eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/32

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1632 Dronsch Strecker Vogel

»Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft

2013
Hanna Roose
Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 2 - 2. Korrektur 2 ZNT 32 (16. Jg. 2013) 1. »Sünde« in der Gesellschaft Grüne Blätter, Sonnenschein, Vogelgezwitscher, im Hintergrund Glockengeläut. Das Gesicht einer jungen Frau, an der Kleidung als Nonne zu erkennen, kommt ins Bild. Sie stöhnt erschrocken und erregt auf und fragt: »Ist das nicht eigentlich eine Sünde? « Eine ältere Nonne kommt ins Bild. Sie zuckt zusammen und zieht erschrocken Luft zwischen den Zähnen ein. Zwischen beiden Nonnen sitzt eine dritte, deutlich ältere Nonne. Sie erklärt bestimmt: »Nee, schmeckt nur so.« Die beiden anderen Nonnen atmen erleichtert auf. Jetzt erkennt man, dass die drei mit Hingabe Pudding löffeln. Eine männliche Stimme aus dem off erklärt: »Neu, Light- Pudding von Dr. Oetker. Nur 0,1 % Fett. Und unglaublich schokoladig und cremig. Schmeckt sündhaft, ist er aber nicht. Light-Pudding. Neu von Dr. Oetker.« 1 Dieser Werbespot verrät viel darüber, wie »Sünde« in unserer Gesellschaft konnotiert ist. Da sind zunächst Anklänge an das biblische Paradies: die grünen Blätter, der Sonnenschein, das Vogelgezwitscher. Die religiöse Konnotation wird verstärkt durch das Glockengeläut und dann natürlich durch die Kleidung der Frauen, die sie als Nonnen ausweist. »Sünde« wird außerdem mit Sex, mit sexueller Erregung, in Verbindung gebracht. Die junge Nonne stöhnt erregt auf. Sie hat gerade etwas sehr Schönes erfahren. Doch statt zu genießen, erschrickt sie und fragt besorgt: »Ist das nicht eigentlich Sünde? « Unter Sünde versteht sie offenbar eine Handlung, eine Tat. Worin diese Tat besteht, kann der Zuschauer nur vermuten. Wie kommt die Nonne auf die Idee, dass genussvolle Handlungen Sünde sein könnten? Hier schwingt das gesellschaftliche Bild eines kirchlich geprägten Ethos mit, das Genuss-- und insbesondere sexuellen Genuss- - als Sünde brandmarkt und also verbietet. Der Sündenfall führt-- so lehrt es doch die Bibel-- zur Vertreibung aus dem Paradies. Die zweite Nonne, die ins Bild kommt, scheint diese Befürchtung zu bestätigen. Sie zuckt zusammen und hält in dem, was sie tut, inne. Die ältere Nonne hingegen wischt die Bedenken fort: Was sie tun, ist keine Sünde. Jetzt wird aber auch klar, dass es gar nicht um Sex geht, sondern um Essen. Hier kommt eine dritte Konnotation zum Tragen: »Sünde« wird mit dick machendem, kalorienreichem und reichhaltigem Essen assoziiert. Die Nonnen begehen mit dem Essen des Puddings keine Sünde, weil er nur 0,1 % Fett enthält. »Sünde« gilt also einerseits als etwas Triviales, andererseits als etwas Schönes, Sinnliches, Begehrenswertes, Verlockendes. Beide Konnotationen markieren eine deutliche komplizenhafte Distanz zu und Kritik an einer der Kirche zugeschriebenen Sündenlehre, nach der Sünde(n) über unser »ewiges« Heil oder Unheil entscheiden und die alles als »verboten« brandmarkt, was Menschen-- zu Recht-- genießen. Der Werbespot spielt mit den-- der Lächerlichkeit preisgegebenen-- Vorstellungen »der Kirche« zu »Sünde«, er vertraut darauf, dass die große Mehrheit der Fernsehzuschauer diese implizite Wertung teilt. Insofern präsentiert der Spot eine kritische Außensicht auf Kirche, die auf breite gesellschaftliche Zustimmung hofft. Allerdings ist diese Außensicht so stark ironisiert und überspitzt, dass durchaus auch Personen, die sich der Kirche zugehörig fühlen, mitlachen können. Der Umschlag von sexuellen Anklängen auf das Essen eines kalorienarmen Puddings hat etwas Komisches. In einem Brainstorming, den Jugendliche einer 9./ 10. Klasse zu dem Impuls »Sünde ist…« durchführen, benennen sie z.T. ganz ähnliche, z.T. auch andere Items: • Essen wegwerfen • Filme »runterladen« • Heimlich rauchen • Töten • Stehlen • Sex vor der Ehe • Etwas Verbotenes machen 2 Das letzte Item fasst die vorangehenden zusammen: Die Jugendlichen verstehen unter »Sünde« das, was verboten ist. Es ist aber nicht so, dass die Jugendlichen der Meinung wären, alle von ihnen genannten Handlungen sollten tatsächlich verboten sein. Weiterführend ist vielmehr die Frage, aus wessen Sicht die einzelnen Handlungen ihrer Meinung nach verboten sind. Am ehesten gehen die Jugendlichen damit konform, dass Töten und Stehlen verboten seien. Hier sehen sie eine Verbindung zu den 10 Geboten. Essen wegwerfen und heimlich rauchen sind Tätigkeiten, die die Eltern (unnötigerweise) verbieten, Filme »runterzuladen« verbietet Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft Neues Testament aktuell Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 3 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 3 Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft 2. »Sünde« in der Kirche Der gesellschaftliche Gebrauch von »Sünde« impliziert einen Blick von außen auf die Kirche und ihren Gebrauch von »Sünde«. Wie verhält sich diese gesellschaftliche Außensicht zu einer kirchlichen Binnensicht? Drei kirchliche Stimmen kommen hier zu Wort: ein evangelischer Schulpastor aus Hamburg, eine Superintendentin der Hannoverschen Landeskirche und ein Pastor einer freikirchlichen Gemeinde aus Lüneburg. Der evangelische Schulpastor äußert sich wie folgt zu der Frage, welche Rolle »Sünde« in seiner beruflichen Tätigkeit spielt: »Spielt im umgangssprachlichen Zusammenhang das Wort eine gewisse Rolle, um Fehler und Übertretungen zu benennen, z. B. Verkehrssünder, Temposünder, Steuersünder, Alkoholsünder, so ist diese Festlegung innerkirchlich deutlich anders. Zwar ist Sünde, im Sinne von Trennung von Gott, ein theologisch klarer Sachverhalt, trotzdem hat es den Eindruck, dass in der binnenkirchlichen Kommunikation der Begriff Sünde gemieden wird. Die Ursache liegt wohl in der Wirkungsgeschichte. Sünde wurde lange Jahre seitens der Kirche dermaßen moralisch aufgeladen verwendet, dass diese Verwendung durchaus verheerende Spuren hinterlassen hat. Die die Sünde brandmarkende Kirche ist zum Klischee verkommen und wird auch heute noch, gerade von Kirchenfernen, als das Bild von Kirche wahrgenommen, mit der man schon lange nichts zu tun haben wollte und will. Diese bigotte Moralanstalt, die andere als Sünder bezeichnet und selbst den eigenen Ansprüchen nicht genügt, ist für viele auch heute noch das existierende Bild von Kirche und jeder Vorfall, z. B. sexueller Missbrauch, der daran rührt, bestätigt dieses Bild. Innerhalb der evang. Kirche und seitens evang. Geistlicher wird der Begriff Sünde weitgehendst gemieden. Die Verwechslungsgefahr des theol. Begriffs mit dem moralinsauren Zeigefinger ist zu groß. Sünde ist insofern nicht ›predigttauglich‹. Die eigene Geschichte hemmt sehr, diesen Begriff aktuell zu verwenden. Nur auf dem evangelikalen Rand wird hier unvoreingenommener agiert. Gleichwohl ist der Sachverhalt, den der Begriff meint, nicht verschwunden. Die Kirche äußert sich insofern zu bestimmten ethischen Fragen in umfassenden und abgewogenen Denkschriften, ohne jedoch hier in dem Sinne eindeutig Stellung zu beziehen, dass man klar ein Verhalten als (Tat)Sünde bezeichnet.« Diese Stellungnahme setzt der gesellschaftlichen Wahrnehmung von »Sünde« als »moralinsaurem Zeigefinger« ein theologisches Verständnis im Sinne von »Trennung (ärgerlicherweise) das Gesetz, Sex vor der Ehe verbietet (unsinnigerweise) die Kirche-- ohne dass die Jugendlichen bei diesem Verbot einen biblischen Bezug ausmachen. Für diese Jugendlichen ist der Begriff »Sünde« also z.T. biblisch, z.T. kirchlich verankert. Er ist mehr oder weniger gleichbedeutend mit »Etwas Verbotenes machen«. Die Bibel formuliert nach Meinung der Jugendlichen durchaus sinnvolle Verbote, die Kirche hingegen nehmen sie- - ähnlich wie dies im Werbespot geschieht-- als »prüde« wahr. In der Bedeutung »Etwas Verbotenes machen« strahlt der Begriff »Sünde« für sie dann über den Bereich von Bibel und Kirche hinaus und kann auch »profane« Verbote meinen. Deutlich ist auch hier die moralische Aufladung des Begriffs, ohne dass »Sünde« eindeutig positiv oder negativ konnotiert wäre. Sowohl im Werbespot als auch in den Äußerungen der Jugendlichen ist »Sünde« eine moralische Größe, sie entspricht einer individuellen Tat, die das ethisch Gebotene verletzt. Kirche wird dabei als eine Institution wahrgenommen, die z.T. unsinnige, unzeitgemäße und genussfeindliche Verbote durchsetzen will, indem sie deren Übertretung als »Sünde« (ab)qualifiziert. Prof. Dr. Hanna Roose, geb. 1967 in Kiel, Studium der Ev. Theologie, der Romanistik und Musik an der Universität und Musikhochschule des Saarlandes sowie in Straßburg; Dissertation bei U. B. Müller (Saarbrücken, 1997); Habilitation an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg (2002); von 1997-2000 Lehrkraft an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und kirchliche Honorarkraft im Schuldienst; 2000-2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau; seit 2004 Professorin für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Bibeldidaktik, Intertextualität, lukanisches Doppelwerk. Hanna Roose »Für diese Jugendlichen ist der Begriff ›Sünde‹ also z.T. biblisch, z.T. kirchlich verankert. Er ist mehr oder weniger gleichbedeutend mit ›Etwas Verbotenes machen.‹« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 4 - 2. Korrektur 4 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell von Gott« entgegen. »Sünde« ist hier also relational gefasst, sie betrifft das Verhältnis (des Einzelnen) zu Gott. Die ethische Dimension von »Sünde« wird im letzten Absatz ebenfalls anerkannt: Ein bestimmtes Verhalten kann prinzipiell als »(Tat)Sünde« bezeichnet werden. Da der Begriff jedoch im gesellschaftlichen Kontext von Kirche als einer »bigotten Moralanstalt« so stark vorbelastet sei, verzichte Kirche darauf, konkrete Handlungen als »(Tat)Sünde« zu qualifizieren. Der Begriff sei insgesamt nicht »predigttauglich«. Die Stellungnahme berührt nicht die Frage, ob bzw. wie »Sünde« als relationaler Begriff und als »Tat« zusammenhängen. Evangelikale Kirchen kommen in der Außenperspektive in den Blick. Einige dieser Aspekte finden sich in Äußerungen von Pastorinnen und Pastoren der Hannoverschen Landeskirche wieder, die eine Superintendentin zur Frage, ob bzw. wie der Begriff »Sünde« in ihrer kirchlichen Arbeit vorkomme, gesammelt hat: • »Wenn ich Sünde sage, hören viele nur: Diät, Falschparken, sexuelle Ausschweifung.« • »Es ist schwer gegen das Zerrbild, dass Sünde nur moralische Verfehlungen meint, anzukommen.« • »Wo in der Kirche von Sünde gesprochen wird, werden Projektionen auf kirchlichen Moralrigorismus wach.« Klar sei aber auch, dass das Phänomen »Sünde« einen wichtigen Platz in der kirchlichen Arbeit einnehme: • »Auf jeden Fall kommt Sünde in meiner Arbeit vor, allerdings meide ich den Begriff und suche Umschreibungen.« • »Sünde ist für mich ein unverzichtbarer theologischer Topos-- der Begriff muss allerdings sehr vorsichtig verwendet werden, da er oft stark moralisch missverstanden wird.« Unter »Sünde« verstehen die Befragten: • »Beziehungsstörung zwischen Menschen und zwischen Menschen und Gott. Jeder ist betroffen davon.« • »Erfahrung einer Macht, die zum Bösen drängt. Sie muss beim Namen genannt und entzaubert werden.« • »Eine kollektive Kategorie: In der globalen Welt nimmt die Verstrickung in ungute Zusammenhänge zu.« Die erste Äußerung hebt wiederum auf den relationalen Charakter von »Sünde« ab, hier explizit in der doppelten Relationalität von Mensch zu Gott sowie Mensch zu Mitmensch. Die zweite Äußerung versteht »Sünde« nicht primär als (Einzel-)Tat, sondern als »Macht, die zum Bösen drängt«. Der dritte Beitrag sieht in dem Phänomen »Sünde« keine individuelle, sondern eine kollektive, ja globale Kategorie. Zwei der zitierten Äußerungen gehen auch bereits darauf ein, wie kirchliche Vertreter mit dem Phänomen »Sünde« umgehen sollten: darüber reden, die »Macht« beim Namen nennen und »entzaubern«. In einem weiteren Beitrag stellt eine Pastorin die Rede von »Sünde« in den Kontext der Rede von »Vergebung«: »Wenn ich von Sünde rede, dann immer mit Blick auf die Vergebung. Darauf kommt es an! « Deutlich wurde im Gespräch mit den Pastorinnen und Pastoren-- so die Superintendentin-- dass die Rede von »Sünde« »im Duktus der Empathie […] und nicht im Duktus von Appell oder Anklage« geschehe. Das markiert eine entscheidende Differenz zum Bild von Kirche, die andere anklage, dabei den eigenen Ansprüchen aber nicht gerecht werde. Die Stellungnahme des Pastors einer freikirchlichen Gemeinde setzt mit dem Zusammenhang von Sünde und Vergebung ein: »Das Thema ›Sünde‹ ist bei uns in der Gemeinde untrennbar mit dem Thema ›Vergebung‹ verbunden. Beide Themen gehören ganz normal zu den Glaubens- und Lebensthemen, die wir miteinander bewegen-- in Lehre und Verkündigung und in der praktischen Lebensgestaltung. Sie gehören für uns deshalb so selbstverständlich dazu, weil sie zentrale Bestandteile der ›Botschaft vom Kreuz‹ sind, die für uns ›der Inbegriff von‹ Gottes Kraft ist (1Kor 1,18). Sünde verstehen wir in ihrem Kern als Trennung von Gott. Menschen, die in unsere Gemeinde kommen, fragen nicht in erster Linie nach einem gnädigen Gott, aber sie sind auf der Suche nach etwas, das bleibt, etwas, das hält, etwas, das Bestand hat. Sie sind auf der Suche nach echtem Leben, nach wirklichem Frieden-- nach dem, was nicht von dieser Welt ist. Vor allem in unseren Glaubensgrundkursen und in unseren Gottesdiensten erleben wir es immer wieder, dass Menschen den Tod Jesu am Kreuz als Angebot zum Leben annehmen. Sie nehmen es für sich ganz persönlich in Anspruch, dass Jesus für ihre Sünde gestorben ist, und sie dadurch in Beziehung mit Gott treten können. Die Bitte um Vergebung der eigenen Sünde, im Sinne von getrennten Leben von Gott, ist für viele ein befreiendes Erlebnis! Das bedeutet für uns in der Gemeinde den Startschuss, dem der Lauf folgt. Wer sein Leben Jesus anvertraut hat, hat eine neue Identität. Dieser Mensch ist nicht mehr ›Sünder‹, da die Macht der Sünde nun über seinem Leben gebrochen ist. Er ist versöhnt mit Gott und dadurch ein ›Kind Gottes‹, das manchmal noch sündigt. Der Umgang mit Sünde gleicht von dem Zeitpunkt an dem Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 5 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 5 Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft »Insgesamt fächern die kirchlichen Stimmen das Bedeutungsspektrum von ›Sünde‹ gegenüber dem gesellschaftlichen Sprachgebrauch deutlich weiter auf. ›Sünde‹ kommt nicht nur als moralischer Begriff im Sinne der individuellen Tatsünde in den Blick, sondern auch als relationaler Begriff sowie als überindividuelle Macht.« Sportler im Lauf, der darauf achtet, dass er gesund und fit bleibt. Wenn sich jemand also in Gedanken, Wort oder Tat so verhält, dass es ihn von Gott oder seinen Mitmenschen trennt, dann ist es ein klarer Schritt, Gott dafür um Vergebung zu bitten. Das geschieht entweder ganz stille oder im Gebet mit einem anderen Christen, der daraufhin die Vergebung der Sünde zuspricht. Der Schlüsselvers, an den wir uns dabei halten, steht in 1Joh. 1,9: ›Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.‹ […] In unserem Unterwegssein mit Gott bleibt auch die wiederkehrende Vergebung von Sünde keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas sehr Kostbares. Indem Menschen dem liebenden Gott begegnen, bekommen sie eine Sündenerkenntnis und den starken Wunsch nach Vergebung. Ich erlebe, wie ernst es den Menschen ist. Es geht nicht um billige Gnade, sondern Vergebung meiner Sünde als Chance für Veränderung zu nehmen.« Stilistisch fällt gegenüber den anderen beiden Stellungnahmen der Gebrauch des »Wir« auf. Die Stellungnahme bestätigt die Einschätzung des Schulpastors, nach der in freikirchlichen Gemeinden »unvoreingenommener« von Sünde die Rede sei. Das geschieht nicht im Sinne des moralischen Zeigefingers, sondern-- ebenfalls-- »im Duktus der Empathie« und im Horizont der Vergebung. Die inhaltliche Bestimmung von Sünde als Trennung von Gott spielt auch hier eine wichtige Rolle. Der Text bezieht eine Differenzierung ein, die die anderen Stellungnahmen so nicht thematisieren: die Verhältnisbestimmung von »Sünde«, bevor jemand sein Leben Jesus anvertraut hat, und »Sünde«, nachdem das geschehen ist. Der »Mensch ist nicht mehr ›Sünder‹, da die Macht der Sünde nun über seinem Leben gebrochen ist«, aber er sündigt noch manchmal. Diese Verhältnisbestimmung beschäftigt auch die neutestamentliche Wissenschaft in ihrer Auslegung paulinischer Texte. Insgesamt fächern die kirchlichen Stimmen das Bedeutungsspektrum von »Sünde« gegenüber dem gesellschaftlichen Sprachgebrauch deutlich weiter auf. »Sünde« kommt nicht nur als moralischer Begriff im Sinne der individuellen Tatsünde in den Blick, sondern auch als relationaler Begriff sowie als überindividuelle Macht. Die landeskirchlichen Stimmen thematisieren die Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlichen und dem kirchlich-theologischen Sprachgebrauch als Problem. Sie unterscheiden zwischen dem »Phänomen Sünde«, das für die kirchliche Arbeit von großer Bedeutung sei, und dem Wort, das aufgrund des eingeengten, pejorativen oder ironischen außerkirchlichen Sprachgebrauchs »verbrannt« sei. Die freikirchliche Stellungnahme vollzieht diese Trennung nicht, sondern reklamiert den Begriff »Sünde«-- verbunden mit einer Betonung des »Wir«-- für den eigenen Sprachgebrauch. 3. »Sünde« in der neutestamentlichen Wissenschaft Wie verhalten sich die gesellschaftliche und die kirchliche Wahrnehmung von »Sünde« zur diesbezüglichen Diskussion in der neutestamentlichen Wissenschaft? Zu dieser Frage möchte ich im Folgenden nicht etwa einen Forschungsüberblick bieten, sondern ich zeige anhand ausgewählter Schlaglichter aus der Forschung (umstrittene) Bedeutungsfacetten der neutestamentlichen Rede von »Sünde« auf und skizziere, inwiefern sie an die gesellschaftlichen und kirchlichen Stimmen anknüpfen oder aber über sie hinausgehen bzw. ihnen sogar widersprechen. Anders als das Alte Testament gebraucht das Neue Testament für »Sünde« einen einheitlichen Begriff (gr.: hamartia). Die einzelnen neutestamentlichen Schriften unterscheiden sich allerdings hinsichtlich ihrer Gewichtung und ihrer Interpretation dessen, was sie mit »Sünde« meinen. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der »Theologie des Neuen Testaments« von Udo Schnelle zeigt, dass »Sünde« nur im Rahmen der paulinischen Briefe 3 und der johanneischen Schriften 4 einen eigenen Gliederungspunkt erhält. Im Zusammenhang mit der Erörterung des lukanischen Doppelwerks findet sich ein eigener Abschnitt zu »Sünde und Sündenvergebung« unter dem Punkt »Anthropologie« (Lehre vom Menschen). 5 3.1 Lukas Das alltagssprachliche Verständnis von »Sünde« als einer individuellen Tat(sünde) weist am ehesten eine gewisse Nähe zum lukanischen Gebrauch auf. Das lukanische Doppelwerk gebraucht den Begriff »Sünde« im Plural Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 6 - 2. Korrektur 6 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell und bezeichnet damit »ein konkretes Fehlverhalten im ethisch-moralischen Bereich« 6 . So heißt es im lukanischen »Vater-Unser«: »Und vergib uns unsere Sünden« (Lk 11,4). Der lukanische Paulus verteidigt sich in seiner Rede vor Festus damit, dass er gegen den römischen Kaiser nicht »etwas gesündigt« habe- - er habe also nicht gegen Recht und Ordnung verstoßen (Apg 25,7- 8). Soweit entspricht der Gebrauch von »Sünde« dem Alltagsverständnis, nach dem »Sünde« das Übertreten von Verboten und konkretes ethisches Fehlverhalten meint. Die bekannteste einschlägige Textpassage, die aber auch schon über dieses Verständnis hinausweist, findet sich in der Parabel vom »Verlorenen Sohn« (Lk 15,11-32): Bei seiner Rückkehr deutet der jüngere Sohn seinen ehemaligen Lebenswandel mit den Worten: »Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.« Damit ist eine doppelte Relationalität benannt: Die Tatsünde (z. B. das Verprassen von Geld [15,13], aber auch die Arbeit mit Schweinen, also-- nach jüdischem Verständnis-- unreinen Tieren [Lk 15,15]) beschädigt das Verhältnis zum Mitmenschen (zum Vater) und zu Gott (»gegen den Himmel«). Nur so wird überhaupt verständlich, wie die Parabeln vom verlorenen Schaf (Lk 15,1-7) und vom verlorenen Groschen (Lk 15,8-10) mit der Anwendung enden können, dass Gott sich über einen einzigen Sünder, der umkehrt, mehr freue als über 99 Gerechte-- obwohl weder Schaf noch Groschen »ein konkretes Fehlverhalten im ethisch-moralischen Bereich« begehen (können! ). Auf der zweiten Aussageebene ist hier die »Trennung von Gott« im Blick, die passieren kann (vgl. Schaf und Groschen 7 ) und verschuldet wird (verlorener Sohn). Vergebung impliziert entsprechend eine Doppelbewegung: Der Sünder muss umkehren, Gott kommt auf den Sünder zu und nimmt ihn wieder auf. 8 »Sünden« bezeichnen also ein konkretes ethischmoralisches Fehlverhalten vor der Umkehr zu Gott. 3.2. Paulus Deutlich umstrittener ist in der neutestamentlichen Wissenschaft die Frage, wie Paulus von »Sünde« spricht. Einigkeit herrscht darüber, dass Paulus-- insbesondere im Römerbrief-- die elaboriertesten Aussagen zu Sünde formuliert, so dass sich die neutestamentliche Diskussion über Sünde im Neuen Testament vornehmlich an Paulus orientiert. 9 Die Diskussion greift dabei auf Kategorisierungen zurück, die weit über die gesellschaftliche Wahrnehmung von »Sünde« hinausgehen: Inwiefern ist für Paulus der Mensch Subjekt der Sünde (indem er sie »tut«), inwiefern ist er ihr Objekt (indem sie ihn beherrscht)? Inwiefern ist Sünde eine individuelle, inwiefern eine kollektive oder gar eine universelle Größe? Welche Rolle spielt Sünde nach paulinischem Verständnis vor der Bekehrung (präkonversional), welche Rolle nach der Bekehrung (postkonversional)? Individuelle Tat und universelle Macht Paulus spricht einerseits von Sünden (im Plural) im Sinne individueller Taten (z. B. Röm 5,16), andererseits von Sünde (im Singular) im Sinne einer Macht (z. B. Röm 5,21). Einmal ist der Mensch Autor seiner Sünden, er handelt- - und ist verantwortlich für das, was er tut. Dann ist der Mensch Opfer der Sünde, die über ihn herrscht-- ohne dass er etwas dafür könnte. Mit dieser idealtypischen Differenzierung ist allerdings erst eine Polarität aufgespannt, innerhalb derer die exegetische Auslegung der paulinischen Schriften erheblich variieren kann. Günter Röhser 10 stellt in seiner Studie von 1987 den Machtcharakter der Sünde bei Paulus, insbesondere im Römerbrief 5-7, in Frage. Er bezeichnet den paulinischen Sündenbegriff nach Röm 5-7 als »personifiziertes Abstraktnomen« 11 . Rückblickend umreißt er die Zielsetzung seiner Untersuchung folgendermaßen: »Damit sollte die in der Literatur verbreitete undifferenzierte Redeweise von der Sünde als ›Macht‹ kritisiert, ein mythologischer Vorstellungshintergrund (die Sünde als Dämon) problematisiert[ 12 ] und festgehalten werden, dass es einzig menschliche Sünden und Verfehlungen selbst sind, die eine Eigendynamik entwickeln und auf die Menschen als Täter zurückschlagen.« 13 In die entgegen gesetzte Richtung geht die Studie von Helmut Umbach von 1999 14 : »Vielmehr ist für Paulus der Terminus ›Hamartia‹ immer-- außer in traditionellen Zitaten, wo er im Plural für menschliche Verfehlungen eingesetzt ist- - eine Größe, die nicht menschliches Fehlverhalten und menschliche Verfehlungen bezeichnet, wie G. Röhser meint, sondern eine Macht, der der Mensch ›in Adam‹ total unterworfen ist (Röm 5), ja, die ihn regelrecht ›besessen‹ hat (Röm 7).« 15 Die Taufe in Christus bewirkt im Leben des einzelnen Menschen, dass er der Macht der Sünde entrissen (Röm 6,1-11) und fortan von einer anderen Macht beherrscht wird: dem Geist (gr.: pneuma) Gottes. 16 Das heißt: Die Sünde ist zunächst eine universelle Größe, alle Menschen sind ihr unterworfen (Röm 5; vgl. 8,22). Nach ihrer Taufe sind die Menschen keine Sünder mehr. Die Gemeinde-- so Umbach-- ist bei Paulus ein »sündenfreier Raum«. 17 Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 7 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 7 Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft Präkonversional-- postkonversional Umbach versteht Paulus so, dass »Sünde« für den Apostel eine Größe ist, die ausschließlich vor der Bekehrung zu verorten ist. Denn für die Getauften ist die Sünde entmachtet, sie sind ihr entrissen. »Von ›Sünde‹ im Sinn des absolut gebrauchten Machtbegriffs ›Hamartia‹ findet sich [postkonversional] in allen relevanten Texten nichts.« 18 Damit ist eine Frage aufgeworfen, die eine weitere grundsätzliche Differenzierung nötig macht: Idealtypisch zu unterscheiden ist nicht nur zwischen Sünden als Taten und der Sünde als Macht, sondern auch zwischen der Sünde vor der Bekehrung und (un-)möglichen Sünden nach der Bekehrung. Untersuchungen, die auf die Sünde vor der Bekehrung fokussieren (präkonversional), bewegen sich im Rahmen der Soteriologie, also der Frage, wie (woraus, wovor) der Mensch durch Jesus Christus gerettet werden kann. Untersuchungen, die auf die Sünde(n) nach der Bekehrung fokussieren (postkonversional), berühren auch den Rahmen ekklesiologischer und ethischer Fragestellungen in urchristlichen Gemeinden. Ein in dieser Hinsicht hoch umstrittener Text ist Röm 7 (s. Kontroverse in diesem Heft). Dahinter steht die-- durchaus auch heute gesellschaftlich relevante-- Beobachtung, dass Christinnen und Christen nicht (immer) an ihrem vorbildlichen ethischen Verhalten zu erkennen sind. Müsste die Rettung aus der Sünde nicht am ethischen Verhalten ablesbar sein? Widersprechen Christinnen und Christen nicht ihrer eigenen Überzeugung, wenn sie einerseits an ihrer Rettung durch Jesus Christus festhalten, dem aber andererseits kein verändertes »sündenfreies« Verhalten entspricht? Der manchmal (außerkirchlich) erhobene Vorwurf, Christinnen und Christen meinten, »besser« zu sein als andere Menschen, wären es aber gar nicht, berührt theologisch gesprochen die Frage nach dem Verhältnis von präkonversionaler und postkonversionaler Sünde. Denkbar wäre hier ein Modell, das die Sünde als universale Macht ausschließlich präkonversional, die Sünden als individuelle Taten prä- und postkonversional verortet. Die Getauften wären dann der Macht der Sünde entrissen, würden aber dennoch weiter sündigen. In diese Richtung geht die freikirchliche Stellungnahme. Freilich stellt sich dann »die Frage nach dem sachlichen Zusammenhang zwischen der entmachteten Sünde und dem dann doch wieder (reichlich! ) auftretenden Fehlverhalten in den Gemeinden« 19 . Umbach geht in seiner Auslegung paulinischer Texte an dieser Stelle deshalb noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Gemeinde im Untertitel seiner Studie nicht nur als Sünde-freien Raum, sondern als »sündenfreien Raum«. Im Blick auf die Frage, warum Paulus seine Gemeinden trotzdem ermahne, führt Umbach die Unterscheidung zwischen (Tat-)Sünden und Verfehlungen ein. Die Getauften begehen keine Sünden, sondern »Verfehlungen«. Vielleicht überzieht Umbach in seinem Untertitel die eigene These, denn »Paulus spricht doch vom Sündigen (wenn auch nicht von ›der‹ Sünde) in der Gemeinde« 20 . Es ist zumindest fraglich, ob sich diese Belege dadurch »wegargumentieren« lassen, dass sie der Tradition zugeschlagen werden, die Paulus aufnimmt, ohne sie jedoch konstitutiv in seine eigene Konzeption einzubauen. Sünde als soziale Größe Stephan Hagenow widmet seine Studie 21 »Heilige Gemeinde-- Sündige Christen« dem Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus. Hagenow unterstellt-- anders als Umbach-- bereits im Titel seiner Studie, dass Paulus postkonversionale Sünde kennt, und er fragt in historischer Perspektive danach, wie Paulus mit diesem Phänomen umgeht. Wesentlich für Hagenows These ist die Unterscheidung zwischen der Gemeinde und dem einzelnen Gemeindemitglied. Sünde-- so Hagenow-- sei für Paulus eine soziale Größe: »Sünde ist nicht in erster Linie die Störung der Gottesbeziehung des Einzelnen, sondern eine Störung und Bedrohung des Sozialgefüges. […] Sünde befleckt und bedroht in diesem Sinne wirklich das Ansehen der Gruppe. Deshalb kann Sünde auch nur durch die Gemeinde wieder beseitigt werden.« 22 Paulus weiß also sehr wohl darum, dass Getaufte sündigen können, aber in der Gemeinde kann keine Sünde toleriert werden, sie ist »heilig«. Deshalb muss die Gemeinde einzelne Sünder ausschließen (vgl. 1Kor 5,12 f.; 6,18). »Es kommt dem Apostel auf die Wahrung der Heiligkeit der Gemeinde an, das Ergehen des einzelnen Sünders-- und sei es noch so gravierend-- interessiert nur am Rande.« 23 Sünde ist also nicht begrenzt auf eine individuell zurechenbare Tat, sondern sie wirkt zurück auf die Gemeinschaft. Aus seelsorgerlicher Perspektive ist diese (Re-)Konstruktion hochproblematisch. Sie steht im Widerspruch zu heutigen kirchlichen Stimmen, die Sünde konstitutiv mit Empathie und Vergebung verbinden. »Der manchmal (außerkirchlich) erhobene Vorwurf, Christinnen und Christen meinten, ›besser‹ zu sein als andere Menschen, wären es aber gar nicht, berührt theologisch gesprochen die Frage nach dem Verhältnis von präkonversionaler und postkonversionaler Sünde.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 8 - 2. Korrektur 8 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell Eun-Geol Lyu 24 beschäftigt sich im Unterschied dazu mit der präkonversionalen Sünde bei Paulus und fragt danach, »wie der Apostel den Begriff in seinen missionarischen Tätigkeiten aufgreift«. 25 Der soteriologische Fokus zeigt sich in dem Titel »Sünde und Rechtfertigung«. Lyu fragt, »welchen Anhaltspunkt das paulinische Sündenverständnis für die Erhellung der Rechtfertigungslehre gibt« 26 . Er kommt-- in expliziter Nähe zu Martin Luther und Rudolf Bultmann-- zu dem Ergebnis, dass Paulus das Sündersein des Menschen als anthropologische Voraussetzung begreift, ohne die die paulinische Soteriologie nicht auskommt. »Wir brauchen die Rechtfertigung in dem Maße, in dem wir Sünder sind.« 27 Damit wendet Lyu sich u. a. gegen Ed Sanders und die »New Perspective«, die Paulus »andersherum« versteht und meint, dass Paulus von der Rechtfertigung her auf die Sünde der Menschen schließe. 28 Lyu leitet aus seiner Interpretation »einen Anhaltspunkt für die Mission der dritten Welt« ab: »Von großer Relevanz ist jedoch der Einsatz mit dem Sündersein der Zuhörer, weil die Botschaft vor allem die Sündenüberwindung fokussiert.« 29 Für den christlichen Bereich konstatiert Lyu einerseits, dass »die Sündenproblematik heute ihre Relevanz verloren [habe]«, andererseits, dass das Thema nach wie vor dort aktuell sei, »wo Christen den Begriff ›Sünder‹ auf andere Mitchristen anwenden, die der ethischen Richtschnur nicht entgegenkommen« 30 . 3.3 Johannes Im Hinblick auf die johanneischen Schriften ist in der neutestamentlichen Forschung umstritten, welches Gewicht 31 und welchen Grad an Geschlossenheit die Rede von »Sünde« aufweist sowie die Nähe 32 oder Ferne 33 zur paulinischen Sündenkonzeption. Ich beschränke mich hier auf einige Aspekte, die das Gesamtbild um weitere Facetten erweitern. Sünde als Unglaube Hasitschka 34 sieht in Joh 1,29 einen Schlüsseltext zum Verständnis des johanneischen Sündenverständnisses. Der Vers zu Beginn des Evangeliums zeige, dass Johannes die Rede von der Sünde soteriologisch und christologisch verortet: Vor der Rede von der Sünde in der Welt »geht es in 1,29 vorweg um die Befreiung von Sünde. Der ganze Nachdruck liegt darauf zu zeigen, durch wen Sünde hinweggenommen wird« 35 . Hasitschka bestimmt das Verhältnis zwischen der Sünde als »der Grundverfehlung des Kosmos gegenüber Gott« und den vielen Einzelverfehlungen so, dass letztere in ersterer wurzeln. 36 Daraus folgt, dass Jesus Christus, indem er die Sünde als Grundverfehlung aufhebt, auch die Folgen dieser Grundverfehlung hinwegnimmt. Wenn es heißt, dass Jesus Christus als das Lamm Gottes die Sünde der Welt trägt/ hinwegnimmt, dann bezieht sich das also auf »das Geschenk einer neuen, heilen Beziehung zu Gott und die Befreiung von allen Folgen der Sünde« 37 . Diesen Zusammenhang reflektiert Johannes nicht ethisch, sondern im Blick auf den Glauben. »Die Voraussetzung von seiten des Menschen, um dieses Geschenk zu erlangen, ist […] der Glaube an Jesus.« 38 Deshalb kann Johannes Unglaube als Sünde bezeichnen (Joh 8,24; 16,9). »Die Juden« und »die Welt« verharren im Unglauben und erweisen sich so als Kinder des Teufels. Sie sind unfähig, Jesus zu erkennen und ihm zu glauben, und wollen Jesus töten. Verantwortung für das Tun der Sünde und die Versklavung durch die Macht der Sünde (Joh 8,34) gehen ineinander. 39 Die Blindenheilung (Joh 9), die neben einer physischen auch eine tiefere Bedeutung im Sinne von Erkenntnisgewinn habe, zeige, dass Jesus »dem Menschen heilend und helfend entgegenkommen muss, damit die Erkenntnis seiner Person und der rettende Glaube an ihn möglich werden« 40 . Der Mensch könne sich dann frei für oder gegen Jesus Christus entscheiden. Befreiung von Sünde durch das Wort Alois Stimpfle fragt danach, wie der Mensch nach johanneischem Verständnis von der Sünde befreit werde. An dieser Stelle sieht er die Eigenart der johanneischen Konzeption. Anders als Hasitschka sieht Stimpfle nicht in Joh 1,29, sondern in 15,3a den Schlüsseltext: »Ihr seid schon rein durch das Wort.« Johannes verstehe Befreiung von der Sünde als Reinigung. Hierin liege das spezifisch johanneische Profil. Denn: »Weder das Wasser der Taufe noch das Blut des Kreuzes sind reinigungsrelevante Größen.« 41 Die Beseitigung der Sünde vollziehe sich vielmehr für die Erwählten »durch das Offenbarerwort, näherhin durch seine im Menschen Erkennen bewirkende Potenz« 42 . Dies ist insofern eine »sympathische« Auslegung, als sie ohne das Blut am Kreuz »auskommt«. Die Frage, inwiefern das Kreuz im Johannesevangelium soteriologische Bedeutung habe, ist allerdings umstritten. 43 Sünde als offenbarungstheologischer Begriff Rainer Metzner 44 fasst das johanneische Sündenverständnis dementsprechend weiter. »Sünde ist die eine, im Widerspruch gegen Gottes Offenbarung sich manifestierende Verweigerung der Welt gegenüber dem Gesandten Gottes.« 45 In der Offenbarung durch den Sohn Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 9 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 9 Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft geht es sowohl um das, was Jesus Christus sagt, als auch um das, was er tut und was ihm widerfährt. Die Sünde »wird am Kreuz offenbar und mit ihrer Offenbarung zugleich überwunden (1,29).« Diesen Gedanken entfaltet Johannes dramatisch und mit hintergründiger Ironie. Die Rollen vertauschen sich: »Die Ankläger [›die Juden‹, die Welt] werden zu Verurteilten, und der Angeklagte [Jesus Christus] wird zum Richter (9,39-41; 15,22-24; 16,8-11; 19,11). In diesem Rechtsstreit wird dem Sohn (von Gott) das Recht, der ungläubigen und sündigen Welt aber das Unrecht zugesprochen.« 46 Die »Sünde zum Tode« (1Joh 5,16-17) Der 1. Johannesbrief, bei dem die Forschung sich nicht einig ist, ob er vor oder nach dem Johannesevangelium anzusetzen ist, unterscheidet zwischen vergebbaren und nicht vergebbaren Sünden. Bei vergebbaren Sünden darf ein Gemeindemitglied für den Sünder um Vergebung bitten, bei nicht vergebbaren Sünden ist dies nicht möglich. Daher führt die nicht vergebbare Sünde »zum Tode«, sie führt dazu, dass Getaufte wieder aus dem Heils- und Lebensbereich Gottes herausfallen. Diese Differenzierung-- die weder im 1. Johannesbrief noch im Johannesevangelium genauer präzisiert wird-- steht vor dem Hintergrund widersprüchlicher Aussagen. 1Joh 1,8 stellt fest: »Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns.« Im Gegensatz dazu heißt es in 1Joh 3,9: »Jeder, der aus Gott geboren ist, tut keine Sünde; denn sein Same bleibt in ihm. Er kann nicht sündigen, weil er von Gott stammt.« An die Stelle widersprüchlicher Aussagen tritt in 1Joh 5,16-17 eine graduelle Differenzierung zwischen vergebbaren und nicht vergebbaren Sünden. Diese Differenzierung steht in Spannung zu dem von kirchlicher Seite formulierten Anliegen, Sünde grundsätzlich im Horizont (möglicher) Vergebung zu thematisieren. 4. Schluss Der Blick auf den gesellschaftlichen, den kirchlichen und den neutestamentlich-exegetischen Sprachgebrauch von »Sünde« hat eine steigende Anzahl von Bedeutungsfacetten deutlich gemacht. Der gesellschaftliche Sprachgebrauch arbeitet mit der kritischen Distanz zwischen außerkirchlichen und innerkirchlichen Verwendungsweisen. Der Kirche wird dabei- - mehr oder weniger ernsthaft-- ein Sprachgebrauch unterstellt, der Sünde als ein moralisch verwerfliches Tun »der anderen« versteht. Von diesem Verständnis distanziert sich die Gesellschaft durch Ironisierung und Trivialisierung. Damit entfernt sie sich deutlich vom biblischen Sprachgebrauch, der Sünde an keiner Stelle als etwas Triviales versteht. Insbesondere die landeskirchlichen Stimmen reflektieren und problematisieren den eigenen Gebrauch von »Sünde« vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Distanzierung. Dabei kommen insbesondere Bedeutungsfacetten ins Spiel, die auf die Paulusbriefe zurückgehen. Die neutestamentliche Wissenschaft konzentriert sich bei der Diskussion um »Sünde« ebenfalls schwerpunktmäßig auf die Paulusbriefe. Sie arbeitet-- auch mit Blick auf weitere neutestamentliche Schriften-- weitere Bedeutungsfacetten von »Sünde« heraus. Von diesen Facetten erscheinen insbesondere diejenigen für heutige kirchliche Arbeit als problematisch, die »Sünde« mit dem (endgültigen) Entzug des Heils in Verbindung bringen (1Kor 5,12-13; 6,18; 1Joh 5,16-17)-- dies umso mehr, als sie den gesellschaftlichen Eindruck verstärken könnten, die Kirche würde unter Berufung auf die Bibel »andere« als Sünder brandmarken und ausschließen. Andere Facetten spielen in der kirchlichen Arbeit durchaus eine wesentliche Rolle-- etwa die »Sünde« als Macht und als relationaler Begriff--, weil sie das enge, moralische Verständnis von »Sünde« im Sinne einer individuellen Tatsünde erweitern und aufbrechen. Anmerkungen 1 http: / / www.youtube.com/ watch? v=3tAfSTbvQfM&feat ure=player_detailpage. 2 H. Roose, »Sünde ist…«-- Biblische Texte bei Jugendlichen ins Spiel bringen, in: V.-J. Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012, 135-149: 143. 3 U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 261-268. 4 A. a. O., 684-686. 5 A. a. O., 465-469. 6 A. a. O., 466. 7 »Manch eine gerät unverschuldet in Not und verliert darin den Glauben, manch einer stellt plötzlich im alltäglichen Einerlei fest, wie verloren er ist. Die bloße Erfahrung des Gefundenwerdens, ausgelöst durch ein Wort, eine menschliche Begegnung, eine neue Erfahrung, kann dann genug sein, um eine radikale Veränderung der Einstellung zu Gott, den Mitmenschen und der Welt hervorzubringen.« A. Merz, Last und Freude des Kehrens (Lk 15,8- »Verantwortung für das Tun der Sünde und die Versklavung durch die Macht der Sünde (Joh 8,34) gehen ineinander.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 10 - 2. Korrektur 10 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell 10), in: Ruben Zimmermann (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 610-617, hier: 616. 8 H. Roose, Umkehr und Ausgleich bei Lukas: Die Gleichnisse vom verlorenen Sohn (Lk 15.11-32) und vom armen Mann und reichen Lazarus (Lk 16) als Schwestergeschichten, NTS 56 (2010), 1-21. 9 R. Kampling, Art. »Sünde«, Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, hg. v. A. Berlejung und C. Frevel, Darmstadt 2006, 381-384; hier: 382. 10 G. Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde. Antike Sündenvorstellungen und paulinische Hamartia (WUNT 2/ 25) Tübingen 1987. 11 A. a. O., 157. 12 Dieses Anliegen erinnert an die Aussage einer Pastorin, die Macht der Sünde zu »entzaubern«. 13 G. Röhser, Vom Gewicht der Sünde und des Redens davon. Biblische Aspekte für eine heutige Vermittlung, Ökumenische Rundschau 2005, 427-445; hier: 431 f. 14 H. Umbach: In Christus getauft-- von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus (FR- LANT 181) Göttingen 1999. 15 A. a. O., 314. 16 Ebd. 17 So der Untertitel der Untersuchung von Umbach. 18 Umbach, In Christus getauft, 315. 19 Röhser, Gewicht der Sünde, 442. 20 Ebd. 21 Hagenow, Heilige Gemeinde-- Sündige Christen. Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums (TANZ 54) Tübingen 2011. 22 A. a. O., Heilige Gemeinde, 316. 23 A. a. O., Heilige Gemeinde, 34. 24 E. G. Lyu, Sünde und Rechtfertigung bei Paulus. Eine exegetische Untersuchung zum paulinischen Sündenverständnis aus soteriologischer Sicht (WUNT 2/ 318) Tübingen 2011. 25 A. a. O., 3. 26 A. a. O., 23. 27 A. a. O., 356. 28 »Die Schlussfolgerung [! ], dass alle unter der Sünde sind, ist so fundiert wie das Dogma, dass alle der Rettung durch den Glauben an Christus bedürfen.« (E.P. Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995, 130). 29 Lyu, Sünde und Rechtfertigung, 356. 30 Ebd. 31 E. Haenchen urteilt: »Es ist längst aufgefallen, dass der Begriff der Sünde im vierten Evangelium zwar 16mal vorkommt, aber dennoch keine entscheidende Rolle spielt.«, in: Das Johannesevangelium. Ein Kommentar, aus den nachgelassenen Manuskripten hg. v. U. Busse, Tübingen 1980, 493-494. R. Metzner hält dagegen: »Johannes hat ein ausgeprägtes Sündenverständnis entwickelt.«, in: Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122) Tübingen 2000, 351. 32 H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band 3: Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung. Epilegomena, Göttingen 1995, 181. 33 A. Stimpfle, »Ihr seid schon rein durch das Wort« (Joh 15,3a). Hermeneutische und methodische Überlegungen zur Frage nach »Sünde« und »Vergebung« im Johannesevangelium, in: H. Frankemölle (Hg.), Sünde und Erlösung im Neuen Testament (QD 161), Freiburg u. a. 1996, 108-122. 34 M. Hasitschka, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium (IthS 27), Innsbruck/ Wien 1989. 35 A. a. O., 164. 36 A. a. O., 166. 37 Ebd. 38 A. a. O., 170. 39 A. a. O., 279. 40 A. a. O., 341. 41 Stimpfle, Ihr seid schon rein, 121. 42 A. a. O., 122. 43 Vgl. einerseits Th. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der johanneischen Inkarnations- und Erhöhungschristologie (WMANT 69), Neukirchen-Vluyn 1994; andererseits U.B. Müller, Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums. Das Problem des Todes Jesu, ZNW 88, 1997, 24-55. 44 R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen 2000. 45 A. a. O., 354. 46 A. a. O., 353.