eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 2/3

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1999
23 Dronsch Strecker Vogel

Die johanneische Ostergeschichte als Erzählung gelesen

1999
Jean Zumstein
Jean Zumstein Die johanneische Ostergeschichte als Erzählung gelesen 0. Einleitung Die narratologische Lektüre der Evangelien und der Apostelgeschichte hat heutzutage sowohl in der englisch-amerikanischen als auch in der frankophonen Welt grossen Erfolg. Die Gunst, deren sich diese neue Methode erfreut, lässt sich zunächst auf einer theoretischen Ebene begründen. Eine bessere Kenntnis des Phänomens Erzählung (Was ist eine Erzählung? Welches sind ihre konstituierenden Elemente? Wie funktioniert sie? Usw.) kann für den Leser des Evangeliums, will er der Erzählung gerecht werden, nur ein Gewinn sein. Diese theoretische Begründung genügt jedoch nicht, denn erst die konkrete Praxis der narrativen Analyse zeigt auf, ob diese neue Lektüremethode den Weg zu einem besseren Verständnis des Textes öffnet oder ob sie die exegetische Arbeit nur komplizierter macht, ohne der Interpretation einen wirklichen Gewinn zu bringen. Anhand der joh Ostergeschichte soll demonstriert werden, dass die narratologische Lektüre eine genauere Wahrnehmung des Textes ermöglicht. Die Anwendung einiger klassischer Kategorien der narratologischen Lektüre auf Joh 20 versucht, diesen Gesichtspunkt zu dokumentieren. Einerseits arbeitet die folgende Lektüre mit dem vor kurzem von Mark Allan Powell beschriebenen Modell des »narrative criticism«1, andererseits bezieht sie sich auf die Untersuchungen von Gerard Genette. Die narratologischen Kategorien, die die Analyse strukturieren, sind der Plot, die Personen, die Zeit der Erzählung, der Kommentar, der implizite Autor und der implizite Leser. Die Ausgangshypothese lautet: Ich lese den Text nicht als Dokument, das mir Zugang zu einer vergangenen Geschichte verschafft (der Text wird nicht als Quelle behandelt). Ich betrachte den Text auch nicht als Fundgrube, aus der ich verstreute Elemente herausgreife, um eine zusammenhängende Theologie zu rekonstruieren. Ich lese die Erzählung als Erzählung und setze mich der Welt des Textes aus. 11 1. Der Plot (die dramatische Handlung) 1.1 Das Problem von ]oh 20 Eines der klassischen Forschungsprobleme von J oh 20, das vor allem durch die Literarkritik hervorgehoben wurde, besteht in der narrativen Inkonsistenz dieses Kapitels. 2 Die verschiedenen Szenen des Kapitels stehen dramatisch völlig unverbunden nebeneinander. So bleibt der exemplarische Glaube des Lieblingsjüngers ohne Folgen. Nachdem Petrus und der Lieblingsjünger weggegangen sind, steht Maria beim Grab, ohne dass sich ihre plötzliche Anwesenheit erklären liesse. Ihr Osterglaube, den sie den anderen Jüngern mitteilt, bleibt bei diesen wirkungslos, denn im folgenden Abschnitt scheinen die hinter verschlossenen Türen ängstlich versammelten Jünger nicht die geringste Ahnung von Jesu Auferstehung zu haben. In der entscheidenden Szene der V. 19-23 schliesslich bemerkt niemand weder Jesus noch die Jünger die Abwesenheit des Thomas. Zwar können die Spannungen und Brüche zwischen den verschiedenen Szenen der Erzählung durch die komplexe und bewegte Entstehungsgeschichte des Textes erklärt werden, aber wie wertvoll diese Erklärung auch immer ist, die Erzählung bleibt ungeordnet. Sie bleibt ungeordnet, solange angenommen wird, dass der implizite Autor die Osterereignisse in ihrer dramatischen Abfolge zu schildern beabsichtigte. Ist dies aber wirklich der Fall? Haben wir es tatsächlich mit einem dramatischen Plot zu tun, d. h. mit einem Plot, der darauf abzielt, die Entwicklung einer Handlung mit ihren Konsequenzen darzustellen? Liegt der Akzent auf der Reihenfolge bzw. der zeitlichen Verknüpfung der Ereignisse und der damit verbundenen Entwicklung? 1.2 Dramatischer und thematischer Plot Der aufmerksame Leser weiss, dass die Analyse des Aufbaus ein schwieriges Problem des Johannesevangeliums bildet. Er weiss, dass es durchaus gewagt ist, einen dramatischen Plot wiederherstellen zu wollen, um der zeitlich-logischen Er- ZNT 3 (2. Jg. 1999) eignisabfolge der joh Erzählung Rechnung zu tragen. Denn der Gesamtplot des Joh ist kein dramatischer, sondern ein thematischer. 3 Die Hauptperson der joh Christus durchläuft keine Entwicklung, seine Identität (der Gottesgesandte zu sein) wird von den berichteten Konflikten nicht tangiert. Im Zentrum steht vielmehr das Thema des Glaubens. Wie entsteht der Glaube? Wie wird er strukturiert? Wie wird er problematisiert? Das Joh ist in erster Linie als eine Strategie des Glaubens wahrzunehmen. 4 1.3 Der Plot von J oh 20: die Entstehung des Osterglaubens Wird diese Hypothese, die dieser Vortrag nicht vom Gesamtevangelium her begründen kann, durch Joh 20 bestätigt? Der Leser entdeckt recht schnell, dass J oh 20 das Verhältnis zwischen Sehen und Glauben bearbeitet. 5 In der ersten Szene (V. 1-10) ist das Sehen Marias von Magdala zuerst ein erfolgloses Sehen. Es erschöpft sich in der ungläubigen Erklärung, dass jemand den Leichnam Jesu aus dem geöffneten Grab an einen unbekannten Ort gebracht hat. Dieses verkehrte Sehen löst das Sehen-Wollen Petrus' und des Lieblingsjüngers aus. Während Petrus mit der Besichtigung des leeren Grabes (V. 6) als erster Zeuge des Ostergeschehens bestätigt wird, führt das Sehen des Lieblingsjüngers zum Glauben (V. 8). Es gilt zu betonen, dass der Lieblingsjünger nicht den Auferstandenen, sondern einzig und allein das leere Grab sieht. In der zweiten Szene (V. 11-18) bildet Marias von Verzweiflung geprägtes Sehen des leeren Grabes (V. 12) den Ausgangspunkt. Dieses verkehrte Sehen wird durch das Sehen der Erscheinung Christi (V. 14) verändert. Die bekehrte (V. 16: »Da wandte sie sich um«) und vom Auferstandenen belehrte Jüngerin wird zur ersten Osterzeugin gegenüber den Jüngern (V.18). In der dritten Szene (V. 19-23) erfüllt das Sehen des Herrn die hinter verschlossenen Türen ängstlich versammelten Jünger mit Freude (V. 20). Schliesslich weigert sich in der letzten Szene (V. 24-28) Thomas, dem österlichen Zeugnis Glauben zu schenken. Sein Nicht-Sehen führt zu einem Nicht-Glauben (V. 25). Dieses Nicht-Glauben wird durch die Erscheinung des joh Christus und dessen Ruf zum Glauben verändert (V. 27). Der berühmte abschliessende Makarismus definiert endgültig das Verhältnis zwischen Sehen und Glauben (V. 29). Fazit: Der Plot von J oh 20 ist kein dramatischer, ZNT 3 (2. Jg. 1999) Jean Zumstein Jean Zumstein, Jahrgang 1944, seit 1972 Pfarrer der Reformierten Kirche des Kantons Bern (Schweiz). 1973 Promotion. 1974 Habilitation. 1975-1990 Professor für neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Neuenburg. Seit 1990 Professor an der Universität Zürich. Zur Zeit arbeitet er an einem Kommentar über das Johannesevangelium. sondern ein thematischer Plot. Die narrativ entfaltete, theologische Frage ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sehen und Glauben. Dieses von der Erzählung dargelegte und zugleich problematisierte Verhältnis ist das Proprium des Osterglaubens. Insofern erzählt J oh 20 nicht in erster Linie die Ostergeschichte als solche, sondern die Entstehung des Osterglaubens. 6 1.4 Die letzte Szene in einem Plot Die Plot-Analyse von Joh 20 ermöglicht, die Fragestellung dieser Perikope genauer wahrzunehmen. Ein Aspekt wurde jedoch bis jetzt ausser Betracht gelassen. J oh 20 bildet in der Geschichte des joh Christus die letzte Szene (von Joh 21, das später behandelt wird, vorläufig abgesehen). Nun stellt sich in bezug auf die letzte und ebenso in bezug auf die erste Szene einer Erzählung folgende Frage: Bilden diese Szenen bloss die erste bzw. letzte chronologische Etappe des erzählten Geschehens, oder spielen sie im Gesamtgefüge der Erzählung eine besondere Rolle? Die Sorgfalt, mit welcher der implizite Autor den Einstieg in die Erzählung verfasste, spricht für die zweite These. Denn der Prolog setzt den hermeneutischen Rahmen fest, in dem die Lektüre der eigentlichen Erzählung verlaufen soll. Er liefert dem Leser die notwendigen Angaben, die den Weg zu einem sachgemässen Verständnis der folgenden Ge- 12 schichte öffnen. Der Prolog ermöglicht den Einstieg in die Welt der Erzählung, d. h. er spielt die Rolle der Exposition. Die letzte Szene hat die umgekehrte Funktion: Sie führt den Leser aus der Welt der Erzählung in seine eigene Welt zurück und macht deutlich, wie die Erzählung in der Welt des Lesers weiterleben soll. Insofern ist es bestimmt kein Zufall, wenn die joh Erzählung mit dem Bericht über die Entstehung des Osterglaubens abschliesst. Dieser zeigt auf - und der letzte Makarismus in V. 29 dokumentiert dies auf eklatante Weise -, welche Zukunft dem Glauben bestimmt ist, der im Zentrum der ganzen Erzählung steht, und unter welchen Bedingungen er in der Welt des Lesers bestehen kann. 2. Die Personen Die Erzählung ist eine von Personen bewohnte Welt. Es handelt sich allerdings um literarische Personen. Jesus, Thomas, Petrus, Maria von Magdala, der Zwölferkreis und sogar der Lieblingsjünger haben zwar höchst wahrscheinlich existiert, aber darum geht es nicht. Diese Personen werden vom impliziten Autor neu geschaffen, so dass es sich nicht mehr um undurchsichtige, historische Personen handelt, die in facettenreiche Situationen verwickelt sind, sondern um transparente, stilisierte Personen, die im Rahmen des joh Plot handeln. 2.1 Die Unverfügbarkeit der Hauptperson Wie wird die Hauptperson der Erzählung der auferstandene Christus dargestellt? Eine Reihe von konvergenten narrativen Zügen kennzeichnet die Person des Auferstandenen. Alle diese Züge betonen seine Andersartigkeit bzw. Unverfügbarkeit7, was nun anhand der Welt der Erzählung aufgezeigt werden soll. 1) Das Motiv des leeren Grabes (V. 1) bedeutet nicht nur, dass Jesus gestorben ist, sondern auch, dass sein Leichnam verschwunden ist. Trotz seines Todes bleibt er unverfügbar. 2) Das Motiv der Leinenbinden und des Schweisstuches (V. 5-7) macht deutlich, dass das Grab zwar leer ist, aber der Verstorbene eine Spur hinterliess. Die sorgfältig zusammengelegten Tücher verweisen auf Jesu Auferstehung, gleichzeitig aber auch auf einen sich entziehenden Christus. 3) Das Motiv der Verwechslung (V. 15) - Maria hält den Auferstandenen für den Gärtner bringt zum Ausdruck, dass der Auferstandene in keiner engen 13 Kontinuität zum Irdischen steht, sondern eine neue Identität hat. 4) Die Suche Marias von Magdala (V. 15) kennzeichnet den Auferstandenen als einen verschwundenen Christus, den es wiederzufinden gilt. 5) Nachdem Maria den Verschwundenen schliesslich wiedergefunden hat, verbietet er ihr, ihn anzufassen (V. 17). Der Auferstandene ist keine Person mehr, die sich anfassen lässt. 6) Thomas macht die seltsame Erfahrung, dass der joh Erhöhte trotz seiner Abwesenheit hört, was die Jünger sagen (V. 25.27). 7) Der joh Christus manifestiert sich, wo und wann er will (V. 20.26 ). Er ist der Kontingenz der geschichtlichen Existenz nicht mehr unterworfen. Dieser narrative Zug der Unverfügbarkeit bringt die neue Identität des zum Vater zurückgekehrten Christus zum Ausdruck. Gewiss, der Auferstandene ist niemand anderer als der Gekreuzigte wie die Szene mit Thomas zeigt, sind die Kreuzesmale die einzigen Zeichen, die den Herrn identifizieren -, der Auferstandene lebt als der Gekreuzigte, aber nicht mehr als historischer Mensch. Die Jünger sind eingeladen, zu diesem Christus, der trotz seiner Vertrautheit ein anderer geworden ist, der bei Gott lebt und in der Welt unverfügbar ist (V. 17), eine neue Beziehung zu knüpfen. 2.2 Die Nebenpersonen: Glaubenswege Die Nebenpersonen der joh Erzählung treten nur in strengem Bezug zu Christus auf. Als selbständige Personen haben sie in der Erzählung keinen Platz. Diese elementare Beobachtung lässt erahnen, dass anhand der in Joh 20 vorkommenden Nebenpersonen verschiedene Möglichkeiten einer Beziehung zum Auferstandenen bzw. verschiedene Glaubenswege thematisiert werden. 2.2.1 Die Protophanie vor Maria von Magdala Die Person Maria von Magdala verkörpert die Zuneigung zu Christus. Ihr Weinen am Eingang des leeren Grabes (V. 11[2x].13.15) ist äusseres Zeichen der Trauer, die sie aufgrund der radikalen Abwesenheit ihres Herrn empfindet. In dieselbe Richtung deutet ihre Suche nach dem verschwundenen Leib (V. 2.13.156). Obwohl sie Jesus liebt, ist sie nicht in der Lage, den Weg zum Glauben aus eigener Kraft zu finden. Sie reagiert nach den Massstäben dieser Welt auf das leere Grab und erklärt es mit einem Plausibilitätsargument: dem Diebstahl oder der Verlegung des Leichnams. Erst das Eingreifen der Hauptperson bzw. ihr Wort ZNT 3 (2. Jg. 1999) verändert dieses verkehrte Sehen Marias von Magdala. Die Veränderung gelingt insofern, als Maria von Magdala zur ersten Trägerin des österlichen Kerygmas wird. Sie birgt aber auch Schwierigkeiten, denn Maria besteht darauf, in der Person des Auferstandenen den irdischen Rabbi 8 zu erkennen, um so mit der Gestalt aus der Vergangenheit verbunden zu bleiben .. Maria wird jedoch vom Auferstandenen aufgefordert, den irdischen Christus nicht zurückzuhalten (»Für dich bin ich noch nicht zum Vater aufgestiegen«9). Erst die Trauer um den Irdischen lässt sie den Auferstandenen entdecken und seine Zeugin werden. Die literarische Person Maria von Magdala durchläuft einen Glaubensweg, der von der Verzweiflung zur Verantwortung führt. Ermöglichungsgrund dieses Fortschreitens aber ist der Auferstandene bzw. sein Wort. 2.2.2 Petrus und der Lieblingsjünger Im zweiten Teil des Evangeliums treten Petrus und der Lieblingsjünger oft gemeinsam auf. Gemeinsam erscheinen sie beim letzten Mahl (13,23- 24), im Hof des Kaiphas (18,15) und am Ostermorgen beim Grab. Ein wichtiges Element gilt es zu betonen: Nicht nur die jeweilige Beziehung der beiden Jünger zu Christus wird thematisiert wie es bei den anderen Personen der joh Erzählung der Fall ist -, sondern auch ihre Beziehung zueinander. Wie ist dieses Beziehungsnetz zu beschreiben? Der Wettlauf zum Grab macht zwischen den beiden eine gewisse Rivalität ersichtlich, denn der Sieg ist Ausdruck des grösseren Eifers für den Herrn. Er wird vom Lieblingsjünger errungen, dessen Nähe zu Christus damit ein weiteres Mal hervorgehoben wird. Petrus erhält zwar den Vortritt bei der Besichtigung des leeren Grabes dies entspricht seiner Zeugenrolle in der kirchlichen Tradition -, über seinen allfälligen Glauben wird aber kein Wort verloren. Er ist die einzige Person in Joh 20, deren Glaube eine offene Frage bleibt. Der Lieblingsjünger hingegen verkörpert den vollkommenen Glauben, denn er glaubt, ohne zu sehen. Während die anderen Jünger zum Glauben kommen, indem sie dem Auferstandenen begegnen, sieht der Lieblingsjünger nur das leere Grab, d. h. das Einzige, was er sieht, ist die radikale Entzogenheit Christi. Mit Petrus als kirchlichem Zeugen und dem Lieblingsjünger als Glaubensvorbild wird die Problematik von Joh 21 vorweggenommen. Dazu kommen wir später. ZNT3 (2.Jg.1999) 2.2.3 Der Zwölferkreis Der Zwölferkreis konstituiert eine kollektive Person. Ihr Weg führt aus der Angst, der Einsamkeit und der Verschlossenheit gegenüber der Welt zur Freude und zur Übernahme einer Verantwortung inmitten der Welt, denn die Erscheinung des Herrn eröffnet den Zwölf eine neue Lebensmöglichkeit. Der Auferstandene rüstet sie als Paradigma der Kirche für die nachösterliche Zeit aus, d. h. er sendet sie in die Mission, übergibt ihnen den Heiligen Geist und Vergebungsvollmacht. Der nachösterliche Glaube verwirklicht sich also einerseits in einer neuen Lebensqualität, d. h. in der Freude, andererseits in der Übernahme einer Verantwortung. 2. 2. 4 Thomas Mit Thomas wird eine neue Fragestellung in die Erzählung eingeführt. Sie betrifft nicht mehr die Entstehung des nachösterlichen Glaubens, sondern das dem österlichen Kerygma entgegengebrachte Misstrauen eines abwesenden Jüngers, der die Glaubenden späterer Generationen verkörpert. Zwar wird dem Zweifler zugestanden, den Erhöhten zu sehen (er sieht allerdings nicht mehr als die Zwölf und rührt den Auferstandenen nicht an 10 ), aber erst Christi Ruf zum Glauben führt ihn zum exemplarischen Glaubensbekenntnis. Thomas, Weg demonstriert, dass das echte österliche Privileg nicht im Sehen, sondern im Nicht-Sehen besteht. Zu Glauben, ohne zu sehen, ist das Privileg der nachösterlichen Zeit, mit dem der Glaube seinen vollkommenen Ausdruck erreicht. 3. Die Zeit der Erzählung Gerard Genette 11 hat gezeigt, dass die Strukturierung der Zeit der Erzählung eines der wichtigsten Interpretationsmittel ist, die dem impliziten Autor zur Verfügung stehen, um die erzählte Geschichte zu deuten. In dieser Hinsicht verdient die Kategorie der Zeit der Erzählung besondere Aufmerksamkeit. Das Spiel der Analepsen und Prolepsen setzt die erzählten Ereignisse zueinander in Beziehung. Durch die Kombination dieser Verweise auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft entsteht die Bedeutung der erzählten Geschichte. Wie ordnet sich die Ostergeschichte unter diesem Gesichtspunkt in die Gesamterzählung ein? Ist sie ein unentbehrliches Element der Gattung »Evangelium«, im Konzept der joh Theolo- 14 gie aber überflüssig, wie dies in der Sekundärliteratur zu lesen ist? Nimmt der Leser die Organisation der joh Erzählung ernst, so entdeckt er, dass die Ostergeschichte kein Anhängsel ist. Vielmehr korrespondiert Joh 20 mit zahlreichen Prolepsen aus den Abschiedsreden. Mit anderen Worten: In den Abschiedsreden kündigt der joh Christus sein österliches Kommen an und formuliert dessen Bedeutung. Joh 20 erfüllt die Verheissungen der Abschiedsreden. Was vor dem Kreuz vorhergesagt wurde, wird jetzt Wirklichkeit. Dazu einige Beispiele: Das grundsätzliche, von den Abschiedsreden aufgeworfene Problem stellt sich mit der Entzogenheit des Offenbarers. Diese Entzogenheit wird bei den Jüngern Trauer und Weinen auslösen (16,20). Das leere Grab und der verschwundene Leichnam Jesu bilden die narrative Form dieser Entzogenheit. So schildert das Weinen Marias von Magdala am Eingang des Grabes die von den Jüngern empfundene Trauer. Doch dem Weggehen folgt ein Kommen, dem Nicht-Sehen ein Sehen. Diese doppelte Bewegung strukturiert die erste Abschiedsrede (Joh 14) und zeigt auf, dass der Weggang des Offenbarers die notwendige Bedingung seines erneuten Kommens ist (vgl. 14,18). Das Wiederkommen des Offenbarers wird sich unter der Form des österlichen Sehens ereignen (14,19) und die Trauer in Freude verwandeln (16,20-22). Mit Joh 20 ist die Erfüllung dieser Verheissung gegeben. Das Wiederkommen des Offenbarers vollzieht sich in den Erscheinungen des Auferstandenen vor Maria, den Jüngern und Thomas, und dank dieser Erscheinungen verwandelt sich die Trauer der Jünger in Freude. Setzt die erste Abschiedsrede das erneute Kommen des Erhöhten zum Kommen des Parakleten in Beziehung (14,19-24.25-26), so gipfelt entsprechend in der Ostergeschichte die Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern in der Gabe des Heiligen Geistes. Die Sendung der Jünger durch Jesus, die die Sendung Jesu durch den Vater redupliziert, wird in 17,18 angekündigt und in 20,21 vollzogen. Schliesslich kündigt die zweite Abschiedsrede an (15,14-16), dass der Aufstieg des Sohnes zum Vater zu neuen Beziehungen zwischen den Jüngern und Christus respektive Gott führt. In der Begegnung des Auferstandenen mit Maria von Magdala wird diese Ankündigung Ereignis. Fazit: Die joh Ostergeschichte ist das narrative Pendant zu 14,18-26 und zur Relecture dieses Abschnitts in 16,16-22. Hatte die Rede des schei- 15 denden Christus die nachösterliche Zeit und ihre theologischen Merkmale zum Thema, so zeigtJoh 20, wie diese Verheissungen des Weggegangenen Wirklichkeit geworden sind. 4 Der Kommentar Jeder Erzähler versieht seine Erzählung mit einem Kommentar. Dieser ist von grosser Bedeutung, denn er zeigt auf, wie der implizite Autor die erzählte Geschichte interpretiert. Der Kommentar kann explizit sein und äussert sich in diesem Fall in einer Metarede, d. h. einer Rede über die Erzählung. Demgegenüber ist der implizite Kommentar Bestandteil der Erzählung und bei Joh in literarischen Verfahren wie dem Missverständnis, der Ironie oder dem Symbol zu suchen. 12 4.1 Der explizite Kommentar Der explizite Kommentar ist in J oh 20 besonders deutlich entfaltet. Zwei Beispiele: - 20,9 bereitet der Exegese seit jeher lnterpretationsschwierigkeiten.13 Nachdem der implizite Autor den Glauben des Lieblingsjüngers angesichts des leeren Grabes beschrieben hat, fügt er hinzu: »Denn noch wussten sie nicht aus der Schrift, dass er von den Toten auferstehen musste«. Vorausgesetzt, dass der Text kohärent ist, ist die argumentative Absicht klar. Der implizite Autor betont, dass der Lieblingsjünger im Unterschied zu Petrus ohne die Unterstützung der Schrift, die den klassischen hermeneutischen Rahmen für das urchristliche Verständnis des Ostergeschehens bildet, zum Glauben gekommen ist. Er ist also der unübertreffliche Ausleger der Geschichte J esu. Sein Glaube braucht keine Hilfe von aussen, um die Wahrheit zu finden. - Das zweite Beispiel eines expliziten Kommentars ist mit dem ersten Schluss des Evangeliums gegeben. V. 30-31 bilden nicht nur den Abschluss der joh Ostergeschichte, sondern den Buchschluss überhaupt. Die gesamte Erzählung, von nun an als abgeschlossenes Buch betrachtet, wird als sorgfältig getroffene Auswahl von Zeichen dargestellt. Der Grund ihrer Verschriftlichung besteht darin, zum Glauben zu rufen, zu einem Glauben, der in doppelter Weise näher bestimmt wird. Zum einen übernimmt er die christologische These, dass Jesus ZNT 3 (2.Jg. 1999) der Christus, der Sohn Gottes ist. Zum andern ist diese Übernahme von soteriologischer Tragweite: Wer an den Sohn glaubt, empfängt das eschatologische Leben. Die Bedeutsamkeit dieses Kommentars besteht in seinem hermeneutischen Gewicht für die Gesamterzählung, formuliert er doch sowohl ihre theologische Absicht als auch ihre pragmatische Funktion. Das Evangelium ist als eine Reihe von Zeichen zu lesen, die Jesu entscheidende Identität entdecken lässt und so Zugang zum echten Leben gewährt. Es verfolgt eine Strategie, Glauben zu bewirken und zu gestalten. Am Ende der Erzählung trifft der Leser auf den hermeneutischen Schlüssel, mit dessen Hilfe er überprüfen kann, ob seine Lektüre sachgemäss erfolgte. Wer aber sind die Adressaten des Evangeliums? Dieser Punkt bedarf weiter unten einer Abklärung. 4.2 Der implizite Kommentar Der implizite Kommentar in J oh 20 schlägt zwar nicht die klassischen joh Wege des Missverständnisses, des Symbols oder der Ironie ein, er ist aber dennoch greifbar. Zwei Beispiele: - Die Verwechslung durch Maria von Magdala in V. 14-16 erzielt eine komische Wirkung. Maria von Magdala hält den Auferstandenen für den Gärtner und fragt ihn, wo er den Leichnam J esu hingelegt hat. Für den Leser ist die Situation grotesk: Fragt nicht Maria ahnungslos Jesus, wohin er seinen Leib geschafft hat? Aber diese komische Wirkung ist voller Bedeutung. Der irdische Leib Jesu ist tatsächlich verschwunden, und die Begegnung mit ihm geschieht wie die berühmte Anrede in V. 16 deutlich macht von nun an auf der Ebene des Wortes. - Der implizite Kommentar äussert sich auch im Spiel der Intertextualität. Die frankophone Exegese hat seit längerer Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass die literarische Person Maria von Magdala denselben Weg zurücklegt wie die liebende Frau im Hohenlied (3,1-3). Beide Frauen verlassen ihr Haus vor der Morgenröte, um ihren Geliebten zu suchen; beide werden von dieser Suche völlig beansprucht; beide fragen ihre Nachbarn aus; beide versuchen, den Geliebten anzufassen. Maria wird also als »die Liebende« dargestellt, wobei hinzuzufügen ist, dass gerade bei Joh Liebe und Glaube nicht zu ZNT 3 (2. Jg. 1999) trennen sind. In 14,21.23-24 wird sogar festgehalten, dass nur derjenige, der Jesus liebt, Zugang zum Osterglauben hat. Das zweite Beispiel der Intertextualität ist allgemein bekannt. In V. 22 wird von Jesus erzählt, dass er »seine Jünger anblies«, um ihnen den Heiligen Geist zu übergeben. Die Anspielung auf Gen 2,7 ist offensichtlich und lädt den Leser dazu ein, das Kommen des Heiligen Geistes auf die Jünger als Neuschöpfung zu verstehen und zu erkennen, dass die nachösterliche Zeit unter das Zeichen dieser eschatologischen Gabe gestellt ist. 4.3 Der Epilog (Kap.21) Dieser kurzen Analyse des Kommentars der Erzählung muss noch ein Wort über Joh 21 hinzugefügt werden. Die Exegese beurteilt Joh 21 fast einstimmig als sekundären Zusatz zum abgeschlossenen Evangelium und liest dieses Kapitel als Epilog. Die Entstehungsgeschichte von J oh 21 kann an dieser Stelle nicht untersucht werden. Hingegen lässt sich unter einem narratologischen Gesichtspunkt fragen, was ein Epilog ist. 14 Was bedeutet es, dass die auktoriale Instanz beschliesst, einer abgeschlossenen Erzählung, ja einem abgeschlossenen Buch einen Zusatz hinzuzufügen? Dass Joh 21 vom impliziten Autor als Zusatz verstanden wird, steht ausser Zweifel. Der Abschluss 20,30-31 wurde respektiert, J oh 21 ist also nicht als Fortsetzung der in J oh 20 angefangenen Ostergeschichte zu lesen, sondern hat eine andere Funktion. Dieses Kapitel nimmt zur Gesamterzählung Stellung und zeigt auf, wie der erzählten Geschichte in einer veränderten Situation eine Zukunft zukommen kann und soll. Während J oh 20 die Zukunft der Geschichte Jesu für die Glaubenden späterer Generationen aufweist, erörtert Joh 21, warum der joh Erzählung in der Kirche eine Zukunft gewährt werden soll. Der Plot bleibt in Joh 21 zwar ein thematischer Plot, die zentrale Fragestellung ist aber keine christologische mehr, sondern eine ekklesiologische. Vier Argumente stützen diese Beobachtung: 1) Die Szene des reichen Fischfangs ist kein semeion (Zeichen) im joh Sinn mehr. Sie zielt nicht mehr darauf ab, Christi Identität entdecken zu lassen, sondern sie führt die Motive ein, die die Identität des Lieblingsjüngers respektive Petrus' bestimmen. 2) Die Personen sind nicht mehr dazu da, Christi Bedeutung hervorzuheben, sondern Christus ist dazu da, die Bedeutung des Lieblingsjüngers und Petrus' für die nachösterliche Zeit festzusetzen. 3) Somit ist 16 die zentrale Absicht der Erzählung die, das Verhältnis der beiden Jünger zueinander bzw. ihre jeweilige kirchliche Funktion zu definieren. 4) Der Tod, der im Zentrum der Reflexion steht, ist nicht mehr Jesu Tod, sondern Petrus' Märtyrertod und der Tod des Lieblingsjüngers. Das Fazit ist klar: Der Epilog ist als Epilog zu lesen, d. h. als eine Stellungnahme zur Erzählung, die aufzeigt, welche Stellung das Evangelium in der Kirche beanspruchen soll. 5 Der implizite Autor Die Analyse der joh Ostergeschichte hat gezeigt, dass die Erzählung aus einer Reihe von literarischen und theologischen Entscheidungen hervorgeht. Die Summe dieser verschiedenen Entscheidungen, die sich im Text objektivieren, ergibt den »impliziten Autor«. Wodurch ist der implizite Autor in J oh 20 gekennzeichnet? 5.1 Der implizite Autor in Joh 20 ist allgegenwärtig. In keiner der erzählten Szenen ist er abwesend. Er befindet sich bei Maria, die allein beim Grab steht, er läuft mit Petrus und dem Lieblingsjünger und gesellt sich sogar zu den Jüngern, die die Türen verschlossen und sich von der Aussenwelt sorgfältig abgeschirmt haben. Aber der implizite Autor ist nicht nur allgegenwärtig, sondern auch allwissend. Er weiss mehr als die Personen der erzählten Szenen. Von vornherein weiss er, was Maria von Magdala nicht weiss, nämlich dass der vermeintliche Gärtner in Wirklichkeit Jesus ist. Er kennt die inneren Gedanken der Personen. Obwohl der Lieblingsjünger kein öffentliches Glaubensbekenntnis ablegt, weiss er, dass dieser gesehen und geglaubt hat. Er ist kein historischer Zeuge im üblichen Sinn, denn er kennt den verborgenen Sinn der sich abspielenden Ereignisse. 5.2 Das Tempus der Verben signalisiert, dass wir es mit einer retrospektiven Erzählung zu tun haben. Dies ist insofern von Bedeutung, als erst eine abgeschlossene und rückblickend erzählte Geschichte ihren Sinn voll zum Ausdruck bringen kann. Die Abschiedsreden (14,12) oder das letzte Wort des joh Christus am Kreuz (19,30) deuten darauf hin, dass der implizite Autor sehr wohl 17 ,.! ean Zumstein Die johanneis(: he Ostergeschichte weiss, dass der Sinn des erzählten Geschehens erst im Rückblick, in der Anamnese 1 5, entsteht. Dann stellt sich die Frage: Welche Erzählperspektive nimmt der implizite Autor in seiner retrospektiven Erzählung der Geschichte Jesu ein? Der Abschluss 20,30-31 zeigt deutlich, dass die Erzählung unter der Perspektive des christologischen Glaubens steht, d. h. der implizite Autor Glauben an Jesus Christus bewirken will. Insofern identifiziert sich der implizite Autor mit der Perspektive des joh Christus, die er vorbehaltlos vertritt. Joh 20 z.B. zeigt, dass der einzige Gewinn, die echte Seligkeit (vgl. 20,29), darin besteht, den joh Osterglauben zu finden. 5.3 Besteht aber die vom impliziten Autor vertretene Erzählperspektive zu recht? Wie kann der Leser sicher sein, dass die zu lesende Erzählung »glaubenswürdig« ist? Kennt der Leser den Epilog, so weiss er, dass die Stimme des Erzählers ein Gesicht hat, nämlich dasjenige des Lieblingsjüngers (21,24). Nun entdeckt dieser Leser rückblickend, dass sich der Erzähler in J oh 20 selbst inszeniert, wie er das schon beim letzten Mahl (13,23) oder am Kreuz (19,26) getan hat. Die Art und Weise, wie er als Person in der Erzählung auftritt, hebt seine Autorität hervor. Hat nicht er am Ostermorgen den Wettlauf zum Grab gewonnen? Wird damit seine Liebe zu Jesus nicht endgültig unter Beweis gestellt? Hat nicht er das leere Grab gesehen? Ist damit seine Augenzeugenschaft nicht garantiert? Hat nicht er ohne Hilfe der Schrift gesehen und geglaubt? Weist ihn dies nicht als unübertrefflichen Interpreten der Geschichte J esu aus? In Joh 20 errichtet der implizite Autor sich selbst ein Monument, das für die Autorität seiner Erzählung bürgt. 6. Der implizite Leser Der implizite Autor fasst seine Erzählung als ein Kommunikationsgeschehen auf. Er richtet sich an einen Leser, d. h. er macht sich von seinem Leser ein Bild und schreibt dieses der Erzählung ein. Das in den Text eingeflochtene Bild des Lesers wird mit dem Begriff »impliziter Leser« bezeichnet. ZNT 3 (2. Jg. 1999) 6.1 Die Umrisse des impliziten Lesers stehen stets in Beziehung zur Identität der ersten Adressaten der analysierten Schrift. Z.B. wird in unserem Kapitel eine gewisse Kompetenz seitens des Lesers vorausgesetzt: Er kann Griechisch und kennt die jüdische Bibel, den jüdischen Kalender und die palästinensischen Trauersitten. Er kennt die Personen der Erzählung und weiss, dass sie die Juden fürchten und dass sie sich am ersten Tag der Woche versammeln. Es ist ihm bekannt, dass sich gegen die Auferstehung Jesu eine Polemik erhoben hat, dass Engel existieren, usw. 6.2 Wichtiger als diese vorausgesetzte Kompetenz aber ist der Vertrag, den der implizite Autor seinem Leser vorschlägt. Dieser Lektürevertrag zeigt sich insbesondere in der Gestaltung des Plots und im expliziten oder impliziten Kommentar. Der Abschluss des Evangeliums lässt den Inhalt dieses Vertrags klar hervortreten. Durch die Lektüre des Evangeliums soll der Leser zum Glauben kommen. Aber wie ist dieses Zum-Glauben- Kommen näher bestimmt? Es geht um den Übergang vom Unglauben zum Glauben, aber nicht in dem Sinn, dass der Leser ein zu bekehrender Heide wäre, sondern im Sinne von Thomas. Thomas' Zweifel richtet sich nicht auf die österliche Erscheinung als solche (die joh Jünger zweifeln nicht an der Realität der Erscheinung, wenn der Auferstandene zu ihnen kommt; anders verhält sich dies bei Mt oder Lk). Es geht um die Glaubwürdigkeit des österlichen Kerygmas, das den Anspruch erhebt, die unmittelbare Erscheinung des Auferstandenen zu ersetzen. Diese Problematik ist typisch für die Christen der zweiten und späteren Generation. Wie bleibt Glaube weiterhin möglich, wenn die Zeit der Inkarnation und die Zeit der Erscheinungen der Vergangenheit angehören? Der Leser wird dazu aufgefordert, sein Nicht-Sehen nicht als Defizit, sondern als Vorteil zu betrachten. Er kann sich von der theologischen Tragweite und der Berechtigung dieses Vorteils überzeugen, indem er die Wege einschlägt, die die Personen der Erzählung gegangen sind. Mit dem Lieblingsjünger lernt er, allein angesichts des leeren Grabes zu glauben. Mit Maria von Magdala wird er dazu aufgefordert, Jesus zu seinem Vater auffahren zu lassen, d. h. ihn zu verlieren, um ihn in einer anderen Gestalt wiederzugewinnen. So ZNT 3 (2. Jg. 1999) entdeckt er, in welcher Weise nach der Erhöhung eine neue Beziehung zu Christus und zu Gott möglich ist. Diese neue Beziehung wird in der Begegnung zwischen dem Erhöhten und den Jüngern mit der Gabe des Heiligen Geistes und der Vergebungsvollmacht inhaltlich gefüllt. Fazit: Joh 20 vertritt eine Stufenhermeneutik, die den Leser von einem elementaren zu einem tieferen Verständnis der Auferstehung und so zum im joh Sinn echten Osterglauben führt. 7. Schluss Dieser Vortrag versuchte, in aller Kürze ein Beispiel der narratologischen Lektüre zu geben. Das hermeneutische Anliegen dieser Lektüre lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass es ihr in erster Linie um die Erforschung der »Welt des Textes« geht. Paul Ricoeur schreibt: »Was ich mir schliesslich aneigne, ist ein Entwurf von dieser Welt; dieser findet sich nicht hinter dem Text als dessen verborgene Intention, sondern vor dem Text als das, was das Werk entfaltet, aufdeckt und enthüllt. Daher heisst Verstehen Sich-Verstehen vor dem Text. Es heisst nicht, dem Text die eigene Begrenztheit des Verstehens aufzuzwingen, sondern sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs. Nicht das Subjekt konstituiert also das Verstehen, sondern so wäre wohl richtiger zu sagen das Selbst wird durch die ,Sache< des Textes konstitutiert.« 16 Anmerkungen 1 Vgl. M. A. Powell, What Is Narrative Criticism? Guides to Biblical Scholarship, Minneapolis 1990; G. Genette, Die Erzählung, München 1994. 2 Vgl., z. B.J. Becker, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 11-21, (ÖTBK 4/ 2) Gütersloh und Würzburg 31991, 714-720. 3 Zum joh Plot vgl. R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, (Foundations and Facets: New Testament) Philadelphia 1983, 77-98. 4 Vgl. J. Zumstein, Das Evangelium: Eine Strategie des Glaubens, ThBeitr 28 (1997) 350-363. 5 Vgl. die Analyse von M.W.C. Stibbe, John, (Readings: A New Biblical Commentary) Sheffield 1993, 202-203. 18 Jean Zumstein Die johanneische Ostergeschichte 6 Vgl. z.B, Ch. Dietzfelbinger, Johanneischer Osterglaube, (ThSt 138) Zürich 1992, 7. 11 Vgl. Genette, Erzählung, 21-114. 12 Vgl. Culpepper, Anatomy, 152-202. 7 Vgl. Stibbe, John, 203-204, der die »elusiveness of the risen Jesus« hervorhebt. 13 Vgl. z.B. Becker, Johannes II, 716.721-722; Dietzfelbinger, Osterglaube, 12. 8 Indem Maria von Magdala den Auferstandenen »Rabbuni« nennt (der implizite Autor übersetzt diesen Titel mit »Meister«), setzt sie ihn mit dem irdischen Jesus gleich. 14 Zu dieser Frage, vgl. J. Zumstein, La redaction finale de l'evangile selonJean (a l'exemple du chap. 21), in: ders., Miettes exegetiques, (MoBi 25) Geneve 1991, 253-279. 9 Mit R. Buhmann, Das Evangelium des Johannes, (KEK II) Göttingen 10 1941, 533, der zu recht bemerkt, dass die Partikel noch nicht »im Grunde nicht von Jesus, sondern von Maria« gilt. 15 Zur joh Anamnese, vgl. J. Zumstein, Memoire et relecture pascale dans l'evangile selon Jean, in: ders., Miettes exegetiques, 299-316. 10 Der erste Teil des Makarismus (V. 29a) setzt das Sehen - und nicht das Anrühren mit dem Glauben in Verbindung. 16 P. Ricoeur, La fonction hermeneutique de la distanciation, in: ders., Du texte a l'action. Essais d'hermeeneutique II, Paris 1986, 116-117. 19 Kontakte - Beiträge zum religiösen Zeitgespräch Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.) Dimensionen der Wahrheit Hans Küngs Anfrage im Disput Kontakte 7, 1999, 114 Seiten, DM 26,80/ ÖS 196,-/ SFr 26,80 ISBN-3- 7720-2526-9 1970 sorgte Hans Küng mit seinem Buch "Unfehlbar? Eine Anfrage" zwei Jahre nach Erscheinen der Enzyklika "Humanae vitae" zur Frage der Geburtenregelung für eine intensive Diskussion. Nach dem Entzug der Lehrerlaubnis ebbte die Debatte rasch ab, ohne daß die Sachfragen gelöst waren. Seit einigen Jahren sorgen vatikanische Behörden für neue Brisanz in der Frage nach dem Verhältnis von Gottesvolk, wissenschaftlicher Theologie und bischöflich-päpstlichem Lehramt. Wie wird Wahrheit in der Kirche gesucht und gefunden? Wer hat welche Kompetenz? Läßt sich Wahrheit überhaupt endgültig finden oder gar "unfehlbar" in "irreformablen" Definitionen festsetzen? Kollegen Hans Küngs leisten mit diesem Diskussionsband ihren Beitrag zur möglichen Rehabilitierung, indem sie die Anfrage erneut aufgreifen und in eine umfassende Perspektive hineinstellen: Sie diskutieren die Wahrheitsfrage, indem sie den Dimensionen der Wahrheit in Philosophie, Religion, christlicher Dogmatik und theologischer Ethik sowie in der Kunst nachspüren. Das vom Herausgeber auf einem Studientag zu Ehren von Hans Küng präsentierte Modell innerkirchlicher Kommunikation wurde als wegweisend für die weiteren Debatten akzeptiert. Zuletzt in der Reihe Kontakte erschienen: Arno Schilson Medienreligion Zur religiösen Signatur der Gegenwart Band 5, 1997, VIII, 230 Seiten, DM 39,80/ ÖS 291,-/ SFr 39,80 ISBN 3-7720-2524-2 Otto Baur / Michael Kessler (Hrsg.) Christus erkennen Ein Glaubensgespräch in Malbriefen von Wilhelm Geyer und Werner Oberle Band 6, 1997, 164 Seiten, DM 34,80/ ÖS 254,-/ SFr 34,80 ISBN 3-7720-2525-0 A. Francke Verlag Tübingen und Basel PF. 2560 · D-72015 Tübingen ZNT3 (2.Jg. 1999)