist es naheliegend, diesen Prozess auch in spontanen, nicht-elizitierten Alltagsgesprächen sichtbar zu machen. Die Interaktionale Onomastik bietet sich in diesem Zusammenhang als systematische Forschungsmethode an. Leuven Elwys De Stefani Elwys De Stefani 114 Transkriptionskonventionen ? fragender Tonfall . fallender Tonfall (0.8) Pause in Sekunden [ ] Beginn und Ende einer Überlappung : Längung - Unterbrechung ( ) unsichere Transkription xxx unverständliches Segment = pausenloser Turnübergang vero Akzentuierung CAsa laute Aussprache °ga°tto leise Aussprache ˇ Glottisschlag Bibliographie Blanár, V. 2001: «Theorie des Eigennamens. Status, Organisation und Funktionieren der Eigennamen in der gesellschaftlichen Kommunikation», Germanistische Linguistik 164-65: 1-207 Bromberger, C. 1982: «Pour une analyse anthropologique des noms des personnes», Langages 66: 103-24 Clayman, S. E. 2010: «Address terms in the service of other actions. The case of news interview talk», Discourse & Communication 4/ 2: 161-83 De Stefani, E. 2003: Cognomi della Carnia, Udine De Stefani, E. 2005: «Chei di Baraca a son lì di Fonso. Soprannomi di famiglia e contesto sociale», in: G. 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