eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 20/39-40

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2017
2039-40 Dronsch Strecker Vogel

Sola Scriptura -

2017
Gerd Theißen
Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Sola Scriptura-- Grundlage für Konsens und Individualisierung des Glaubens? Gerd Theißen Martin Luther bestritt auf der Leipziger Disputation (1519) die Irrtumslosigkeit von Konzilien und die Autorität des Papstes, da sie sich nicht aus der Schrift begründen ließe� Damit spielte er die Schrift gegen die entscheidende normative Instanz der Kirche aus, wenn es um aktuelle Fragen ging, und begründete das Schriftprinzip (des sola scriptura ), mit dem die Reformation ihre Botschaft von der exklusiven Heilsbedeutung des Glaubens, der Gnade und des Christusgeschehens (das sola fide , sola gratia und solus Christus ) legitimierte� 1 Das Schriftprinzip entstand, um den Dissens der Protestanten gegenüber der katholischen Kirche und den konfessionellen Pluralismus der Neuzeit zu begründen und hatte in diesem Zusammenhang eine emanzipatorische und kritische Funktion� Als sich die protestantischen Kirchen gegenüber dem Katholizismus verselbständigt hatten, wurde das sola scriptura - verbunden mit den genannten formulae exclusivae - zur Konsensbasis der neuen Kirchen, musste jetzt aber die Pluralisierung des Glaubens begrenzen, die durch die Reformation ausgelöst worden war und in den Augen der Reformatoren eine neue „Gefahr“ darstellte; neben den von Luther beeinflussten Landeskirchen entstanden reformierte Gemeinden, darüber hinaus eine in sich zersplitterte alternative Reformation 1 V� Leppin, Reformation, Darmstadt 2013, 20 f� Formuliert wurde das Schriftprinzip im selben Jahr durch Ph� Melanchthon: „Für einen Katholiken ist es nicht notwendig, über die Dinge hinaus, die ihm durch die Schrift bezeugt werden, noch weitere zu glauben“ (Melanchthons Werke, hg� R� Stupperich Bd 1, Reformatorische Schriften, Gütersloh 1951, 24)� 196 Gerd Theißen aus Täufern und Mennoniten, Spiritualisten und Mystikern� Bis heute dient das Schriftprinzip daher auch zur „Varianzbändigung“ 2 dieses innerprotestantischen Dissenses� Jede religiöse Gemeinschaft muss definieren, wer zu ihr gehört und wer nicht� In diesem Zusammenhang hat das sola scriptura eine restriktive und kontrollierende Funktion� 3 Die emanzipatorische und die begrenzende Funktion des Schriftprinzips wirken in protestantischen Konfessionen bis heute nebeneinander, oft aber auch gegeneinander in einer fundamentalistischen Schriftdogmatik auf der einen und einer liberalen Schrifthermeneutik auf der anderen Seite� Der Fundamentalismus insistiert auf dem Buchstaben, d� h� auf einer wörtlich verstandenen und irrtumsfreien Schrift, begegnet aber meist abgemildert als „evangelikale Schrifttreue“, die so viel wie möglich, aber nicht alles wörtlich und historisch verstehen will� Liberale Schrifthermeneutik relativiert die Schrift durch historische Distanzierung oft so stark, dass sie in einem zweiten Schritt hermeneutisch „wiederbelebt“ werden muss, damit ihre Intention in einer gewandelten Welt zur Geltung kommt� Auch sie wird meist durch eine dezidiert kerygmatische Schriftdeutung aufgefangen, welche die Intention der Schrift (oder das „Kerygma“ in ihr) umso nachdrücklicher vertritt, je mehr sie alles andere historisch relativiert� 4 Dass sich evangelikale Schrifttreue und kerygmatische Schriftdeutung in einer Opposition gegen den modernen Zeitgeist verbinden können, geschieht 2 J� Lauster, Die Verzauberung der Welt� Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014, 116� Dogmen haben eine regulative Funktion� „In Analogie zur Kanonisierung der biblischen Schriften kann man dies als eine ‚Varianzbändigung’ verstehen, die einen Rahmen für das abzustecken versuchte, was als angemessener Ausdruck christlichen Glaubens zu verstehen war�“ 3 Das Sola-scriptura -Prinzip muss sich der kritischen Anfrage stellen, ob es nicht auf Selbsttäuschung basiert� Seine Anwendung ist durch Prämissen mitbestimmt, die in der Schrift selbst nicht begründet sind� So steht das Sola-scriptura -Prinzip zwar von seinem Ursprung her in Opposition zur Tradition, ist aber selbst Teil einer protestantischen Tradition (Diese Erkenntnis verdanke ich einer Seminararbeit: E� Maikranz, Reformatorische Tradition zwischen Rechtfertigungslehre und ‚Sola Scriptura’� Ein Versuch einer konstruktiven Annäherung an ein protestantisches Traditionsverständnis, Heidelberg 2015� Sie wird zurzeit zu einer systematisch-theologischen Dissertation ausgebaut)� Der fundamentalistische Antimodernismus reagiert ebenso wie liberale hermeneutische Modernisierungsversuche auf die Distanz zwischen Bibel und gegenwärtiger Welt� Beide gehen davon aus, dass vergangene Texte wahrheitsfähig sind und wir ihren Sinn erfassen, aber nicht erschaffen können� 4 R� Bultmanns existenziale Interpretation ist das Paradigma solch einer Verbindung von historisch-relativierender Kritik und kerygmatischer Auslegung: Neues Testament und Mythologie� Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: Offenbarung und Heilsgeschehen, (BEvTh 7), München 1941, 27-69 = neu hg. von E� Jüngel, BEvTh 96, München 1988� Sola Scriptura 197 dort, wo sie einen Protest gegen Ungerechtigkeit teilen� Aber beide können sich auch antagonistisch bekämpfen, wenn sich fundamentalistische Schriftdogmatik mit politischem Konservativismus, liberale Schrifthermeneutik aber mit sozialkritischem Engagement verbinden� Ethische und politische Einstellungen trennen heute mehr als Schriftauffassungen� In der Gegenwart stellt sich das Verhältnis von Varianzbändigung und Varianztolerierung noch einmal neu, weil sich die Pluralisierung inzwischen zur Individualisierung der Religion entwickelt hat� Diese Individualisierung meint „ein verändertes Verhältnis der Menschen zu bisher weitgehend vorgegebenen Lebensformen, Lebensdeutungen und Institutionen … Aus selbstverständlich erachteten Vorgaben des Familienlebens, der Geschlechterrollen, der lebenslangen Erwerbsarbeit, der regionalen und religiösen Bindungen sehen sich immer mehr Menschen herausgelöst� Wie die Statistik belegt, verschwinden die herkömmlichen Lebensformen zwar damit nicht schlagartig - faktisch bewegt sich die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor in ihren Bahnen; sie haben aber ihren Charakter des Vorgegebenen und Selbstverständlichen eingebüßt� Angesichts verfügbarer Alternativen werden sie zu Objekten komplizierter Wahlvorgänge und Entscheidungen�“ 5 Wenn man dieser Diagnose zustimmt, stellt sich das Problem konsensstiftender Normen neu� Mit der Individualisierung des Lebens wird ja keineswegs die Notwendigkeit vorgegebener Traditionen aufgelöst, im Gegenteil: Individualisierung und Entscheidungszuwachs sind auf Vorgaben an Alternativen angewiesen, die es ermöglichen, sinnvoll zu entscheiden� Die Frage ist: Bietet die Schrift genug sinnvolle Alternativen für den Einzelnen? Ist ihr Konsenspotenzial groß genug, um Menschen mit modernen Individualisierungsprogrammen zusammenzuführen? Oder muss man sie durch andere In- 5 K� Gabriel, Religiöse Individualisierung und Authentizität, in: A� Kreutzer / Ch� Niemand (Hg�), Authentizität - Modewort, Leitbild, Konzept� Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie, Regensburg 2016, 117-132. Prof. Dr. Gerd Theißen, geb� 1943, Studium der Germanistik und Ev� Theologie, Promotion 1968 und Habilitation 1973 in Bonn, 1976 Lehrer an Gymnasien, 1978 Professor in Kopenhagen, seit 1980 Heidelberg� Schwerpunkte: Historischer Jesus, Soziologie, Psychologie und Theorie des Urchristentums� 198 Gerd Theißen stanzen ergänzen? Man muss nicht gleich an ein autoritatives Lehramt denken wie an das Papsttum, auch demokratische Entscheidungsprozesse in Synoden sind denkbar� Muss die Schrift für solche demokratischen Entscheidungsprozesse durch Tradition, Erfahrung und Vernunft erweitert werden? 6 Das entspricht dem methodistischen Viereck (oder quadrilateral ), dabei ist die Schrift die primäre Instanz, ihre Auslegung aber geschieht im Lichte von Tradition, soll mit Vernunft betrieben werden und findet ihr Ziel in persönlicher Erfahrung� Müssen diese Instanzen vielleicht zu Instanzen entwickelt werden, mit denen die Schrift ggf� auch kritisiert werden kann? Im Folgenden wird die These vertreten, dass die Schrift einen dreifachen Pluralismus begründet und individuelle Entscheidungsspielräume eröffnet: a� Die Schrift ermöglicht einen Pluralismus des Dialogs zwischen Konfessionen und Religionen : Sie ist nicht nur Grundlage verschiedener christlicher Konfessionen, 7 sondern auch von Judentum und Christentum, darüber hinaus Niederschlag eines Dialogs mit den Religionen des Alten Orients und der Antike� Das hat die „religionsgeschichtliche Schule“ seit dem Ende des 19� Jahrhunderts bewusstgemacht� Auch wenn ihre Ergebnisse korrigiert wurden, ist ihre Fragestellung aktuell� b� Die Schrift ermöglicht einen Pluralismus der Prinzipien : In der Schrift selbst sind Tradition, Erfahrung und Vernunft als Instanzen theologischen Denkens begründet� Schrift und Tradition standen schon immer fest, Erfahrung und Vernunft verdanken wir dem Pietismus und der Aufklärung des 18� Jahrhunderts� Beide begünstigen eine individualisierende Frömmigkeit: Erst in persönlicher Erfahrung kommt das Verstehen zum Ziel� Aufklärung bedeutet, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen� 6 Das methodistische Quadrilateral (Viereck) geht der Sache nach auf John Wesley zurück, der Begriff Quadrilateral aber wurde geprägt von A� C� Outler, The Wesleyan Quadrilateral in Wesley, in: WTJ 20 (1985), 1-18, der es so zusammenfasst (9): „Thus, we can see in Wesley a distinctive theological method, with Scripture as its pre-eminent norm but interfaced with tradition, reason and Christian experience as dynamic and interactive aids in the interpretation of the Word of God in Scripture�“ J� Wesley folgte dabei einer anglikanischen Trias, der er die „Erfahrung“ hinzufügte� - Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gesagt: Ich bin kein Methodist, sondern reformiert� Im Übrigen kann man das methodistische Quadrilateral schon in Martin Luthers Erklärung vor dem Wormser Reichstag 1521 erkennen: Luther beruft sich dort auf die Schrift, die Vernunft und sein Gewissen gegen die Autorität von Konzilien und Päpsten� Wenn man das Gewissen zur Erfahrung rechnet, Päpste und Konzilien zur Tradition, so nennt er hier alle vier Prinzipien� 7 E� Käsemann, Begründet der Neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? in: Ders�, Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen 1970, 214-223, hier: 221: „Der nt.liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche� Er begründet als solcher, d� h� in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen�“ c� Die Schrift ermöglicht einen Pluralismus der Interpretationen : An die Stelle einer una sancta interpretatio tritt heute eine polyphone Hermeneutik� Zwar dominierten im Protestantismus reduktive Hermeneutiken, die ein einziges Auslegungsverfahren ins Zentrum stellten - beginnend mit der Reformation, die unter Berufung auf den Literalsinn den vierfachen Schriftsinn des Mittelalters überwand� Aber durch eine Folge einseitiger hermeneutischer Ansätze entstand im Protestantismus ein neuer vielfacher Schriftsinn: 8 Die Schrift wird seit der Aufklärung historisch-kritisch , seit Klassik und Romantik poetisch , in der dialektischen Theologie kerygmatisch und im Existenzialismus existenzial ausgelegt� Sie dient in der Gegenwart dem ökumenischen Gespräch� Die Schrift lässt als „Buchstabe“, d� h�, wenn man sie mit den allgemeinen wissenschaftlichen Methoden auslegt, viele Deutungen zu� Abschließend fragen wir, wodurch die Schrift durch ihren „Geist“ dennoch eine pluralitätsbegrenzende Kraft auch in unserer Zeit haben kann� Erste These: Das Schriftprinzip begründet den Pluralismus des Dialogs zwischen Konfessionen und den Dialog der Religionen. 1. Die Schrift besteht aus Altem und Neuem Testament und enthält damit in sich einen Religionsdialog � Historisch-kritische Erforschung hat gezeigt: Das Alte Testament ist keine christliche Schriftensammlung� Es gibt zwar eine Verheißungslinie in ihm, die in die Zukunft weist� Aber neben ihrer Erfüllung im Neuen Testament steht gleichberechtigt seine Wirkungsgeschichte im Judentum� Die Schriften des Alten Testaments sind jüdische Schriften, die auch von Christen als eigene Bibel gelesen wurden� Wenn man sich der reformatorischen Formeln bedient, kann man sagen: Das solus Christus lässt sich im Alten Testament nicht finden� Daraus darf man nicht den Schluss ziehen, das Alte Testament müsse „entkanonisiert“ werden� 9 Es hat ein theologisches Eigengewicht� Ohne Altes Testament gibt es kein lebensfähiges Christentum: ohne den Glauben an 8 So meine These in: G� Theißen, Polyphone Hermeneutik - ein Nachklang der Bibelhermeneutik aus vielen Jahrhunderten, in: Polyphones Verstehen� Entwürfe zur Bibelhermeneutik (BVB 23), Münster 2014, 2 2015, 21-64. 9 R� Slenczka hat in der Tradition von F� Schleiermacher und A� v� Harnack die kanonische Gleichrangigkeit des Alten mit dem Neuen Testament in Frage gestellt� Sein Aufsatz: Die Kirche und das Alte Testament, in: E� Gräb-Schmidt (Hg�), Das Alte Testament in der Theologie (MJTh 25), Leipzig 2013, 83-119, rief im Jahre 2015 eine intensive Debatte hervor� Sein Hauptargument ist zutreffend: Historisch-kritische Forschung macht eine christologische Auslegung des Alten Testaments unmöglich, die für Luther zweifellos Voraussetzung für die kanonische Geltung des Alten Testaments war� Das sola scriptura und das solus Christus gehören für Luther zusammen� Sola Scriptura 199 200 Gerd Theißen den einen und einzigen Gott und seine Schöpfung, seine Spuren in Welt und Geschichte, Gottes Gesetz und die Verantwortung des Menschen, individuelle und gesellschaftliche Ethik, extreme Lebensverzweiflung und Lebensbejahung� 10 Darüber hinaus gilt: Es ist eine besondere Chance, dass in den Grundlagen der christlichen Religion der Dialog mit einer anderen Religion „eingebaut“ ist� Die Beziehung zum Judentum ist nicht sekundär zum Christentum hinzugekommen� Seine Grundlagenschriften sind gleichzeitig die Schriften einer anderen Religion� Das Judentum ist und bleibt damit die Wurzel, aus der das Christentum gewachsen ist� Aber Judentum und Christentum haben sich aus ihr zu verschiedenen Religionen entwickelt� Anstatt das Christentum zu einer Variante des „Judentums“ umzudeuten und in die Geschichte des Judentums einzuschreiben - obwohl offen ist, ob Juden das angesichts der Geschichte christlicher Schuld gegenüber ihnen akzeptieren können -, sollte man die Existenz einer Alternative zwischen zwei Religionen anerkennen mit der Konsequenz, dass Konversionen zwischen ihnen vorbehaltlos akzeptiert werden� Sie sind Ausdruck individueller religiöser Freiheit� Es muss und soll keine Mission stattfinden, wohl aber müssen Konversionen anerkannt werden� Mission ist Ausdruck von Bevormundung, Konversionen sind Ausdruck von Freiheit� 2. Das Neue Testament umfasst eine Pluralität von Theologien. Es begründet nicht nur die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen - und darüber hinaus des individuellen christlichen Glaubens� Auch im Neuen Testament lässt sich eine judenchristliche Theologie von einer für Heidenchristen konzipierten Theologie unterscheiden� So wird in zwei Schriften genau das vertreten, was die Reformation als „Werkgerechtigkeit“ verurteilt hat: im Matthäusevangelium 11 und Jakobusbrief� In diesen Schriften gilt das sola fide und sola gratia nicht so wie bei Paulus� Im MtEv werden alle Menschen am Ende vom Weltenrichter nur nach einem ethischen Kriterium beurteilt: Was habt ihr meinen geringsten Brüdern getan? Umstritten kann bleiben, ob das MtEv gegen Paulus indirekt polemisiert� Alle fünf Reden des MtEv enthalten m� E� versteckte Polemik gegen ihn - gegen einen Lehrer, der kleinste Gebote auflöst (Mt 5,19), gegen Missionare, die ihre Reisen durch Gelderwerb finanzieren (Mt 10,9), gegen Gemeindegründer, die Unkraut unter die Saat säen (Mt 13,24-30), gegen Menschen, die in den Gemeinden für viele ein Ärgernis sind (Mt 18,6 f�), oder Pharisäer, die übers 10 G� Theißen, Der Eigenwert des Alten Testaments� Überlegungen eines Neutestamentlers aus reformierter Tradition, in: M� Oeming / W� Boës (Hg�), Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, FS J� Kegler (BVB 18), Münster LIT 2009, 15-28. 11 U� Luz, Die Jesusgeschichte nach Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, stellt in seiner Darstellung der Theologie des Matthäusevangeliums es als Vertreter von Werkgerechtigkeit dar� Meer reisen, um dort Proselyten zu machen (Mt 23,15)� 12 Im Jakobusbrief findet sich m� E� eine direkte Polemik gegen die These des Paulus, dass Glauben ohne Werke rettet� Außerdem misst der Jakobusbrief die wahre Weisheit von oben daran, dass sie keinen Streit erzeugt� Auch damit könnte Paulus gemeint sein, der ständig von Konflikten umgeben war� 13 Unabhängig davon ist unbestreitbar, dass die im MtEv vertretene „Werkgerechtigkeit“ ein wertvolles Erbe ist, das sich erst in der Aufklärung durchgesetzt hat: Alles in der Religion muss daran gemessen werden, ob es ethischen Kriterien entspricht: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! “ (Mt 7,16)� Angesichts von religiösem Fanatismus und Terrorismus ist diese Erkenntnis heute wichtiger denn je� Das aber heißt: Das einst von der Reformation abgelehnte Prinzip der Werkgerechtigkeit muss rehabilitiert werden� Das würde auch der ökumenischen Verständigung dienen, denn die Polemik gegen jüdische Werkgerechtigkeit war vor allem Polemik gegen den Katholizismus� Damit würde das sola gratia der Reformation relativiert� Dasselbe gilt für das sola fide : „Glaube“ ist nicht die einzige Form im Neuen Testament, um zu Jesus in eine existenzielle Beziehung zu treten� In den synoptischen Evangelien begegnet als alternative Form die Nachfolge � Sie bezieht sich auf Jesu Person und Lehre� Wenn Sokrates uns gelehrt hat, dass unser Wissen vor allem darin besteht, uns unser Unwissen einzugestehen, so lehrt uns Jesus: Moralisch ist nur, wer sich seine Unmoral eingesteht� Bei Paulus begegnet eine andere Form der Beziehung zu Jesus, der Glaube, der sich auf Kreuz und Auferstehung richtet und hier einer Macht begegnet, die aus Nichts schafft� Im Johannesevangelium ist gleichwertig mit dem Glauben vom Erkennen die Rede, wenn Jesus sagt: „Das ist das ewige Leben, dich, den einzigen wahren Gott zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (17,3)� Diese verschiedenen Weisen, sich auf Jesus zu beziehen, Nachfolge, Glaube und Erkennen, widersprechen einander nicht, aber geben Freiheit, sich auch heute in verschiedener Weise zu Jesus zu verhalten� 3. Die ganze Bibel, Altes und Neues Testament, ist Niederschlag eines Dialogs mit anderen Religionen. Das ist oft ein polemischer Dialog� Aber die Polemik gegen die „Götzen“ der Völker darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schrift in vielen Punkten Gedanken der Umwelt aufgreift� Wir können die Schöpfungsgeschichte nur im Lichte altorientalischer Schöpfungsgeschichten verstehen� 14 12 G� Theißen, Kritik an Paulus im Matthäusevangelium? Von der Kunst verdeckter Polemik im Urchristentum, in: O� Wischmeyer / L� Scornaienchi (Hg�), Polemik in der frühchristlichen Literatur (BZNW 170), Berlin 2011, 465-490. 13 G� Theißen, Die pseudepigraphe Intention des Jakobusbriefes� Ein Beitrag zu seinen Einleitungsfragen, in: P�v� Gemünden / M� Konradt / G� Theißen, Der Jakobusbrief� Zur Rehabilitierung der „Strohernen Epistel“ (BVB 3), Münster 2003, 54-82. 14 M� Bauks, Die Welt am Anfang: zum Verhältnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur (WMANT 74), Neukirchen-Vluyn 1997� Sola Scriptura 201 202 Gerd Theißen Wir können die Gesetzestexte des Alten Testaments nicht verstehen, wenn wir sie nicht mit Rechtsbüchern wie dem Codex Hammurapi vergleichen� 15 Wir können die alttestamentliche Prophetie nicht verstehen, wenn wir sie nicht im Kontext der Prophetie des Orients sehen� 16 Erst recht betreten wir in der Weisheitsliteratur ein Feld internationaler Überlieferungen. In Spr 22,17-24,22 wurde eine Spruchsammlung aufgenommen, die ihre nächste Parallele in der ägyptischen Lehre des Amenemope hat� 17 Hiob wird im Alten Testament nicht als Israelit dargestellt� Sein Leiden und seine Weisheit sind universal� Für das Neue Testament gilt ebenso: Wir verstehen es nur, wenn wir es in Beziehung zu seiner religionsgeschichtlichen Umwelt setzen� Dazu genügt eine einfache formgeschichtliche Überlegung: Das Neue Testament entstand in Kreisen, für die das „Alte Testament“ die Bibel schlechthin war, aber es setzt in seinen beiden Grundformen keine Gattung des Alten Testaments fort, sondern orientiert sich bei den Evangelien und Briefen an Formen der nicht-jüdischen Umwelt, in der Biographien und Briefsammlungen anerkannte Formen waren� 18 Die Anlehnung an die Umwelt gilt dabei nicht nur für literarische Formen, sondern auch für theologische Inhalte� Die Christologie des Neuen Testaments greift aus der Umwelt Modelle auf: Die Vorstellungen von einer präexistenten Weisheit stammt aus der jüdischen Weisheitsliteratur, die Erwartung eines Menschensohns als eschatologischem Richter aus der Apokalyptik des Judentums, das Bild eines nach seinem Tod zu Gott erhöhten Sohn Gottes und „Heilands“, dessen Herrschaft als „Evangelium“ in aller Welt verkündigt wird, ist ein Gegenbild zum römischen Kaiser und zum Kaiserkult� Denn hier erlebten die damaligen Zeitgenossen, wie ein Mensch nach seinem Tod postmortal zur Gottheit erhöht wurde, der von einigen schon zu Lebzeiten als göttliches Wesen verehrt wurde� Die Bibel ist in allen ihren Teilen Niederschlag eines intensiven Dialogs� Deshalb würde man diese dialogische Dimension der Bibel nur bewusstmachen, wenn man heute eine „Dialogbibel“ schaffen würde, in der biblische Texte mit Texten aus anderen Religionen verglichen und kontrastiert würden� 19 15 R� Borger [u� a�] (Hg�), Rechtsbücher Bd 1 (TUAT I / 1), Gütersloh 1982, 39-80. 16 M� Weippert, Götterwort in Menschenmund: Studien zur Prophetie in Assyrien, Israel und Juda (FRLANT 252), Göttingen 2014� 17 I� Shirun-Grumach, Weisheitstexte II (TUAT III / 2), Gütersloh 1991, 222-250. 18 Vgl� G� Theißen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 40, Heidelberg 2007 2 2011, 84-92. 93 f.; 135 f. 19 Vgl� meinen Vorschlag zu einer Dialogbibel in: G� Theißen, Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik. Der vierdimensionale Sinn der Bibel, EvTh 72 (2012), 291-306; ebd. 305, der von U� Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 558, aufgegriffen wurde� Zweite These: Das Sola-scriptura-Prinzip begründet den Pluralismus der Prinzipien: Schrift, Tradition, Erfahrung und Vernunft 1. Schrift und Tradition sind keine Gegensätze, da die Schrift selbst Traditionsliteratur ist. Sie verarbeitet nicht nur Traditionen als Quellen, sondern wirkt traditionsbildend, indem ältere Teile zur Quelle jüngerer Schriften wurden � Evident ist das beim Verhältnis der alttestamentlichen Rechtsbücher: Bundesbuch, Deuteronomium und das Heiligkeitsgesetz bauen aufeinander auf� Die Chronikbücher schreiben die älteren Geschichtsbücher fort, das Johannesevangelium ist eine Neufassung synoptischer Jesustraditionen� Vor allem das weit verbreitete Phänomen der Pseudepigraphie zeigt die traditionsbildende Kraft anerkannter Autoren und deren Schriften� Die Briefform wurde durch Paulus zu einer „kanonischen“ Gattung� Er entwickelte den Freundschaftsbrief zum Gemeindebrief und wurde dadurch Vorbild für andere neutestamentliche Autoren� Alle Briefe im Neuen Testament sind intertextuell mehr oder weniger auf seine Briefe bezogen, wenn auch in verschiedener Form: Der 2� Thessalonicherbrief lehnt sich an einen einzigen Brief, den 1� Thessalonicherbrief, an� Kolosser- und Epheserbrief interpretieren nicht nur einen einzigen Brief, sondern schreiben die gesamte paulinische Theologie weiter� Die Pastoralbriefe ahmen die Paulusbriefsammlung nach; denn sie wurden von vornherein als Corpus von drei Briefen geschaffen� Alle diese Briefe wurden unter dem Namen des Paulus veröffentlicht und sind weitergeschriebene Paulustraditionen� Hinzu kommen pseudepigraphe katholische Briefe unter anderen Namen als dem des Paulus� Theologisch wollen sie m� E� ein Gegengewicht zu Paulus sein� Die Schrift hat also nicht erst in ihrer nachkanonischen Wirkungsgeschichte Traditionen begründet, sondern schon in ihrer vorkanonischen Entstehungsgeschichte� 2. Schrift und Erfahrung sind keine Gegensätze, sondern die Mehrteiligkeit des Kanons demonstriert die Notwendigkeit, neue Erfahrungen zu berücksichtigen. Religionen brauchen einerseits Stabilität, andererseits Flexibilität� Der alttestamentliche Kanon weist in seiner Grundstruktur auf dieses doppelte Bedürfnis: Er besteht aus Thora auf der einen, Propheten und Schriften auf der anderen Seite� Die Thora verkörpert Stabilität� Die Propheten zeigen dagegen, dass in neuen geschichtlichen Erfahrungen immer wieder unvorhersehbar neue Botschaften notwendig sind, Psalmen artikulieren darüber hinaus typische individuelle Erfahrungen von Leid und Glück, wie sie in jedem einzelnen Leben vorkommen� Die Dialektik der Kanonbildung bringt es mit sich, dass die aktuellen Erfahrungen von gestern als Traditionen festgeschrieben werden� Das Bedürfnis nach einer flexiblen Verarbeitung neuer Erfahrungen aber bleibt bestehen� Es führt in spät- und nachalttestamentlicher Zeit zur Entstehung einer neuen „Offenbarungsliteratur“, der Apokalypsen, die Offenbarungen an Gestalten der Ver- Sola Scriptura 203 204 Gerd Theißen gangenheit, Henoch, Moses, Abraham oder Esra schildern, aber in der Gegenwart geschrieben wurden, um an die Zeitgenossen eine Botschaft zu vermitteln� Eines dieser Bücher, das Buch Daniel, wurde in den alttestamentlichen Kanon aufgenommen� Im Neuen Testament wiederholt sich diese Dialektik von Stabilität und Flexibilität� Sie zeigt sich in der Zweiteilung des neutestamentlichen Kanons in Evangelien und Briefe� Die Jesusüberlieferung der Evangelien ist in ihm ein stabilisierendes Element, die Briefe zeigen, dass neue Situationen neue Antworten erfordern� Auch hier begegnen am Rande Offenbarungsschriften� Charakteristisch für diese urchristlichen Apokalypsen ist, dass sie sich nicht auf Gestalten der Urzeit berufen, sondern auf Zeitgenossen, d� h� auf Johannes auf Patmos und Hermas in Rom� Beide verarbeiten in ihren Apokalypsen aktuelle Erfahrungen� Die Johannesapokalypse ruft zum Widerstand gegen Rom auf, ist aber eine Absage an jeden gewaltsamen Aufruhr� Ihre Botschaft wird symbolisiert in der Metapher des Lammes, das zugleich Sieger und Opfer ist� 20 Der Hirt des Hermas ruft zu einer Erneuerung der Kirche auf und verkündigt die Chance einer zweiten Buße� 3. Schrift und Vernunft sind keine Gegensätze, sondern vernunftbasierte Schriften wurden in Form der Weisheitsliteratur kanonisiert. Das Nachdenken des Menschen über Regelmäßigkeiten der Welt und des Lebens, des Handelns und Erlebens schlägt sich in den Sprüchen und Reflexionen der Weisheitsliteratur nieder� Was in Israel „Weisheit“ (hebr� chochma oder griech� sophia ) genannt wurde, wurde in der griechischen Welt zur philosophia (oder „Liebe zur Weisheit“) systematisiert� Die griechische Philosophie setzt damit die allgemeinen Reflexionen der Weisheit auf höherer Ebene fort� Die von ihr vorausgesetzte allgemeine Weisheit begegnet auch in der Bibel� Sie scheint in den Sprüchen oder im Prediger Salomo wenig mit der konkreten Geschichte Israels zu tun zu haben� Aber sie wird im Laufe der Zeit immer enger mit ihr verbunden� In Jesus Sirach finden wir ein „Lob der Väter“ (Sir 44-50), in der Weisheit Salomos wird die Geschichte Israels (Sap 10-19) ausführlich behandelt. Im Neuen Testament ist Jesus selbst die Inkarnation des Logos und der Weisheit ( Joh 1,1-18). Diese Hochschätzung der „Weisheit“ (der sophia) war die Voraussetzung für die Synthese von Philosophie und Theologie in der europäischen Geistesgeschichte in Patristik, Scholastik, Idealismus und Existenzialismus� Sie ist keine Fehlentwicklung, sondern im Herzen der Bibel verankert� Dafür sei auf eine kleine Beobachtung hingewiesen: Jesus verbindet das höchste Gebot der Gottesliebe nicht nur mit der Nächstenliebe, sondern auch mit der Vernunft� Bei den Vermögen des Menschen, die in der Liebe zu Gott aktiviert werden, findet sich über 20 C� L� P� Chan, Die Metapher des Lamms in der Johannesapokalypse� Eine sprach- und sozialgeschichtliche Analyse (NTOA 99), Göttingen 2016� das hebr� Alte Testament und die Septuaginta ( kardia , psychē , dynamis ) hinaus eine Ausweitung: In Mk 12,30 spricht Jesus von vier Vermögen des Menschen: Herz, Seele, Verstand ( dianoia ) und Kraft� Der „Verstand“ ist gegenüber der Tradition neu� 21 Mt verkürzt entsprechend der alttestamentlichen Tradition auf drei Glieder, streicht aber nicht den „Verstand“, sondern die „Kraft“ (Mt 22,37)� Lk bringt alle vier Vermögen, die ersten drei in der alttestamentlichen Reihenfolge, danach den „Verstand“� Das Besondere der Jesusüberlieferung, also die Betonung des kognitiven Vermögens, bleibt in allen Variationen erhalten� Mt 22,37 Mk 12,30 Mk 12,33 Lk 10,27 kardia (Herz) kardia kardia kardia psychē (Seele) psychē psychē dianoia (Verstand) dianoia (Verstand) synesis (=Verständnis) dianoia (Verstand) ischys = (Kraft) ischys ischys Dritte These: Die Schrift zeigt in sich Ansätze eines Pluralismus der Interpretationen, einer kritischen, poetischen, existenzialen und kerygmatischen Interpretation 1. Die Schrift enthält in sich Kritik; denn das Alte Testament wird im Neuen Testament kritisch rezipiert. Die Zugehörigkeit des Alten Testaments zum Kanon der heiligen Schriften ist für das Christentum ein Glücksfall: Das Christentum enthielt schon in seinen Grundlagen die Möglichkeit und Legitimität einer kritischen Lektüre heiliger Schriften� Die ersten Christen erklärten z� T� nach tiefen Konflikten viele Ritualgebote des Alten Testaments für ungültig: Sie hörten auf zu opfern, lehnten Beschneidung und Speisegebote ab� Auch nach der Zerstörung des Tempels träumten sie nicht von dessen Wiederaufbau� Die Kritik an den Ritualgeboten des Alten Testaments geschah bewusst, die Kritik an einigen seiner ethischen Gebote und Glaubensüberzeugungen wurde erst allmählich bewusst� Erst Markion sah hier eine Spannung zwischen Gerechtigkeit und Liebe, die er sich nur durch eine Zwei-Götter-Lehre erklären konnte: Das Alte Testament sei die Offenbarung des Gottes der Gerechtigkeit, das Neue Testament die Offenbarung des Gottes der Liebe� Das Bewusstsein einer Spannung zwischen Altem und Neuem Testament blieb gesamtkirchliche Tradition, ihre 21 Der Schriftgelehrte verkürzt in seiner Antwort Mk 12,33 auf drei Glieder (entsprechend der Dreizahl im atl� Text)� Er fasst die mittleren Glieder als „Verständnis“ ( synesis ) zusammen� Sola Scriptura 205 206 Gerd Theißen Deutung durch zwei Gottheiten wurde als „häretisch“ verworfen� Sie widersprach dem monotheistischen Grundaxiom von Judentum und Christentum� Natürlich geht historisch-kritische Forschung der Schrift weit über eine solche schriftimmanente Kritik des Neuen am Alten Testament hinaus� Aber die Tatsache, dass seit der Aufklärung historische Kritik in die Theologie integriert werden konnte, wurde durch die kritische Bezugnahme des Neuen auf das Alte Testament erleichtert� 2. Die Schrift vertritt an einigen Stellen eine poetische Auffassung ursprünglich unpoetischer Aussagen. Die Auffassung der Schrift als Dichtung verdanken wir dem späten 18� Jahrhundert� Sie wurde am deutlichsten von J� G� Herder vertreten� Eine solche poetische Auffassung der heiligen Schriften hat Ansätze in der Bibel selbst� Als der Monotheismus sich durchsetzte, wurden viele „polytheistische“ Aussagen weiter tradiert, aber konnten nur noch als Bild und Gleichnis verstanden werden� So hatte JHWH ursprünglich eine Frau an seiner Seite, die Himmelskönigin, die auch kultisch verehrt wurde� In der Weisheitsliteratur aber begegnet diese Frau nur noch als eine bildliche Aussage über die „Weisheit“ Gottes, mit der er die Welt geschaffen hat� Sie wird seine Gespielin genannt� Aber sie ist nur der poetische Ausdruck für die überwältigende Intelligenz, die Menschen in der Schöpfung erkennen und ahnen (Spr 8)� Die Poetisierung religiöser Aussagen findet bei Jesus einen Höhepunkt: Jesus kleidet seine Botschaft in Parabeln und Gleichnissen ein� Sie erlauben es ihm, „anthropomorph“ von Gott als Vater und König, Hausherr und Weinbergbesitzer, Gastgeber und Richter zu sprechen - aber es ist von vornherein klar, dass all das nur Bilder sind, die auf Gott weisen� Was für den historischen Jesus gilt, wird im Johannesevangelium für den kerygmatischen Christus auf einer anderen Ebene wiederholt� Auch die Botschaft von Jesus als dem vom Himmel gekommenen Offenbarer wird in Bilder gekleidet� Die Christologie hat ihre Spitzenaussagen in Bildworten: Ich bin das Brot des Lebens, das Licht der Welt, die Tür, der gute Hirte, der gute Weinstock� 3. Die Schrift enthält in sich Ansätze einer existenzialen Interpretation. Auf Fragen des persönlichen Lebens wurde die Schrift in ihrer ganzen Auslegungsgeschichte gedeutet, aber erst im 20� Jh� wurde diese Deutung durch die philosophische Theorie des Existenzialismus fundiert: In der Analyse der menschlichen Existenz sah er einen Weg zur Erfassung der Wirklichkeit selbst� Existenzanalyse war Fundamentalontologie� Wenn man etwas bescheidener argumentiert, wird man existenziale Analysen als psychologische Exegese betrachten, als Frage danach, wie biblische Glaubensvorstellungen individuelles Erleben und Verhalten deuten und verändern� Dazu sei hier nur ein Beispiel genannt: 22 Der Glaube bezieht sich im Römerbrief auf objektive Vorgänge im Himmel und auf Erden, er ist Glaube an das Handeln Gottes durch Christus in der gegenwärtigen Endzeit� Im ganzen Römerbrief aber werden diese objektiven „mythischen“ Vorgänge in Parallele zum Verhalten und Erleben des Menschen gesetzt� „Psychomythische Parallelismen“ durchziehen den ganzen Brief: Das Gericht im Himmel hat eine Parallele im inneren Gericht des Gewissens (Röm 2,5-11 / / 2,15-16). Der Erweis der Liebe Gottes im Sterben Christi hat eine Parallele in der Ausgießung der Liebe Gottes in die Herzen der Menschen (Röm 5,8 / / 5,5)� Die Fürsprache des erhöhten Christus hat eine Parallele in der Fürsprache des Geistes in den Tiefen des Herzens (Röm 8,34 / / 8,26)� Die Rechenschaft der Christen vor Gott hat seine Parallele in der Selbstverurteilung der Menschen (14,1-12 / / 14,22-23). Durchgehend finden wir als entscheidenden Parallelismus: Wie sich Gott im Laufe des Römerbriefs durch seine Offenbarung in Christus aus einem zornigen Gott zu einem liebenden Gott verwandelt, so verwandelt sich auch der Mensch durch seine Verbindung mit Christus aus einem aggressiven in ein kooperatives Wesen� 23 Die ganze objektive „Heilsgeschichte“ wird durch den persönlichen Glauben zu einer inneren, verändernden Kraft im Leben� 4. Die Schrift enthält in sich eine kerygmatische Deutung von Texten. Die moderne Exegese wirkt oft wie eine Profanisierung von Texten� Aus Offenbarungstexten werden menschliche Produkte� Theologische Hermeneutik muss, im Gegenzug, in ihnen das Wort Gottes aufspüren� Menschliche Texte werden dadurch „theologisiert“� Auch dieser Vorgang einer „Theologisierung“ ursprünglich profaner Texte finden wir immer wieder in der Bibel� Die Gesetzessammlungen im Alten Testament werden im Kontext der Gesetzgebung am Sinai theologisiert 24 - vor allem aber werden diese Gesetze durch Einbettung in die Geschichte vom Tanz um das goldene Kalb und der erneuerten Gesetzgebung zu einer Geschichte der Gnade Gottes: Schon die Existenz des Gesetzes ist Ausdruck seiner Zuwendung zu ungehorsamen, sündigen Menschen� Die Geschichte von der Thronnachfolge Davids schaltet Gott nur sehr zurückhaltend in das Geschehen ein� Sie wirkt wie eine profane Geschichte von Intrigen und Machtkämpfen� Erst durch ganz wenige Bemerkungen wird sie im Rahmen des Kanons „theologisiert“� 22 Aus: G� Theißen / P�v� Gemünden, Der Römerbrief - Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016, 471-488. 23 P�v� Gemünden, Image de Dieu - image de l’être humain dans l’Épître aux Romains, RHPhR 77 (1997), 11-49 = Gottesbild und Menschenbild im Römerbrief, in: Affekt und Glaube� Studien zur Historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums (NTOA 73), Göttingen 2009, 207-225. 24 Zur „Theologisierung des Rechts“ vgl� E� Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart 1994, 104� Sola Scriptura 207 208 Gerd Theißen Die Weisheitsüberlieferung wirkt auf weite Strecken sehr profan� Aber durch die Einleitung von Spr 1-8 in das Weisheitsbuch wird auch sie „theologisiert“. Wir können ein Fazit ziehen: Die Schrift kann Grundlage eines pluralen und sich immer mehr individualisierenden Verstehens sein� Das sola scriptura muss dazu mit einer vorurteilslosen historisch-kritischen Deutung der Bibel verbunden werden� Aber diese Öffnung der Schrift hat einen Preis� Für die Reformatoren gehörten die vier formulae exclusivae zusammen� Sie hörten aus der Schrift die eine klare Botschaft solus Christus, sola fide, sola gratia. Eben das muss eine konsequent historische Auffassung der Schrift bestreiten: Diese drei Prinzipien gelten nicht für alle Schriften der Bibel, nicht einmal für alle neutestamentlichen Schriften� Die reformatorische Botschaft ist gewiss in der Schrift enthalten, besonders klar bei Paulus, auch wenn den Reformatoren die soziale Funktion der paulinischen Rechtfertigungslehre zu wenig bewusst war� 25 Man müsste die paulinischen Schriften zum Kanon im Kanon erklären, um die reformatorische Schriftauffassung als Gesamtskopus der Schriften aufrecht zu erhalten, dabei aber andere Schriften abwerten� Das würde eine Verarmung des Glaubens bedeuten� Umso mehr stellt sich die Frage: Können wir heute auf der Grundlage einer pluralistisch verstandenen Schrift Konsens schaffen - selbst unter den Vorzeichen der gegenwärtigen Individualisierung von Religion und Leben? Ganz allgemein gilt: Gerade weil historische Auslegung die innere Pluralität der Schriften herausgearbeitet hat, ist die Schrift heute eine gute Grundlage für die Kirche: Sie lässt Spielraum für Flexibilität und Antworten auf neue Herausforderungen� Sobald klar ist, dass solche Antworten biblisch begründbar oder vertretbar sind, werden sie als Bestandteile christlicher Identität anerkannt� Deshalb wird um diese Antworten ernsthaft gerungen� Die Schrift ist zweifellos nach wie vor ein Reservoir für Konsens, Identitätsfindung, Legitimierung und Motivierung, darüber hinaus eine Basis für das ökumenische Gespräch in und außerhalb der Kirchen� Liberale wie Evangelikale können sich auf ihrem Boden begegnen, Katholiken und Protestanten mit ihrer Hilfe verständigen, griechisch-orthodoxe und orientalische Kirchen, alte und junge Kirchen können sich auf sie beziehen� 25 Das ist die Kritik der New Perspective on Paul an der reformatorischen Paulusauslegung� Aber auch unabhängig zeigt V� Stolle, Luther und Paulus� Die exegetischen und hermeneutischen Grundlagen der lutherischen Rechtfertigungslehre im Paulinismus Luthers (ABG 10), Leipzig 2002, bes. 415-438, Spannungen: Neu ist bei Luther der durchgehende Dualismus von Gott und Satan� Die Bindung des Gesetzes an Israel spielt bei ihm nicht die Rolle, die sie bei Paulus hatte� Paulus sah den Menschen im Übergang von der alten zur neuen Welt, Luther deutet ihn synchronisch als simul iustus et peccator � Das Kreuz deutet bei Luther die Existenz des Christen in der Gegenwart, bei Paulus seine Verwandlung zu einem neuen Leben� Stolles Ergebnis ist: „Ein Diskurs, der Luthers Paulinismus mit Paulus selbst neu ins Gespräch bringt, führt notwendig zu einer Destruktion des lutherischen Sinnganzen“ (438)� Wie solch ein Konsens und Dialog entstehen kann, sei mit Hilfe einer sprachanalytischen Hermeneutik erläutert, auch wenn sie hier nur kurz skizziert werden kann: Religionen sind Zeichensprachen� Sie haben wie alle Sprachen eine Grammatik, d� h� Regeln, nach denen diese Zeichen verknüpft und organisiert werden� Diese Regeln entscheiden darüber, was in einer Sprache legitim ist und was nicht� Menschen, die in die christliche Glaubenswelt hineinwachsen, haben diese Regeln aufgrund biblischer Texte intuitiv internalisiert, ohne dass sie sich darüber Rechenschaft ablegen müssen� Wir beherrschen ja auch unsere Muttersprache, bevor wir ihre Grammatik erlernten� Was schon Kinder aus den biblischen Schriften lernen können, sind zwei Axiome der christlichen Religion: den Glauben an den einen und einzigen Gott und den Glauben an einen Offenbarer neben Gott� Gott steht im Alten Testament im Zentrum, Jesus als Offenbarer im Neuen Testament� Die Zeugnisse von ihnen enthalten wiederkehrende Motive� Es sind zunächst Textmotive wie die Notwendigkeit der Umkehr, die uns von Amos bis zur Johannesapokalypse in vielen Variationen begegnen� Sie werden zu Lebensmotiven , wenn sie das Verhalten und Erleben von Menschen bestimmen� Sie werden vor allem zu Interpretationsmotiven , mit denen Leben und Welt in einem neuen Licht gedeutet werden können� Man kann verschiedene Listen solcher „Grundmotive“ zusammenstellen� Nicht alle Texte im Neuen Testament müssen alle Grundmotive enthalten, nicht alle Christen müssen alle internalisieren� Es reicht, wenn es genug sind, um eine „Familienähnlichkeit“ (L� Wittgenstein) herzustellen� 26 Anbei gebe ich eine Liste der wichtigsten Grundmotive ohne Anspruch auf Vollständigkeit: 1� Das Schöpfungsmotiv: Alles könnte auch nicht und anders sein� Eine aus dem Nichts schaffende göttliche Macht ist in jedem Augenblick wirksam und tritt in der Geschichte in der Auferweckung Jesu hervor� 2� Das Weisheitsmotiv: Die Welt ist durch Gottes Weisheit geschaffen, die sich in unwahrscheinlichen Strukturen zeigt, sich oft unter ihrem Gegenteil verhüllt - bis hin zur „Torheit“ des Kreuzes, in der Gottes Weisheit verborgen ist� 3� Das Wundermotiv: Alles Geschehen ist offen für überraschende Wendungen, nichts ist völlig determiniert� Gott und Mensch, Glauben und Gebet bewirken wunderbare Änderungen� Jesus ist Träger solcher Wundermacht� 26 Zu diesen Grundmotiven vgl� G� Theißen, Zur Bibel motivieren� Aufgabe, Inhalte und Methodik einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003, 131-173. Die oben wiedergegebene Kurzfassung findet sich u� a� in: G� Theißen, Polyphone Evidenz� Die Überzeugungskraft der Bibel in der modernen Welt, in: Polyphones Verstehen, 2014, 131 f� Sola Scriptura 209 210 Gerd Theißen 4� Das Distanzmotiv: Alles Leben lebt in Distanz zu Gott und entspricht nicht der Realität, die es hervorgebracht hat und erhält� Im Menschen wird diese Ferne von Gott durch die Erfahrung von Schuld und Leid bewusst: Beides trennt ihn von Gott� In Christus deckt Gott diese Distanz auf und überwindet sie� 5� Das Hoffnungs- und Erneuerungsmotiv: Die Geschichte durchzieht eine wachsende Verheißung - bis hin zur Erwartung einer neuen Welt, die schon jetzt beginnt� Der Mensch ist Bürger zweier Welten, mit seiner „Sarx“ (dem Fleisch) der alten Welt verhaftet, mit dem „Pneuma“ (dem Geist) der neuen Welt verpflichtet, die mit Jesus begonnen hat� 6� Das Umkehrmotiv: Der Mensch hat die Möglichkeit radikaler Veränderung� Wie sich die Welt verändern muss, um Gottes Willen zu entsprechen, so auch der Mensch - er kann ein neues Leben beginnen, wenn er sich mit Christus kreuzigen lässt und mit ihm ein neues Leben beginnt� 7� Das Exodusmotiv: Nicht nur einzelne Menschen werden durch Gottes Ruf verändert, sondern ganze Gruppen - beginnend mit Abrahams Exodus aus der Heimat und Israels Rückkehr aus dem Exil bis hin zum Aufbruch der neutestamentlichen Gemeinde in eine neue Welt in der Nachfolge Jesu� 8� Das Glaubensmotiv: Gott erschließt sich durch Menschen, denen wir vertrauen, d� h� nicht primär durch Strukturen, Institutionen oder Gedanken, sondern durch ein „Du“, zu dem wir in eine freie Beziehung ohne Zwang treten� Im Zentrum aller Menschen, durch die Gott zu uns spricht, steht Jesus von Nazareth� 9� Das Inkarnationsmotiv: Gott nimmt Wohnung in der konkreten Welt� Er ist präsent in Israel, in Christus, im Wort, im Sakrament und in jedem Gläubigen durch seinen Geist� Die Inkarnation in Christus macht diese Nähe Gottes beim Menschen ein für allemal gewiss - auch in Schuld und Leid� 10� Das Stellvertretungsmotiv: Leben ist stellvertretendes Leben für andere - entweder unbewusst leidendes Leben, auf dessen Kosten sich anderes Leben entfaltet, oder bewusstes Leben für andere� Die blutigen Tieropfer zeugen vom Zwang, auf Kosten anderer zu leben� Christus zeigt die Alternative: Leben als Hingabe für andere� 11� Das Positionswechselmotiv: Der Erste wird der Letzte, der Letzte der Erste sein� Von denen, die bis zur Selbststigmatisierung (in Askese und Martyrium) freiwillig auf Status verzichten, geht eine verwandelnde Kraft aus� Noch mehr aber von Christus, der als Richter gerichtet, als Priester zum Opfer, als Weltenherr zum Sklaven und als Gekreuzigter zum Grund neuen Lebens wurde� 12� Das Agapemotiv: Jeder Mitmensch wird durch Liebe zu unserem Nächsten - sei es durch Suche des Verlorenen, durch Aufnahme des Fremden oder durch Liebe zum Feind� Auch hier ist Christus das Urbild solcher Liebe: Seine Lebenshingabe ist Liebe für die, die Gottes „Feinde“ waren� 13� Das Gerichtsmotiv: Alles Leben ist selektiven Prozessen unterworfen� Nur dem Menschen ist dies bewusst: Er weiß, dass er nicht nur als physisches Lebewesen, sondern als moralisch Handelnder bedroht ist� Er wird daran gemessen, was er getan hat - nach ethischen Maßstäben, nach denen Gott ein endgültiges Urteil über ihn fällt� Maßstab und Richter ist Jesus� 14� Das Rechtfertigungsmotiv: Die Legitimation des Daseins ist so unbegründbar wie die Existenz des Lebens überhaupt� Sie ist eine Schöpfung aus dem Nichts, die der Mensch so rezeptiv empfängt, wie er seine physische Existenz empfängt� Er hat sich selbst nicht geschaffen� Grundlage der Rechtfertigung ist das neue Schöpfungshandeln Gottes in Christus� Diese Axiome und Grundmotive des biblischen Glaubens stellen den „Geist der Bibel“ dar� Wer sie als regulative Sätze internalisiert hat, kann mit ihrer Hilfe neue Texte im Geist der Bibel schaffen, die nirgendwo in der Bibel stehen� Er kann mit ihrer Hilfe Grenzen ziehen� Wer etwa dem Menschen grundsätzlich die Fähigkeit abspricht, in seinem Leben neu zu beginnen, widerspricht dem Grundmotiv der „Umkehr“ und fällt aus einem christlichen Konsens heraus� Für die Hermeneutik der Bibel gilt: Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig� Sieht man nur historisch den buchstäblichen Sinn der Texte, so verwirrt die Mannigfaltigkeit des Sinnes� Ist man dagegen vom Geist der Bibel ergriffen und hat die oben skizzierten Grundmotive in seinem Leben und Denken internalisiert, so fügt sich vieles zusammen� Dann kann man die Texte der Bibel im Geiste der Bibel weiterdenken� Dazu sind Tradition, Erfahrung und Vernunft notwendig - nicht nur als Auslegungsprinzipien, die der Schrift untergeordnet sind (wie das im methodistischen quadrilateral der Fall ist), sondern als kritische Instanzen, die ggf� der Schrift widersprechen� Vernunft impliziert aber vor allem einen argumentativen Austausch über die Auslegung� Daher muss das methodistische „Viereck“ zu einem Fünfeck erweitert werden: Schrift, Tradition, Erfahrung, Vernunft und Beratung� 27 Kein Lehramt kann autoritativ entscheiden, was gilt� Wohl aber können Presbyterien und Synoden darüber mit Argumenten beraten� Wenn ihre Mitglieder vom Geist der Bibel erfasst sind und vernünftig argumentieren, gibt es eine Chance, dass sie zu einem Konsens ohne Zwang gelangen� 28 27 Ein solches „synodales“ Prinzip lässt sich aus der Schrift ableiten� Das „Schlüsselamt“ des Petrus (Mt 16,18-20) wird in 18,18 auf die Gemeinde übertragen. Hinzu kommt in 23,8-12 die Ablehnung irdischer Lehrer: Jesus ist der einzige Lehrer� 28 Diskussionen mit Pastoren und Pastorinnen haben mir gezeigt: „Varianzbändigung“ ist heute eine schwierige Aufgabe� Meist aber handelt es sich nicht um die Frage, ob „grammatische“ Grundregeln des biblischen Glaubens verletzt werden, sondern um „stilistische“ Fragen� Innerhalb derselben Überlieferung gibt es viele zulässige Varianten etwa bei der Gestaltung von Kasualien� Aber es gibt zweifellos bessere und schlechtere Varianten� Sola Scriptura 211