eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 22/43-44

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2019
2243-44 Dronsch Strecker Vogel

Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik

2019
Hanna Roose
Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Hermeneutik und Vermittlung Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik Hanna Roose 1. Die Zwei-Quellen-Theorie in aktuellen Schulbüchern 1.1 Darstellung Während in der Grundschule einzelne biblische ( Jesus-) Erzählungen und (alttestamentliche) Erzählkomplexe (Mose, Josephsnovelle) vorgesehen sind, thematisiert der schulische Religionsunterricht in Klasse 5 erstmals die Bibel als Ganzes. Aufbau, Entstehung, Sprachen und Kanon werden thematisch. Hier haben Theorien zur Entstehung des Alten und Neuen Testaments ihren Ort. Wie kommt die Zweiquellentheorie in Schulbüchern vor? Ein Blick in einige aktuelle Religionsbücher für die Sekundarstufen I und II ergibt folgenden Befund: 1.1.1 Die Schulbuchreihe „Moment mal! “ Das Schulbuch „Moment mal! “ für die Klassenstufen 5 und 6 1 präsentiert eine Doppelseite zur Frage „Wie ist die Bibel entstanden? “ Auf der ersten Seite findet sich ein Zeitstrahl, auf den in verschiedenen Farben Ereignisse aus der Weltgeschichte (gelb), Ereignisse aus der Geschichte Israels (grün) und biblische 1 B. Husmann / R. Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 1. Schülerband, Stuttgart u. a. 2013, 94 f. 188 Hanna Roose Bücher, die von diesem Zeitraum erzählen (blau), aufgetragen sind. Auf der zweiten Seite findet sich ein knapper Informationstext zum Neuen Testament: „Im Neuen Testament erfahren wir etwas über das Leben und Wirken Jesu von Nazareth. Die ältesten Bücher im NT sind die Briefe des Paulus, der wenige Jahre nach Jesu Tod Christ wurde. Neben Paulus haben andere Christen alles aufgeschrieben, was sie über Jesus wussten. Das können wir in den vier Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes nachlesen. Da sich die vier Evangelisten wahrscheinlich nicht begegnet sind, ist es verständlich, dass es zwischen ihren Jesuserzählungen auch Unterschiede gibt. Das älteste Evangelium ist das von Markus. Man geht wegen vieler wörtlicher Übereinstimmungen zwischen Mk und Mt und zwischen Mk und Lk davon aus, dass Matthäus ebenso wie Lukas das Markusevangelium kannte“. 2 Im zugeordneten Aufgabenteil werden die Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert, Mk 6,45-52 mit Mt 14,22-33 zu vergleichen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer Tabelle darzustellen. Zu dieser Aufgabe heißt es im Lehrerband: Sie dient dazu, den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, „dass es sich bei den Evangelien um historisch gewachsene Texte handelt, die von verschiedenen Glaubenserfahrungen durchaus unterschiedlich erzählen. Auf dieser Grundlage können die Schülerinnen und Schüler in späteren Jahrgangsstufen einen synoptischen Vergleich durchführen“. 3 Vorgesehen ist dieser Schritt für die Klassen 7-9. In dem entsprechenden Band 2 aus der Reihe „Moment mal! “ findet sich ein hermeneutisch ausgerichtetes Kapitel zur Frage: „In welchen Sprachen redet die Bibel? “ 4 Im Rahmen dieses Kapitels thematisiert eine Doppelseite die Frage: „Haben biblische Autoren voneinander abgeschrieben? “ 5 Hier wird die Zwei-Quellen-Theorie folgendermaßen eingeführt: „Aufgrund solcher synoptischer Vergleiche [der Begriff wird vorher erläutert] haben Wissenschaftler im 19. Jahrhundert die bis heute gültige ‚Zwei-Quellen-Theorie‘ entwickelt. Am genauesten ist ein synoptischer Vergleich mit den ‚Original-Texten‘ in Griechisch. Aber auch im Deutschen lässt sich mit einem synoptischen Vergleich die Zwei-Quellen-Theorie nachvollziehen“. 6 2 Ebd., 95. 3 B. Husmann / R. Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 1, Lehrerband, Stuttgart u. a. 2013, 102. 4 B. Husmann / R. Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, Stuttgart u. a. 2013, 130-149. 5 Ebd., 142-143. 6 Ebd., 142. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 189 Es folgt eine Grafik zur Zwei-Quellen-Theorie, die mit kariertem Papier grau hinterlegt ist. Zur Erläuterung heißt es: „Die Grafik veranschaulicht, dass Matthäus und Lukas jeweils drei Quellen für ihr Evangelium benutzt haben: Beiden lag das Markusevangelium und eine Quelle vor, die vor allem Aussprüche Jesu enthielt (‚Q‘). Als drittes hatte jeder noch eine ganz eigene Quelle (‚Sondergut‘)“. 7 Eine der zugehörigen Aufgaben lautet: „Gib die Zwei-Quellen-Theorie mit eigenen Worten wieder. Nenne mehrere Gründe, warum es eine Theorie ist“. 8 Laut Lehrerband sollen die Schülerinnen und Schüler die Theorie anhand eines synoptischen Vergleichs zur Erzählung von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29-30par) überprüfen. Zusätzlich sollen sie Mt 20,29-34 mit Mk 10,46-52 vergleichen. Dazu heißt es: „Aufgabe 4 bringt mit der Erzählung von der ‚Heilung des Blinden von Jericho‘ ein weiteres, einfaches Beispiel für die Stichhaltigkeit dieser klassischen Theorie, da bei Mt im Gegensatz zu Mk plötzlich von zwei Heilungen die Rede ist“. 9 Im „Moment-mal-Kästchen“, in dem das Schulbuch Anregungen zum Weiterdenken gibt, heißt es: „Warum benutzen und lesen wir alle drei synoptischen Evangelien, wenn Markus eindeutig ‚das Original‘ war? “ 10 7 Ebd. 8 Ebd., 143. 9 B. Husmann / R. Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2, Lehrerband, Stuttgart u. a. 2014, 142. 10 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 143. Prof. Dr. Hanna Roose, Studium der Ev. Theologie, Romanistik und Musik an der Universität und Musikhochschule des Saarlandes, 1997 Promotion an der Universität des Saarlandes (Neues Testament), 2002 Habilitation an der Universität Heidelberg (Neues Testament), von 1997-2000 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, von 2000-2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau, von 2004-2015 Professorin für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität Lüneburg, seit 2015 Professorin für Praktische Theologie/ Religionspädagogik an der Universität Bochum. 190 Hanna Roose 1.1.2 Das Kursbuch Religion für berufliche Schulen Das Kursbuch Religion für berufliche Schulen behandelt in dem Kapitel „Bibel“ 11 auch den synoptischen Vergleich und die Zwei-Quellen-Theorie. Zur Zwei-Quellen-Theorie 12 findet sich zunächst eine Tabelle, in der vergleichend zusammengestellt ist, wie viele „Markus-Verse“, „Jesus-Sprüche“ (diese Kategorie zielt auf die Logienquelle) und „eigene Verse“ das Matthäus- und das Lukasevangelium umfassen. Anschließend heißt es: „Bibelwissenschaftler erklären diesen Befund mit der Zwei-Quellen-Theorie: Markus ist das älteste Evangelium. Neben dem Markusevangelium entstand eine (verloren gegangene) Sammlung von Worten Jesu, die Logienquelle (Logien = Worte, Sprüche) Q. Matthäus und Lukas haben jeweils Markus als Vorlage benutzt und zusätzlich 235 Verse aus der Quelle Q eingefügt. Da Matthäus und Lukas also zwei Quellen benutzt haben, redet die Bibelwissenschaft von einer Zwei-Quellen-Theorie“. 13 Im dazugehörigen Materialband wird ein Lückentext angeboten, in dem es zur Zwei-Quellentheorie heißt: „Das älteste Evangelium ist das Markusevangelium. Es entstand ca. 70 n. Chr. Neben diesem Evangelium ist wahrscheinlich um die gleiche Zeit eine Sammlung von Jesus-Worten entstanden, die verloren gegangen ist. Diese verloren gegangene Quelle nennt man Logienquelle Q. Das Matthäusevangelium ist ca. 80 n. Chr., das Lukasevangelium ca. 90 n. Chr. entstanden. Matthäus und Lukas haben jeweils 235 Verse aus der Logienquelle Q eingefügt. Da Matthäus und Lukas also zwei Quellen benutzt haben, redet die Bibelwissenschaft von der Zwei-Quellen-Theorie“. 14 1.1.3 Das Kursbuch Religion für die gymnasiale Oberstufe Betrachten wir zum Schluss ein Buch für die Oberstufe. Hier beschäftigt sich eine Doppelseite mit der historisch-kritischen Methode. 15 Der synoptische Vergleich erhält hier einen eigenen Unterpunkt: „Im synoptischen Vergleich werden Abhängigkeiten von Texten innerhalb der Testamente selbst untersucht. Besonders anschaulich wird das für das Neue Testament. 11 W. Eilerts (Hg.), Kursbuch Religion. Berufliche Schulen. Schülerband, Stuttgart / Braunschweig 2013, 165-174. 12 Ebd., 172-173. 13 Ebd., 173. 14 W. Eilerts (Hg.), Kursbuch Religion. Berufliche Schulen, Lehrerband, Stuttgart / Braunschweig 2014, 336-337. 15 H. Rupp / V.-J. Dieterich (Hg.), Kursbuch Religion. Sekundarstufe II, Stuttgart / Braunschweig 2014, 168-169. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 191 Hier kann die sog. Zweiquellentheorie am besten erklären, dass Matthäus und Lukas erkennbar den groben Erzählplan und die größten Stücke aus Markus entlehnt haben. Sie müssen aber auch Stücke aus einer anderen Quelle (sog. Logienquelle Q) verwendet haben, da Markus diese Stücke nicht führt, sie aber bei Matthäus und Lukas in ganz ähnlichem Wortlaut auftauchen“. 16 1.2 Auswertung der Schulbuchkapitel Die Art der Darstellung der Zwei-Quellen-Theorie weist in den unterschiedlichen Schulbüchern, die für ganz unterschiedliche Schulformen und Klassenstufen konzipiert sind, eine wesentliche Gemeinsamkeit auf: In keinem Schulbuch - auch nicht in dem Buch für die Oberstufe - wird eine alternative Theorie zur Entstehung der synoptischen Evangelien präsentiert. Einzelne Formulierungen deuten immerhin an, dass es andere Theorien gibt. So spricht das Oberstufenbuch davon, dass die Zwei-Quellen-Theorie die Beobachtungen aus dem synoptischen Vergleich „am besten“ 17 erklären könne. Damit ist immerhin impliziert, dass es andere Theorien gibt, die den synoptischen Befund weniger gut erklären. Der Lehrerband zum Band 2 von „Moment mal! “ spricht von der „Stichhaltigkeit“ der Zwei-Quellen-Theorie, die durch einen synoptischen Vergleich nachvollzogen werden soll. 18 Beobachtungen, die diese Stichhaltigkeit in Frage stellen könnten - also etwa „minor agreements“ - werden ausgeblendet. Das Religionsbuch für berufliche Schulen spricht pauschal davon, dass „Bibelwissenschaftler“ (nicht: „viele Bibelwissenschaftler“, „einige Bibelwissenschaftler“ oder „v.a. deutsch-sprachige Bibelwissenschaftler“) den synoptischen Befund mit der Zwei-Quellen-Theorie erklären. 19 Der Charakter der Zwei-Quellen-Theorie als einer Theorie (neben anderen) droht durch das Weglassen möglicher Alternativen verdunkelt zu werden. Dieser Eindruck verschärft sich dort, wo aus der Darstellung nicht klar hervorgeht, dass es sich bei der Logienquelle um eine hypothetische Quelle handelt, die uns so gar nicht vorliegt. Das ist v. a. in der Schulbuchreihe „Moment mal! “ der Fall. Insofern ist es erstaunlich, dass die Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert werden zu begründen, „warum es eine Theorie ist“. 20 Wie sollen sie das begründen - ohne Wissen um alternative Theorien, um die „minor agreements“, um die Hypothetik der Logienquelle? Der Lehrerband zum Kursbuch für berufliche Schulen weist zwar explizit darauf hin, dass die Logienquelle „verloren gegan- 16 Ebd., 168. 17 Ebd. 18 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Lehrerband, 142. 19 Eilerts (Hg.), Kursbuch Berufliche Schulen. Schülerband, 173. 20 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 143. 192 Hanna Roose gen“ sei. 21 Er setzt damit aber unhinterfragt voraus, dass es diese Quelle gab. Das Kursbuch für die gymnasiale Oberstufe weist den hypothetischen Charakter der Logienquelle nur sehr versteckt aus, wenn es formuliert: Die Synoptiker „[…] müssen aber auch Stücke aus einer anderen Quelle (sog. Logienquelle Q) verwendet haben, da Markus diese Stücke nicht führt, sie aber bei Matthäus und Lukas in ganz ähnlichem Wortlaut auftauchen“. 22 Genau genommen ist damit impliziert, dass die Logienquelle das Produkt eines indirekten Schlussverfahrens - und nicht eines archäologischen Fundes - darstellt. Ob Schülerinnen und Schüler das aus dieser Formulierung jedoch erschließen können, bleibt fraglich. Obwohl die Schulbücher also durchgehend von der Zwei-Quellen- Theorie sprechen, bleibt der theoretische Charakter in der Darstellung unterbelichtet. Alle Schulbücher thematisieren über den synoptischen Vergleich zumindest in Ansätzen den Begründungszusammenhang der Zwei-Quellen-Theorie. Ihr Entdeckungszusammenhang klingt dagegen kaum an. „Moment mal! “ Bd. 2 ordnet die Entstehung der Zwei-Quellen-Theorie knapp historisch ein: „Aufgrund solcher synoptischer Vergleiche haben Wissenschaftler im 19. Jahrhundert die bis heute gültige ‚Zwei-Quellen-Theorie‘ entwickelt“. 23 Gegen welche anderen Theorien sich die Zwei-Quellen-Theorie damals durchgesetzt hat und dass sie bis heute nicht unumstritten ist - davon erfahren die Schülerinnen und Schüler im Schulbuch nichts. Vollständig ausgeblendet bleibt die Dimension des Rezeptionszusammenhanges. 24 Wie wird der betreffende Inhalt (in unserem Fall: die Zwei-Quellen-Theorie) heute rezipiert? Wo wird er Gegenstand eines (kritischen) Diskurses - und wo nicht? Durch die Ausblendung dieses Zusammenhanges erscheint die Zwei-Quellen-Theorie als geschlossener Informationsbaustein, der so zur Kenntnis zu nehmen, nachzuvollziehen und anzuwenden, nicht aber kritisch zu hinterfragen ist. 2. Die Frage nach der Bildungsrelevanz der Zwei-Quellen-Theorie Was aus neutestamentlicher Sicht ein klares Defizit darstellt, verdient aus religionspädagogischer Sicht weitere Aufmerksamkeit. Denn für die Religionspädagogik kann es nicht darum gehen, den aktuellsten Forschungsergebnissen (nicht 21 Eilerts, Kursbuch berufliche Schulen, Lehrerband, 336-337. 22 Dietrich / Rupp (Hg.), Kursbuch Sekundarstufe II. Schülerband, 168. 23 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 142. 24 Vgl. dazu G. Büttner / V.-J. Dieterich / H. Roose, Einführung in den Religionsunterricht. Eine kompetenzorientierte Didaktik, Stuttgart 2015, 25-26. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 193 nur) zur Entstehung des Neuen Testaments gleichsam „hinterher zu hecheln“. Entscheidend ist für sie vielmehr die Frage nach der Bildungsrelevanz eines Themas: „Nicht nur Neutestamentler, auch Alttestamentler und Kirchengeschichtler, Systematiker und Religionswissenschaftler produzieren eine unglaubliche Menge an Wissen. […] Welche fachwissenschaftlichen Erkenntnisse, die an den Universitäten produziert werden, sind aber nun wirklich bildungsrelevant? “ 25 2.1 Die Zwei-Quellen-Theorie als Gegenpart zu ahistorischen (biblizistisch-fundamentalistischen) Hermeneutiken Zur Bildungsrelevanz der Zwei-Quellen-Theorie gibt es im Lehrerband aus der Religionsbuchreihe „Moment mal! “ einen Hinweis, wenn es dort heißt: Sie dient dazu, den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, „[…] dass es sich bei den Evangelien um historisch gewachsene Texte handelt, die von verschiedenen Glaubenserfahrungen durchaus unterschiedlich erzählen“. 26 Diese Formulierung ist v. a. deshalb interessant, weil sie das Weglassen alternativer literarkritischer Entstehungsmodelle indirekt didaktisch zu plausibilisieren vermag: Als impliziter Gegenhorizont erweisen sich in der Formulierung nicht etwa alternative literarkritische Theorien zur Entstehung des Neuen Testaments, sondern unkritische Auffassungen, nach denen es sich bei den Evangelien nicht um historisch gewachsene Texte handele. Diese Auffassung wird v. a. in biblizistischen und fundamentalistischen Milieus vertreten. 27 Vor diesem Hintergrund zeigt sich nun die didaktische Funktion des Weglassens alternativer literarkritischer Theorien in den Schulbüchern: Je betonter die Zwei-Quellen-Theorie als eine nach wie vor umstrittene Theorie dargestellt wird, desto weniger hat sie möglicherweise der biblizistisch-fundamentalistischen Auffassung, nach der die biblischen Texte „direkt“ von Gott kommen (und auch so zu deuten sind! ), entgegenzusetzen. Es handelt sich eben „nur“ um eine Theorie, bei der sich noch nicht einmal die Bibelwissenschaftler einig sind! 25 M. Rothgangel im Dialog mit F. Wilk, Wahrnehmung Jesu. Ein neutestamentlich-religionspädagogischer Dialog, in: M. Rothgangel / E. Thaidigsmann (Hg.), Religionspädagogik als Mitte der Theologie? Theologische Disziplinen im Diskurs, Stuttgart 2005, 228-246; 240-241. 26 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 1, Lehrerband, 102. 27 Vgl. Roose, Wer kommt (nicht) ins Paradies? Anregungen zur Einübung eines nicht-fundamentalistischen Umgangs mit biblischen Texten: Entwurf 1/ 2010, 24-29. M. Weinrich, Christlicher Fundamentalismus, in: J. Kuhn (Hg.), Fundamentalismus. Begriff, Phänomen, Tendenzen, Beurteilung, Bovenden 1996, 262-283. 194 Hanna Roose Die Vorstellung einer ahistorischen Entstehung der Bibel wird nicht explizit thematisiert. Offenbar soll ahistorischen Modellen kein Diskussionsraum eröffnet werden. Diese grundlegende didaktische Entscheidung entspricht einer Festlegung der EKD zu ihren „Grundsätzen“, nach denen das Fach gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG zu unterrichten ist. Die EKD bestimmt seit 1971 ihre „Grundsätze“ nicht mehr im Sinne positiver Lehrsätze und Dogmen, sondern sie betont den Prozess der Auslegung, den die Lehrkraft in Rückbindung an das biblische Zeugnis von Jesus Christus und seiner Wirkungsgeschichte „[…] auf wissenschaftlicher Grundlage und in Freiheit des Gewissens“ didaktisch verantwortet. 28 Die Anerkennung der historisch-kritischen Methode ist im Zuge dieser Vereinbarung ein hartes Kriterium für die Erteilung der Vocatio. Bei der Alternative „historisches vs. ahistorisches Bibelverständnis“ handelt es sich also auf Seiten der Lehrkräfte nicht um eine Alternative, die sie für sich offen entscheiden könnten. Frag-würdig bleibt allerdings, ob diese Alternative den Schülerinnen und Schülern als eine diskussionswürdige überhaupt eröffnet werden sollte oder nicht. Die potenzielle Bildungsrelevanz der Zwei-Quellen-Theorie liegt also zu einem wesentlichen Teil in ihrem Widerspruch gegen biblizistische und fundamentalistische Haltungen. 29 Dieser Widerspruch lässt sich in drei - miteinander zusammenhängende - Richtungen entfalten: (1) Die Zwei-Quellen-Theorie betont exemplarisch die Zeitgebundenheit biblischer Texte. (2) Die Zwei-Quellen-Theorie betont exemplarisch die Mehrstimmigkeit biblischer Texte. (3) Die Zwei-Quellen-Theorie widerspricht exemplarisch einer Lesart biblischer Texte als historischer Protokolle. Zu (1): Die Zwei-Quellen-Theorie veranschaulicht das historische Gewordensein biblischer Texte. Biblische Texte sind je für sich zeitgebunden. Besonders deutlich wird dieser Gedanke im Kursbuch Religion für berufliche Schulen, das die synoptischen Evangelien und die Logienquelle (! ) mit Angabe von runden 28 Vom Rat der EKD in seiner Sitzung am 7./ 8. Juli 1971 zustimmend entgegengenommen. Kirchenamt der EKD (Hg.), Denkschriften der EKD 4/ 1: Bildung und Erziehung, Gütersloh 1987, 56-63; hier 60-61. Vgl. B. Schröder, Konfessionalität und kooperativer Religionsunterricht aus evangelischer Perspektive, in: J. Woppowa u.a. (Hg.), Kooperativer Religionsunterricht, Stuttgart 2017, 26-44. 29 Roose, Paradies, 24-29. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 195 Jahreszahlen historisch einordnet. In didaktischer Hinsicht hat die Einsicht in die historische Gebundenheit biblischer Texte u. a. erhebliche ethische Relevanz. Denn sie warnt davor, unreflektiert zeitlose ethische Maßstäbe aus den biblischen Texten herausfiltern zu wollen. Insofern sind Ent stehen und Ver stehen von biblischen Texten auch aus didaktischer Sicht nicht vollständig voneinander zu entkoppeln. 30 Zu (2): Die Mehrstimmigkeit biblischer Texte kann den biblischen Kanon seinen Leserinnen und Lesern als vielstimmiges Gesprächsangebot vor Augen stellen, das differenziert wahrgenommen werden will und sich einer pauschalen Zustimmung oder Ablehnung widersetzt. Das kommt heutigen Schülerinnen und Schülern, die sich mehrheitlich nicht als „christlich“ oder „nicht-christlich“, sondern eher als „Suchende“ begreifen, durchaus entgegen. 31 Zu (3): Die Vielfalt biblischer Stimmen, Quellen und Traditionen kann theologischen Laien auch klar machen, dass wir es bei biblischen Texten nicht mit „objektiven“ historischen Tatsachenbehauptungen zu tun haben, dass biblische Texte also nicht als historische Protokolle zu lesen sind. Diese Tatsache ist bereits mit Blick auf die Grundschule relevant. Dazu ein Beispiel aus der Schulpraxis: Zu Weihnachten klagen Grundschullehrkräfte nicht selten darüber, dass sie in der dritten und vierten Klasse nicht recht wüssten, was sie noch machen sollten, weil die Weihnachtsgeschichte ja bereits in der ersten und zweiten Klasse Thema gewesen sei. Oft weichen sie dann auf „Weihnachten in anderen Ländern“ aus. Mein Vorschlag, in den höheren Grundschulklassen die lukanische und die matthäische Geburtserzählung als zwei unterschiedliche perspektivische Auslegungen, als „narrative Christologie“ 32 zu thematisieren, wurde als zu anspruchsvoll zurückgewiesen. Aufschlussreich ist hier, welches Problem die Lehrkräfte antizipieren: Die Kinder könnten fragen, „was stimmt“. In dieser Befürchtung zeigt sich deutlich die implizite Engführung der Wahrheitsfrage biblischer Texte auf den Grad ihrer Übereinstimmung mit dem, was „tatsächlich“ passiert ist. Eine zentrale bibeldidaktische Aufgabe besteht darin, diese hermeneutische Engführung in Richtung eines perspektivischen Wahrheitsverständnisses zu erweitern. Christian Bühler macht für den didaktischen Argumentationszusammenhang ein erfahrungsbezogenes Wahrheitsverständnis stark: 30 Gegen T. Nicklas, Neutestamentliche Texte als Teil des Buches „Bibel“ lesen: Rhs 48 (2005), 151-159; 157. 31 H. Roose, Den biblischen Kanon produktiv zur Geltung bringen: G. Büttner / V. Elsenbast / Dies. (Hg.), Zwischen Kanon und Lehrplan (Schriften aus dem Comenius-Institut 20), Münster 2009, 38-52; 41-42. 32 C. Böttrich, Themen des Neuen Testaments in der Grundschule. Ein Arbeitsbuch für Religionslehrerinnen und Religionslehrer, Stuttgart 2001, 35-51. 196 Hanna Roose „Wenn der Bezug eines biblischen Textes auf Erfahrung ‚wirklich‘ gelingt, dann zeigt sich seine ‚Wahrheit‘: seine Aussagerichtung, sein Sinn, seine Weisung. Unter dieser Voraussetzung ist jeder biblische Text ‚wahr‘. Schöpfung etwa als Antwort auf die Frage: Worin besteht der tragende Grund unseres Lebens? Gibt es ein Leben vor dem Tod? “ 33 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es als positiv zu werten, dass die oben angeführten Schulbücher für die Sekundarstufenbereiche I und II im Zusammenhang mit der Zwei-Quellen-Theorie auch Fragestellungen aus der Redaktionskritik thematisieren. Im Lehrerband zu „Moment mal! “ Bd. 1 wird das ausdrücklich formuliert. Die Schülerinnen und Schüler sollen verstehen, „dass es sich bei den Evangelien um historisch gewachsene Texte handelt, die von verschiedenen Glaubenserfahrungen durchaus unterschiedlich erzählen. Auf dieser Grundlage können die Schülerinnen und Schüler in späteren Jahrgangsstufen einen synoptischen Vergleich durchführen“. 34 Im „Moment-mal-Kästchen“ aus dem Schülerband für die 7.-9. Klasse werden die redaktionskritische Frage und die damit zusammenhängende hermeneutische Problemstellung direkt adressiert, wenn es heißt: „Warum benutzen und lesen wir alle drei synoptischen Evangelien, wenn Markus eindeutig ‚das Original‘ war? “ 35 Was aus neutestamentlicher Sicht problematisch erscheint, die Aussage, nach der das Markusevangelium „eindeutig ‚das Original‘ war“, wird in seiner didaktischen Funktion plausibel: Jenseits der Frage nach alternativen literarkritischen Entstehungsmodellen, jenseits der Frage, inwiefern überhaupt sinnvoll vom Markusevangelium als dem „Original“ gesprochen werden kann, geht es um die Einsicht, dass die Evangelien Gotteswort in Menschenwort sind und zeitlich gebunden je unterschiedlich von Jesus Christus erzählen. Der Religionsunterricht bewegt sich hier allerdings auf einem schmalen Grat. Denn die historisch-kritische Exegese - samt der Zweiquellentheorie - kann zwar ahistorischen Hermeneutiken etwas entgegensetzen, sie kann aber auch ungewollt zum Relevanzverlust der Bibel beitragen. Gerade gegenüber Schülerinnen und Schülern, die der Bibel kaum etwas abgewinnen können, kann die Betonung des hypothetischen Charakters der Zwei-Quellen-Theorie kontraproduktiv wirken. Was Bernd Schröder für die historisch-kritische Methode generell feststellt, gilt auch für die Zwei-Quellen-Theorie im Besonderen: 33 C. Bühler, Ist die Bibel wahr? In: G. Lämmermann / C. Morgenthaler / K. Schori u. a. (Hg.), Bibeldidaktik in der Postmoderne, Festschrift für K. Wegenast, Stuttgart 1999, 44-49; hier 48. 34 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 1, Lehrerband, 102. 35 Husmann / Merkel, Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 143. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 197 „Richtete sich die Kraft dieser Methode über Jahrhunderte gegen ein dogmatisch überformtes, ahistorisches Verstehen der Bibel und vermochte sie dadurch, dass sie die Wahrnehmung von Spannungen innerhalb der Texte, für eigenartige Sprachformen und für die bewusst theologische Gestaltung von Texten und Kanon schärfte, für viele Zeitgenossen befreiend zu wirken, läuft dieser kritische Gestus angesichts einer veränderten Adressatenschaft Gefahr, eine ohnehin vorhandene Haltung der ideologiekritischen Skepsis und der Erwartungslosigkeit gegenüber dem ‚religiösen‘ Potential biblischer Texte lediglich zu unterstreichen“. 36 Die Frage aus dem Schulbuch „Moment mal! “ für die 7./ 8. Klasse greift diese Problematik auf, wenn sie die Zwei-Quellen-Theorie unter die Überschrift stellt: „Haben biblische Autoren voneinander abgeschrieben? “ 37 Schülerinnen und Schüler dürfen in schulischen Prüfungssituationen nicht voneinander abschreiben. In wissenschaftlichen Kontexten gilt das stillschweigende Abschreiben als wertlose Fälschung, als Plagiat. Diese Zusammenhänge sind älteren Schülerinnen und Schülern durchaus geläufig. Insofern werfen literarkritische Modelle zur Entstehung der synoptischen Evangelien spezifische hermeneutische Fragen auf: Was sind „abgeschriebene“ Texte wert? Wie verhalten sich „Original“ und „Abschrift“ zueinander? Die Bibeldidaktik steht also vor der Aufgabe, die Zwei-Quellen-Theorie zwischen den „Abgründen“ von ahistorischem Verstehen einerseits und einer Relevanzlosigkeit biblischer Texte andererseits hermeneutisch im Sinne einer perspektivischen Deutung der Wirklichkeit 38 stark zu machen. Dieses Bemühen ist in den dargestellten Schulbüchern deutlich erkennbar, es ist aber dadurch „erkauft“, dass alternative literarkritische Entstehungstheorien verschwiegen werden. 2.2 „Pädagogische Kosten“: Die Zwei-Quellen-Theorie als (unhinterfragter) Wissensbaustein Die „pädagogischen Kosten“ für diese Vereindeutigung sind hoch: Wenn Theorien als „fertige“ Informationsbausteine präsentiert werden, kann das die Neugier der Schülerinnen und Schüler dämpfen. Das Ausblenden des Entdeckungszusammenhangs von Theorien ist ein Phänomen, das nicht nur Schulbücher des Religionsunterrichts betrifft. Der Pädagoge Horst Rumpf kritisiert in einem 36 B. Schröder, Hintergrundwissen. Historisch-kritische Methode und Praktische Theologie, ZThK 114 (2017), 210-242; 241. 37 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 142-143. 38 Vgl. P. Wick, Exegese und Realität. Über das Wirklichkeitsverständnis eines multimethodischen Ansatzes, in: G. Gelardini (Hg.), Festschrift für E. Stegemann, Stuttgart 2005, 267-281. historischen Rückblick auf Schulbücher des Physikunterrichts, dass es [das Schulbuch] „[…] in einer Art Intentionsumkehr, leicht zu einem Medium der Dämpfung von neugierigen Vergleichen zwischen eigenen Erfahrungen und von der Wissenschaft gefundenen, infolgedessen für wahr zu haltenden Lehrsätzen“ wird. „Das Subjekt - in Konfrontation mit Wissensergebnissen - lernt, seine Neugier stillzustellen, um zur Kenntnis zu nehmen. Es ist das eine Grundschwierigkeit jeden wissenschaftsorientierten Unterrichts, auch in den sogenannten Geistes- und Sozialwissenschaften, die, beschleunigt, auf die Spur der von dieser Wissenschaft für recht befundenen Ergebnisse gebracht werden sollen“. 39 Hier wird ein zweites didaktisches Problem erkennbar: Das rasante Anwachsen wissenschaftlicher Erkenntnisse erfordert in zunehmendem Maß eine Beschleunigung der Wissensaneignung in schulischen Lernprozessen, um (zumindest im gymnasialen Kontext) den Anschluss an den wissenschaftlichen Diskurs zu ermöglichen. Diese Zielsetzung tritt in Spannung zu einem fundamentalen Grundsatz des Beutelsbacher Konsenses. Der Beutelsbacher Konsens - eine Vereinbarung aus der Politikdidaktik, der sich auch die Religionsdidaktik verpflichtet fühlt - postuliert: „Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen“. 40 Darstellungen der Zwei-Quellen-Theorie in aktuellen Schulbüchern lösen diesen Anspruch nicht ein. Weder stellen sie alternative literarkritische Entstehungstheorien vor, noch thematisieren sie explizit die biblizistisch-fundamentalistische Vorstellung einer ahistorischen göttlichen Herkunft der Bibel als einer diskussionswürdigen Alternative zu literarkritischen Modellen - egal welcher Couleur. Diese Vorstellung taucht nur indirekt als Gegenhorizont im Lehrerband auf. Der schulische (Religions-) Unterricht kann nicht alles, was in der Wissenschaft kontrovers ist, im Unterricht kontrovers darstellen. Er muss didaktisch begründet Entscheidungen treffen, die möglichst transparent darzulegen sind. Im Blick auf die Zwei-Quellen-Theorie fällt diese Entscheidung mit der Gewichtung zweier didaktischer Anliegen, die in Spannung zueinander stehen: einerseits dem Anliegen, ahistorischen Vorverständnissen zur Bibel entgegenzuwirken, andererseits dem Anliegen, den theoretischen Status der Zwei-Quellen-Theorie nicht auszublenden. 39 H. Rumpf, Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule, München 2 1988, 120-121. 40 H. Schneider, Der Beutelsbacher Konsens, in: W.W. Mickel (Hg.), Handbuch zur politischen Bildung, Bonn 1999, 173-174. Vgl. für den Religionsunterricht: G. Büttner / V.-J. Dieterich, Religion als Unterricht. Ein Kompendium, Göttingen 2004, 178-179. 198 Hanna Roose