eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 6/12

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2003
612 Dronsch Strecker Vogel

Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven

2003
Thomas Hieke
Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven Einführung: »Kanon« oder »Bibel« was liegt zur Auslegung an? Unter den methodologischen Schlagworten »kanonische Auslegung«, »kanonisch-intertextuelle Lektüre«, »canonical approach« oder »canonical criticism«' ist die Bibelwissenschaft schon eine gehörige Wegstrecke vorangekommen. Allerdings unterscheiden sich die Konzepte in bedeutsamen Punkten, sodass eine gemeinsame Linie hinsichtlich dessen, was »kanonische Auslegung« ist, noch nicht greifbar scheint, ebenso wenig ein Konsens darüber, was »Kanon« für die Exegese bedeutet und welche Bedeutung ihm zukommt. Die Kontroversen sollten aber nicht den Blick dafür verstellen, dass gewisse Grundoptionen (meist in Abgrenzung von »klassischer«, historisch-kritischer Exegese formuliert) gemeinsam sind. Bisweilen ist es allein Konzept bezeichnet: die Vorstellung eines begrenzten und göttlich legitimierten Textbestandes als Grundlage für eine Glaubensgemeinschaft. Der geschichtliche Befund zeigt, dass sich dieses entscheidende, Religionen und Kulturen prägende Konzept mitunter sehr unterschiedlich ausprägt( e). Es gibt unterschiedliche Realisierungen des Kanons in Judentum und Christentum,3 wobei sich trotz aller Unterschiede konstante Grundstrukturen zeigen lassen. Konkrete Kanonausprägungen können mit dem Begriff »Bibel« bezeichnet werden (vgl. »Hebräische Bibel«, »jüdische Bibel«, »christliche Bibel«, »Lutherbibel« etc.). Fragt man nun danach, was zur Auslegung ansteht, dann ist es nicht »der Kanon«, sondern die jeweilige Bibel: Ausgelegt werden immer nur konkrete Texte in konkreten Kontexten. Es muss eine Entscheidung am Anfang getroffen werden, die bislang zu selten reflekder Begriff »Kanon«, der manche stutzig oder sogar misstrauisch macht: Bemächtigt sich hier die Dogmatik oder eine unbestimmte Art von »Kirchlichkeit« (im pejorativen Sinne) der Exegese, die sich in den vergangenen »In der Exegese kann >Kanon< nur als literarischer Begriff verstanden werden, der den. ersten und privilegierten Kontext markiert, in dem ein biblischer Text verstanden wird.« tiert wird4, welche Kanonausprägung, also welche »Bibel«, der Auslegung zugrunde liegt: Beispiele wären die jüdische Bibel (TaNaK), die griechische Bibel (Septuaginta), verschiedene christliche Arhundert Jahren mühsam davon frei geschwommen hat? Das sei ferne. In der Exegese kann »Kanon« nur als literarischer Begriff verstanden werden, der den ersten und privilegierten Kontext' markiert, in dem ein biblischer Text verstanden wird. Es ist der Raum, der für intertextuelle Verknüpfungen primär herangezogen wird. Nicht immer jedoch gelingt es, die in dem polyvalenten und vieldeutigen Wort »Kanon« mitschwingenden Konnotationen und Assoziationen aus systematisch-theologischer Sicht auszuklammern. Daher könnte man sich fragen, ob man diesen Begriff für die Bezeichnung einer bibelwissenschaftlichen Methode nicht besser vermeidet. Ein anderer, weitaus gewichtigerer Grund dafür besteht darin, dass der Terminus »Kanon« eine Idee und ein ZNT 12 (6. Jg. 2003) rangements usw.' Von diesen Überlegungen her erscheint es hilfreicher, für die hier vorzustellende Methode den Begriff »biblische Auslegung« zu wählen. Grundoptionen der biblischen Auslegung Die Grundlinien der »biblischen Auslegung« können hier nur knapp skizziert werden. 6 Ihr Ziel ist das Verstehen biblischer Texte in ihrem jeweiligen Kontext. »Text« wird dabei als eine aus ihrer primären unmittelbaren Sprechsituation herausgelöste Sprechhandlung angesehen, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert wird. Texte haben eine sprechsituationsüberdauernde Stabilität.7 Das heißt aber zugleich, dass Texte durch den Vorgang der Speicherung (Verschriftung) von 65 Hermeneutik und Vermittlung ihrer Entstehungssituation losgelöst und damit gegenüber ihrem Verfasser unabhängig werden. Die Sinnkonstituierung erfolgt stets neu in der »zweiten Sprechsituation«, d.h. im Lektürevorgang, bei dem der Autor nicht anwesend ist und der Leser mit seinem jeweiligen Vorwissen zusammen mit dem Text als fester Zeichenfolge und dem jeweiligen literarischen Kontext, in dem der Text überliefert ist, ein Verständnis des Textes aufbaut. Aufgrund dieser Vorüberlegungen wird der Gedanke, dass Texte nur einen »richtigen« Sinn haben, der mit der Intention des historischen Verfassers (»was uns der Autor damit sagen wollte«) identisch sei, als unangemessen aufgegeben. Texte sind grundsätzlich mehrdimensional und vieldeutig. Die Intention des historischen Autors ist eine Modell-Leser," der damit zunächst ein textimmanentes Konzept ist. 12 Es gilt somit aufzuzeigen, welche Sinnmöglichkeiten der Text in seinem Kontext bereit hält, welche Lektürevorgänge möglich sind, welche neuen Leseweisen neue Perspektiven öffnen. Kontrollinstanz ist der Text selbst: »Man kann aus den Texten herauslesen, was sie nicht explizit sagen (und die ganze Interpretations-Kooperation des Lesers beruht auf diesem Prinzip), aber man kann nicht das Gegenteil dessen, was sie sagen, in sie hineinlesen«. 13 Die Interpretationsgemeinschaft selbst wird Auslegungen, die nicht mehr vom Text gedeckt sind, sondern deutlich interessengeleitet sind, zurückweisen. Insofern auch das ist eine neue Perspektive ist biblische Auslegung immer auch ein auf eine Sinnmöglichkeit, aber nicht die Norm der Auslegung. Dies ist insofern besonders für biblische Texte relevant, da hier in den meisten Fällen der historische Autor nicht mehr greifbar ist (wenn überhaupt, dann nur über den ·/ ~~~.fi1'l~e.J~itfg~fisf · il.~m.t't.fpemLektür~<Jr~igtnt1r. h~r.lo,11t-'it~r.t, t~~rm! + die. ••• $.f! .ite ~Text< tLe.s~r<,~ , , 1'.0111; m~~4tionsm.0'1el/ ; « lebendige Gemeinschaft angewiesenes Diskursgeschehen, ein »demokratischer« Vorgang, der nicht für Vorschriften »von oben nach unten« geeignet ist. Damit ist sicher noch nicht das letzte Wort Text selbst) und eine Fixierung auf die Autorintention den Text auf den begrenzten historischen Blickwinkel des Verfassers beschränken würde. Die Bibeltexte könnten keinen überzeitlichen Gehalt transportieren und würden zu Fossilien einer vergangenen Zeit weitgehend ohne Relevanz für die Gegenwart. Biblische Texte wollten aber schon immer stets neu gelesen und in veränderten Situationen aktualisiert werden, was sich schon an den zahlreichen F ortschreibungstendenzen im Entstehungsverlauf biblischer Bücher ablesen lässt. 8 Die biblische Auslegung ist damit vom Lektüreparadigma her konzipiert,9 betont also die Seite »Text« - »Leser« im Kommunikationsmodell. Diese Leserorientierung lässt sich noch weiter eingrenzen im Sinne einer Textzentrierung: Es geht bei der Reflexion von Lektürevorgängen vor allem darum, die im Text selbst angelegten Strukturen und Strategien zur Leserlenkung aufzudecken, d.h. zu zeigen, welche Kriterien der Text selbst für eine angemessene und »ökonomische« Lektüre aufstellt. Durch diese Strukturen, durch das eingeforderte Vorwissen und die angespielten und für das Verständnis relevanten Hypotexte 10 (primär aus der zugrunde gelegten Kanonausprägung, d.h. Bibel) schafft sich der Text selbst seinen 66 zur »biblischen Auslegung« gesagt. Doch es gilt nun, an einigen Beispielen skizzenhaft zu zeigen, welche neuen Perspektiven dieser Zugang im Blick auf das Neue Testament eröffnen kann. Biblische Auslegung am Neuen Testament einige Beispiele Mt 1 als Inhaltsverzeichnis des Alten Testaments Von einem Leser, der bei Mt 1,1 (»Buch der Geschichte J esu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams« 14) anfängt, das Neue Testament zu lesen, wird erwartet, dass er weiß, wer David ist und wer Abraham. Schon der erste Vers des Neuen Testaments macht damit deutlich, dass hier ein Text vorliegt, der Teil eines größeren Zusammenhangs ist. Wer mit David und Abraham nicht vertraut ist, wird zurück verwiesen auf die Texte, die von diesen Personen handeln. Zugleich stellt Mt 1,1 Jesus Christus mit der Wendung »Buch der Geschichte« (biblos geneseös), die so wörtlich in Gen 2,4 und 5,lLXX auftaucht,15 in einen großen genealogischen Zusammenhang: Jesus wird angegliedert an und eingegliedert in die ZNT 12 (6. Jg. 2003) Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspel<tiven Thomas Hieke PD Dr. Thomas Hieke, Jahrgang 1968, Studium der katholischen Theologie in Bamberg und Innsbruck. : Promotion in Bamberg 1996, Mitarbeit am Forschungsprojekt »Synoptische Konkordanz« in Bamberg (1996-2000), seit 2000 wiss. Assistent am Lehrstuhl für Biblische Theologie: Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments (Prof. Dr. Christoph Dohmen) der Katholisch-Theologischen Fakultä,t d13r Univ~rsität Regensburg. Habilitation in Regensburg 2003 (»Die Genealogien der Genesis«). For~ schungsschwerpunkte: Psalmen, Kohelet, Genesis, biblische Hermeneutik und Methodologie, Themen biblischer Theologie (Menschenbild, Eschatologie, Tod), synoptische Evangelien, lange Generationenfolge, die von der Schöpfung, vom Beginn der Menschheit, 16 über die Erzväter Abraham, Isaak, Jakob, über David und die Könige bis in seine eigene Zeit herein reicht. Es geht hier nicht darum, Jesus mit einer ruhmvollen Ahnengalerie zu schmücken, Tarnar, Perez und Serach sowie Hezron das gesamte Buch Genesis 17 ein. Mt 1 verlangt also von seinem Modell-Leser, das Buch Genesis zu kennen. Doch die Voraussetzungen werden noch weiter gespannt: Nimmt man den Ort des Buches Rut in der christlichen Bibel zwischen dem Buch der Richter und 1 Samuel ernst, so umspannt die Genealogie an seinem Ende (Rut 4,18-22) die gesamte Zeit vom Buch Genesis (Perez als Sohn Judas) bis hin zu König David, damit aber auch die Zeit des Exodus aus Ägypten, der Offenbarung der Tora am Sinai, der großen Mahnrede des Deuteronomium, der so genannten Landnahme und der »Richter«. Mt 1 nimmt die Rut-Genealogie auf und ruft damit auf engstem Raum und mit minimalen Mitteln diese »Heilsgeschichte« präsent. Ist der Leser erst einmal mit dieser Strategie vertraut, so stehen die übrigen Namen für den weiteren Verlauf der Geschichte, die mit dem »Babylonischen Exil« eine markante Zäsur erfährt. Dass aber Mt 1 nicht nur ein dürrer Zeitstrahl ist, sondern tatsächlich die Kenntnis der biblischen Geschichten einfordert, zeigen die eingestreuten Frauennamen: Eine Funktion dieser Namen neben anderen 18 ist, bestimmte Details der biblischen Texte wachzurufen und damit sicher zu stellen, dass der (Modell-)Leser seine Heilige Schrift auch wirklich gelesen hat. Man muss die Tarnar-, Rahab-, Rut- und Batseba-Geschichten gelesen haben, um mit der Genealogie Jesu etwas anfangen zu können. Ruft man sich diese Geschichten aber ins Gedächtnis, dann transportiert das dürre Namensgerippe sondern ihn in die lange und verheißungsvolle Geschichte des Volkes Israel als einen neuen Meilenstein (wie etwa Gen 5,1 ein solcher Meilenstein ist) einzugliedern. Das Matthäusevangelium braucht »Man muss die Tamar-, Rahab-, Rut- und Batseba- Geschichten gelesen. haben, um mit der Genealogie J es# etwas anfangen zu können.« plötzlich eine Botschaft: Die Frauen haben gemeinsam, dass sie mit ihrer Initiative und der Hilfe Gottes die Geschichte des Volkes Gottes entscheidend weitergebracht haben. 19 Damit kommt der für seine Jesusdarstellung den Hintergrund seiner Heiligen Schrift (die später in christlicher Rezeption »Altes Testament« genannt wird). Um sicher zu gehen, dass der Modell-Leser all das parat hat, fährt der Text mit einer Genealogie fort, die mit Fug und Recht als »Inhaltsverzeichnis des Alten Testaments« bezeichnet werden kann. All diese aufgeführten Personen erinnern die Geschichte des Volkes Gottes, und so spielen beispielsweise die Namen Abraham, Isaak und Jakob, Juda und ZNT 12 (6. Jg. 2003) Messias Jesus auf ungewöhnlichen Wegen 20 - und nicht allein durch die automatische, patrilineare Weitergabe des Lebens von Zeugung zu Zeugung zur Welt: Neben der Initiative der Frauen steht auch das unverfügbare und unplanbare, souveräne Eingreifen Gottes. Hat der Leser erst diesen Gedanken entwickelt, ist er bestens darauf vorbereitet, bei Maria ein Durchbrechen des stereotypen Musters (»X zeugte Y, Y zeugte Z, ... «, griech. egennesen) wahrzunehmen und darin eine 67 göttliche Intervention zu sehen (Passivum divinum: »aus der wurde gezeugt/ geboren«, griech. ex hes egennethe). Die Frauen stehen dafür, dass die Erwartungshaltungen und Planungen der Menschen (der Männer? ) immer wieder durchbrochen werden und allein Gottes Handeln die Lösung bringt. Gott ist und bleibt frei in seinem Handeln. Literarisch findet das seinen Niederschlag in einer »Strategie der Entautomatisierung der Heilsgeschichte«. 21 Sichtbar wird das für Leser, die die Abbreviatur der Genealogie des Matthäus-Evangeliums auflösen und den gesamtbiblischen Kontext einspielen. Das Markusevangelium für Leser des Matthäusevangeliums Das Matthäusevangelium endet mit der Aufforderung des auferstandenen Jesus an seine elf Jünger, alle Menschen zu lehren, was er ihnen geboten habe (Mt 28,20). Wenn einem Leser die Frage kommt, was der Inhalt dessen sei, was Jesus geboten habe, hat er zwei Möglichkeiten: Er kann im Matthäusevangelium selbst zurückblättern und die Worte Jesu nachlesen. Dann ist das Matthäusevangelium eine Endlosschleife, in der der Leser am Ende auf den Anfang bzw. das ganze Buch zurückverwiesen wird. 22 Die biblische Auslegung hat noch eine andere Deutemöglichkeit: Man kann mit der Lektüre des Markusevangeliums fortfahren, denn es ist ja das »Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes«. 23 Der Anfangsvers des Markusevangeliums weckt die begründete Vermutung, dass der folgende Text (auch) das enthält, was Jesus Christus gelehrt und geboten hat. Im Blickwinkel der biblischen Auslegung wirkt der Übergang von Mt 28,20 zu Mk 1,1 wie die Einladung, den Inhalt des in Mt 28,20 Gebotenen nicht nur im Matthäus-, sondern auch im folgenden Markusevangelium zu suchen. Der Begriff »Evangelium« ist dabei dem Leser des Markusevangeliums, der vorher das Matthäusevangelium gelesen hat, bereits als etwas vertraut, das Jesus verkündet hat. Laut der Summarien Mt 4,23-25 und 9,35, die die Bergpredigt und die damit eng zusammenhängenden Heilungswunder rahmen (»Wort und Tat«), verkündet Jesus »das Evangelium vom Reich (Gottes)«. »Evangelium« ist damit bereits vor2 4 Mk 1,1 als ein zu verkündender und verkündeter Inhalt bekannt. Es han- 68 delt sich um eine frohe Botschaft für die Armen (Mt 11,5 mit dem Verb euaggelizomai unter Rückgriff auf J es 40, 9; 52,7 und vor allem 61, 1), das Evangelium wird vor dem Beginn der Endzeit und ihrer Nöte allen Völkern verkündet werden (Mt 24,14) - und wo immer es verkündet wird, wird man an die unbekannte Frau denken, die Jesus in Betanien für sein Begräbnis im Voraus salbte (Mt 26,13). 25 Der Leser des Markusevangeliums, der das Matthäusevangelium kennt, assoziiert bereits in Mk 1,1 mit »Evangelium« den Inhalt der christlichen Verkündigung in enger Verbindung mit dem Reich Gottes. Bestätigt wird dies durch Mk 1,14-15 (s.u.). Die Verbindung von »Jesus Christus« und »Sohn Gottes« ist ebenfalls bekannt. Bei Matthäus sind es immer andere, die dieses Epitheton über Jesus aussagen: der Teufel bei der Versuchung (Mt 4,3.6), die Dämonen (8,29), die Jünger (14,33), Petrus beim Messiasbekenntnis (16,16)," der Hohepriester beim Verhör (26,63), die Spötter unter dem Kreuz (27,40.43); der Hauptmann und seine Männer (27,54 ). Gerade letzteres Bekenntnis, das nicht mehr durch ein Schweigegebot J esu verhüllt wird, hat dem Leser bereits gezeigt, dass es wahr ist: Jesus ist der Sohn Gottes. Dieses Bekenntnis ist jedoch permanentem Zweifel ausgesetzt noch am Ende des Matthäusevangeliums hatten einige Jünger Zweifel (Mt 28,17), der im Text nicht aufgelöst wird. Dieser Passus macht den Leser sensibel für die im folgenden Markusevangelium mehrfach begegnenden Szenen, in denen es den Jüngern schwer fällt, das Tun und die Botschaft J esu nachzuvollziehen 27 somit werden auch eigene Identifikationen ermöglicht. Obwohl doch die Lektüre des gesamten Matthäusevangeliums hinter ihm liegt, könnte dem Leser der Zweifel an der Person J esu offen bleiben (Mt 28, 17) - und daher beginnt ja die Geschichte Jesu Christi noch einmal von Anfang an (archein Mk 1,1). 1 Anfang des Evangeliums J esu Christi, des Sohnes Gottes: 2 Wie geschrieben steht in dem Propheten Jesaja: »Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her; der soll den Weg für dich bahnen. 3 Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Ebnet ihm die Straßen! «, 4 so trat Johannes der Täufer in der Wüste auf ... Was nun in Mk 1,2-3 folgt, wirkt auf den Leser ZNT 12 (6.Jg. 2003) Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven des Matthäusevangeliums wie die Frage eines Lehrers, der mit einem Rätselspruch den Stoff der vergangenen Lektionen abfragt: Von wem ist hier die Rede? Dazu werden unter Rückgriff auf »uralte Prophetie« 28 Texte aus der Heiligen Schrift auf eine Vorläufergestalt appliziert, die fest im biblischen Kontext verankert wird - und damit auch das folgende Geschehen, das somit in das Licht des göttlichen Heilsplans getaucht wird. Weiterhin wird die Aufmerksamkeit des Lesers durch das Rätsel gefordert: Der Leser des Matthäusevangeliums hat ein deja-vu-Erlebnis und weiß die Antwort: So, wie es in Mk 1,2 heißt, hat] esus selbst in Mt 11,10 über Johannes den Täufer gesprochen. Durch diesen Rückverweis ist die Identifizierung mit Johannes dem Täufer gewährleistet und wird durch das Zitat aus Jes 40,3LXX, mit dem Johannes auch in Mt 3,3 verbunden wird, bestätigt. Die Fortsetzung in Mk 1,4, »so trat Johannes der Täufer auf«, ist dann keine Überraschung mehr. Bei der Taufe ]esu ist das »Problem«, dass der Sohn Gottes selbst sich bei Johannes taufen lässt, bereits durch die Darstellung im Matthäusevangelium »gelöst« (Mt 3,14-15), so dass hier die Frage nicht mehr aufkommt. Auch die Versuchung Jesu bei Mk 1,12-13 klingt für einen Leser des Matthäusevangeliums wie eine erinnernde Abbreviatur des in Mt 4,1-11 geschilderten Ereignisses. Mk 1,14a erwähnt die Gefangennahme des Täufers, dessen Ende der Leser des Matthäusevangeliums bereits kennt. Er weiß hier schon, dass Johannes enthauptet wird. Es überrascht ihn nicht, dass der Täufer als Vorläufer so rasch die Szene verlässt, um sie für das Auftreten Jesu frei zu machen. In Mk 6,14-16 wird Johannes bereits als tot vorausgesetzt auch kein Problem für einen Leser des Matthäusevangeliums. Für ihn ist der in Mk 6, 17-29 nachgeholte Bericht über das Ende des Johannes gleichsam eine Erinnerung (jedoch eine notwendige Aufklärung für die, die nur das Markusevangelium kennen). Mk 1,14 Nachdem Johannes (ins Gefängnis) überliefert worden war, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes 15 und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! Das programmatische Wort, mit dem Jesus seine Verkündigung im Markusevangelium beginnt ZNT 12 (6. Jg. 2003) (Mk 1,14-15), ist dominiert von den zentralen Stichworten »Evangelium« und »Reich Gottes« diese Verbindung aber kennt der Leser des Matthäusevangeliums bereits aus Mt 4,23 und 9,35, den Rahmenversen der Bergpredigt und der Heilungswunder (s.o.). Die Verkündigung Jesu und der Inhalt der Glaubensbotschaft werden in den Chiffren »Evangelium« und »Reich Gottes« zusammengefasst. Was aber ist der Inhalt dieser »Abbreviaturen«? Kennt man nur das Markusevangelium, bleibt das zunächst eine offene Frage, die im Verlauf des Textes durch die Schilderung von J esu Predigt, seinem heilenden Handeln, von Passion, Sterben und Auferstehen beantwortet wird. Für den Leser des Matthäusevangeliums ist dies jedoch schon bei der Lektüre von Mk 1,14-15 klar: Bei den Stichworten »Evangelium« und »Reich Gottes« klingt bereits das gesamte Matthäusevangelium (und darin vor allem die Bergpredigt und die Heilungen, also Mt 4-9) und dessen Botschaft nach. Für den Leser des Matthäusevangeliums ist der programmatische Satz Mk 1,14-15 eine Bestätigung und Affirmation des bereits Gelesenen. In dieser Weise könnte man fortfahren, die Leseperspektive dessen zu analysieren, der das Matthäusevangelium im Kopf hat und mit diesem Wissen an das Markusevangelium herangeht. 29 Dieses Vorhaben würde sicher zu einer Art »Kommentar« anwachsen und kann hier nicht weiter verfolgt werden. Die knappe Skizze zu Mk 1,1-15, die gewiss noch vertieft werden könnte, sollte aber gezeigt haben, dass dieses Unterfangen durchaus lohnend ist und neue Horizonte öffnet. Es läuft der üblichen Wahrnehmung zuwider: Aus der Sicht der Textentstehung gibt es an der »Markuspriorität« nichts zu rütteln, d.h. entstehungsgeschichtlich ist das Markusevangelium das älteste der synoptischen Evangelien. Auch in der gottesdienstlichen Verkündigung, die von der Fragmentierung in Lesejahre und Perikopen gekennzeichnet ist, wird das Markusevangelium so nie wahrgenommen. Das sind freilich keine Argumente gegen die Reflexion der Lektüre des Markusevangeliums aus der Sicht des Matthäusevangeliums. Ganz abwegig ist dieser Ansatz auch deswegen nicht, weil diese Vorgehensweise in einem anderen Literaturbereich häufig kaum reflektiert als selbstverständlich angesehen wird: bei der Identifizie- 69 rung und Lektüre von Fragmenten christlicher Apokryphen. Die Rekonstruktion nur fragmentarisch erhaltener apokrypher Texte bzw. ihr Verständnis ist z.T. nur aufgrund von Einträgen aus kanonischen Texten möglich. 30 Hier sind von leserorientierten Zugängen wie der hier skizzierten biblischen Auslegung sowohl ein höheres Reflexionsniveau als auch neue Perspektiven zu erwarten.' 1 Was predigt Paulus in seiner Mietwohnung am Ende der Apostelgeschichte? Den Römerbrief! Noch zwei Beispiele, von denen das zweite bereits monographisch ausgearbeitet wurde, seien angedeutet. Die biblische Auslegung kann besonders bei Übergängen und Endpositionen neue Horizonte erschließen. Das gilt auch für den »offenen Schluss« der Apostelgeschichte (Apg 28,16-31 ). 28 ... Treffend hat der Heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu euren Vätern gesagt: 26 Geh zu diesem Volk und sag: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen; sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. 27 Denn das Herz dieses Volkes ist hart geworden und mit ihren Ohren hören sie nur schwer und ihre Augen halten sie geschlossen, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihren Ohren nicht hören, damit sie mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen, damit sie sich nicht bekehren - und ich werde sie heilen. 28 Darum sollt ihr nun wissen: Den Heiden ist dieses Heil Gottes gesandt worden. Und sie werden hören! 29 ... 30 Er blieb zwei volle Jahre in seiner Mietwohnung und empfing alle, die zu ihm kamen. 31 Er verkündete das Reich Gottes und trug ungehindert und mit allem Freimut die Lehre über Jesus Christus, den Herrn, vor. In dem Zitat des Verstockungsauftrags von Jes 6, 9-10 32 laufen bestimmte Linien zusammen, denn in allen vier vorausgehenden Evangelien taucht dieses Zitat auf: bei den Synoptikern als Begründung für die Rede in Gleichnissen (Mt 13,14-15; Mk 4, 11-12; Lk 8, 10), bei Johannes in einer Rede Jesu darüber, dass »die Juden« nicht an ihn glauben (Joh 12,40). Damit endet die Apostelgeschichte mit der komplexen Problematik um Christen aus Juden und Heiden und das Verhältnis zwischen Juden und Christen. Eigentlich schien diese grundlegende Frage schon auf dem Aposteltreffen in Apg 15 behandelt und gelöst sie ist aber zentrales Thema des folgenden Römerbriefes. 70 Dies gilt auch und besonders, wenn anzunehmen ist, dass der Indikativ Futur im letzten Satz des Verstockungsauftrags in der Septuagintafassung eine Wendung zum Heil (»- und ich werde sie [dennoch] heilen«; so auch Mt 13,15; Joh 12,40) darstellt, die konzeptuell in die Apostelgeschichte übernommen wird." Der lukanische Paulus zeigt damit am Ende der Apostelgeschichte einen wenn auch verborgenen - Heilsweg Gottes für die Juden auf. Diese Tendenz entspricht ganz dem Anliegen des historischen Paulus im Römerbrief, wo er um die Rettung »Israels« ringt. Die offene Frage am Ende der Apostelgeschichte ist die nach dem Inhalt dessen, was Paulus in seiner Mietwohnung als »Reich Gottes« und »Lehre über Jesus Christus mit Freimut« verkündete. Aus der Leserperspektive der biblischen Auslegung gehört nun nicht viel Phantasie dazu um anzunehmen, dass dieser Inhalt mit dem identisch ist, was Paulus (vorher) an die Christen in Rom in einem Brief schrieb." Insofern »endet« die Apostelgeschichte eigentlich nicht, sondern lädt direkt zur Lektüre des folgenden Römerbriefes ein. Vom Schluss der Apostelgeschichte her stößt der Bibelleser nicht unvorbereitet auf die Grundproblematik des Römerbriefes. Paulus sieht sich zum Apostel der Heiden ausersehen (Röm 1,5), und so stellt sich für ihn die Frage nach dem Heil: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt, zuerst den Juden, aber ebenso den Griechen« (Röm 1,16). Es sind gerade diese Wendung »zuerst den Juden« und damit die Frage nach der Gültigkeit »des Gesetzes«, die für Paulus Anlass zu umfangreichen und tiefgehenden Ausführungen werden. Aus der Perspektive der biblischen Auslegung beginnt diese Fragestellung aber nicht im Römerbrief, sondern schon in den Evangelien, etwa an den Punkten, wo das Verstockungszitat aus J es 6, 9-10 auftaucht, um die Problematik des Verstehens der Rede vom Reich Gottes und damit der Grundbotschaft J esu sowie der Notwendigkeit der Entscheidung für ihn zu thematisieren." Die Linien werden am Ende der Apostelgeschichte gebündelt und auf den Römerbrief hingelenkt. All diese Beobachtungen notieren nicht Intentionen irgendwelcher Autoren oder Kompositoren des Kanons, sondern erfolgen deutlich auf der Ebene des Lesers, dem die christliche Bibel vor Augen steht und der offen ist für »die gewaltige Synoptik der Bibel«.' 6 ZNT 12 (6. Jg. 2003) Thomas Hiel<e Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven Offb 22,6-21 als Schlussstein der christlichen Bibel Der Schlussabschnitt der christlichen Bibel, Offb 22,6-21, findet in Beiträgen und Kommentaren relativ wenig Beachtung. Er gilt meist »nur« als Epilog der Apokalypse des Johannes. Unsicherheit besteht u.a. in der Frage, wer der jeweilige die Auffüllung aus einem anderen Reservoir. Als ein Beispiel sei die Aussage J esu » Ich bin der Wurzelspross« in 22,16 genannt: Ohne den Hintergrund vonJes 11,1.10 und den damit verknüpften messianischen Kontext ist dieser Satz banal oder unverständlich. Implementiert man aber die messianische Erwartung von Jes 11, die ja auch an anderen Stellen der christli- Sprecher der Zeilen ist. Dazu kann eine Reflexion des Lektürevorgangs in einem synchronen Ansatz größere Klarheit schaffen. 37 Man stellt fest, dass die Sprecherrolle mitunter wie bei einem Rätsel zunächst offen bleibt, dass dann aber ab einem bestimmten Punkt der Leser Gewissheit darüber erhält, dass hier Christus spricht. Durch den markanten Satz »Siehe, ich » All diese Beobachtungen· notieren nicht.Intentionen irgendwelcher Autoren oder Kompositoren des Kanons, sondern erfolgen deu#ich auf derEbene des Lesers, dem die christliche Bibel vor Augen chen Bibel rezipiert wird (vgl. Sir 47,22; Röm 15,12; Offb 5,5), in Offb 22,16, wird der Satz zu einer christologischen Spitzenaussage. Sodann sind zwei auffällige Motive in 22, 14 .19 zu nennen, deren anderweitige Bezeugung von ihrem Ort her signifikant ist: Der Baum des Lebens ist zunächst ein steht und. der offen ist für >die gewaltige Synoptik der Bibel«<. komme bald«, den nur der auferstandene und wiederkommende Jesus Christus sprechen kann, wird der Sprecher eindeutig identifiziert. Dem Leser bleibt dann nichts anderes übrig, als zum Ausgangspunkt seiner Vermutung zurückzukehren, diese zu revidieren und den Text erneut unter dem Eindruck des identifizierten Sprechers zu lesen. So ist beispielsweise in Offb 22,6 durchaus unklar, wer hier spricht. Eine erste Vermutung wäre der angelus interpres von 21,9, doch der Satz »Siehe, ich komme bald« in 22,7a macht deutlich, dass Christus spricht. 22,6 muss neu gelesen werden. Ebenso ist es bei 22,10-12: In 10a steht eine neue Redeeinleitung ohne Nennung des Sprechers. Vermutet man wieder, dass der vorherige Sprecher Subjekt ist, also der Engel, so wird man in 12 noch einmal durch den Satz »Siehe, ich komme bald« belehrt, dass ab 22,10 erneut Christus spricht. Durch Ernstnehmen der Sprecheridentifizierungen durch den leitwortartigen Satz und der Redeeinleitungen lassen sich die verschiedenen Sprecher in Offb 22,6-21 klar zuordnen wenngleich man mitunter zu mehrmaligem Lesen gezwungen ist. Der Text Offb 22,6-21 zwingt ferner zum Bibellesen. Zahlreiche Andeutungen verweisen auf Texte des Neuen und des Alten Testaments zurück, wobei das Einspielen der angespielten Texte für die Sinnkonstituierung notwendig ist. Offb 22,6-21 spricht in Abbreviatur und verlangt ZNT 12 (6. Jg. 2003) Rückverweis auf Offb 2,7, aber auch dort kommt der Text nicht ohne den Bezug auf den Anfang der christlichen Bibel im Buch Genesis (Gen 2,9; 3,22.24) aus. Das zweite Motiv ist die H eilige Stadt: Sie ist das himmlische Jerusalem der großartigen Schlussvision der Offb (21,9-22,5). Beide Motive werden in 22,14 und 19 verkoppelt. Dadurch entsteht in der Leserperspektive eine literarische Klammer von Gen bis Offb, vom ersten bis zum letzten Buch der christlichen Bibel. Die Motive »Baum des Lebens« und »Heilige Stadt« markieren den Anfang und das Ende von Schriften, die besondere göttliche Autorität und göttlichen Schutz genießen. Das verdeutlicht die eng damit verbundene Textsicherungsformel in 22,18-19: Das Wegnehmen von oder Hinzufügen zu dem gesicherten Bestand (vgl. Dtn 4,2; 13,1; Koh 3, 14; ferner J er 26,2 / LXX: 33,2; Spr 30,6) stellt der Sprecher unter die strenge Strafe des Ausschlusses vom Heil. Zusätzliches Gewicht erhält diese Sanktion durch die Identität des Sprechers: Es ist Jesus Christus selbst, denn die Einleitung in 22,18a »Ich bezeuge jedem« korrespondiert deutlich dem Satz in 20a »Er, der dies bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald«. Letzteren Satz kann nur Christus sprechen, und somit ist er es auch, der »dies bezeugt«. Damit hat die Textsicherungsformel durch ihren Sprecher Jesus Christus ungeheueres Gewicht und wirkt als Absicherung des Wortbestandes der Offenbarung des 71 Johannes reichlich überdimensioniert. Aus der Leserperspektive lässt sich allerdings die Textsicherungsformel auch auf etwas anderes beziehen als nur das Buch Offb: In den wenigen Versen von Offb 22,6-21 begegnet mehrfach die Wendung »diese Worte« (22,6) bzw. »die Worte der Prophetie dieses Buches« (22,7.9.10.18.19). Bei näherer ehe Bibel damit zu identifizieren (ohne dass damit deren Umfang und Abfolge im Sinne des »Kanon« in allen Details fixiert wäre). Das Heil Gottes, »die Gnade des Herrn Jesus« kann nun wirklich mit allen sein, die sich an die Worte der Prophetie dieses Buches halten. Unter diesen Beobachtungen, die längst die Betrachtung der kontextuellen Einbettung dieser Wendung drängt sich der Eindruck auf, dass es nicht nur um die Apokalypse des J ohannes geht, sondern um die gesamte verschriftete göttliche Offenbarung, so dass sich »die Worte der Prophetie dieses Buches« durchaus auf die christliche Bibel beziehen las- »Durch die Beteiligungje neuer Leserinnen und Leser an derSinnkonstituierung entstehen durch deren neue Begrenztheit historischer Autoren und Kompositoren übersteigen, erweist sich Offb 22,6-21 als Schlussstein der christlichen Bibel. Hier wird das Konzept des universalen Heilswillens Gottes formuliert, der für alle gilt, die sich an die Worte der Prophetie dieses Buches halten, wobei »dieses Buch« die gesamte Kontex.te immer wieder andere I nterpretationsmoglichkeiten, die es am. Text zu verifizieren gilt.« sen. Die oben erwähnte literarische Klammer durch die Motive »Baum des Lebens« (Gen 2) und »Heilige Stadt« (Offb 21) unterstützt diese Leseweise erheblich. Auch die Seligpreisung dessen, der »die Worte der Prophetie dieses Buches einhält« (griech. tereö) in 22,7 spricht für diese Deutung, denn es ist nicht einzusehen, dass allein Offb alle göttlichen Weisungen beinhalte, deren Einhaltung zur Seligkeit führt. Vielmehr verweist die Verwendung des Wortes tereö in Verbindung mit Worten oder Geboten auf zahlreiche andere Stellen in der christlichen Bibel zurück. Schließlich stellt sich der Engel in 22,9 mit dem Seher Johannes (»du«), allen Propheten und allen, die die Worte dieses Buches halten, auf eine Stufe: Alle sind Mitknechte (griech. syndouloi) vor Gott. Um in diesen Kreis zu gelangen, muss man die Worte dieses Buches einhalten die Offenbarung Gottes aber liegt, wie 22,10 betont, schriftlich und unversiegelt vor, so dass durch das Medium »Buch« der Kreis der möglichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ins Universale steigt. Die voraus liegende christliche Bibel umfasst, deren Lektüre wiederum für das angemessene Verstehen von Offb 22,6-21 unabdingbar ist. Ermutigung zum Bibellesen An vier Beispielen wurde angedeutet, welche neuen Horizonte »biblische Auslegung« am Neuen Testament aufzeigen kann. Vieles müsste noch weiter ausgearbeitet und vertieft werden, wobei aber die Analyse aufgrund der Kontextvernetzung und der Notwendigkeit, im Grunde immer »alles« mit im Blick zu haben, leicht die Ausmaße eines Zeitschriftenbeitrags übersteigt. Zugleich sei betont, dass der Vorgang der biblischen Auslegung prinzipiell nie abgeschlossen ist. Durch die Beteiligung je neuer Leserinnen und Leser an der Sinnkonstituierung entstehen durch deren neue Kontexte immer wieder andere Interpretationsmöglichkeiten, die es am Text zu verifizieren gilt. Auch das Ausloten textimmanenter Strukturen und Strategien Schriftform übersteigt alle Grenzen der Verkündigung von Raum und Zeit. »Dieses Buch« wird zum Schlüssel » Man kann nicht alles mit (»Modell-Leser«) ist nie zu Ende, da andere Konstellationen und Fragestellungen je neuer konkreter Leserinnen einem Text beweisen oder machen,« und zum Weg der Gemeinschaft mit Gott so ist es kaum mehr angemessen, darin »nur« die Offenbarung des Johannes zu sehen, sondern es liegt näher, die vom Baum des Lebens bis zur Heiligen Stadt reichende christli- 72 und Leser mitunter auch neue, im Text verankerte Signale zu Tage fördern. Diese Gedanken sind eine Ermutigung zum Bibellesen und Bibelverstehen. Eine solche Bibellektüre ist auch ohne vertiefte historisch-kritische ZNT 12 (6. Jg. 2003) Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven Vorkenntnisse möglich. 38 Schließlich geht es um Sinnvermutungen und Interpretationen von Leserinnen und Lesern, die ihre jeweilige Perspektive in den Rezeptionsvorgang und die Sinnkonstituierung einbringen. Voraussetzung ist dabei, dass man nicht den Anspruch erhebt, den »einzigen wahren Sinn« erheben zu wollen oder herausfinden zu wollen, »was der Autor damit sagen wollte«. Man kann vielmehr zunächst beobachten und reflektieren, was Leserinnen und Leser in einem Text sehen und wie der Text seinen Modell-Leser (jetzt als textimmanentes Konzept) durch Einforderung von Vorwissen und der Kenntnis anderer Texte formt. Aufgabe der wissenschaftlichen biblischen Auslegung ist es, derartige Vorgänge kritisch-reflektierend zu begleiten, Interpretationsvorschläge zu sammeln und gegeneinander abzuwägen. Ausklang: Die Grenzen der Interpretation Kann man mit Goethe und der Bibel alles beweisen, wie meine geschätzte Deutschlehrerin mit Augenzwinkern zu sagen pflegte? Die biblische Auslegung, wie sie hier skizziert wird, könnte dem Verdacht ausgesetzt sein, hier breche sich eine ungezügelte Entdeckerlust Bahn, die mit einem Text »alles machen« könne. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass es einerseits durchaus Freude bereiten kann, am Neuen Testament immer wieder neue Facetten und Sinnmöglichkeiten zu entdecken warum soll Bibellektüre keine Freude bereiten? Wenn aber andererseits »Entdeckerfreude« negativ (im Sinne von Willkür) gemeint ist, muss abschließend gezeigt werden, dass biblische Auslegung Grenzen kennt. Man kann nicht alles mit einem Text beweisen oder machen. Die Diktion ist an sich schon verräterisch: Wer etwas mit einem Text beweisen oder »machen« will, will ihn gar nicht auslegen, sondern gebrauchen, schlimmstenfalls missbrauchen. Gegen seinen Gebrauch (und Missbrauch) kann sich ein Text nicht wehren. Für die interessengeleitete »Verwendung« biblischer Texte zum »Beweis« bestimmter Auffassungen lassen sich zahllose Bei- ZNT 12 (6. Jg. 2003) spiele in Vergangenheit und Gegenwart anführen. In diesen Fällen geht es aber nie um Auslegung (Interpretation), sondern um Gebrauch oder Missbrauch.39 Dem Text wird dann kein eigenes Recht zugestanden, sondern er ist Mittel zum Zweck, Argumentationsmaterial für bestimmte Interessen. Davon ist »Auslegung« grundsätzlich zu unterscheiden. Die Auslegung oder Interpretation gesteht dem Text ein eigenes Recht zu und suchtfast wie bei einer menschlichen Person, die unbedingt zu respektieren ist nach den ureigenen Aussagen dieses Textes, die er in Kooperation mit seinem Kontext und der Welt der Leserinnen und Leser treffen kann. Dieser Respekt vor dem Text gebietet es, Interpretationsvorschläge am Text selbst zu verifizieren.4° Deckt der Text (an welchen Stellen, mit welchen Signalen, Strukturen, etc.) die vorgeschlagene Lektüre noch? Steht die Interpretation im Einklang mit dem Kontext, oder wird durch Isolierung (Perikopisierung) der Text nur »einseitig« wahrgenommen? 41 Ist die Grenze zum Gebrauch überschritten, weil die Interessen der Leser zu dominant wurden? Biblische Auslegung hat hier ein großes Aufgabenfeld der Prüfung und Reflexion. Ein weiteres Kriterium, das Grenzen der Interpretation aufzeigt, ist die Auslegungsgemeinschaft. Biblische Auslegung ist nicht Sache eines Einzelnen, der in Aufbietung seines gesamten Wissens und seiner subjektiven Rationalität »den« Sinn des Textes »herausfindet« und ihn in einem Kommentar oder einer Lehrentscheidung »festlegt«, sondern ein offener Prozess, der seine Kontrolle durch den gegenseitigen Austausch von Lektürevorgängen und Sinnkonstituierungen erfährt. Biblische Auslegung lebt vom Diskurs und entspricht damit dem Paradigma der Wissenschaftlichkeit von Verifizierung und Falsifizierung im gegenseitigen, öffentlichen und nachvollziehbaren Austausch.42 Die Auslegungsgemeinschaften können dabei sehr unterschiedlich strukturiert sein (ein Bibelkreis, ein akademisches Seminar, ein Kongress von Bibelwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, eine Bischofskonferenz, eine 73 Synode, eine christliche Konfession usw.). Im Austausch der Interpretationsvorschläge wird sofern keine sekundären Gebrauchsinteressen hereinspielen deutlich werden, welche Sinnkonstituierungen noch textgemäß (und allgemein nachvollziehbar) sind und welche nicht. Die Auslegungsgemeinschaft als community of faith and practice bestimmt letztlich, ob und in wie weit sich welche Auslegungen (normativ) auf die praktische Lebensgestaltung auswirken. Die biblische Auslegung zielt damit auch nicht primär auf Applikation und Anwendung der Texte,43 sondern zuerst auf ihr Verstehen im biblischen Kontext, auf die Reflexion möglicher Lesevorgänge und Sinnkonstituierungen der mehrdimensionalen Texte. Dazu gibt es methodisch wie inhaltlich stets neue Horizonte zu beschreiben. Anmerkungen ' Eine umfassende Aufarbeitung der Diskussion nimmt monographische Ausmaße an. Es seien nur einige neuere Sammelbände genannt, z.B. F.-L. Hossfeld, (Hrsg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg/ Br. 2001; L.M. McDonald/ JA. Sanders (Eds.), The Canon Debate, Peabody, MA 2002; H.J. de Jonge / J.M. Auwers (Eds.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003. 2 Vgl. dazu grundlegend und maßgeblich G. Steins, Die »Bindung Isaaks« im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre (HBS 20), Freiburg/ Br. 1999, 99 u.ö., sowie seinen Beitrag im Sammelband »The Biblical Canons« (n.l). 3 Vgl. dazu die grundlegende Studie von P. Brandt, Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel (BBB 131), Berlin 2001. 4 Ist es selbstverständlich, dass neutestamentliche Exegese immer von der neuesten Auflage des »Nestle-Aland« ausgeht? Suggeriert etwa eine solche Selbstverständlichkeit, hier hätte man »den Urtext« des Neuen Testaments in Reinform und könnte gar eine Jahrhunderte lange Textgeschichte überspringen? Ist man sich bewusst, dass »Nestle-Aland« ein Produkt des 20. Jahrhunderts ist, ein »Codex«, wie er vorher so nie bestanden hat? Damit soll in keiner Weise die herausragende Leistung und der gewaltige Fortschritt einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments in Frage gestellt werden - und es ist nur vernünftig, von dieser Ausgabe her die wissenschaftliche Exegese zu beginnen. Es soll nur in Erinnerung gerufen werden, dass die Entscheidung für eine bestimmte Textgrundlage eine bewusste ist und reflektiert werden sollte. 5 Problematisch erscheinen Mischformen in den Übersetzungen, wenn etwa die katholische Einheitsübersetzung eine Zusammenstellung aus der Übersetzung des maso- 74 retischen Texts (MT) in Septuaginta-Abfolge mit eingestreuten, nur in der Septuaginta enthaltenen Texten ist, wobei die vom Konzil von Trient 1546 an der Vulgata festgelegte Auswahl der kanonischen Bücher zugrunde gelegt wurde. 6 Vgl. die Anwendung am Beispiel der Genealogien des Buches Genesis in T. Hieke, Die Genealogien der Genesis (HBS 39), Freiburg/ Br. 2003. Methodische Darlegung und Textarbeit werden in folgender Studie zu Offb 22,6-21 verbunden: T. Hieke/ T. Nicklas, »Die Worte der Prophetie dieses Buches« Offb 22,6-21 als Schlussstein der christlichen Bibel gelesen (Biblisch- Theologische Studien 62), Neukirchen-Vluyn 2003. 7 Vgl. zu dieser Definition von Text K. Ehlich, Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung, in: A. Assmann/ J. Assmann/ C. Hardmeier (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München 1983, 24-43: 32-39. • Vgl. u.a. T. Veijola, Text, Wissenschaft und Glaube. Überlegungen eines Alttestamentlers zur Lösung des Grundproblems der biblischen Hermeneutik, Jahrbuch für Biblische Theologie 15 (2000) 313-339: 330; U.H.J. Körtner, Spiritualität ohne Exegese? Pneumatologische Erwägungen zur biblischen Hermeneutik, Amt und Gemeinde 53 (2002) 41-54: 51. 9 Vgl. Steins, Bindung, 85-94; R. Scoralick, Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Exodus 34,6f. und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch (HBS 33), Freiburg/ Br. 2002. 10 Biblische Auslegung arbeitet schon von ihrer Zielvorgabe, dem Verstehen biblischer Texte im Kontext der Bibel, her vornehmlich intertextuell: Sie beschreibt die Text-Text-Relationen, die zwischen dem Untersuchungstext (Hypertext) und den bezogenen Texten (Hypotexen) bestehen und wertet die beobachteten Analogien interpretatorisch aus: Welchen Einfluss haben die Hypotexte auf den Hypertext? Welches neue Gesamtbild ergibt sich? Wie werden die Hypotexte aufgrund ihrer Rezeption in einem anderen (»neuen«) Text anders bzw. neu gelesen? 11 Vgl. U. Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1999, 18-19. Ein solcher Modell-Leser besitzt nach U. Eco, Grenzen der Interpretation, München 1992, 148, »die Art von Kompetenz, die ein bestimmter Text postuliert, um ökonomisch interpretiert zu werden.« Bei H. Link, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1980, 86-89, begegnet der problematischere Begriff »idealer Leser«. 12 Daher ist »er« nicht »maskulin«. Eine Differenzierung in »Leser/ in« wäre irreführend. 1' Eco, Im Wald, 122-123. 14 Zur Begründung der Übersetzung »Buch der Geschichte« vgl. T. Hieke, BIBLOS GENESEOS. Mt 1,1 vom Buch Genesis her gelesen, in: H.J. De Jonge/ J.-M. Auwers (Eds.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 635-649. 15 Diese Beobachtung impliziert die Entscheidung für »die griechische christliche Bibel« als den privilegierten Kontextraum. Vgl. die Option für den sog. »Septuaginta-Kanon« bei Hieke/ Nicklas, Worte, 113-124. 16 Die Septuaginta ist in Gen 5,la wörtlich so zu übersetzen: »Dies ist das Buch der Entstehung (oder: Geschich- ZNT 12 (6. Jg. 2003) Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspel<tiven te) der Menschen (oder: Menschheit) ... «. An Stelle von »Adam« im masoretischen Text steht in der Septuaginta der Genitiv Plural anthropon, der wohl am besten mit »Menschheit« zu übersetzen ist. 17 Der Rückverweis auf Abraham führt auch in die so genannte »Urgeschichte«, also vor Gen 12 zurück, da Abraham eng in das gesamte genealogische System der Genesis eingebunden ist. Auch die Wendung biblos geneseos in Mt 1,1 verweist auf Gen 5,1 und auf Gen 2,4 LXX zurück. 18 Vgl. dazu weiterführend den Exkurs über die Frauen in der Genealogie J esu bei Hieke, Genealogien. 19 Vgl. u.a. B. Teuwsen, Die Frauen in der toledot/ genealogie des Evangeliums nach Matthäus (Mt 1,1-25), Wort und Antwort 42 (2001) 111-114: 112-113. 20 Vgl. H. Frankemölle, Matthäuskommentar 1, Düsseldorf 1 1999, 142. 21 R. Oberforcher, Die jüdische Wurzel des Messias Jesus aus Nazaret. Die Genealogien Jesu im biblischen Horizont, in: M. Öhler, (Hrsg.), Alttestamentliche Gestalten im Neuen Testament, Darmstadt 1999, 5-26: 20. 22 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28) (EKK I/ 4), Düsseldorf und Zürich/ Neukirchen-Vluyn 2002, 455, nennt das im Anschluss an Maises Mayordomo-Marin eine >»Selbstkanonisierung< in nuce«: Das matthäische Buch enthalte die Gebote J esu, welche als Evangelium vom Reich allen Völkern zu verkündigen seien. Luz sieht hier einen Hinweis auf dem Weg zum neutestamentlichen Kanon. 23 Grammatikalisch kann der Genitiv I esou Christau sowohl als Evangelium des Jesus Christus als auch als Evangelium über/ von Jesus Christus interpretiert werden. In beiden Fällen ist der Anschluss an Mt 28 sinnvoll. - Die textkritisch unsichere Wendung hyiou theou, »Sohn Gottes«, wird hier als Bestandteil des auszulegenden Textes angesehen. 24 Dieses »vor« ist nicht zeirlich-textgenetisch aufzufassen, sondern bezieht sich auf die biblische Anordnung der Evangelien. 25 Ein praktisches Arbeitswerkzeug, das neben den Belegen im Kontext auch die synoptischen Parallelen liefert und so unter diachronem, textgenetischen Aspekt - Rezeptions- und Redaktionsprozesse zeigt, aber auch unter synchronem, »gesamtbiblischen« Aspekt den Blick für intersynoptische Lektürevorgänge schärft, ist die »Synoptische Konkordanz«: P. Hoffmann/ T. Hieke / U. Bauer, Synoptic Concordance, 4 Bände, Berlin/ New York 1999-2000. 26 Ferner die göttliche Stimme aus der Wolke bei der Verklärung: »mein geliebter Sohn«, Mt 17,5. 27 Vgl. dazu u.a. K. Scho! tissek, »Augen habt ihr und seht nicht und Ohren habt ihr und hört nicht? « (Mk 8,18). Lernprozesse der Jünger Jesu im Markusevangelium, in: C. Niemand (Hrsg.), Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt. Festschrift für Albert Fuchs (Linzer philosophisch-theologische Beiträge 7), Frankfurt am Main 2002, 191-222. 28 Der erwähnte Prophet Jesaja steht hier als allgemeine Chiffre für »uralte Prophetie«. Da bedeutet es für die Lektüre kein großes Problem, dass Mk 1,2 eigentlich ein Mischzitat aus Mal 3,1 und Ex 23,20 ist und erst in Mk 1,3 aus Jes 40,3LXX zitiert wird. 29 Diese Leseweise steht im programmatischen Gegensatz zum Anliegen von B. van Iersel, Markuskommentar, ZNT 12 (6. Jg. 2003) Düsseldorf 1993, 60, der bewusst das Markusevangelium ohne Vorwissen aus dem Matthäusevangelium liest. Eine solche Perspektive ist ebenfalls begründet und legitim, vor allem, da sie am Anfang des Kommentars klar herausgestellt wird. Methodisch hat der hier skizzierte leserorientierte und textzentrierte Lektüreansatz viel mit dem Konzept B. van Iersels (vgl. dort S. 55-60) gememsam. 30 Dies zeigt am Beispiel des sog. »Petrusevangeliums« T. Nicklas, Ein »neutestamentliches Apokryphon«? Zum umstrittenen Kanonbezug des sog. »Petrusevangeliums«, VigChr 56 (2002) 260-272. 31 Ich danke meinem Kollegen T. Nicklas, Regensburg, für die Einsichtnahme in sein Habilitationsprojekt mit dem Arbeitstitel »Christliche Apokryphen: Praxis eines hermeneutischen und methodischen Programms am Beispiel des sog. ,Egerton-Evangeliums«<. 32 Vgl. M. Karrer, »Und ich werde sie heilen«. Das Verstockungsmotiv aus Jes 6,9f. in Apg 28,26f., in: M. Karrer / W. Kraus/ 0. Merk (Hrsg.), Kirche und Volk Gottes, FS J. Roloff, Neukirchen-Vluyn 2000, 255-271. 33 Vgl. Karrer, Verstockungsmotiv, 271. 34 Vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Exegese im kanonischen Zusammenhang: Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gestalt des neutestamentlichen Kanons, in: H.J. De Jonge/ J.-M. Auwers (Eds.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 557-584: 568. 35 Wo auch die indikativische Heilswende der Septuagintafassung zitiert wird (Mt 13,15; Joh 12,40; Apg 28,27), ist der Aspekt der (geheimnisvollen) Rettung Israels durch Gott bereits angesprochen, so dass sich die Ausführungen des Paulus dazu im Römerbrief (v.a. Röm 9- 11) wie eine theologische Aufgipfelung und Lösung lesen lassen. 36 Diese Wendung von M. Buber, Zur Verdeutschung des letzten Bandes der Schrift. Beilage zu »Die Schriftwerke«, Köln/ Olten 1962, 3, die er auf die Bezüge zwischen Propheten und Pentateuch, zwischen Psalmen und Pentateuch, zwischen Psalmen und Propheten der hebräischen Bibel hin formuliert, darf getrost auch auf die christliche Bibel übertragen werden und als Einladung zur leserorientierten »biblischen Auslegung« verstanden werden. 37 Vgl. zum Folgenden: Hieke/ Nicklas, Worte, v.a. 108-112. 38 Vgl. S. Alkier, Fremdes Verstehen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften, ZNT 11 (2003) 48-59: 53-54. 39 Den Unterschied zwischen Interpretieren und Benutzen von Texten faltet Eco, Grenzen, 47-48, aus. Trotz der Skepsis von Alkier, Fremdes Verstehen, 52, scheint mir doch diese Unterscheidung hilfreich und auch durchführbar zu sein. 40 »Darum muß ein Text als Parameter seiner Interpretationen dienen«, so Eco, Grenzen, 51. Vgl. auch die Darlegungen zum Respekt gegenüber dem biblischen Text von Alkier, Fremdes Verstehen, 50-52. Alkier nennt das Ernstnehmen eines Textes als Äußerung eines Anderen das »Realitätskriterium« der Exegese. 41 »Die Pluralität des Kanons ... schützt vor ideologischer Ausschlachtung des Kanons, einer dogmatischen Belegstellenexegese, die einzelne Texte oder Textstellen zur Begründung der eigenen eindeutigen Position heranzieht«, so Alkier, Fremdes Verstehen, 58. 42 Alkier, Fremdes Verstehen, 53, spricht vom »Sozietäts- 75 kriterium« und betont mit Recht, dass es dabei nicht um gleich-gültige Beliebigkeit geht, sondern um ein »Gemeinsam lernen«. 43 Das heißt nicht, dass biblische Auslegung »wirkungslos« im Blick auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse sei oder sein müsse. Mit Alkier, Fremdes Verstehen, 54-55, ist zu unterstreichen, dass die gewählte Hermeneutik, Methodik, Thematik und Fragestellung der Exegese auf ihre gesellschaftliche Wirkung hin zu befragen sei. Alkier nennt dies das »Kontextualitätskriterium«. 76 Vorschau auf Heft 13 Neues Testament aktuell: Jürgen Zangenberg, Archäologie heute Zum Thema: Axel von Dobbeler, Der Exeget als Historiker und Theologe Günter Röhser, »Christus ist mein Leben« - Leben und ewiges Leben nach dem Neuen Testament Rita Müller-Fieberg, Aufnahme der Johannesapokalypse in der neueren Literatur Kontroverse: »Petrus - Bischofsamt - Kirche« Christfried Böttrich versus Martin Ebner Hermeneutik und Vermittlung: Hanna Roose / Gerhard Büttner, Moderne und historische Laienexegese von Lk 16,1-13 im Lichte der neutestamentlichen Diskussion Buchreport: Dirk Frickenschmidt rezensiert Ricarda Sohns, Verstehen als Zwiesprache. Hermeneutische Entwürfe in Exegese und Religionspädagogik, Münster u.a. 2003 Die ZNT im Internet www.znt-online.de ZNTonline - Neues auf der Homepage Seit einigen Wochen finden Sie eine neue Rezension von Günter Röhser auf den Internet-Seiten der ZNT. Besprochen wird das Buch von Thomas Knöppler, Sühne im Neuen Testament. Studien zum urchristlichen Verständnis der Heilsbedeutung des Todes Jesu (WMANT 88), Neukirchen-Vluyn 2001. Sie können den Artikel in der Rubrik »Bücher & Medien« online lesen oder als pdf-Dokument speichern bzw. ausdrucken. Außerdem ist zur ZNT eine neue Informationsbroschüre erschienen, die Sie auch auf unserer Homepage (unter der Rubrik »Hintergrund«) lesen, speichern oder ausdrucken können. Seit einigen Monaten können Besucher von ZNTonline direkt über die Homepage neue Bücher bestellen. Wir ergänzen dieses Angebot nun durch einen Link zum weltweit größten Anbieter von gebrauchten Büchern im Internet www.abebooks.de. ZNTonline im Blickpunkt Unter der Rubrik Service stellen wir ein Formular für (Nach-)Bestellungen von Einzelheften sowie für Abonnements der ZNT zur Verfügung. Dort finden Sie auch einen Link direkt zur Bestellseite des Francke-Verlags. Bitte nutzen Sie dieses Angebot für Ihre Bestellungen direkt beim Verlag. ZNTonline zum Thema Auch zum Thema dieser ZNT-Ausgabe findet man eine Reihe von Informationen in WorldWideWeb. Einige sollen hier vorgestellt werden: • http: / / www.ntcanon.org Diese Seite stellt Informationen zum Thema Kanon aus verschiedenen Monographien zusammen und ergänzt diese durch ein vielfältiges Angebot an Zeittafeln, Überblicksdarstellungen und Grafiken. • http: / / www.ntgateway.com/ patristi.htm#canon Die Kanonseite von www.ntgateway.com stellt verschiedene Online-Artikel zum Thema zur Verfügung. • http: / / www.joerg-sieger.de/ einleit/ nt/ 07kan/ nt_e7.htm Auch die Online-Einleitung ins NT von Jörg Sieger bietet Informationen zur Entstehung des biblischen Kanons und diskutiert darüber hinaus noch Kriterien, die zur Kanonbildung führten. Wenn Sie weitere Link-Vorschläge zum Thema »Kanon« oder zu anderen Themenheften der ZNT haben, senden Sie diese bitte an info@znt-online.de. Wir können Ihre Ergänzungen dann auf der Homepage (interaktiv/ Themen-Links) aufführen. Michael Schneider Webmaster www.znt-online.de ZNT 12 (6. Jg. 2003)