eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 20/39-40

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2017
2039-40 Dronsch Strecker Vogel

Die Bibel im digitalen Zeitalter

2017
Claire Clivaz
Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Die Bibel im digitalen Zeitalter Multimodale Schriften in Gemeinschaften Claire Clivaz Einleitung: Die Schnittstelle zwischen gedruckten und digitalen Welten Es erscheint paradox, dass eine protestantische Exegetin einen Aufsatz über die Bibel im digitalen Zeitalter schreibt, wenn man sich klarmacht, dass die Besucher der Internationalen Reformationsausstellung in Wittenberg im Mai 2017 mittels eines „riesigen Buches“ in Gestalt einer 27 Meter hohen Bibel willkommen geheißen wurden� Die Website der Ausstellung präsentierte dies so: „Die Hauptattraktion im Torraum Welcome , dem ersten von insgesamt sieben Torräumen, ist der als riesiges Buch gestaltete Aussichtsturm� Entworfen von Studierenden der Bauhaus-Universität Weimar wurde er eigens für die Weltausstellung Reformation gebaut� Treppen führen 27 Meter hoch auf die Aussichtsplattform, die einen außergewöhnlichen Blick über die Stadt bietet� Willkommen in Lutherstadt Wittenberg! Willkommen zur Weltausstellung Reformation! “� 1 In Entsprechung hierzu war der Mittelpunkt des Schweizer Pavillons, der gemeinsam von Leitern der schweizerischen protestantischen und katholischen Kirchen eröffnet wurde, eine großartige alte Druckerpresse� 2 Das Leben der protestantischen Kirchen kommt kaum irgendwo klarer zum Ausdruck als in der Äußerung des reformierten Theologen Pierre Gisel, die möglicherweise für 1 https: / / r2017�org/ weltausstellung/ welcome/ ; Zugriff am 25� Mai 2017� Herzlichen Dank an Prof� Dr� Manuel Vogel für die deutsche Übersetzung� 2 https: / / www�cath�ch/ newsf/ inauguration-pavillon-suisse-a-lexposition-universelle-dereforme/ ; Zugriff am 25� Mai 2017� 36 Claire Clivaz das Christentum insgesamt gilt: „Die Bibel besetzt die Stelle des Ursprungs, während sie historisch betrachtet ein sekundäres Phänomen ist“� 3 Die Besucher der Wittenberger Reformations-Ausstellung von 2017 werden eingeladen, die Ausstellung durch das „Ursprungs-Tor“ in Gestalt einer Bibel zu betreten� Angesichts einer solch klaren theologischen und kulturellen Grundsatzerklärung stellt sich die Frage, wie die Auswirkungen der digitalen Wende auf die Bibelwissenschaften hierzu ins Verhältnis zu setzen sind, zumal diese Wende institutionelle Neubildungen und neue Publikationsorgane hervorgebracht hat: Seit 2016 bzw� 2017 gibt es die Masterstudiengänge Digital Theology (Universität Durham) und Biblical Studies and Digital Humanities (Freie Universität Amsterdam)� 4 Außerdem hat der Brill-Verlag eine neue wissenschaftliche Reihe ins Leben gerufen, die Digital Biblical Studies, gemeinsam herausgegeben von David Hamidović und der Verfasserin dieses Beitrages. 5 Zu verweisen ist auch auf die jährlichen internationalen Treffen der Society of Biblical Literature (SBL) und der European Association of Biblical Studies ( EABS ), die seit 2012 bzw� 2013 Seminargruppen zu Digital Humanities abhalten� Das erste Zentrum für digitale Theologie wurde in 2014 an der Universität Durham eröffnet� 6 In wenigen Monaten wird sodann Jeffrey Siker in Zusammenarbeit mit dem Verlag Fortress Press die erste Monographie über die Bibel im digitalen Zeitalter vorlegen, die auf der SBL-Konferenz in Boston diskutiert werden wird� 7 Einige Forscher haben bereits Überblicksartikel zur Begegnung von Bibelwissenschaft und digitaler Wende vorgelegt� So hat etwa in 2010 Wido van Peursen die Wendung von „Texten“ zu „Dokumenten“ beschrieben� 8 Aus dem Jahr 2012 stammt ein Aufsatz von Ulrich Schmidt über die Entwicklung der neutestamentlichen Texteditionen� 9 In 2014 wurde die Frage aufgeworfen, ob 3 P� Gisel, Apocryphes et canon: leurs rapports et leur statut respectif� Un questionnement théologique, Apocrypha 7 (1996), 225-234, hier: 230. 4 https: / / www�dur�ac�uk/ codec/ courses/ ; http: / / www�godgeleerdheid�vu�nl/ nl/ Images/ BiblicalStudies_tcm238-829352�pdf; Zugriff am 25� Mai 2017� 5 www�brill�com/ dbs; Zugriff am 25� Mai 2017� 6 https: / / www�dur�ac�uk/ codec/ ; Zugriff am 25� Mai 2017� 7 Als eine der Podiumsteilnehmerinnen hat die Verfasserin dieses Beitrages vorab ein Exemplar des Buches erhalten, dasselbe jedoch vor der Abfassung des vorliegenden Beitrages absichtlich noch nicht in Augenschein genommen� Auf die Diskussion auf der SBL- Tagung darf man gespannt sein� Der Titel des Buches von J� Siker lautet: Liquid Scripture: The Bible in a Digital World, Minneapolis (Minnesota) 2017 (im Erscheinen)� 8 W� van Peursen, Text Comparison and Digital Creativity: An Introduction, in: W� van Peursen / E� D� Thoutenhoofd / A� van der Weel (Hg�), Text Comparison and Digital Creativity� The Production of Presence and Meaning in Digital Text Scholarship (Scholarly Communication 1), Leiden 2010, 1-27. 9 U� Schmid, Thoughts on a Digital Edition of the New Testament, in: C� Clivaz / J� Meizoz / F� Vallotton / J� Verheyden (Hg�), unter Mitarbeit von B� Bertho, Reading Tomorrow� Die Bibel im digitalen Zeitalter 37 das Neue Testament ein bibliardion werden würde, ein „Büchlein“, das vom Web verschlungen wird, wie jenes aus Apk 10,10, das der Seher Johannes verschlingt� Nachfolgende Artikel und Sammelbeiträge sind dieser Frage weiter nachgegangen� 10 In einem Aufsatz von 2016 hat Carrie Schroeder dargelegt, dass sich die Erforschung digitaler Texte absehbar auch mit „multimodal geschichteten Welten des empowerment , des Engagements und der Interaktivität“ befassen wird, ein Thema, das nicht auf biblische Studien beschränkt, sondern auch in der Religionswissenschaft und darüber hinaus in der Diskussion ist� 11 Ein Beispiel für die fruchtbare religionswissenschaftliche Forschung ist der From Ancient Manuscripts to the Digital Era / Lire Demain� Des manuscrits antiques à l’ère digitale, Lausanne 2012 (e-book), 299-306. Vgl. besonders auch den älteren Beitrag von D� C� Parker, Through a screen darkly: Digital texts and the New Testament, JSNT 25 (2003 / 4), 395-411. 10 C� Clivaz, New Testament in a Digital Culture: A Bibliardion (Little Book) Lost in the Web? , JRMDC 3 (2014 / 3), 20-38; https: / / jrmdc.com/ journal/ article/ view/ 28; Zugriff am 25� 5� 2017� Vgl� auch C� Clivaz, Homer and the New Testament as „Multitexts“ in the Digital Age? , Scholarly and Research Communication 3 (2012 / 3), 1-15; http: / / src-online. ca/ index�php/ src/ article/ view/ 97; Zugriff am 25� 5� 2017; C� Clivaz, Jamais deux sans trois! Théologie, exégèse et culture, in: E� Cuvillier / B� Escaffre (Hg�), Entre exégètes et théologiens: la Bible� 24 e congrès de l’ACFEB (Toulouse 2011), Paris 2014, 253-269; C. Clivaz, Introduction� Digital Humanities in Jewish, Christian and Arabic traditions, JRMDC 5 (2016), 1-20; url: https: / / www.jrmdc.com/ journal/ article/ view/ 118; Zugriff am 25. 5. 2017; C. Clivaz / A. Gregory / D. Hamidović (Hg.), in Zusammenarbeit mit S. Schulthess, Digital Humanities in Biblical, Early Jewish and Early Christian Studies (Scholarly Communication 2), Leiden 2013; C. Clivaz / P. Dilley / D. Hamidović (Hg.), in Zusammenarbeit mit A� Thromas, Ancient Worlds in Digital Culture (Digital Biblical Studies 1), Leiden 2016; C. Clivaz / P. Dilley / D. Hamidović / M. Popović / C. T. Schroeder / J. Verheyden (Hg.), Digital Humanities in Jewish, Christian and Arabic traditions, JRMDC 5 (2016 / 1), https: / / www�jrmdc�com/ journal/ issue/ view/ 9; Zugriff am 25� 5� 2017� 11 C� T� Schroeder, The Digital Humanities as Cultural Capital: Implications for Biblical and Religious Studies, JRMDC 5 (2016 / 1), 21-49; hier: 43; https: / / www.jrmdc.com/ journal/ article/ view/ 84; Zugriff am 25� 5� 2017� Nach sechs Jahren als Assistenzprofessorin im Fach Neues Testament an der Universität Lausanne ist Claire Clivaz seit 2015 Leiterin des „Digital Enhanced Learning“ am Swiss Institute of Bioinformatics in Lausanne� Sie leitet interdisziplinäre Projekte im Schnittfeld von Neuem Testament und Digital Humanities� Ihre Publikationen bewegen sich auf diesen beiden Gebieten� 38 Claire Clivaz Überblicksartikel von Heidi Campbell Digital Religion. Understanding Religious Practice in New Media Worlds mit weiteren Publikationen in 2015 und 2016� 12 Freilich ist dieses digitale Sprudeln allein noch kein Beweis dafür, dass wir Zeugen einer epistemologischen Wende sind, geschweige denn, dass die enge theologische und kulturelle Bindung an die Bibel als Buch hiervon affiziert wird� Trotz jahrelanger Forschung zur digitalen Wende in den Geistes- und Bibelwissenschaften muss man zur Kenntnis nehmen, dass die weitere Annäherung nur Schritt für Schritt erfolgen kann� Inmitten eines kulturellen Kontexts, der sich möglicherweise zu schnell entwickelt, als dass er von der Mehrheit bereits in Gänze erfasst werden könnte, bedarf es erheblicher Anstrengungen, um unserem Verstand, der so sehr an die Kultur des Buchdrucks gewöhnt ist, zu einer Beobachterposition in ausreichender Distanz zu verhelfen� Im thematischen Zusammenhang des vorliegenden Sonderheftes der ZNT im 500� Jahr der Reformation geht es nachfolgend um die berühmte Formel sola scriptura und um die Wirkung der digitalen Wende auf die Erforschung des Neuen Testaments� Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund ( SEK ) hat in Ansehung der Zeichen der Zeit nicht etwa anlässlich des Reformationsgedenkens eine Studie zum protestantischen sola scriptura vorgelegt, sondern hierfür das titelgebende Thema sola lectura gewählt� Die schweizerischen Theologinnen und Theologen, die diese Schrift verfasst haben, formulieren es so: „Der Übergang von der ,Gutenberg-Galaxie’ zur Welt der elektronischen Medien fordert die auf der Bibel beruhende Lesekultur des Christentums heraus� Dieser Einschnitt wird jedoch relativiert durch die Langzeitperspektive� In der Mediengeschichte des Christentums zeigen sich zwar besondere Affinitäten zwischen der christlichen Botschaft und dem Medium Buch� Aber diese Verbindung ist nicht wesenhaft; sie reicht nicht hinein in die Identität christlichen Glaubens� […] Das Christentum ist keine Buchreligion“� 13 In Anerkennung der „Emanzipation der Schrift vom Buch“ unterstreicht das SEK -Dokument, „dass ,Schrift’ im elektronischen For- 12 H� A� Campbell (Hg�), Digital Religion� Understanding Religious Practice in New Media Worlds, London 2013; H� A� Campbell / B� Altenhofen, Methodological Challenges, Innovations and Growing Pains in Digital Religion Research, in: S� Cheruvallil-Contractor / S� Shakkour (Hg�), Digital Methodologies in the Sociology of Religion, London 2015� Theologische Arbeiten sind: H� A� Campbell / S� Garner, Networked theology� Negotiating faith in digital culture, Grand Rapids 2016� Vgl� besonders auch O� Krüger, Die mediale Religion� Probleme und Perspektiven religionswissenschaftlicher und wissenssoziologischer Medienforschung (Reihe Religion und Medien Bd� 1), Bielefeld 2012; T� Hutchings, Creating Church Online, London 2017, Bookshelf Online; https: / / online�vitalsource�com/ #/ books/ 9781136277498/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 13 SEK, Institut für Theologie und Ethik (ITE), Sola lectura? Aktuelle Herausforderungen des Lesens aus protestantischer Sicht, Bern 2016, 7, http: / / www�kirchenbund�ch/ de/ publika tionen/ studien/ sola-lectura, Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 39 mat interaktiver und damit weniger kanonisch wird: nicht mehr als vorgegebene, gedruckte Heilige Schrift, sondern als Teil eines fortwährenden Kommunikationsprozesses“� 14 Folgerichtig kann der über das sola scriptura hinausgehende Fokus auf sola lectura in Erinnerung rufen, dass „Lesen eine Kernkompetenz des Protestantismus [ist]� Seit seinen Anfängen in der Reformation ist er mit Leseerfahrungen verbunden - bezogen auf die Bibel und weit darüber hinaus“� 15 Anders als die Wittenberger Reformationsausstellung erhebt das SEK -Dokument nicht die Forderung, dass alle „durch das Willkommenstor des Buches“ eintreten� Vielmehr verwendet sie einige Geduld darauf, die Herausforderung zu verstehen, die von der „Emanzipation der Schrift vom Buch“ 16 und ihrer Mitwirkung am Kommunikationsprozess ausgeht� Lange vor der sich Bahn brechenden digitalen Wende hat Karl Barth betont, dass Schreiben ein Kommunikationsprozess mit einer „unsichtbaren Gemeinschaft“ ist� In einem kurzen Vimeo- Video 17 äußert sich Barth zum Schreibprozess seines Römerbriefkommentars� In den frühen 20er Jahren des 20� Jh� war er auf der Suche nach Weggefährten für ein gemeinsames Verstehen der Bibel: „Was ich damit erreichen wollte: ursprünglich nicht ein Buch, das ich herausgeben wollte, sondern eine Sammlung von Manuskripten, die ich dann meinen Freunden vorgelesen habe� Und dann kam es so Schritt für Schritt dazu, dass es doch ein Buch werden sollte, und dann ist also ein Buch geworden� Aber wenn ich gefragt bin, was ich damit erreichen wollte, so könnte ich eigentlich nur sagen, ich habe mich umgesehen nach Genossen, nach Mitmenschen, nach Mitchristen, die möglicherweise aus derselben Verlegenheit, in der ich mich befand, ebenfalls im Begriff waren, wieder ganz anders nach der Bibel, und nach dem Neuen Testament und dem Römerbrief zu greifen, mit denen zusammen, wie soll ich sagen, in unsichtbarer Gemeinschaft diesen alten Text zu lesen“� Hält man sich das SEK -Dokument und das Barth-Video vor Augen, erscheint es lohnend, sich mit dieser Emanzipation des biblischen Textes vom Buch eingehender zu befassen, sowie damit, wie diese Emanzipation - sei es zum Guten 14 Ebd�, 10� 15 Ebd�, 31� 16 Die französische Übersetzung von „die Emanzipation der Schrift vom Buch“ lautet unglücklicherweise „la dissociation entre l’écrit et le livre“, also „die Trennung zwischen dem geschriebenen Text und dem Buch“� Die Dynamik, die im deutschen „Emanzipation“ enthalten ist, die potentielle Ermächtigung zu neuen Möglichkeiten, geht in der französischen Übersetzung verloren; vgl� FEPS, Institut de théologie et d’éthique (ITE), Sola lectura? Enjeux actuels de la lecture dans une perspective protestante, Bern 2016, 10� http: / / www�kirchenbund�ch/ fr/ publications/ tudes/ sola-lectura; Zugriff am 25� 5� 2017� 17 Karl Barth, https: / / vimeo�com/ 90346827 (ohne Orts- und Zeitangabe der Aufnahme, upload durch The Center for Barth Studies am Freitag, den 28. 3. 2014, 1: 27 MEZ; Zugriff am 25� 05� 2017� 40 Claire Clivaz oder zum Schlechten - durch den von ihr ausgelösten Kommunikationsprozess den biblischen Text wieder mit unterschiedlichen Gemeinschaften verbindet� Das erste Kapitel dieses Beitrages stellt die These auf, dass die „Emanzipation der Schrift vom Buch“ einen Schock und eine Herausforderung für die gesamte geisteswissenschaftliche akademische community darstellt� Die symbolischen Dimensionen der Bibel als eines besonderen Buches haben sich hemmend auf die Etablierung der Digital Humanities ausgewirkt, in denen vielfach religiöse Vorstellungen wirksam sind, ohne immer wahrgenommen oder gar kritisch reflektiert zu werden� Das zweite Kapitel befasst sich mit den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der kritischen Editionen des Neuen Testaments: Dass sie zahlreicher werden, weist auf eine Pluralisierung der akademischen communities , die sie lesen� Dieses Kapitel wirft die Frage nach der Kanonizität auf, und ob die digitale Bibel „weniger kanonisch“ 18 ist, dafür aber multikultureller und vielsprachiger, wie etwa die Platform of the Arabic Versions of the New Testament ( PAVON e) beispielhaft zeigt� 19 Das dritte Kapitel analysiert die Herausforderung der digitalen Bibel, die im tagtäglichen Umgang zunehmend multimodal wird, sofern sich ihr Bilder, Klänge und Musik hinzugesellen� Unterschiedliche christliche Gemeinschaften verbreiten bereits biblische Inhalte in multimodaler Weise, so etwa die erfolgreiche Anwendung YouVersion 20 , oder die Facebook Seite Pain de ce jour. 21 Es wird von Tag zu Tag schwieriger, der Frage auszuweichen, welche Bedeutung diese Entwicklungen für die Zukunft der Bibelwissenschaften haben könnten� Mit Blick auf den theologischen Horizont werfen diese wenigen Überlegungen zu den Herausforderungen an die Bibel im digitalen Zeitalter eine neues Licht auf ein Diktum, das ich in einer meiner frühesten Forschungsbeiträge in die Diskussion gebracht habe, nämlich: sola scriptura in koinonia � 22 18 Dieses Thema des SEK-Dokuments habe ich ausführlicher behandelt in: C� Clivaz, Categories of Ancient Christian texts and writing materials: ’Taking once again a fresh starting point’, in: Clivaz et al., Ancient Worlds (Anm. 10), 35-58. 19 http: / / pavone�uob-dh�org/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 20 https: / / www�youversion�com; Zugriff am 25� 5� 2017� 21 https: / / www�facebook�com/ paindecejour/ ? fref=ts; Zugriff am 25� 5� 2017� 22 C� Clivaz, La troisième quête du Jésus historique et le canon: le défi de la réception communautaire� Un essai de relecture historique, in: D� Marguerat / E� Norelli / J�-M� Poffet (Hg�), Jésus de Nazareth� Nouvelles approches d’une énigme (MBo 38), Genf 1998, 541-558, hier: 558� Die Bibel im digitalen Zeitalter 41 1. Der Text außerhalb des Buches: Ein Wendepunkt für die gesamten Geisteswissenschaften Im Jahr 1998 hat der Philosoph Jacques Derrida in einem Radiointerview die tiefgreifenden epistemologischen Veränderungen erläutert, die er in ihrem Frühstadium beobachtete: „Was gegenwärtig im Entstehen ist, und zwar in einem Rhythmus, den wir noch immer nicht berechnen können, sehr langsam und sehr schnell zugleich, ist, ganz klar, ein neuer Mensch, ein neuer menschlicher Körper, eine neue Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und den Maschinen, eine Transformation, die wir bereits wahrnehmen können“� 23 Innerhalb dieser Transformation interessiert ihn besonders die Zukunft des Buches� Er erkennt einerseits seine eigene Verbundenheit mit dieser Form des Schreibens, will andererseits aber auch nicht der Entwicklung der zahlreichen Kommunikationsweisen entgegenwirken, die vom Buch unabhängig sind� Die Transformation des Schreibens durch digitale Hilfsmittel ist auf diesem generellen hermeneutischen Hintergrund zu lesen� Es handelt sich um ein zutiefst uneindeutiges Phänomen, angesichts dessen wir mit Fug und Recht Unsicherheit verspüren� Dieses Gefühl der Unsicherheit schlägt sich in der abweichenden Übersetzung des deutschen „Emanzipation“ durch das französische „dissociation“ nieder: Die „Emanzipation der Schrift vom Buch“ wird in der französischen Fassung mit „la dissociation entre l’écrit et le livre“, „die Trennung zwischen dem geschriebenen Text und dem Buch“ wiedergegeben� 24 „Emanzipation“ ist etwas potentiell Stärkendes, etwas Positives, das in „Trennung“ nicht enthalten ist� Diese Diskrepanz illustriert die gemischten Gefühle der gesamten Geisteswissenschaften angesichts des Aufbruchs - des Exodus? - des geschriebenen Textes aus dem Buch� So hat sich etwa Robert Darnton, wie ich wiederholt angemerkt habe, angesichts der digitalen Kultur sowohl mit Besorgnis wie auch mit erheblichem Enthusiasmus geäußert� 25 Ober man denke an 23 J� Derrida, Radiointerview vom Dezember 1998, wieder gesendet auf France Inter in A voix nue am 14� Oktober 2010: A voix nue - Jacques Derrida (4 / 5) 29 Miuten, von Catherine Paoletti; Realisation: Bruno Sourcis: 4) La pression des événements ou comment se manifester dans la vie publique. Zitat bei min. 16: 22: „Ce qui se prépare, à un rythme encore incalculable, de façon à la fois très lente et très rapide, c’est un nouvel homme bien sûr, un nouveau corps de l’homme, un nouveau rapport du corps de l’homme aux machines, et on l’aperçoit déjà cette sorte de transformation“ (https: / / www�franceculture�fr/ 2016-01-20engagement-politique-et-nouvelles-technologies-a-voix-nue-jacques-derrida-45; Zugriff am 25� 5� 2017)� 24 Vgl� Anm� 16� 25 R� Darnton, The Case for Books: Past, Present, Future, New York 2009, 53 und XIII; zitiert bei C� Clivaz, Common Era 2�0� Mapping the Digital Era from Antiquity and Modernity, in: Clivaz et al., Reading Tomorrow (Anm. 9), 23-60, hier: 24 und 53. 42 Claire Clivaz die völlige Ablehnung der „Mutter aller Listen“, des World Wide Web , das „jede Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum“ 26 verwischt, durch Umberto Eco� Wenn ich auch mit Jacques Derrida anerkenne, dass der Exodus weg vom Papier nichts Geringeres ist als ein Erdbeben, 27 bin ich jedoch nach wie vor der Überzeugung, dass sich die Geisteswissenschaften, die den Weg heraus aus dem Buch gehen - die losgebundenen Geisteswissenschaften 28 - innerhalb des digitalen Abenteuers prächtig entwickeln können� Losgebunden von Buchdeckeln, Seiten und Papier können die Geisteswissenschaften zu neuen digitalen Grenzen vorstoßen, die nicht so etwas wie eine „bessere Welt“ versprechen, wohl aber neue Bedingungen des Denkens und Forschens schaffen, die man auf den Begriff der „Erbeutung“ bringen kann� Die digitale Geisteswissenschaftlerin Johanna Drucker hat in 2011 den klugen Vorschlag gemacht, den Begriff der data (Daten) gegen den der capta (die erbeuteten Dinge) zu ersetzen: „Die unterschiedliche Etymologie von ,data’ und ,capta’ verdeutlicht die Unterscheidung zwischen konstruktivistischen und realistischen Ansätzen� Mit ,capta’ ist das ,Erbeutete’, aktiv ,Angeeignete’ gemeint, während ,data’ das ,Gegebene’ bezeichnet, das aufgezeichnet und beobachtet werden kann� Aus dieser Unterscheidung erwächst eine ganze Welt von Unterschieden� Die geisteswissenschaftliche Erkundung erkennt den situativen, partiellen und gestaltenden Charakter von Wissensproduktion an, die Einsicht, dass Wissen konstruiert, angeeignet ist, nicht einfach gegeben als natürliche Repräsentation präexistierender Fakten“� 29 Die Erbeutung von Wissen auf dem Ozean der losgebundenen Geisteswissenschaften erinnert an die epistemologischen Bedingungen des 17� Jh�, so der französische Theologe Olivier Abel: „Die Hochblüte der Seeräuberei fand vor allem in der Karibik zwischen 1630 und 1670 statt� In den neuen Welten wird alles dargeboten in der Überfülle der göttlichen Providenz� […] Wir befinden uns hier nicht mehr in einer Ökonomie der Gabe und des Tausches, sondern in 26 U� Eco, The Infinity of Lists, übers� von A� McEwen, New York 2009, 327; zitiert bei C� Clivaz, Common Era 2�0 (Anm� 25), 44� 27 J� Derrida, Paper of me, You Know … (New Speculations on a Luxury of the Poor), in Paper Machine, J. Derrida, Board of Trustees (Übs.), Stanford (California) 2005, 41-65, hier: 42; http: / / users�clas�ufl�edu/ burt/ Derridapaperorme�pdf, Zugriff am 25� 5� 2017, zitiert bei C� Clivaz, Covers and Corpus wanted! Some Digital Humanities Fragments, DHQ 10 (2016 / 3), § 12, http: / / www�digitalhumanities�org/ dhq/ vol/ 10/ 3/ 000257/ 000257�html, Zugriff am 25� 5� 2017� 28 C� Clivaz / D� Vinck (Hg�), Les humanités délivrées, Les Cahiers du Numériques 10 (2014 / 3); D� Vinck / C� Clivaz (Hg�), Les humanités délivrées, La Revue d’Anthropologie des Connaissances 8 (2014 / 4)� 29 J� Drucker, Humanities Approaches to Graphical Display, DHQ 5 (2011 / 1), § 3; http: / / www�digitalhumanities�org/ dhq/ vol/ 5/ 1/ 000091/ 000091�html, Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 43 einer Ökonomie der ,Erbeutung’, die sich sogar im Titel der Schrift Vom Recht auf Beute des niederländischen Philosophen Hugo Grotius findet“� 30 Diese „Kultur der Erbeutung“ impliziert, dass „das Recht aufzubrechen die Bedingung für die Fähigkeit ist, sich zu binden� Die politische Frage lautet dann zunehmend: ,Wie können wir bei einander bleiben, wenn wir stets die Möglichkeit haben, ungebunden zu sein? “� 31 Die Geisteswissenschaften sind heute, da sie auf dem Ozean der Daten segeln, mit exakt dieser Frage konfrontiert: Wie können Forscher Verbindungen herstellen, wie werden sie Wissen erbeuten auf den Meeren der losgebundenen Geisteswissenschaften? Die Alternative von Bindung und Ungebundensein lenkt alle Aufmerksamkeit auf die Frage, welche Rolle Gemeinschaften in der digitalen Kultur spielen� In einem Text von 2009 hat die Digital-Humanities -Forscherin Kathleen Fitzpartick auf die Bedeutung der Bildung von Gemeinschaften hingewiesen, um eine neue Weise des peer-review in digitalen akademischen Kreisen zu entwickeln: Eine Gemeinschaft zu bilden „ist der Schlüssel für künftige Netzwerke wissenschaftlichen Publizierens, und besonders für die Implementierung des peer-topeer-review “, ein peer-review , das nach ihrer Einschätzung künftig nicht mehr publikations-, sondern gemeinschaftsbasiert sein wird� 32 Nach nunmehr acht Jahren ist dieser Wandel im Prozess des peer-review noch nicht eingetreten, aber die (Re-)Konfiguration akademischer Gemeinschaften ist erkennbar ein strategischer Punkt, der ansatzweise sogar Auswirkungen auf die Edition(en) des Neuen Testaments hat, wie wir in Kapitel 2 sehen werden� Der Dialog zwischen den Geisteswissenschaften und den sogenannten „exakten Wissenschaften“ ist ebenso ein Thema in dieser Zeit der Rekonfiguration von Gemeinschaften� 33 Wenn die Geisteswissenschaftler in der Lage sind, alte Grenzen hinter sich zu lassen und zu neuen Grenzen vorzudringen, wird ihr Jahrhunderte altes Wissen nützlicher sein denn je, freilich so, wie der Digital- Humanities -Forscher Domenico Fiormonte unterstreicht, dass „jeder Akt des Enkodierens, oder besser jeder Akt der Repräsentation eines spezifischen ,Objekts’ mittels einer formalen Sprache die Wahl aus einem Set von Möglichkeiten 30 O. Abel, L’océan, le puritain, le pirate, Esprit 356 (2009), 104-110, hier: 107. 31 O� Abel, Essai sur la prise� Anthropologie de la flibuste et théologie radicale protestante, Esprit 356 (2009), 114-115, hier: 115; http: / / olivierabel.fr/ nuit-ethique-les-cultures-et-ledifferend/ pirates-puritains�php; Zugriff am 25� 5� 2017� 32 K� Fitzpatrick, Planned Obsolescence: Publishing, Technology, and the Future of the Academy, MediaCommons Press, 2009, 16; http: / / mcpress�media-commons�org/ plannedobsolescence/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� Printversion: New York, 2011� 33 Weiteres zu diesem Thema bei C� Clivaz, Lost in translation? The odyssey of the ,digital humanities‘ in French, Studia UBB Digitalia 62 (2017/ 1), 26-41� 44 Claire Clivaz einschließt und deshalb einen interpretativen Akt darstellt“� 34 Auch Computersprachen wie Unix 35 bleiben Sprachen und bedürfen der Interpretation, die eine Kernaufgabe der Geisteswissenschaften 36 ist� In diesem Kontext befassen sich etliche Geisteswissenschaftler mit unserer Beziehung zur Symbolik des Buches, oder gar des Buches der Bücher, wenn sie von der symbolischen Wirkung der Bibel sprechen, etwa Jean-Claude Carrière, Umberto Eco, 37 oder neuerdings Maurice Olender� Während das SEK-Dokument daran erinnert, dass die Beziehung zwischen dem Christentum und dem Buch nicht essentiell ist 38 , gehört Olender mit seinem jüdischen kulturellen Hintergrund zu denjenigen Geisteswissenschaftlern, die eine grundlegende Verbindung zwischen dem Urkundenbestand zumal des Christentums und der westlichen Zivilisation sehen� 39 Seine Sorge ist, dass das digitale Schreibmaterial uns am Vergessen hindert und uns zwingt, ohne Maß alle geistigen Spuren aufzubewahren� 40 Sein Buch endet mit einer Art Parabel: Ein Mann führt ein „analphabetisches Lesen“ 41 vor, das die Lesenden zu der Frage anregt, ob ein comutergesteuertes automatisches Lesen ebenfalls solch analphabetisches Lesen hervorbringt� Während Schriftsteller, Philosophen und Denker aus verschiedenen Gebieten sich über den Exodus der Geisteswissenschaften aus dem Buch vielfältige Gedanken machen, nehmen Exegten an dieser Debatte nicht teil� Ihr bevorzugtes Studienobjekt, die Bibel, steht ganz im Zentrum des Interesses, und dementsprechend sind auch ihre Kernkompetenzen das Lesen und die Interpretation� Ich halte es für dringlich zu sehen, dass unser Forschungsfeld in die voranstehend 34 D� Fiormonte, The Digital Humanities from Father Busa to Edward Snowden, Media Development LXIV (2017 / 2), 29-33, hier: 30. Fiormonte bezieht sich hier interessanterweise auf Arbeiten der italienischen Forscher Tito Orlandi, Raul Mordenti and Giuseppe Gigliozzi� Das genannte Heft von Media Development wird ab August 2017 auf der WAAC Website (http: / / www�waccglobal�org/ resources/ media-development; Zugriff am 25� 5� 2017) zur Verfügung stehen, es zirkulierte aber vorab auch als pdf in der Humanist Discussion Group 31 (2017 / 51, http: / / lists�digitalhumanities�org/ pipermail/ humanist/ 2017-May/ 014809�html; Zugriff am 25� 5� 2017)� Ich zitiere aus dieser Quelle, nachdem ich vergeblich versucht habe, das Heft über die WACC-Website käuflich zu erwerben� 35 https: / / de�wikipedia�org/ wiki/ Unix; Zugriff am 25� 5� 2017� 36 Vgl� Y� Citton, L’Avenir des Humanités� Économie de la connaissance ou culture de l’interprétation? , Paris 2010, 21� 37 J�-C� Carrière / U� Eco, N’espérez pas vous débarrasser des livres, Paris 2009, 294: „In den Buchreligionen hat das Buch nicht nur als Behälter gedient, als Gefäß, sondern auch als ,weiter Winkel’, von dem aus es möglich war, alles zu beobachten, es zu einander in Beziehung zu setzen, möglicherweise sogar über alles zu entscheiden�“ 38 SEK, Sola lectura (Anm� 13), 7� 39 M. Olender, Un fantôme dans la bibliothèque, Paris 2017, 78-80. 40 Ebd�, 65� 41 Ebd., 190-192. Die Bibel im digitalen Zeitalter 45 skizzierte übergreifende Debatte involviert ist, und dass wir an dieser Debatte aus mindestens zwei Gründen teilnehmen sollten� Erstens geistert viel religiöses Vokabular in der digitalen Kultur herum, das kritisch reflektiert werden sollte, angefangen mit dem französischen Wort „ordinateur“ (Computer)� Jacques Perret, Professor an der Sorbonne, wurde im Jahr 1953 vom Präsidenten von IBM gebeten, eine französische Übersetzung für das englische „computer“ zu wählen� In einem Brief erläutert er seine Wahl mit Bezug auf die Schöpfungsgeschichte, ja sogar auf die katholische Zeremonie der priesterlichen „Ordination“� 42 Ein anderes Beispiel ist das Wort „cloud“ 43 , das die Vorstellung evoziert, dass digitales Material „in die Luft steigt“, und das außerdem unwillkürlich an die Wolke aus der Wüstenwanderung Israels erinnert, die die Gegenwart Gottes symbolisiert� Dieses Vokabular sollte analysiert und gegebenenfalls entzaubert werden� Dann würden wir möglicherweise auch davon Abstand nehmen, die digitale Welt als etwas „Entmaterialisiertes“ 44 anzusehen� Zweitens sollten Theologen und Exegeten an der Diskussion über die Frühphase der digitalen Geisteswissenschaften teilnehmen, in der immer wieder der Name des Jesuitenpaters Roberto Busa eine herausragende Rolle spielt, wie Julianne Nyhan und Andrew Flinn in Erinnerung rufen� 45 Der Besuch Busas beim Präsidenten von IBM im Jahr 1949 wird oft als Datum von historischer Tragweite betrachtet, und für Fiormonte besteht kein Zweifel, dass „Busas Besuch das Gründungsdatum für die Disziplin des Humanities Computing war (eine Bezeichnung, die Jahre später in Digital Humanities abgeändert wurde), vor allem aber schaffte er die Grundlage für eine tiefgreifende epistemologische und kulturelle Transformation“� 46 Mit Milad Doueihi stimme ich völlig darin überein, dass eine solch grundsätzliche historische Lektüre auch andere wichtige Gestalten in Betracht ziehen muss, etwa den genialen Informatiker Alan Turing (1912-1954). 47 Die kluge 42 Man kann diesen Bief online lesen: P� Nieuwbourg, Découvrez l’origine du mot ordinateur, 28� 07� 2009, http: / / blog�museeinformatique�fr/ Decouvrez-l-origine-du-mot-ordinateur-invente-il-y-a-pres-de-55-ans-par-Jacques-Perret-a-la-demande-de-IBM_a212�html; Zugriff am 25� 5� 2017� 43 S� J� Shep, Digital Materiality, in: S� Schreibman / R� Siemens / J� Unsworth (Hg�), A New Companion to Digital Humanities, New York 2016, Kindle edition, Z. 10 861-11 168. 44 C� Clivaz, Vous avez dit ’dématérialisation’? Diagnostic d’une panne culturelle� Le Temps 2� 07� 2016, https: / / blogs�letemps�ch/ claire-clivaz/ 2016/ 07/ 02/ vous-avez-dit-dematerialisa tion-diagnostic-dune-panne-culturelle/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 45 J�Nyhan / A� Flinn, Computation and the Humanities Towards an Oral History of Digital Humanities (Springer series on Cultural Computing), Cham 2016, 1; open access unter: https: / / link�springer�com/ book/ 10�1007%2F978-3-319-20170-2; Zugriff am 25� 5� 2017� 46 Fiormonte, The Digital Humanities (Anm� 34), 30� 47 M� Doueihi, Préface� Quête et enquête, in: O� Le Deuff (Hg�), Le temps des humanités digitales, Limoges 2014, 7-10; hier : 8-9. 46 Claire Clivaz Monographie von Steven E� Jones über Busa hat eine sinnvolle Forschungsfrage aufgeworfen, die uns besser verstehen hilft, was es mit diesem Jesuiten auf sich hatte� Jones versteht sein Buch nicht als ein religiöses oder theologisches Portrait Busas 48 , macht aber auf einige Punkte aufmerksam, die Theologen und Exegeten unterschiedlicher Konfessionen einzuladen geeignet sind, eine eigene Sicht auf diese Begebenheiten zu entwickeln� Jones unterstreicht, dass „das Interesse von IBM in den Jahren zwischen 1949 und 1952 darin bestand, in der Nachkriegszeit die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan, zu Italien und zu ganz Europa zu stabilisieren, und damit die Belange der 1949 gegründeten firmeneigenen World Trade Corporation zu stärken“� 49 Busa, dem dieser kommerzielle Kontext klar vor Augen stand, fragt, ob wohl diese Kooperation zwischen einem Geschäftsmann und einem Priester als von Gott gesegnet angesehen werden könne, und er bejaht diese Frage unter Hinweis auf ein nicht verifizierbares Bibelwort� 50 Seine Begeisterung für Humanities Computing ist noch seiner in 2004 erschienenen Einleitung zur ersten Auflage des Companion to Digital Humanities zu entnehmen, wo er schreibt „ Digitus Dei est hic ! Der Finger Gottes ist hier! “� 51 Busa hat niemals die Computer-Philologie auf die Bibel angewendet, wohl aber auf die Qumran-Texte und auf die Werke des Thomas von Aquin, 52 die, wie ein IBM -Dokument hervorhebt, 53 den Umfang der Bibel um das Sechzehnfache überschreiten� Der erste Forscher, der sich tatsächlich eines computergestützten Zugangs zur Bibel bedient hat, war der Episkopale Pastor Rev� John W� Ellison, der zeitgleich mit Busas Index zu Thomas von Aquin einen Index zur englischen Revised Standard Version der Bibel erstellte� 54 Niemand kennt heute mehr seinen Namen, während der Name Roberto Busa durch einen regelmäßig vergebenen Preis auf dem Feld der Digital Humanities geehrt wird� 55 Im Hinblick auf die theologischen, politischen, ökonomischen und konfessionellen Implikationen dieser Geschichte wären weitere Forschungen von hohem Interesse� Ob man es nun begrüßt oder bedauert, das sola scriptura hat in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts mit John W� Ellison den digitalen Teil seiner Geschichte betreten, 48 S� E� Jones / Roberto Busa, S� J�, and the emergence of Humanities Computing� The priest and the punched cards, London 2016, 14� 49 Ebd�, 97� 50 Ebd�, 97� 51 R� Busa, Foreword: Perspectives on the Digital Humanities, in: S� Schreibman / R� Siemens / J� Unsworth (Hg�), A Companion to Digital Humanities, Oxford 2004, http: / / www�digitalhumanities�org/ companion/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 52 Jones, Roberto Busa, 13� 53 Ebd�, 126� 54 Ebd., 100-101. 55 http: / / adho�org/ awards/ roberto-busa-prize; Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 47 und das Milieu der Bibelwissenschaften tut gut daran, sich an der Analyse dieser epochalen Neuerung des Beschreibmaterials zu beteiligen, der wichtigsten seit dem Übergang von der Rolle zum Kodex, so Roger Chartier und Christian Vandendorpe� 56 Wir wenden uns nun der Frage zu, was die besagte Neuerung gegenwärtig für die Edition des Neuen Testaments selbst bedeutet� 2. Textualität in der Diskussion: Vom Edieren des Neuen Testaments in einer digitalen Kultur Aufmerksame Professoren, die das Neue Testament in der Originalsprache unterrichten, machen die überraschende Erfahrung, dass Studierende zunehmend von der online-Version des Griechischen Neuen Testaments Gebrauch machen, anstelle ein gedrucktes , NT Graece‘ in der 28� Auflage des Nestle-Aland aufzuschlagen� 57 Wenn dann von studentischer Seite ein anderer Text als derjenige des Nestle-Aland vorgelesen wird, bedarf es regelmäßig einer Unterbrechung, um zu verifizieren, was für ein Griechisches Neues Testament die Studierendenden im Netz gefunden haben� Sucht man über google auf Französisch „Nouveau“ + „Testament“ + „Grec“, erscheint an erster Stelle eine anonyme, selbstgemachte Ausgabe des Griechisches Neuen Testaments, publiziert von der sogenannten „TheoTeX edition“� 58 Nach geduldiger Suche findet man eine einzigartige Erklärung zu TheoTeX: dieses Editionsprojekt möchte „Bücher über protestantische, evangelische Theologie mit Hilfe von LaTeX und Pearl in den Formaten PDF und ePub neu herausgeben“� 59 Zur anonymen Edition des Griechischen Neuen Testaments gibt TheoTeX die mit „Phoenix, den 12� September 2014“ unterzeichnete Erklärung 60 ab, dass es sich bei dem Text um eine Adaption der Robinson- Pierpont-Ausgabe des Byzantinischen Griechischen Neuen Testaments handelt, mit Änderungen und Modifikationen nach einem eigenen System� 61 Der/ die 56 R� Chartier, Les métamorphoses du livre: Les rendez-vous de l’édition� Le livre et le numérique, Paris 2001, 8; C� Vandendorpe, From Papyrus to Hypertext: Toward the Universal Digital Library (Topics in the Digital Humanities), Urbana (Illinois) 2009, 127; vgl� hierzu C� Clivaz, The New Testament at the Time of the Egyptian Papyri� Reflections Based on P12, P75 and P126 (P� Amh� 3b, Bod� XIV-XV and PSI 1497), in: C� Clivaz / J� Zumstein (Hg�), Reading New Testament Papyri in Context - Lire les papyrus du Nouveau Testament dans leur contexte (BETL 242), Leuven 2011, 15-55; hier: 20-23. 57 Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, Stuttgart 28� Aufl� 2012� Griechischer Text ohne Apparat: www�nestle-aland�com/ en/ read-na28-online/ , Zugriff am 25� 5� 2017� 58 https: / / theotex�org/ ntgf/ cover�html; Zugriff am 25� 5� 2017� 59 http: / / www�lulu�com/ spotlight/ TheoTeX; Zugriff am 25� 5� 2017� 60 https: / / theotex�org/ ntgf/ notice_theotex�html; Zugriff am 25� 5� 2017� 61 M� A� Robinson / W� G� Pierpont (Hg�), The New Testament in the Original Greek Byzantine Textform, Southborough (Massachusetts) 2005� 48 Claire Clivaz anonyme Autor/ in bringt seine/ ihre Freude darüber zum Ausdruck, dass es im digitalen Zeitalter so einfach ist, das Neue Testament in der Originalsprache zu lesen, macht jedoch keine Aussage darüber, ob er / sie das Copyright für die Robinson-Pierpont-Ausgabe eingeholt hat� 62 Auch fällt kein Wort über die finanziellen und / oder institutionellen Ressourcen für die Erstellung dieser selbstgemachten Edition� Wenn Studierende sich im akademischen Unterricht solcher Quellen bedienen, mag die Lehrperson in einem ersten Reflex mit Umberto Eco beklagen, dass das World Wide Web „jede Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum verwischt“ (s� o� Kap� 1)� Aber diese selbstgemachte TheoTeX-Edition ist nur ein besonders seltsamer Fall der erdbebenartigen Situation auf dem Feld der Edition des Griechischen Neuen Testaments und der neutestamentlichen Textkritik (NtTk)� David Parker hat die digitale Wende in der NtTk in 2008 als „dramatische Veränderung“ bezeichnet 63 , auf einem Feld also, auf dem das Institut für Neutestamentliche Textforschung ( INTF ) und das International Greek New Testament Project ( IGNTP ) seit Jahrzehnten die Verantwortung für die wissenschaftliche Edition des Griechischen Neuen Testaments tragen� In 2012 habe ich diese „dramatische Veränderung“ in einigen Grundzügen beschrieben, mit Bezug v� a� auf den „Paukenschlag“ im Jahr 2010: auf dem Annual Meeting der Society of Biblical Literature ( SBL ) im November 2010 in Atlanta wurde eine neue, unabhängige Ausgabe des griechischen NT präsentiert und allen Teilnehmenden angeboten, herausgegeben von dem auf diesem Feld anerkannten Gelehrten Michael Holmes, mit Unterstützung von Logos Software und der Society of Biblical Literature. 64 Weder das INTF noch das IGNTP waren über das Projekt informiert worden� Für die mit neutestamentlicher Textforschung befassten Forscher war dies ein regelrechter Schock� 65 Obwohl die SBL -Edition auf der Ausgabe von Westcott / Hort aus dem 19� Jh� basiert 66 und sämtliche Informationen der Papyri ausblendet, wurde sie enthusiastisch aufgenommen, v� a� deshalb, weil sie den textkritischen Apparat open access anbietet, während die 28� Auflage des Nestle-Aland nur den griechischen 62 https: / / theotex�org/ ntgf/ notice_theotex�html; Zugriff am 25� 5� 2017: „Die Beschaffung derjenigen Werke, die nötig sind, um das Neue Testament in seiner Originalsprache zu lesen, war nie so einfach wie in unserem digitalen Zeitalter“ (anonymer Autor)� 63 D� C� Parker, An introduction to the New Testament manuscripts and their texts, Cambridge 2008, 1� 64 H� W� Holmes (Hg�), The SBL Greek New Testament, SBL / Logos Bible Software, 2010� Online edition: http: / / www�sblgnt�com; Zugriff am 25� 5� 2017� 65 Clivaz, Homer (Anm� 10), 2� 66 B� F� Westcott / F� J� A� Hort, The Greek New Testament� Peabody 2007; Reprint von The New Testament in the original Greek� Vol� 1: Text� Cambridge / London 1881� Die Bibel im digitalen Zeitalter 49 Text ohne Apparat open acess zur Verfügung stellt� 67 Der autodidaktische Chemiker Wiland Willker, Moderator des Yahoo Forums zur NtTk 68 , hat in 2010 den Wunsch geäußert, dass weitere Textkritiker neue Editionen des griechischen NT in der Art der Edition von Mike Holmes produzieren sollten� 69 In diese Richtung geht die angekündigte Tyndale House Edition of the Greek New Testament ( THEGNT ), von Dirk Jongkind, Peter Head und Peter Williams� Sie basiert auf der Tregelles-Edition aus dem 19� Jh� 70 und entsteht unter Mitarbeit des Teams von Dan Wallace am Center for the Study of the New Testament Manuscripts in Texas� 71 Dieses Phänomen, das ich in 2012 als „institutionelle Deregulierung“ der wissenschaftlichen Edition des Griechischen Neues Testaments bezeichnet habe 72 , hat sich in den vergangenen Jahren noch weiter ausgebreitet� Heute würde ich eher von einer institutionellen Diversifikation oder Transformation sprechen� Diese neutralere Bezeichnung ist erforderlich, weil einerseits klar ist, dass wir die frühere Situation nicht wiederherstellen werden, und andererseits, weil es mit Blick auf die NtTk eine Gesamtsicht dieser überaus komplexen Entwicklung zu gewinnen gilt, um zu verstehen, welche Prozesse tatsächlich ablaufen� Auf der Grundlage meiner eigenen Analysen, die in den kommenden Jahren gewiss noch weitergehen werden, möchte ich hierzu einige Bemerkungen machen� Erstens möchte ich mit Nachdruck unterstreichen, dass das INTF und das IGNTP ihre Arbeit mit aller Geduld und Beharrlichkeit forstsetzen sollten, damit auch künftig gewährleistet ist, dass es eine kritische Standardausgabe gibt, die von allen, die sich mit dem Neuen Testament wissenschaftlich befassen, vorrangig konsultiert werden sollte� Nicht zuletzt ist zu hoffen, dass diese Arbeit weiterhin mit Mitteln der öffentlichen Bildungshaushalte intensiv unterstützt wird� Das Aufkommen nichtakademischer Initiativen wie der TheoTeX-Edition des Griechischen Neuen Testaments hinterlässt einen durchaus zwiespältigen Eindruck: Nur detaillierte Nachforschungen könnten das Autorenteam oder 67 Vgl� Anm� 57� 68 Für eine Analyse der Entwicklung der NtTk in den sozialen Netzwerken vgl� C� Clivaz, Internet Networks and Academic Research: The Example of the New Testament Textual Criticism, in: C. Clivaz / A. Gregory / D. Hamidović (Hg.), in Zusammenarbeit mit S. Schulthess, Digital Humanities in Biblical, Early Jewish and Early Christian Studies (Scholarly Communication 2), Leiden 2013, 151-173. 69 W� Willker, Analysis of the SBL GNT in the Gospels, 2010, http: / / www-user�uni-bremen� de/ ~wie/ texte/ SBL-GNT-Analysis�pdf; Zugriff am 25� 5� 2017� 70 http: / / www.tyndale.cam.ac.uk/ thegnt; Zugriff am 25. 5. 2017; S. P. Tregelles, Hē kainē diathēkē = The Greek New Testament, London 1887. 71 http: / / www�tyndalehouse�com/ tregelles/ page8�html; http: / / www�csntm�org; Zugriff am 25� 5� 2017� 72 Clivaz, Homer (Anm� 10), 3� 50 Claire Clivaz die Gruppe ausfindig machen und die strategischen Intentionen hinter solch einem ja gewiss kostspieligen Projekt offenlegen� Bisher haben wir auf diese Fragen schlicht keine Antworten� Alte Handschriften neutestamentlicher Texte stoßen heute auf das Interesse in Kreisen, bei denen man ein solches gar nicht vermutet, bis hin zu salafistischen Zirkeln, die eine arabische Übersetzung des gesamten Codex Vaticanus open access zur Verfügung stellen� 73 Eine soziologische Analyse würde helfen, die Hintergründe einer solchen Initiative besser zu verstehen� Nicht zuletzt sichern das INTF und das IGNTP einen etischen 74 Zugang zur Erforschung und Edierung von Handschriften des Griechischen Neuen Testaments� Wenn sich beispielsweise Robinson und Pierpont auf Gott berufen und in die Einleitung zu ihrer Edition des Byzantinischen Griechischen Neuen Testaments ein Gebet für ihre Arbeit einfügen, 75 kann dies eine deutliche Barriere für säkulare Studierende und Forschende bedeuten� Im Anschluss daran ist zweitens zu bedenken: Die digitale Wende transformiert das Feld der NtTk in einer Weise, die die 28� Auflage des Nestle-Aland und erst recht eine zukünftige 29� Auflage mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert� Es scheint mir ein dringendes Erfordernis zu sein, dass die Deutsche Bibelgesellschaft in Betracht zieht, den Apparat der 28� Auflage open access zu stellen� Solange dies nicht der Fall ist, werden vielerorts Apparate, die sich kritischen Standards allenfalls annähern, verwendet werden, nur weil sie open access zur Verfügung stehen� Dem Editionsteam des Nestle-Aland drängt sich außerdem die Frage auf, die Oliver Abel im Blick auf die neuen Freiräume des 17� Jh� gestellt hat (s� o� Kap� 1): „Die politische Frage lautet dann zunehmend: ,Wie können wir bei einander bleiben, wenn wir stets die Möglichkeit haben, ungebunden zu sein? ’“� 76 Die Innovation des New Testament Virtual Room of Manuscripts ( NTVRM ) ermöglicht ganz neue Formen direkter Zusammenarbeit zwischen Forschenden bei der Transkription von Handschriften� 77 Zugleich ist es aber illusorisch anzunehmen, dass eines Tages alle interessierten For- 73 Die Adresse der Website war: http: / / ww38�sheekh-3arb�net/ vb/ showthread�php? t=2127; sie ist nun archviert unter https: / / web�archive�org/ web/ 20140703080949/ http: / / www� sheekh-3arb�net/ vb/ showthread�php? t=2127&page=3; letzter Zugriff in 2016� Ein Screenshot einer Seite des transkribierten Codex Vaticanus in Arabisch ist abgedruckt bei S� Schulthess, The role of the Internet in New Testament Textual Criticism: the Example of the Arabic Manuscripts of the New Testament, in: Clivaz et al�, Digital Humanities, (Anm. 68), 71-81; hier: 76. 74 „Etisch“ wird hier gebraucht gemäß der in der Religionswissenschaft derzeit üblichen Definition: https: / / en�wikipedia�org/ wiki/ Emic_and_etic; Zugriff am 25� 5� 2017� 75 Vgl� etwa Robinson / Pierpont, The New Testament (Anm� 62), ii: „Unser Gebet und inständige Hoffnung ist, dass der Herr Jesus das Werk unserer Hände gedeihen lässt, und dass er unsere Arbeit zum Nutzen seines Reiches geschehen lasse�“ 76 Abel, Essai sur la prise (Anm� 31), 115� 77 http: / / ntvmr�uni-muenster�de/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 51 schenden im selben virtual research environment ( VRE ) mit dem Edieren des Neuen Testaments befasst sein werden, wenn wir der Analyse von Fitzpatrick zur Bedeutung von Gemeinschaften in der digitalen Kultur folgen� 78 Die Wichtigkeit spezifischer, enger und diverser Gemeinschaften bzw� sozialer Netzwerke von Forschungsgemeinschaften wird täglich deutlicher� Ein eindrucksvolles Beispiel ist das derzeitige open-access -Projekt von PAVON e 79 an der Universität Balamand im Libanon, das eine Plattform für die arabischen Versionen des Neuen Testaments werden soll� Man sieht ohne Schwierigkeiten, dass ein solches Projekt in einem Land im Mittleren Osten seinen angemessenen Standort hat, und es ist gewiss für Arabisch sprechende Forschende in diesen Ländern und darüber hinaus von höchstem Interesse und von größter Wichtigkeit� Der linguistische Aspekt markiert fraglos einen Unterschied zwischen PA- VON e und dem NTVRM , aber die Frage nach Interaktionsmöglichkeiten mit der in Deutschland beheimateten Plattform sollte doch mindestens gestellt werden� Andere online-Projekte zur Edition neutestamentlicher Handschriften sind in Vorbereitung oder laufen bereits, wie etwa HumaReC, ein Projekt des schweizerischen Nationalfonds unter meiner Leitung, 80 für das Sara Schulthess und Anastasia Chasapi tätig sind� In diesem Projekt geht es um die einzige uns bekannte trilinguale neutestamentliche Handschrift in Arabisch, Griechisch und Latein, die unter der Sigel Marc� Gr� Z� 11 (379), GA 460 geführt wird� Neben der Untersuchung ihres Inhalts geht es zugleich darum, ein neues Modell kontinuierlicher Publikation von Daten zu testen, 81 ein virtual research environment ( VRE ), das mittlerweile von der schweizerischen Nationalbibliothek eine ISSN erhalten hat� Die einschlägigen Folioseiten werden nach und nach online gestellt� 82 Im Dialog mit dem Brill-Verlag arbeitet unser Team außerdem an einem neuen Modell der Hyperlink-Monographie, dem Web book. 83 Die Zusammenarbeit mit einem österreichischen Team erlaubt es uns, die Software Transkribus zur Erkennung handschriftlicher Texte zu testen� 84 Ein derartiges Projekt erfordert dementsprechend die Entwicklung eines spezifischen VRE � Die Frage 78 Vgl� Anm� 32� 79 http: / / pavone�uob-dh�org/ ; aktuelle Einträge: http: / / www�balamand�edu�lb/ News/ Pages/ PAVONe�aspx; Zugriff am 25� 5� 2017� 80 https: / / humarec�org/ ; http: / / p3�snf�ch/ project-169869; Zugriff am 25� 5� 2017� 81 https: / / humarec�org/ index�php/ continuous-publications-blog/ 12-announcements/ 18launching; Zugriff am 25� 5� 2017� 82 http: / / humarec-viewer�vital-it�ch; Zugriff am 25� 5� 2017� 83 https: / / humarec�org/ index�php/ continuous-publications-blog/ 11-articles/ 15-webbook; Zugriff am 25� 5� 2017� 84 https: / / humarec�org/ index�php/ continuous-publications-blog/ 19-transkribus; https: / / humarec�org/ index�php/ continuous-publications-blog/ 24-humarec-mentioned-by-theh2020-project-red-transkribus; Zugriff am 25� 5� 2017� 52 Claire Clivaz einer Interaktion mit dem NTVRM in Münster ist der nächste Punkt auf unserer Tagesordnung� Diese beiden Beispiele zeigen, wie dringlich die Frage „Wie können wir bei einander bleiben, wenn wir stets die Möglichkeit haben, ungebunden zu sein? “ auf dem Feld der NtTk ist� Neue Ideen und Innovationen in der Computertechnik sind hier zu entwickeln, um die effizienteste Interaktion zwischen dem NTVRM und anderen Plattformen mit neutestamentlichen Handschriften zu erreichen� Dieser Überblick fügt sich genau zu der Wendung von „Texten“ zu „Dokumenten“, die van Peursen in 2010 im Blick hatte 85 , eine Wendung, die beispielsweise auch von dem Projekt Homer Multitext zugrunde gelegt wurde, ein Projekt, das zu jedem einzelnen Manuskript arbeitet, anstatt eine kritische Ausgabe anzustreben� 86 Diese Wendung vom Text zum Dokument erklärt eine gewisse Besorgnis unter Neutestamentlern: Die Textausgaben der SBL und von Tyndale House , die auf gedruckte Ausgaben des 19� Jh� zurückgreifen, sind eine verständliche Reaktion auf eine Situation, in der die Idee eines unbestrittenen griechischen Standard-Texts des Neuen Testaments in Frage gestellt zu sein scheint� Folgerichtig bedarf es erneut eines „Mehrheitstextes“, eines textus receptus � Zugleich zeigt die einfache Tatsache, dass das Team von Tyndale House eine eigene Ausgabe vorbereitet, dass die Büchse der Pandora viel zu weit geöffnet ist, als dass man sie wieder schließen könnte� Wir haben bereits die Mehrzahl der neutestamentlichen Handschriften online, und es werden täglich mehr� Die Forschenden sind nicht mehr in der Lage, dies einfach zu ignorieren und so zu tun, als seien sie dem einfachen Zugriff verschlossen� Wird also die Bibel „weniger kanonisch“, so das SEK -Dokument (s� Kap� 1)? In dieser Situation ist es verblüffend zu lesen, was ich 1998 geschrieben habe, in einem „prädigitalen“ Abschnitt meiner Berufsbiographie� 87 Ich hatte mich damals für das sola scriptura in koinōnia ausgesprochen, in der Erwartung, dass der Kanon im Kontext der third quest in der Jesusforschung seine Bedeutung verlieren würde: „Man kann sich fragen, ob nicht die Neubestimmung des Kanons im Gefolge gewisser Auswirkungen der third quest die Apotheose der Verselbstständigung des sola scriptura offenbart: Wird dieses geflügelte Wort nicht das Faktum seiner Isolation sprengen? Werden die Buchdeckel nicht auf- 85 Vgl� Anm� 8� 86 http: / / www�homermultitext�org/ about�html: „Im Unterschied zu gedruckten Editionen, die eine Rekonstruktion des ursprünglichen Textes bieten, wie er vermutlich zur Zeit und an dem Ort seiner Entstehung existierte, stellt Homer Multitext Anwendungen zur Verfügung, die die Rekonstruktion einer Vielzahl von Texten erlauben, wie sie zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten vorhanden waren“; Zugriff am 25� 5� 2017; zitiert bei Clivaz, Homer (Anm� 10), 5� 87 Zur digitalen Wende innerhalb meiner eigenen neutestamentlichen Forschung vgl� Clivaz, Categories (Anm. 18), 35-39. Die Bibel im digitalen Zeitalter 53 springen und die Buchblätter in den Wind fliegen lassen, aus denen das Schriftwerk bestand? “� 88 Fast zwanzig Jahre später ist es das Schreiben selbst, das sich vom Buch emanzipiert hat, und das sola scriptura sucht nach neuen Ausdrucksformen, entweder als sola lectura , so das SEK -Dokument, oder, wie hier vorgeschlagen, als sola scriptura in koinōnia � In 1998 hatte ich freilich den Zusammenhang zwischen dem materialen Schreiben und unserer Wahrnehmung der Texte selbst überhaupt nicht im Blick� Nimmt man die digitale Wende mit hinzu, wird es möglich zu zeigen, in welcher Weise die Auffassungen von den alten christlichen Texten zu verschiedenen Zeiten vom Schreibmaterial selbst bestimmt werden� 89 In einer Zeit, da wir so vieler christlicher Handschriften ansichtig werden und sie bewerten können, so wie sie uns vorliegen, steht das Erfordernis, nicht eine einzige kritische Ausgabe des Neuen Testaments vorzuhalten, sondern mehrere von unterschiedlicher Art, augenscheinlich in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach der Gemeinschaft, sei es die vertraute, große akademische Gemeinschaft (für die Nestle-Aland-Ausgabe) oder spezifischere Gemeinschaften (für die SBL - oder die Tyndale House -Edition)� Anders gesagt finden wir uns in einer Situation vor, die einige Gemeinsamkeiten mit der „Ära der wichtigen Kodizes“ im 4�/ 5� Jh� aufweist (Sinaiticus, Vaticanus, Alexandrinus, etc�): Der Kodex Sinaiticus präsentiert ein Griechisches Neues Testament gemäß der Sinaiticus- Gruppe, und ganz ähnlich präsentiert die Tyndale House -Edition ein Griechisches Neues Testament gemäß Tregelles und den Forscher von Tyndale House � Es ist dementsprechend sehr nützlich, auf die Worte Karl Barths aus jenem Video zu hören, wenn er erklärt, dass sein Schreiben etwas mit Menschen zu tun hat, mit einer „unsichtbaren Gemeinschaft“� Barth erklärt sie mit seiner eigenen Stimme und in seinem eigenen Akzent, in einem kurzen und eindrucksvollen Video: 90 Gewiss hat es auf uns eine andere Wirkung, Barth selbst zuzuhören, als wenn wir seine Sätze lesen (siehe Kap� 1)� Lassen Sie uns im letzten Teil dieses Aufsatzes über multimodale digitale Kulturen … und Schrift(en) nachdenken� 3. Eine digitale multimodale Schrift in Gemeinschaften Typisch für die Bedingungen der heutigen digitalen Kultur ist das Barth-Video open access verfügbar, ein Upload des Zentrums für Barth-Studien, jedoch ohne Angaben zu Ort, Zeit und Umständen seiner Produktion� Geisteswissenschaftler, die an diesem Zentrum arbeiten, sind im exakten Zitieren von Texten samt 88 Clivaz, La troisième quête (Anm� 22), 557� 89 Clivaz, Categories (Anm. 18), v. a. 48-55. 90 Vgl� Anm� 17� 54 Claire Clivaz genauer Quellenangabe gewiss hervorragend ausgebildet� Textwissenschaftler behandeln üblicherweise eine gesprochene Sequenz von 60 Sekunden in Baslerdütsch nicht in gleicher Weise wie einen schriftlichen Text in Hochdeutsch� Diese kleine Anekdote lässt ahnen, welch mächtige digitale Welle die Geisteswissenschaften transformiert, nämlich die Möglichkeit, multimodales Wissen und multimodale Ausdrucksweisen, Textkreuzungen, Bilder und Klänge zu schaffen� Über zwei Generationen hinweg (1945-2000) haben die Geisteswissenschaften computergenerierte Resourcen wesentlich als Weise des „Auflistens“ von Wissen verstanden, um Kataloge und Klassifikationssysteme jeglicher Art entsprechend einer Logik der Zuordnung zu erstellen� Die „Geisteswissenschaften“ und das „Computerwesen“ waren wesentlich textbasiert und auf Textualität gegründet� Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hat der geniale Vannevar Bush ein hypothetisches Proto-Hypertext-System beschrieben, das er „memex“ ( memory extender ) nannte� Darin könne „ein Individuum seine sämtlichen Bücher, Aufzeichnungen und seine gesamte Kommunikation speichern“ und damit „ganz neue Formen der Enzyklopädie“ 91 erschaffen� Eine Liste „literarischer Werke in maschinenlesbarer Form“ wurde im Jahr 1966 veröffentlicht� 92 In der Zeit von den sechziger bis in die achtziger Jahre wurden zahlreiche Textverarbeitungsprogramme entwickelt, und 1987 wurde das Konsortium mit Namen Text Encoding Initiative gegründet, um die Anstrengungen auf dem Gebiet der elektronischen Editionen in den Geisteswissenschaften zu koordinieren� Dutzende Forscherinnen und Forscher kooperierten, um gemeinsame Richtlinien zu erarbeiten� Deren Veröffentlichung erfolgte erstmals in 2002� 93 Diese zentrale Beziehung zwischen Geisteswissenschaften, Computerwesen und Textualität kann gar nicht wichtig genug genommen werden� Als Busa in 2004 sein Vorwort zur ersten Auflage seines Companion to Digital Humanities schrieb, betonte er, dass „das Computerwesen in den Geisteswissenschaften nichts anderes bedeutet, als jede mögliche Analyse menschlicher Ausdrucksweisen (weshalb es eine ausgesucht ,humanistische‘ Tätigkeit ist), im weitesten Sinne des Wortes, von der Musik bis zum Theater, vom Design und der Malerei bis zur Phonetik, doch bildet den Kern stets der Diskurs geschriebener Texte“� 94 Aber bereits ein kurzer 91 V� Bush, As we May Think, The Atlantic Magazine 9 July 1945, http: / / www�theatlantic� com/ magazine/ print/ 1945/ 07/ as-we-may-think/ 303881/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 92 G� Carlson, Literary Works in Machine-Readable Form� Computers and the Humanities 1, Computer and the Humanities 1 / 3 (1967), 75-102. 93 C. Clivaz / D. Hamidović, Critical Editions in the Digital Age, in: M.-L. Ryan / L. Emerson / B� Robertson (Hg�), The Johns Hopkins Guide to Digital Media and Textuality, Baltimore 2014, 94-98. 94 R� Busa, Foreword: Perspectives on the Digital Humanities, in: S� Schreibman / R� Siemens / J� Unsworth (Hg�), A Companion to Digital Humanities, Oxford 2004, http: / / www� digitalhumanities�org/ companion/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 55 Blick auf die Art von Daten, die wir in den kommenden Jahren im Internet zu erwarten haben, zeigt, dass sich die Geisteswissenschaften gewissermaßen „aus dem Papier herausdigitalisiert“ haben und multimodal werden in digitalen Formaten, die nicht mehr druckbar sind: In den 2020er Jahren werden nach Vorhersagen von IBM drei Viertel aller Daten aus audio-visuellem Material bestehen (Videos, Bilder, Audio-Material)� 95 Geisteswissenschaftlern fehlt üblicherweise die Zeit, sich (und ihre exzellenten Fähigkeiten) auf dieses zunehmend relevante Material einzustellen� Schon in 2009 äußerte Fitzpatrick immerzu: „Wenn wir die Möglichkeit haben, per Video auf Videos zu antworten, wenn wir nahtlos von Audio-Dateien zu Bildern und zu Texten wechseln können als ein Mittel der Darstellung von Musik, dann sehen wir uns möglicherweise veranlasst, uns Gedanken darüber zu machen, was wir eigentlich produzieren, wenn wir schreiben, und was es damit auf sich hat, dass diese unterschiedlichen Modi der Kommunikation in komplexen Dokumentenformen zueinander kommen“� 96 Gegenwärtig werden interessante Projekte im Schnittfeld von Texten und Klängen entwickelt, etwa das Baudelaire Song project. 97 Multimodale Editionsprogramme entstehen, etwas Scalar oder Etalks 98 , und das Thema der Visualisierung von Daten ist in den digitalen Geisteswissenschaften vorherrschend� 99 Die Revolution des multimodalen Wissens erreicht selbst die Biblische Exegese mit dem Aufkommen des Performance Criticism 100 , oder mit dem in 2017 erschienenen Buch Art Visual Exegesis: Rhetoric, Texts, Images von Robbins und Melion� 101 Noch fällt es natürlich schwer vorauszusagen, wie sich die Neutestamentliche Exegese in einer mutimodalen Kultur entwickeln wird, aber die Gebrauchsweisen der Bibel sind bei ihren Leserinnen und Lesern bereits im Umschwung, wie man anhand von bibelbezogenen Anwendungsprogrammen, die man auf dem Markt findet, beobachten kann� Tim Hutchings stellt fest, dass „in vielen Gemeinden und Bibelgruppen, zumindest in England und den Vereinigten Staaten, 95 Die zu erwartende Welle von Daten ist ablesbar an der Zunahme audiovisueller Daten (Videos, Bilder, Audio-Dateien), wie sie von IBM Market Insights (2013) abgebildet wird: https: / / avindhsig�wordpress�com/ background/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 96 Fitzpatrick, Planned Obsolescence (Anm� 32), 27� 97 https: / / www�baudelairesong�org/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 98 http: / / scalar�usc�edu/ ; etalk�vital-it�ch; Zugriff am 25� 5� 2017� Vgl� C� Clivaz / M� Rivoal / M� Sankar, A New Platform for Editing Digital Multimedia: The eTalks, in: B� Schmidt / M� Dobreva (Hg�), New Avenues for Electronic Publishing, Amsterdam 2015, 156-159. 99 Vgl� z� B� T� Arnold / L� Tilton, Humanities Data in R� Exploring Networks, Geospatial Data, Images, and Text, Cham 2015� 100 B� Oestreich / G� S� Holland, Performance Criticism of the Pauline Letters, Eugene 2016� 101 W� K� Robbins / W� S� Melion, Art Visual Exegesis: Rhetoric, Texts, Images (Emory Studies in Early Christianity Book 19), Houston 2017� 56 Claire Clivaz Smartphones und Tablets benutzt werden anstelle von gedruckten Bibeln� […] Verlage sind dazu übergegangen, Bibeln mit Multimedia-Ressourcen auszustatten, die den Lesenden zu tieferen und häufigeren Begegnungen mit dem Text zu verhelfen versprechen“� 102 In zwei Aufsätzen hat Tim Hutchins die beiden erfolgreichsten Bibel-Anwendungen analysiert, YouVersion und GloBible 103 , die von evangelikalen christlichen Gruppen beworben werden� 104 YouVersion ist eine Gründung von Life�Church, „nicht eine unabhängige onlinecommunity , sondern der online-Dienst einer einzigen, großen Kirche, die 1996 in den Vereinigten Staaten gegründet wurde“, und die in 2009 über 13 örtliche Niederlassungen verfügte� 105 Hutchings wichtigster Punkt ist klarzumachen, dass im Unterschied zur Auffassung vieler evangelikaler Theologen die Bibel sich mit diesen Anwendungen nicht „verflüchtigt“ oder „verflüssigt“� Sie bleiben innerhalb eines starken evangelikalen Interpretationsrahmens, während sie sich aller verfügbaren Multimedia-Formate bedienen: „Diese Produkte umfassen umfangreiche Bibliotheken mit Audio- und Multimedia-Angeboten, sowie eine Auswahl aus Tausenden von Texten, jedoch keine endlosen Portfolios� Die Inhalte werden gründlich ausgewählt, ebenso die Optionen für die Nutzer beim Navigieren durch die Bibliothek� Gelegentlich kann das digitale Produkt sogar zu Lasten der Unabhängigkeit des Nutzers gehen, wenn Ratschläge gegeben oder Abwege getadelt werden, oder wenn persuasive Techniken verwendet werden, um auf Gewohnheiten der Beschäftigung mit den Texten einzuwirken� […] Meine Belege zeigen, dass die Gründer, Designer und Vermarkter einiger digitaler Bibeln sehr um eine traditionelle evangelikale Einstellung zur Bibel bemüht sind� Es bedarf jedoch“, meint er, „weiterer Forschungen, um die Folgen eines großflächigen Gebrauchs digitaler Texte innerhalb religiöser Gemeinschaften beurteilen zu können“� 106 Interdisziplinäre Forschungsprojekte von Theologen sollten sich dieses Themas annehmen� Diese Anwendungen sind auf jeden Fall ein reiches Laboratorium, um die unterschiedlichen Gebrauchsweisen multimodaler Repräsentationen biblischer Inhalte zu beobachten� Ein besonderes Phänomen scheint die Wiederkehr der 102 T� Hutchings, Design and the digital Bible: persuasive technology and religious reading, Journal of Contemporary Religion 32 (2017 / 2), 205-219, hier 205; DOI: 10�1080 / 13 537 90 3�2017�1 298 903; http: / / dx�doi�org/ 10�1080/ 13537903�2017�1298903; Zugriff am 25� 5� 2017� 103 https: / / www�youversion�com/ ; https: / / globible�com/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 104 Vgl� auch T� Hutchings, E-reading and the Christian Bible, Studies in Religion / Sciences Religieuses 44 (2015 / 4), 423-440. 105 Hutchings, Creating Church (Anm� 12), https: / / online�vitalsource�com/ books/ 9781136277498/ epubcfi/ 6/ 32! / 4[ch08]/ 8@0: 31�3; https: / / www�life�church; Zugriff am 25� 5� 2017� 106 Hutchings, Design (Anm. 102), 215-216. Die Bibel im digitalen Zeitalter 57 Mündlichkeit zu sein� Am 15� April 2017 war auf YouVersion zu erfahren, dass dessen Benutzer in Indien 166 schriftliche Verse geteilt haben, dass in Ägypten 3525 Audio-Kapitel gehört wurden, und 94 in der Ukraine� Am selben Tag wurden in Schweden 25 schriftliche Verse geteilt, aber im selben Land 2532 Kapitel der Bibel angehört� Diese Beobachtungen fügen sich zum generellen Eindruck einer Wiederkehr der Mündlichkeit in der westlichen Kultur� Hierbei kann man beispielsweise auf das Aufkommen von „Kinos für die Ohren“ verweisen, oder auch Festivals literarischer Aufführungen, oder auf das neue kulturwissenschaftliche Forschungsfeld der Sound Studies. 107 Das Wort und die Schrift, das alte theologische „von Angesicht zu Angesicht“ schickt sich an, unsere volle Aufmerksamkeit zu beanspruchen� In diesem Kontext verliert die Versicherung, dass „die Schrift die Stelle des Ursprungs besetzt“, auch wenn sie als „historisch betrachtet sekundäres Phänomen“ 108 erkannt wird, an Plausibilität� Wenn dagegen das SEK -Dokument formuliert, dass „das Christentum keine Buchreligion ist“ 109 , scheint dies unserer gegenwärtigen kulturellen Situation näher zu stehen� „Die Emanzipation der Schrift vom Buch“ verweist uns in aller Deutlichkeit auf jene Frage, die seit dem 17� Jh� unbeantwortet ist: „Wie können wir bei einander bleiben, wenn wir stets die Möglichkeit haben, ungebunden zu sein? “� Das Thema der Gemeinschaft ist uns aufgegeben, wenn sola lectura zur protestantischen Kernkompetenz erklärt wird� 110 Sind die unterschiedlichen protestantischen Kirchen bereit, das sola sciptura als lectura zu verstehen, die in koinōnia geschieht? In der digitalen Kultur ist dies nicht so sehr eine theologische oder konzeptionelle, sondern eine sehr konkrete Frage, da sich die Schrift selbst vom Buch emanzipiert hat� Die ungebundenen digitalen Geisteswissenschaften werden zu neuen Grenzen vorstoßen für das fünfhundert Jahre alte sola scriptura � 107 Clivaz et al., A New Platform, 156-157. 108 Vgl� Anm� 3� 109 SEK, Sola lectura? (Anm� 13), 7� 110 Ebd�, 31: „Lesen ist eine Kernkompetenz des Protestantismus� Seit seinen Anfängen in der Reformation ist er mit Leseerfahrungen verbunden - bezogen auf die Bibel und weit darüber hinaus�“